Читать книгу Das Haus im Nebel - V.C. Andrews - Страница 12

Оглавление

KAPITEL DREI

Als Jade zurückkam, nahm sie sich einen Keks vom Tablett und setzte sich. Nachdem sie einen Moment überlegt hatte, beugte sie sich vor, nahm den Teller und bot Cathy einen Keks an, die sie anstarrte, als seien es verbotene Früchte.

»Es ist nur ein Keks«, sagte Jade. »Betrachte das nicht als lebensbedrohliche Entscheidung.«

Behutsam nahm Cathy einen vom Teller und führte ihn langsam zum Mund, wobei sie kaum die Lippen öffnete.

»Mädel, das ist doch kein Gift«, sagte Star heftig und biss in den Keks in ihrer Hand, als wollte sie es beweisen.

Ich schaute Dr. Marlowe an und sah an ihrem Blick, dass sie sehr daran interessiert war, wie wir uns den anderen gegenüber verhielten. Vielleicht war das für sie ein genauso großes Experiment wie für uns.

Sie wandte sich wieder mir zu und nickte. Ich schaute zum Fenster hinaus und ließ sie alle warten. Schließlich hatten sie mich unterbrochen, oder?

»Ich weiß, dass mein Vater sich noch mehr Kinder wünschte. Das war übrigens der Anlass zum ersten großen Streit, an den ich mich erinnern kann«, begann ich, immer noch mit Blick aus dem Fenster. Langsam wandte ich mich wieder ihnen zu. »Das war wohl, bevor meine Mutter Probleme mit dem Sex bekam. Mein Vater wusste nicht, dass meine Mutter Empfängnisverhütung betrieb. Die ganze Zeit tat sie so, als wollte sie schwanger werden. Eines Abends fand er ihre Pillen und bekam einen Wutanfall, aber nicht sofort. Er kam nicht brüllend die Treppe heruntergestürmt oder so was.

Meine Mutter und ich waren unten und schauten fern. Sie machte sich gerne die Fußnägel, während eine ihrer Lieblingsshows lief. Wie üblich äffte ich sie nach und lackierte auch gerade meine Fußnägel.

Plötzlich tauchte Daddy in der Tür auf. Er hatte seine Krawatte abgenommen und sein Hemd aufgeknöpft. Sein Haar sah aus, als sei er den ganzen Tag mit den Fingern hindurchgefahren.

Er stand da und starrte uns einige Augenblicke schweigend an. Mommy sah zu ihm hoch und arbeitete dann weiter an ihren Nägeln.

›Stell dir mal vor, was ich gerade gefunden haben, Gloria‹, sagte Daddy mit zuckersüßer Stimme, so süß, dass ich dachte, es sei etwas, das beide schon lange vermisst hatten.

Ohne ihn anzuschauen, fragte Mommy: ›Was denn?‹

›Ich war auf der Suche nach diesem Designergürtel, den ich dir voriges Jahr geschenkt habe, weil ich mich daran erinnerte, dass du den gleichen in einer anderen Farbe haben möchtest. Also öffnete ich die unterste Schublade deines Kleiderschranks, um mir den Namen einzuprägen, und siehe da …‹, sagte er immer noch ganz ruhig.

›Was ist es denn, Jeffrey?‹, fragte sie ungeduldig und hob zögernd den Blick.

Er öffnete die Hand und hielt ihr eine Schachtel mit Antibabypillen entgegen. Einige fehlten. Ich wusste immer noch nicht, was das war, und glaubte immer noch, es sei etwas, das sie gesucht hatten, eine wichtige Medizin oder so was.

Eine Weile starrte sie schweigend vor sich hin.

›Du hattest kein Recht, meine Sachen zu durchwühlen, Jeffrey.‹

›Du willst also den Spieß umdrehen? Mich zum Sündenbock machen?‹ Er wartete einen Augenblick. Obwohl ich so jung war, spürte ich, dass dieses Schweigen zwischen ihnen die Ruhe vor dem Sturm bedeutete. Ich erinnere mich daran, dass ich die Luft anhielt und mein kleines Herz klopfte, als versuchte ein Specht daraus auszubrechen.

›Was ist denn mit deiner Lüge?‹, fragte er kopfschüttelnd.

›Mich so zu hintergehen? So zu tun, als wolltest du genauso gerne wie ich ein weiteres Baby haben, dass ich ein schlechtes Gewissen bekam, weil du nicht schwanger wurdest, und tatsächlich mein Sperma untersuchen ließ? Das ist nicht schlimm? Antibabypillen! Du hast die ganze Zeit heimlich die Pille genommen?‹«

›Mach doch daraus kein Drama‹, wollte sie nonchalant darüber hinweggehen, aber ich hörte das leise Zittern in ihrer Stimme, eine Spur von Angst.

Er nickte und wollte sich schon abwenden und hinausgehen, wirbelte aber plötzlich herum und schleuderte die kleine rosa Packung so vehement quer durch das Wohnzimmer, dass sie gegen einen nummerierten Druck krachte, den meine Mutter erst eine Woche zuvor in einer Galerie am Rodeo Drive gekauft hatte, und das Glas zerschmetterte. Die Pillen flogen überall umher.

›Du Idiot!‹, kreischte meine Mutter.

Ich war fast unter das Sofa gekrochen.

›Wie konntest du mich bei so etwas belügen? Wie konntest du nur?‹, rief mein Vater.

Mommy machte ungerührt mit ihren Fußnägeln weiter, während er vor Wut schäumend zur Tür stürmte mit einem so hochroten Gesicht, dass ich befürchtete, das Blut würde ihm aus dem Kopf schießen.

›Ich wollte dich nicht enttäuschen‹, sagte sie schließlich. ›Was?‹

›Ich wollte dir nicht sagen, dass ich kein zweites Kind haben möchte. Ich wusste, wie sehr du es dir wünschtest, deshalb hielt ich sie versteckt‹, erklärte sie ihm.

›Ich verstehe das nicht‹, murmelte er.

Sie schaute wieder auf.

›Sieh mich an, Jeffrey.‹

›Ich sehe dich doch an‹, erwiderte er.

›Nein, schau genau hin, Jeffrey. Ich hatte früher Größe sechsunddreißig, und ganz gleich, was ich tue, ich komme da nicht wieder hinein, weil meine Hüften für immer zu breit geworden sind, ganz gleich, wie sehr ich mich bemühe, wie streng ich Diät halte, wie hart ich trainiere, ob mit oder ohne personal trainer – es nützt nichts. Wenn schon ein Baby das meiner Figur antut, was ist dann mit zwei?‹

›Deine Figur? Deine Figur! Darüber machst du dir Sorgen?‹, schrie er.

›Oh, nein, versuch nicht, mich zum Narren zu halten, Jeffrey. Männer‹, erklärte sie kategorisch, ›machen ihre Frauen hässlich und dick, und dann schauen sie sich anderweitig um. Genau wie jeder andere Ehemann wirst du dir andere Frauen anschauen‹, prophezeite sie. ›Wenn ich nicht schön bleibe‹, fügte sie flüsternd hinzu.

Ich erinnere mich daran, wie geschockt ich war, als sie sagte, ich hätte ihre Figur ruiniert. Daddy ging. Sie lackierte ihre Nägel zu Ende, schnappte sich ihre Vogue und marschierte hinaus. Dabei murmelte sie, wie wenig man sie zu schätzen wisse. Ich weiß noch genau, dass ich eine von diesen Pillen fand, nachdem sie das Zimmer verlassen hatte. Mir kam damals der Gedanke, dass sie, wenn sie die Zeit zurückdrehen könnte, eine von diesen Pillen nehmen und mich daran hindern würde, in ihrem Bauch zu wachsen. Selbst damals, als ich noch so klein war, begriff ich das. Ich nahm die Pille und zermalmte sie mit dem Fuß.

Was ich nicht begriff war, dass dies der Anfang vom Ende war.

Ich lehnte mich zurück und dachte einen Augenblick nach. Niemand sprach. Dr. Marlowe trank einen Schluck Limonade und wartete ab.

Während ich auf den Boden starrte, redete ich weiter wie in Trance. Ich hörte mich selbst, aber es klang wie eine Stimme aus dem Radio.

»Es ist, als lebte man in einer Zauberwelt in einem großen Ballon und langsam entweicht die Luft. Allmählich rücken Wände und Decke immer näher. Es wird stickig, und du möchtest nur noch ausbrechen.«

Ich schaute die anderen an. Jede hing ihren eigenen Gedanken nach, jede wirkte traurig, aber nicht meinetwegen, sondern ihretwegen.

Dr. Marlowe wirkte erfreut, sogar sehr erfreut darüber, wie sich jede verhielt. Als hätte ich bewiesen, dass sie eine gute Therapeutin ist. Toll, vielleicht bekam ich am Ende der Sitzung ja ein Zeugnis, dass ich es geschafft hatte.

Erneut holte ich tief Luft. Warum hatte ich das Gefühl, als steckte ich jedes Mal, wenn ich sprach, den Kopf unter Wasser? »Als ich fast vierzehn war, fing es richtig an. Mein Vater machte immer längere Geschäftsreisen. Mir schien das mehr auszumachen als meiner Mutter. Er verpasste meinen Geburtstag. Erst sehr spät am Abend rief er aus New York an. Als er mich fragte, wie mir mein Geschenk gefiel, merkte ich, dass er überhaupt nicht wusste, was meine Mutter für mich gekauft hatte. ›War es etwas, das du dir gewünscht hattest?‹, wollte er wissen.

Das Einzige, was ich mir wünschte, war, dass sie mich liebten und dass sie einander wieder liebten, aber ich sagte ja und er war erleichtert.«

Ich schaute die anderen an. Über meine Augen hatte sich ein Tränenschleier gelegt.

»Wir machen es ihnen so viel leichter, wenn wir ihnen sagen, was sie hören wollen«, überlegte ich, »aber deshalb hören sie nicht auf. Plötzlich gab es immer häufiger Streit. Es war wie eine Art Krankheit, die alle infizierte. Daddy hatte sich noch nie über Rechnungen beschwert. Plötzlich schmiss er sie auf den Esstisch und verhörte Mommy wie ein Staatsanwalt, wollte wissen, warum sie dies oder jenes brauchte, und fragte ständig, wann das alles endlich aufhören würde.

›Das hört nie auf, Jeffrey. Man nennt es Leben‹, korrigierte sie ihn. Daraufhin fing er an zu toben, hauptsächlich darüber, dass andere Frauen viel sparsamer und effizienter seien.

Anscheinend suchten beide nach Gründen, um sich zu beklagen. Es war, als würden sie sich plötzlich gegenseitig ein Vergrößerungsglas vor das Gesicht halten und nur noch die kleinen Fehler und Makel des anderen sehen. Eines von Daddys Lieblingsthemen waren Mommys Rechnungen aus dem Schönheitssalon. Zweimal die Woche kam auch eine Masseuse, jedes Wochenende fand eine Gesichtsbehandlung statt, und dann hatte sie natürlich noch ihren personal trainer. Ich verstand die Kommentare nicht genau, die er leise vor sich hin murmelte, aber es waren Sachen wie: ›Warum machst du dich so schön für mich? Das ist doch nur Zeitverschwendung.‹

Sie fing dann an zu weinen, und eine Zeit lang hörte der Streit auf. Daddy sah dann aus, als fühlte er sich auch furchtbar.

Ich wusste, dass sie sich nicht stritten, weil Daddy weniger Geld verdiente. Shirley Kagan erzählte mir, dass ihre Eltern sich deshalb hatten scheiden lassen. Aber Daddy kaufte sich in dem Jahr ein neues teures Auto, einen Mercedes, und er schaffte auch einen teuren neuen Fernseher mit Großbildschirm an. Immer stärker gewann ich den Eindruck, sie suchten nach Streitfragen, hoben Steine auf, um zu sehen, welche Fehler des anderen sie darunter fanden.

Sogar ums Essen stritten sie sich. Eines Tages beklagte Daddy sich über die Auswahl der Frühstückszerealien. Vorher hatte er sich nie Gedanken darüber gemacht. Er verzehrte zum Frühstück nur Saft, Toast und Kaffee, aber auf einmal durchforstete er den Vorratsschrank und kritisierte, was Mommy im Supermarkt gekauft hatte.

Manchmal machten sie mich zum Schiedsrichter. Beide wandten sich an mich und fragten mich nach meiner Meinung. Ich hatte das Gefühl, über einem lodernden Feuer zu hängen, und wenn ich die falsche Antwort gab, würde der Strick durchgeschnitten und ich stürzte in den glühenden Zorn.

Meine Mutter sagte Dinge wie: ›Dein Vater ist ein engstirniger Idiot.‹

Mein Vater entgegnete darauf: ›Ich hoffe nur, du wirst nicht wie deine Mutter.‹

Ich wurde schlecht in der Schule. Oft wirbelten sie mitten in einem Streit zu mir herum und schimpften über meine Arbeit, meine Kleidung, meine Freunde. Ich glaube, es half ihnen beiden, dass ich stets zur Verfügung stand. Ich war wie ein Testziel oder so etwas. Mehr als einmal sagte ich ihnen, dass ich sie beide hasste, und rannte nach oben, hysterisch, mit tränenüberströmtem Gesicht.

Dann machte einer dem anderen Vorwürfe, mich im Stich zu lassen, und eine neue Gefechtsrunde setzte ein.

Grau war in mein Haus eingedrungen. Ich hasste es, nach Hause zu kommen, und hasste es, zum Essen hinunterzugehen, wenn Daddy da war. Ich konnte spüren, wie das ganze Haus statisch aufgeladen war, alles rund um mich herum knisterte.

Ich erinnere mich noch genau daran, wie still es plötzlich wurde. Man hörte keine Musik mehr, nicht einmal mehr den Fernseher. Wir waren zu einer Familie von Zombies geworden, Schatten unserer selbst, die über die Wände glitten und einander aus dem Weg gingen.

Als Daddy nach Hause kam, begrüßte Mommy ihn nicht einmal. Er sagte dann so etwas wie: ›Hallo, Gloria‹, und sie murmelte nur leise vor sich hin.

Schließlich riefen Mommy und Daddy mich eines Tages, an einem Wochenende, zu sich und baten mich, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Mommy saß in dem gepolsterten Ledersessel, und Daddy stand am Fenster. Ich kann mich noch genau an jede Einzelheit dieses Tages erinnern. Am Morgen hatte es geregnet, aber dann tauchte die Sonne zwischen dicken, schmutzig wirkenden Wolken auf. Die ganze Welt schien böse geworden zu sein. Ich hatte ein wenig Bauchweh, Krämpfe, die ankündigten, dass meine Periode kurz darauf ihren üblichen spektakulären Auftritt machen würde. In der letzten Zeit waren die Schmerzen stärker und weniger regelmäßig geworden. Die Schulkrankenschwester meinte, das könnte auf Stress zurückzuführen sein. Ich glaube, sie wollte nur etwas interessanten Tratsch erfahren.

Auf jeden Fall setzte ich mich zu ihnen ins Wohnzimmer. Daddy trug ein dunkles Sportjackett, keine Krawatte, eine Freizeithose und seine hellbraunen Mokassins. Mommy war wie üblich perfekt frisiert und geschminkt wie zu einer Abendveranstaltung. Sie trug einen ihrer Hosenanzüge und dazu passende dicke, hochhackige Schuhe. An den Fingern und Handgelenken funkelte das übliche Aufgebot an kostbarem Schmuck. Sie trug auch die goldenen blattförmigen Ohrringe mit den kleinen Diamanten. Ich erinnere mich daran, dass mir auffiel, wie gut gekleidet beide waren.

Ich trug Jeans und ein Sweatshirt, dazu Turnschuhe ohne Socken. Meine Mutter konnte es nicht ausstehen, wenn ich keine Socken anhatte.

Ich saß da und wartete. Schließlich sah sie Daddy an und sagte: ›Also, wirst du es ihr sagen oder soll ich?‹

Daddy drehte sich um und warf ihr einen Blick zu, der ihr Gesicht zertrümmert hätte, wenn er eine Faust gewesen wäre, dann wandte er sich mir zu, und sein Gesichtsausdruck wurde weicher.

›Misty‹, fing er an. ›Wahrscheinlich ist dir aufgefallen, dass dieses Boot, in dem wir alle sitzen, in letzter Zeit in stürmische Gewässer geraten ist. Der alte Kahn schaukelte gefährlich hin und her, und offen gesagt dringt zu viel Wasser ein.‹

›Oh, Gott‹, unterbrach meine Mutter ihn, ›sag es ihr einfach und hör mit diesen dämlichen Vergleichen auf. Sie ist kein Baby, Jeffrey.‹

›Wenn dir nicht passt, wie ich es ihr sage, dann sag du es ihr doch‹, fuhr er sie an, und mir wurde klar, dass sie sich sogar darüber stritten.

Ich wusste, was sie mir sagen wollten. Ich fühlte es, spürte es, hörte die Worte, noch bevor sie ausgesprochen waren. Ich fürchtete mich nur davor, sie aus ihrem Mund zu hören, weil ich dann wusste, dass es wirklich passierte, dass dies alles nicht nur ein böser Traum war.

›Was dein Vater dir auf diese ungeschickte Weise zu sagen versucht, ist, dass wir uns entschieden haben, dass es für uns alle besser ist, wenn wir uns scheiden lassen‹, stellte Mommy entschlossen fest.

Ich schaute ihn an, daraufhin senkte er den Blick. Dann wandte ich mich an sie und sagte: ›Besser für uns alle? Das soll gut für mich sein?‹

›Es kann nicht gut für dich sein, jeden Tag, jede Minute mitten in so etwas zu stecken‹, behauptete Mommy. ›Es beeinträchtigt auch deine Schulleistungen. Wir haben bereits mit einem Psychologen gesprochen, und er versicherte uns, dass dein dramatischer Leistungseinbruch auf unsere Eheprobleme zurückzuführen ist‹, sagte sie.

Ich erinnere mich noch genau, wie sehr mich das schockte. Sie hatten mit einem Psychologen gesprochen, ihm ihre persönlichen Probleme erzählt, unsere persönlichen Probleme? Dies war schon vor einiger Zeit ohne mein Wissen erfolgt. Nie zuvor in meinem Leben hatte ich mich so als Fremde in meinem eigenen Zuhause gefühlt wie in jenem Augenblick. Wer waren diese beiden Menschen, fragte ich mich.

Ich schaute erst Daddy und dann Mommy an und stellte fest, wie sehr sich beide verändert hatten. Beide versuchten jünger auszusehen, aber plötzlich wirkten sie auf mich so alt und klapprig. Was war mit meinen Eltern geschehen, meinen schönen Eltern, denen so viele Komplimente gemacht wurden?«

Ich machte eine Pause.

»Wohin gehen Menschen, wenn sie sich ändern?«, fragte ich die anderen. Sie merkten, dass ich wirklich eine Antwort suchte.

»Wie bitte?«, fragte Jade. »Ich verstehe nicht ganz.«

Ich schaute Dr. Marlowe an. Sie und ich hatten schon früher über meine Theorie gesprochen, dass Menschen schon oft sterben, bevor sie begraben werden.

»Die beiden Menschen, die meine Eltern waren, waren verschwunden«, erklärte ich Jade. »Diese beiden Menschen waren irgendwie gestorben.«

»Ich verstehe das nicht«, sagte Star, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt. »Deine Eltern leben doch noch, oder?«

»Nicht so, wie sie für mich da waren«, sagte ich.

Jades Augen verengten sich, als sie darüber nachdachte, was ich gesagt hatte. Dann nickte sie leicht.

»Ich verstehe«, sagte sie. »Sie hat Recht. Auch meine Eltern sind jetzt andere Menschen.«

»Also, ich bin mir immer noch nicht sicher, was du meinst. Vielleicht weil meine Eltern wirklich weg sind«, bohrte Star weiter. Sie schaute Cathy an, die die Lippen aufeinander presste, als hätte sie Angst, einen Kommentar abzugeben.

»Du wirst es noch verstehen«, sagte Jade zu Star.

»Oh, du weißt, was ich kapieren werde und was nicht? Bist du jetzt die Therapeutin?«

»Richte bitte nicht deine Feindseligkeit gegen mich«, sagte Jade mit entschlossener »Ich nehme die Sache in die Hand«-Haltung.

»Richte was? Was soll das heißen?«, rief Star mit blitzenden Augen.

»Mädchen, macht einmal eine Atempause«, schritt Dr. Marlowe ein. »Entspannt euch. Lehnt euch zurück und denkt darüber nach, was Misty gesagt hat. Verdaut es einen Augenblick lang, und später können wir darüber reden.«

»Ich weiß nicht, was es darüber zu reden gibt. Das ist doch dämlich. Tot, nicht tot, weg«, murmelte Star, während sie sich mit verschränkten Armen zurücklehnte. Ihre großen dunkelbraunen Augen wanderten von Jade zu mir und schließlich zu Dr. Marlowe.

»Möchtest du jetzt weitermachen, Misty?«, erkundigte sich Dr. Marlowe.

»In Ordnung«, sagte ich, holte tief Luft und fuhr fort.

»Meine Eltern schauten mich beide an, starrten mich an, warteten wohl darauf, dass ich auf ihre Ankündigung reagierte.

›Was wollt ihr von mir?‹, fragte ich.

›Wir wollen gar nichts von dir‹, erwiderte mein Vater. Was für ein Witz das war. Noch nie hatten sie mehr von mir verlangt als jetzt.

›Wir wollen nur, dass dies mit möglichst wenig Schmerzen für dich vonstatten geht. Deine Mutter und ich haben uns geeinigt, dass du weiter mit ihr hier lebst. Ich ziehe aus. Dir wird es an nichts mangeln. Darauf werden wir beide achten‹, sagte er, und da lächelte ich voller Verachtung.

›Mir wird es an nichts mangeln? Stimmt das, Mommy?‹

›Also, Misty, du bist doch alt genug, um das alles zu verstehen‹, sagte sie.

›Tatsächlich?‹ Ich schaute Daddy an, auf einmal wirkte er wie ein ungezogener kleiner Junge auf mich. Er senkte den Blick und ließ den Kopf hängen.

Ich spürte, wie Tränen in mir hochstiegen, aber ich wollte vor ihnen nicht weinen; ich wollte ihnen beiden das Gefühl geben, dass sie mir in diesem Augenblick gleichgültig waren.«

Jade nickte mit tränenerfüllten Augen. Cathy kaute an der Innenseite ihrer Wange, und Star starrte mich mit einem solchen Ausdruck puren Entsetzens an, als sähe sie ihr eigenes Spiegelbild. Allmählich konnte ich mir vorstellen, was sie für Erinnerungen hatte.

›Wo wirst du wohnen, Daddy?‹, fragte ich fast teilnahmslos. Genauso gut hätte ich ihn fragen können, wo seine nächste Geschäftsreise hinführe.

›Oh, ich bin ganz in der Nähe. Ich habe ein Apartment in Westwood gefunden‹, sagte er mit einem Lächeln, als sei damit alles in Ordnung. ›Du kannst am Wochenende zu mir kommen‹, versprach er.

›Wenn er da ist‹, stellte Mommy rasch fest.

›Ich werde dafür sorgen, dass ich dich oft sehe‹, setzte er ihrem wütenden Blick entgegen.

Ich erinnere mich daran, dass ich das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen, als sei der Atem in meiner Brust so heiß, dass es besser war, ihn nicht wieder durch Kehle und Nase auszuatmen, aber das war so schwer. Ich musste tief Luft holen. ›Wann wird das alles passieren?‹, fragte ich sie.

›Es passiert bereits‹, erwiderte Daddy. ›Unsere Anwälte sind in Verbindung getreten, und ich ziehe heute Nachmittag aus.‹

Ich fragte mich, wo ich gewesen war, als sich all das abspielte. Sie hatten mit Psychologen und Anwälten gesprochen. Daddy verließ das Haus noch am gleichen Tag. Er hatte bereits gepackt!

Eines Tages wachten sie morgens auf, sahen einander an und entschieden, dass sie nicht länger Mann und Frau waren? Funktionierte das so?

All die Karten und all die Versprechen, all die schönen Geschenke und das glückliche Lachen, all die Küsse und Umarmungen, mit denen sie einander überschüttet hatten, wurden in den Abfalleimer geschmissen. Ich stellte mir vor, jedes nette Wort, das sie zueinander gesprochen hatten, jeder Liebesschwur wurde in ihre Münder zurückgesaugt und hinuntergeschluckt.

Nur ich blieb übrig und erinnerte mich, wie glücklich mein Herz klopfte beim Anblick der beiden, wenn sie sich an den Händen hielten, an Stränden und auf Straßen nebeneinander hergingen, sich am Esstisch küssten, sich umarmten, manchmal mit mir in der Mitte.

Nur ich blieb übrig, um mich an die Musik und den Gesang, die glücklichen Geburtstage, die Weihnachtstage, die Neujahrswünsche und den Klang des Lachens zu erinnern.

Ich war alleine, auf einer Insel der Erinnerungen, und schaute auf einen Ozean hinaus, wo sich Wellen unter einem bedeckten Himmel brachen.

›Das wär’s also‹, sagte Mommy. ›Es tut mir Leid, Liebling, aber wir versprechen, dir keinen Schmerz zuzufügen, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt.‹

›Das stimmt‹, bestätigte Daddy.

Ich lachte.

Jade, Star und Cathy rissen überrascht die Augen auf.

»Es stimmt, ich lachte. Ich lachte so sehr, dass mir der Bauch wehtat. Die beiden, besonders Mommy, schauten einander so überrascht und verwirrt an, dass ich noch stärker lachen musste. Ich bog mich vor Lachen und plumpste zu Boden.

›Ich verstehe nicht, was daran so komisch ist‹, sagte Daddy zu Mommy.

Sie zuckte die Achseln.

›Ich auch nicht‹, gab sie zu.

Schaut sie euch an, dachte ich. Endlich sind sie sich wieder einig.

›Was ist daran so komisch, Misty?‹, wollte Daddy mit seinem barschen Daddy-Gesicht wissen.

›Ja, sag uns, was deiner Meinung nach so komisch ist‹, forderte Mommy mich auf und runzelte dabei die Stirn, etwas, das sie hasste, weil dadurch Falten entstehen.

›Das Versprechen‹, sagte ich.

›Was?‹

Sie schauten erst einander und dann mich an.

›Dass ihr zwei mir jetzt Versprechungen macht‹, sagte ich. Ich stand auf und wischte mir die heißen Tränen von den Wangen. Dann starrte ich die beiden an, die mit verwirrten Gesichtern dasaßen.

›Du weißt, was ein Versprechen in diesem Haus für mich bedeutet, Daddy‹, sagte ich. ›Es ist eine getarnte Lüge.‹

Dann rannte ich aus dem Wohnraum, hinauf in mein Zimmer und stürzte mich auf mein Bett.

Ein wenig später hörte ich, wie Daddy seine Sachen die Treppe hinuntertrug. Bevor er ging, kam er an meine Tür und klopfte, aber ich reagierte nicht.

›Ich rufe dich in ein oder zwei Tagen an, Prinzessin‹, sagte er.

Und wisst ihr was«, verriet ich meinen neuen Freundinnen, »seitdem hat er mich nie mehr Prinzessin genannt.«

Das Haus im Nebel

Подняться наверх