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KAPITEL EINS

Guten Morgen, Misty«, rief Dr. Marlowes Schwester die Wendeltreppe hinab, nachdem ihr Hausmädchen Sophie die Tür geöffnet hatte.

Emma trug eines ihrer Blumenkleider in Übergröße. Ihr Haar war rund um die Ohrmuscheln mit rasiermessergenauer Präzision geschnitten, der Pony wirkte wie auf die Stirn gemalt und Strähne für Strähne festgeklebt. Es war kohlrabenschwarz gefärbt, vermutlich um das geringste Anzeichen von Grau im Keime zu ersticken. Der Kontrast zu ihrem blassen Teint ließ die Haut ihres runden Gesichtes wie Seidenpapier aussehen. Wie erstarrt blieb sie auf der Treppe stehen und wartete, bis ich hereinkam, als hätte sie Angst, ich könnte meine Meinung ändern.

Sophie schloss hinter mir die Tür. Tief aus dem Inneren des Hauses drang Mozarts Symphonie Nr. 40 in g-Moll. Ich bin keine Expertin für klassische Musik; ich erkannte das Stück nur, weil wir es gerade mit dem Schulorchester einübten. Ich spiele Klarinette. Meine Mutter befürchtete, meine Zahnkorrektur könnte dadurch Schaden leiden, aber Mr LaRuffa, unser Orchesterleiter, unterschrieb praktisch eine eidesstattliche Erklärung, dass dies nicht passieren würde. Schließlich setzte meine Mutter ihre Unterschrift auf die Teilnahmegenehmigung.

Mein Vater vergaß dieses Jahr, unser großes Konzert zu besuchen, obwohl ich Klarinette geübt hatte, als ich das Wochenende zuvor in seinem neuen Heim verbracht hatte. Ariel, seine Freundin, hatte versprochen, ihn daran zu erinnern, was ich an sich schon sehr erstaunlich fand. Sie sah aus wie jemand, der kleine Spiegel im Gehirn hatte, die Gedanken reflektierten, sie hin- und herprallen ließen, begleitet von Gekicher, das mich an winzige Seifenblasen erinnerte.

Ganz gleich wie offensichtlich mein Sarkasmus war, Ariel lächelte. Ich vermute, Daddy fühlte sich wohl bei ihr, weil sie wie ein Revlon-Model aussah und nie irgendetwas, das er sagte, in Frage stellte. Was immer er von sich gab, sie nickte und riss die Augen weit auf, als hätte er gerade einen bahnbrechenden Kommentar abgegeben. Sie war das genaue Gegenteil meiner Mutter, die es heute schon in Frage stellen würde, wenn er guten Morgen sagte.

Vor allem bekam er von Ariel Sex. Nach Ansicht meiner Mutter und ihrer Freundinnen ist dies das Einzige, aus dem sich Männer wirklich etwas machen.

»Die Frau Doktor ist in ein oder zwei Minuten bei dir«, sagte Emma, während sie die mit Teppichboden ausgelegte Treppe mit der gleichen Behutsamkeit hinunterschritt wie jemand, der sich den Weg über eine matschige Straße suchte: kleine vorsichtige Schritte, bei denen sie das Geländer fest umklammerte. Ich fragte mich, ob sie eine Alkoholikerin war. Sie benutzte so viel Parfüm, dass es ausgereicht hätte, um den Gestank eines Müllwagens zu übertönen, daher konnte man nur schwer sagen, ob sie trank oder nicht. Aber seit ich zum ersten Mal zu Dr. Marlowe gekommen war, hatte sie fast zwanzig Kilo zugenommen. Als ich das Mommy erzählte, meinte sie: »Vielleicht trinkt sie ja heimlich.«

»Wie geht es dir heute, Liebes?«, fragte Emma, als sie endlich vor mir stand. Sie war nicht viel größer als ich, vielleicht einen Meter fünfundfünfzig, aber sie schien auseinander zu gehen wie ein Hefekuchen. Ihr schwerer Busen, jede Brust in Größe und Form eines Fußballs, hielt das blumige Zelt von ihrem Körper ab.

Ich trug meine übliche Kleidung für diese geistigen Spielchen mit Dr. Marlowe: Jeans, Turnschuhe, weiße Socken und eins von einem Dutzend T-Shirts, über die meine Mutter sich ärgerte. Auf dem heutigen war ein gestrandeter Wal abgebildet, dem ein Strom schwarzer Flüssigkeit aus dem Maul quoll. Darunter stand: Hoppla, schon wieder eine Öllache.

Emma beachtete anscheinend nie, was ich trug. Sie war so nervös wie immer in meiner Gegenwart und presste ihre dicken Lippen aufeinander, während sie lächelte, so dass es aussah wie ein zerschmettertes kleines Lachen.

»Die Frau Doktor möchte, dass du direkt in ihren Behandlungsraum kommst«, sagte sie mit einer so dünnen und hohen Stimme, als wäre sie kurz davor zu schreien.

Welche Erleichterung für uns beide, dachte ich.

»Sonst schon jemand da?«, erkundigte ich mich. Bevor sie antworten konnte, klingelte die Türglocke und Sophie, die wie ein Stehaufmännchen bereitstand, trat in Aktion. Sie öffnete die Tür, und wir alle sahen ein großes, attraktives schwarze Mädchen mit geflochtenem Haar. Es trug einen hellblauen Baumwollpullover und einen dunkelblauen Rock. Sofort schoss mir durch den Sinn, dass ich eines Tages einmal solch eine Figur haben wollte, wenn meine blöden Hormone endlich aufwachten.

»Oh, Star«, begrüßte Emma Marlowe sie und wandte sich in Richtung auf die Musik um, als hoffte sie, gerettet zu werden. »Komm herein, komm doch herein«, fügte sie rasch hinzu. Star? Ich dachte, Dr. Marlowe hätte den Nachnamen gemeint, als sie mir erzählte, dass eines der Mädchen so heißt. Misty war schon eine schwere Bürde, aber Star? Eine weitere Kleinigkeit hatte Dr. Marlowe noch zu erwähnen vergessen, nämlich dass sie schwarz war.

Star lächelte affektiert. Es war ganz klar ein Ausdruck der Verachtung, die Mundwinkel heruntergezogen und die ebenholzschwarzen Augen zusammengekniffen. Sie starrte mich an. Einen Augenblick lang hatten wir das Gefühl, Revolverhelden in einem Western zu sein, die darauf warteten, dass der andere sich zuerst bewegte. Was keine von uns tat.

»Bestimmt wollte die Frau Doktor euch einander vorstellen. Also, das ist Misty«, übernahm Emma Marlowe diese Aufgabe.

»Hi«, sagte ich.

»Hi.« Sie wandte rasch den Blick ab und forderte Dr. Marlowes Schwester praktisch heraus, Smalltalk zu machen.

Stattdessen wedelte Emma dramatisch mit den Armen, deutete in Richtung auf die Praxisräume und stotterte:

»Ihr beide könnt … direkt … weitergehen … hinein.«

Wir gingen in die Praxis. Weder Star noch ich brauchten irgendwelche Anweisungen. Wir waren schon oft genug hier gewesen.

Für ein Konsultationszimmer war der Raum groß. Eine Seite wirkte fast wie ein kleines Wohnzimmer mit zwei großen braunen Ledersofas, einigen dazu passenden Sesseln, Beistelltischchen und einem großen runden Glastisch in der Mitte. Die Wände waren mit Eichenpaneelen vertäfelt, Terrassentüren an der Rückseite des Hauses führten zum Garten und zum Swimmingpool. Diese Seite des Hauses lag nach Westen; daher war der Raum, wenn man einen Nachmittagstermin hatte, hell erleuchtet wie eine Broadway-Bühne. Bei Morgenterminen fehlte nicht nur das direkte Sonnenlicht, wenn der Himmel bewölkt war, mussten auch mehr Lampen eingeschaltet werden.

Außerdem war bei schönerem Wetter auch unsere Stimmung in diesen Praxisräumen eine andere. Man schleppte seine Depressionen und Ängste wie Koffer mit Übergewicht in diesen Raum hinein und hoffte, dass Dr. Marlowe einem helfen würde, sie auszupacken. An dunklen Tagen fiel das schwerer, die Depressionen saßen tiefer.

Ich stellte mir immer vor, dass die schlimmen Erinnerungen in meinem Gehirn mit Kontaktkleber festgeklebt waren, und wenn Dr. Marlowe eine davon ablöste, blieb ein Stück von mir daran hängen.

Manchmal saß Dr. Marlowe an ihrem Schreibtisch und sprach mit mir, während ich auf einem der Sofas saß. Vermutlich glaubte sie, ich wäre offener, wenn sie weiter entfernt war. Sie machte viele kleine Experimente mit mir, und ich konnte es kaum abwarten zu erfahren, was meine Leidensgenossinnen über sie dachten.

Als ich direkt auf mein übliches Sofa zusteuerte, hielt Star inne. Ich sah ihr an, was sie dachte.

»Wo sitzt du normalerweise, wenn du hier bist?«, fragte ich sie. Sie warf einen Blick auf das andere Sofa und schaute mich dann scharf an.

»Was macht das schon aus?«, erwiderte sie. Ich zuckte die Achseln. Sie blieb stehen.

»Ich schlafe immer auf der rechten Seite meines Bettes. Und du?«

»Hm?« Sie schnitt eine Grimasse, dabei zogen sich ihre Augenbrauen in die Höhe und ihre Ohren wackelten. Ich lachte.

»Was ist denn so verdammt komisch?«

»Deine Ohren haben sich bewegt«, sagte ich.

Sie starrte mich einen Augenblick an, dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem schwarzen Porzellangesicht aus. Ihr Teint war so glatt und klar, als hätte ein Bildhauer ihr Gesicht erst vor einer Stunde in seinem Atelier poliert. Bei mir sprossen dagegen trotz meines teuren Hautspezialisten fast täglich überall auf der Stirn und am Kinn Ausschlag und Pickel hervor. Mommy gab den Dingen, die ich aß, wenn sie nicht dabei war, die Schuld. Dr. Marlowe meinte, so etwas könnte auch durch Stress verursacht werden. Wenn das allerdings der Fall wäre, müsste mein Kopf ein einziger, riesiger Pickel sein.

»Ich weiß«, sagte Star. »Jeder erzählt mir das, aber ich merke es nicht einmal. Ich schlafe übrigens auch auf der rechten Seite«, vertraute sie mir einen Augenblick später an.

»Und wenn du aus irgendeinem Grund auf der anderen Seite schlafen musst, ist das ein Problem, stimmt’s?«

»Ja«, gab sie zu und beschloss, sich auf dasselbe Sofa zu setzen wie ich.

»Wie lange kommst du schon her?«, fragte sie mich.

Ich überlegte einen Augenblick.

»Ich glaube, etwa zwei Jahre«, sagte ich. »Und du?«

»Fast ein Jahr. Ich sage meiner Oma ständig, ich sollte aufhören damit, aber das will sie nicht.«

Ich erinnerte mich daran, dass Dr. Marlowe erzählt hatte, eines der Mädchen lebte bei seiner Großmutter.

»Du lebst nur bei deiner Großmutter?«

»Stimmt«, bestätigte sie kurz angebunden. Sie sah aus, als wollte sie mir an die Kehle gehen, wenn ich irgendeinen negativen Kommentar dazu abgab. Das lag mir völlig fern. Tatsächlich war ich eifersüchtig.

»Ich habe die Eltern meines Vaters nie kennen gelernt. Seine Mutter starb, als er noch sehr jung war, und sein Vater starb, als ich noch ein Baby war. Die Eltern meiner Mutter leben in Palm Springs, aber ich sehe sie nicht oft. Sie sind golfsüchtig. Wenn ich ein Caddy wäre, würde ich sie öfter sehen.«

»Ein Caddy?«

»Derjenige, der die Schläger und das ganze Zeug schleppt.«

»Oh.«

»Vor ein paar Jahren schenkte ich ihnen Golfbälle mit meinem Bild, damit sie mich wenigstens hin und wieder anschauen konnten«, erzählte ich ihr, »aber sie haben sie nicht benutzt, weil sie mir nicht ins Gesicht schlagen wollten.«

Die Augenbrauen fuhren wieder in die Höhe und die Ohren wackelten.

»Machst du Witze?«

»Juhu«, sagte ich. »Ich lüge viel.«

Sie starrte mich einen Augenblick an und brach dann in ein freundliches Gelächter aus.

»O ja«, meinte sie. »Darauf könnte ich wetten.«

»Heißt du wirklich Star? Ist das kein Spitzname oder so was?« Sie hörte auf zu lachen; ihre ebenholzschwarzen Augen funkelten wie zwei glühende Kohlen.

»Du heißt wirklich Misty?«, schleuderte sie mir entgegen und kehrte mir, während sie sprach, die Schulter zu.

»Ja«, versicherte ich. »Meine Mutter nannte mich nach einem Filmstar, weil sie und mein Vater sich nicht auf einen Namen oder einen Verwandten, nach dem sie mich benennen konnten, einigen konnten. Wie bist du zu deinem Namen gekommen? Aber erzähl mir nicht, deine Mutter brachte dich eines Nachts im Freien zur Welt und benannte dich nach dem erstbesten Ding, das sie sah.«

Bevor sie antworten konnte, betrat einer der hübschesten, elegantesten Mädchen, die ich je gesehen hatte, den Raum. Sie hatte langes, üppiges, braunes Haar mit metallischem Glanz, das ihr sanft über die Schultern floss. Die Augen waren grün und mandelförmig. Die hohen Wangenknochen verliehen ihrem Gesicht eine eindrucksvolle kantige Linie, die sich anmutig zu ihrem Kiefer und den vollkommen geformten Lippen hinabschwang. Die Nase war ein wenig klein und ein bisschen nach oben gebogen. Natürlich hegte ich den Verdacht, dass dies das Ergebnis plastischer Chirurgie war. Sie trug viel mehr Make-up als ich. Warum sollte man für einen Besuch bei der Therapeutin Lidschatten und Eyeliner auftragen? Tatsächlich erinnerte sie mich an meine Mutter, die Königin des Overdress, die im Alleingang dafür sorgte, dass die Kosmetikindustrie Profite erzielte.

Das neue Mädchen trug eine Designerhose und sah aus, als sei sie auf dem Weg zu einem stilvollen Lunch. Ich warf Star, die sehr missbilligend dreinschaute, einen Blick zu.

»Ich bin Jade«, verkündete das neue Mädchen. »Wer seid ihr beide? Misty, Star oder Cathy?«

»Misty. Das ist Star«, sagte ich mit einem Kopfnicken zu Star herüber. »Wir sprachen gerade darüber, wie wir unsere Namen bekommen haben. Deine Eltern sind wohl im Juwelengeschäft?«

Jade starrte mich einen Augenblick an und warf dann Star einen Blick zu, um festzustellen, ob wir sie zum Besten hielten. Sie entschied wohl, dass dies nicht der Fall war. »Meine Eltern haben mich wegen meiner Augen Jade genannt. Wo ist denn die gute Frau Doktor?«, erkundigte sie sich mit einem ungeduldigen Blick auf den leeren Schreibtisch.

»Bereitet sich vor«, vermutete ich.

»Bereitet sich vor?«

»Na du weißt schon, ihre Therapeutenmaske anziehen, die Fingernägel schärfen.«

Star lachte. Jade zog eine Augenbraue hoch, presste die Lippen zusammen und setzte sich dann anmutig auf das andere Sofa, die Beine gekreuzt und hoch erhobenen Hauptes zurückgelehnt.

»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, bemerkte sie einen Augenblick später.

»Warum bist du dann gekommen?«, fuhr Star sie an.

Jade wandte sich ihr überrascht zu. Ihr Gesichtsausdruck vermittelte mir das Gefühl, dass sie sie vorher noch gar nicht richtig angeschaut hatte und ihr erst jetzt klar wurde, dass ein schwarzes Mädchen in der Gruppe war.

»Ich habe gezögert, aber Dr. Marlowe hat mich überredet«, gab sie zu.

»Sie hat uns alle dazu überredet«, verkündete Star das Offensichtliche. »Glaubst du etwa, wir hätten nur darauf gewartet, hier hereinzuspazieren und vor einem Haufen Fremder über uns zu reden?«

Jade wand sich unbehaglich, warf einen Blick auf ihre Uhr und schaute in Richtung Tür. Wir hörten Schritte, und wenige Augenblicke, später erschien Dr. Marlowe mit einem stämmigen Mädchen etwa meiner Größe, das jedoch älter wirkte. Ihr stumpfes braunes Haar hing ihr strähnig um Hals und Schultern, als wäre jemand mit einer Harke hindurchgefahren. Der weite graue Pullover trug wenig dazu bei, von ihrem wirklich üppigen Busen abzulenken. Ihre Brüste konkurrierten beinahe schon mit Emmas. Es trug einen Rock, dessen Saum ihre Fußgelenke streifte. Ihr Gesicht war unscheinbar; sie hatte nicht einmal Lippenstift aufgetragen, um den wässrigen haselnussbraunen Augen, dem blassen Teint und den faden, ungleichmäßigen Lippen etwas Farbe zu verleihen. Ihr Mund zuckte nervös.

»Hallo. Da sind wir. Das ist Cathy. Cathy, darf ich dir Misty, Star und Jade vorstellen«, fügte Dr. Marlowe hinzu und nickte dabei jeder von uns zu. Cathy hob den Blick nur ein wenig, um uns anzuschauen, bevor sie ihn wieder zu Boden senkte. »Cathy, warum setzt du dich nicht dort drüben neben Jade«, schlug Dr. Marlowe vor.

Cathy sah aus, als würde sie das nicht tun. Eine ganze Weile zögerte sie und starrte auf den Sitz, als würde er sie verschlingen, bevor sie sich schließlich dort niederließ.

Dr. Marlowe, die einen dunkelblauen Hosenanzug trug, setzte sich in einen der zentral platzierten Sessel, so dass sie uns alle im Auge behalten konnte. Normalerweise zog sie vor Ende einer Sitzung ihr Jackett aus und wanderte mit auf dem Rücken verschränkten Händen hin und her. Jetzt presste sie die Spitzen ihrer langen dünnen Finger gegeneinander und lächelte. Meiner Mutter würde auffallen, dass sie keine teuren Ringe und eine preiswerte Uhr trug. Vor allen Dingen würde ihr auffallen, dass ihre Fingernägel nicht lackiert waren.

Dr. Marlowes Lächeln war schwer zu deuten. Manchmal nach einer meiner Äußerungen strahlten ihre Augen wirklich vor Interesse und Vergnügen, aber ihre Mimik war manchmal so mechanisch, dass ich vermutete, alles, was sie tat, selbst die kleinste Geste, war geplant, um ein bestimmtes psychologisches Ergebnis zu erzielen. Das schmutzig-blonde Haar trug sie akkurat geschnitten; silberne Ohrklipps, aber keine Halskette; die blütenweiße Seidenbluse mit Perlenknöpfen bis zum Hals geschlossen.

Unsere Therapeutin war nicht besonders hübsch, die Nase ein bisschen zu lang, die Lippen zu schmal. Im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester war sie schlank, aber für eine Frau sehr groß, mindestens einen Meter fünfundachtzig. Weil sie so lange Beine hatte, standen ihre Knie amüsant hoch. Ich glaube, ihr Körper von der Taille aufwärts machte nur ein Drittel ihrer Größe aus; sie hatte jedoch lange Arme, so dass sie sich zurücklehnen und dennoch die Handflächen auf die Knie legen konnte. Vielleicht hatte die Tatsache, dass sie so linkisch wirkte, dazu geführt, dass sie sich stärker darauf konzentrierte, ein kluger Kopf als eine Schönheit zu sein.

Meine Mutter gab oft Kommentare über Dr. Marlowes Frisur und Kleidung ab und behauptete, sie könnte Wunder an ihr vollbringen, wenn sie eine Chance dazu hätte. Meine Mutter glaubte an die wundersamen Kräfte von Haarstylisten und Schönheitschirurgen. Ihrer Meinung nach könnten sie sogar für den Weltfrieden sorgen. Einfach nur alle hässlichen Menschen loswerden, und niemand würde sich mehr über irgendetwas streiten.

»Ich vermute, ihr drei hattet bereits Gelegenheit, euch miteinander bekannt zu machen«, begann Dr. Marlowe.

»Kaum«, erwiderte Jade.

»Gut. Ich möchte, dass alle Gespräche und Enthüllungen hier gemeinsam stattfinden.«

»Ich begreife immer noch nicht, was wir hier eigentlich tun«, fauchte Star. »Uns ist nicht viel gesagt worden, und manche von uns«, fügte sie hinzu und starrte Jade dabei an, »sind darüber nicht besonders glücklich.«

»Ich weiß, Star, aber viel von dem hat mit Vertrauen zu tun. Wenn wir nicht zumindest ein kleines Risiko eingehen, werden wir nie Fortschritte machen und weiterkommen.« »Wo sollen wir denn hinkommen?«, wollte sie wissen.

Ich lachte.

Jades schöne Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln, und Cathy hob beinahe den Blick vom Boden.

»Nach Hause«, erwiderte Dr. Marlowe, deren Augen sich mit einer beinahe spitzbübischen Fröhlichkeit erfüllten, als sie sich dieser Herausforderung stellte. »Zurück zu dir selbst, Star. Zurück zu der, die du sein sollst, die du sein willst. Zurück ins gute Wetter, heraus aus den Stürmen, heraus aus dem kalten peitschenden Regen, den dunklen Wolken«, fuhr sie fort.

Wenn sie so mit ihrer sanften, melodischen Therapeutinnenstimme sprach, klang das so gut, dass keine von uns weghören konnte. Selbst Cathy schaute zu ihr auf, als hielte sie die Aussicht auf Leben und Glück in Händen und Cathy müsste nur noch zugreifen.

»Weg vom Schmerz«, fuhr Dr. Marlowe fort. »Dahin wollen wir gehen. Bist du dazu bereit, Star?«

Sie warf mir einen Blick zu und nickte nur.

»Gut.«

»Es ist ganz einfach, Mädchen. Ihr werdet den Großteil des Redens übernehmen. Ich bin wirklich nur Zuhörerin; und wenn eine von euch spricht, werden die anderen mit mir zuhören.«

»Sie meinen, wir sitzen hier nur wie Blumentöpfe herum? Wir dürfen keine Fragen stellen?«, erkundigte Jade sich.

»Was meinen die anderen? Ihr legt die Regeln fest. Dürft ihr einander Fragen stellen?«, gab sie die Frage an uns zurück.

»Ja«, antwortete ich. »Warum nicht?«

Dr. Marlowe sah Star und Cathy an. Star nickte, aber Cathy wich ihrem Blick aus.

»Also, vielleicht sollten wir einfach anfangen und sehen, wie es läuft«, entschied Dr. Marlowe.

»Was genau sollen wir erzählen?«, fragte Jade.

»In jeder Sitzung wird eine von euch ihre Geschichte erzählen«, erklärte sie mit einem kleinen Achselzucken. »Ich habe vier aufeinander folgende Sitzungen dafür eingeplant.«

»Unsere Geschichte? Ich habe keine Geschichte«, protestierte Star.

»Du weißt, dass es so ist, Star. Jede von euch kann einfach dort anfangen, wo sie möchte. Heute seid ihr hier. Wie seid ihr hierher gekommen?«

»Mein Chauffeur brachte mich her«, sagte Jade.

»Komm schon, Jade. Du weißt doch, was ich meine«, ermahnte Dr. Marlowe sie.

Jade lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und wirkte plötzlich unangreifbar, als würde sie sich unserer guten Frau Doktor widersetzen, ihre Geheimnisse zu enthüllen. »Wer fängt an?«, fragte Star.

Dr. Marlowe schaute Cathy an, die noch bleicher wurde. Sie warf Jade einen Blick zu, ließ ihn dann über Star gleiten und auf mir ruhen.

»Ich möchte, dass Misty anfängt«, bestimmte sie. »Sie ist schon am längsten bei mir. Ist das für dich in Ordnung, Misty?«

»Aber klar«, erwiderte ich und schaute die anderen an. »Es war einmal vor langer Zeit, da wurde ich geboren. Meine Eltern versuchten mich zurückzugeben, aber es war zu spät.« Jade lachte, und Star grinste breit. Cathy riss die Augen weit auf.

»Nun komm schon«, ermahnte mich Dr. Marlowe. »Wir wollen unsere Zeit doch gut nutzen.«

Sie warf mir diesen verdrießlichen Blick zu, den sie oft anwendet, wenn sie mich dazu bringen will, ernsthaft zu sein.

Ich holte tief Luft.

»Okay«, sagte ich und rückte ein Stückchen nach vorne. »Ich fange an. Es macht mir nichts aus, meine Geschichte zu erzählen.« Ich schaute sie alle an und lächelte. »Vielleicht wird sie ja einmal verfilmt und gewinnt den Oscar.«

Das Haus im Nebel

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