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Einleitung:
Der hessische Raum in der ersten Demokratie

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Am 16. März 1933 stimmte die „Frankfurter Zeitung“ einen Schwanengesang auf den benachbarten Volksstaat Hessen(-Darmstadt) an, dessen letztes demokratisch-republikanisches Kabinett wenige Tage zuvor aus den Angeln gehoben und an dessen Stelle eine Regierung der Nationalsozialisten installiert worden war. Damit wurde die in der Revolution 1918/19 ins Leben gerufene Demokratie zerstört. Am Ende des im August 1914 ausgebrochenen Ersten Weltkriegs war das 1871 begründete Kaiserreich zusammengebrochen. Auf die Monarchie war schließlich die Republik gefolgt.

Im Bewusstsein um die Bedeutung des Machtwechsels in Darmstadt lobte die liberale Zeitung aus der größten Stadt der preußischen Provinz Hessen-Nassau das über die gesamte Zeit der Republik vornehmlich von Sozialdemokraten regierte Nachbarland: „Kein deutsches Land hat in diesen letzten vierzehn Jahren eines derartig beständigen Regierungssystems sich zu erfreuen gehabt wie der auf beiden Seiten der sagenhaften Mainlinie verteilte Volksstaat Hessen. […] Es ist eben tatsächlich kein Trümmerhaufen, sondern es ist ein wohlgeordnetes und im allgemeinen wohlregiertes Land, das die Regierung Adelung ihren Nachfolgern hinterlässt. In den bald eineinhalb Jahrzehnten seit dem großen Zusammenbruch hat es ohne Unterbrechung nur eine einzige Regierungskoalition gehabt […]. Es war die Weimarer Koalition von Sozialdemokratie, Zentrum und Demokratischer Partei. […] Im Vorsitz der Regierung war nur einmal, vor fünf Jahren, ein Wechsel eingetreten, als der erste Staatspräsident Ulrich bei seinem 75. Geburtstag die Führung in jüngere Hände gab und Herr Adelung an seine Stelle trat.“1

Was für den Volksstaat mit nur zwei Kabinettschefs, den Sozialdemokraten Carl Ulrich und Bernhard Adelung, galt, traf weitgehend auch auf das übermächtige Preußen zu, zu dem die Provinz Hessen-Nassau mit den beiden Regierungsbezirken Kassel und Wiesbaden gehörte. Ein kontinuierliches republikanisch-demokratisches Regierungshandeln bestimmte auch dort weitestgehend die Weimarer Zeit. Doch die erste deutsche Demokratie sollte nur eine Lebensdauer von 14 Jahren erreichen – nach einer turbulenten Zeit der Krisen und Überlebenskämpfe. Bereits 1933 wurde die Weimarer Republik zerstört und die nationalsozialistische Diktatur eingeleitet. Kaum eine Periode der deutschen Geschichte scheint so gut erforscht zu sein wie die der Weimarer Demokratie. Dabei galt sie lange lediglich als eine Phase des Übergangs zwischen Monarchie und Diktatur, als Nachgeschichte von halbdemokratischem Kaiserreich und Erstem Weltkrieg und als Vorgeschichte von nationalsozialistischer Schreckensherrschaft und Zweitem Weltkrieg.

Es war eine deterministische Sicht vor allem aus dem linken bis linksliberalen Raum, dass die aus dem Zusammenbruch der Monarchie entstandene erste deutsche Republik von Anbeginn an wegen versäumter tiefgreifender Neuordnung in der Revolution den Keim einer tödlichen Krankheit in sich getragen habe, der 1930 zum Ausbruch gekommen sei und schließlich 1933 zum Ende des Weimar-Experiments geführt habe. Hierin finden sich linkssozialistische Wunschbilder mit einer Überbewertung des radikal-revolutionären Potentials in der Revolutionsphase (und der nachfolgenden Zeit), um zu konstatieren, dass der Untergang eigentlich schon in der Revolutionszeit begründet worden war.

In der Beschreibung der kurzen Lebensdauer richtete sich der Blick lange Zeit immer auf Fehlentwicklungen und Mängel, die man für das Scheitern verantwortlich machte. Dabei wird gelegentlich übersehen, dass es eine für eine konsequente Reformpolitik erforderliche sozialistische Mehrheit eben nicht gab: nicht im Reich, nicht im mächtigen Preußen, nicht im mittelgroßen Hessen(-Darmstadt). Die doch eher eindimensionale Sichtweise scheint mittlerweile überwunden, auch wenn in mancher Betrachtung, auch neueren Datums, noch von einer verpassten linkssozialistischen Alternative oder gar einer rätedemokratischen/-diktatorischen Lösung zu lesen ist.

Vielmehr steht nun im Vordergrund der historischen Analyse die Frage, ob diese Republik, das erste wirklich demokratisch strukturierte Gemeinwesen in der deutschen Geschichte, nicht auch Erfolge vorzuweisen hat. Sie verdient eben mehr Anerkennung, allein schon wegen der Tatsache, dass sie angesichts der Lasten und Belastungen überhaupt die ersten Jahre überstand. Es herrscht doch mittlerweile Einigkeit, sie als eine eigenständige Periode durchaus mit Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten zu sehen. Zwischen Chaos und Gewalt entwickelte sich republikanisches Denken und Handeln, erlebte die Demokratie trotz dauerhafter Krisen Phasen der weitgehenden Normalität und der steigenden Akzeptanz.

Beim Blick auf die Gesamtentwicklung mit dem Fokus auf Reich und Reichsgewalt ist die Geschichte der einzelnen Länder in der ersten Republik lange Zeit zu kurz gekommen. Mittlerweile sind sie Gegenstand von Betrachtungen geworden, die in ihrer Tiefe weit auseinanderklaffen. Dabei weisen die Länder recht unterschiedliche Entwicklungen auf. Sie waren Stabilitätsanker der Republik, aber auch Krisenherde der Demokratie.2 Während in Thüringen der Nationalsozialismus schon früh Fuß fasste und 1930 an der Regierung beteiligt war, blieben das übermächtige Preußen und das südwestdeutsche Baden demokratische Horte bis in die Endphase der Republik. Das galt auch für den seinerzeitigen Volksstaat Hessen mit der Hauptstadt Darmstadt und weiten linksrheinischen, heute zu Rheinland-Pfalz gehörenden Gebieten. In dieser hier vorliegenden Darstellung geht es aber nicht allein um den Volksstaat, sondern um Hessen in seinen 1945 gezogenen Grenzen. Mit dem Blick auf Hessen erweitert sich unsere Perspektive auf die Weimarer Republik und das Scheitern der ersten deutschen Demokratie.

Das heutige, nach dem Zweiten Weltkrieg erst geschaffene Hessen bestand am Ende des Ersten Weltkriegs 1918 aus vier unterschiedlichen Territorien. Die räumliche Gliederung über dem hessischen Raum war ganz wesentlich Resultat des preußisch-österreichischen Krieges von 1866, als sich Kurfürstentum Hessen und Herzogtum Nassau auf die Seite des später unterlegenen Österreichs geschlagen und die bis dahin Freie Stadt Frankfurt Österreich die Bundestreue gehalten hatte. Kurhessen, Nassau und Frankfurt verloren ihre Existenz als souveräne Staaten und gingen mit der Landgrafschaft Hessen-Homburg, die nach dem Tod des letzten Regenten im März 1866 in Personalunion mit dem Großherzogtum Hessen verbunden war, in Preußen auf und bildeten eine Provinz. Demgegenüber wurde durch den im September 1866 mit dem Königreich Preußen unterzeichneten Friedensvertrag das auf der Seite der Verlierer stehende Großherzogtum zwar territorial beschnitten – es verlor insbesondere das oberhessische Biedenkopf – und musste zudem neben der Leistung von drei Millionen Gulden Kriegsentschädigung seinen Verzicht auf Hessen-Homburg erklären, behielt aber seine Selbstständigkeit und zog schließlich als eigener Bundesstaat in das 1871 gebildete Deutsche Reich ein.

1918 zeigte sich damit folgende Gliederung im Raum Hessen: Da war die Provinz Hessen-Nassau als Teil des dominierenden größten Flächenstaats Preußen. Die Provinz mit der Hauptstadt Kassel unterteilte sich in die Regierungsbezirke Kassel und Wiesbaden. 1919 umfasste Kassel 24 Kreise, Wiesbaden 17. Der vom hannoverschen Gebiet umschlossene, zur Provinz Hessen-Nassau gehörende Kreis Rinteln, die vormalige Grafschaft Schaumburg, ging 1932 an die preußische Provinz Hannover. Die im Thüringischen eingeschlossene Exklave Schmalkalden gehörte bis 1944, als sie endgültig an den preußischen Regierungsbezirk Erfurt angegliedert wurde, zum Regierungsbezirk Kassel und damit zur Provinz Hessen-Nassau. Unter den zwölf Provinzen Preußens war Hessen-Nassau flächenmäßig mit 15.790 km2, also 5,5 Prozent vom Gesamtterritorium, die fünftkleinste, stellte mit rund 2,47 Mio. Einwohnern im Juni 1925 (2,58 Mio. im Juni 1933) etwas mehr als sechs Prozent der preußischen Gesamtbevölkerung und nahm dabei den achten Platz ein. 1925 lebten im Regierungsbezirk Kassel 1,1 Mio. und im Regierungsbezirk Wiesbaden 1,37 Mio. Einwohner. Während der Bezirk Kassel in der Zeitspanne bis 1933 einen Wanderungsverlust von 16.000 Einwohnern zu verzeichnen hatte, verbuchte der Bezirk Wiesbaden einen Wanderungsgewinn von 16.000 Köpfen.3 Die dem Wiesbadener Bezirk zugehörige ehemalige freie Reichsstadt Frankfurt war mit 475.000 Einwohnern Mitte der 1920er Jahre bevölkerungsmäßig die fünftgrößte Stadt Preußens.

Der Volksstaat Hessen rangierte während der Weimarer Republik unter den (nach dem Zusammenschluss der thüringischen Staaten 1920 und der Angliederung Waldecks 1929 an Preußen) 17 Ländern/Stadtstaaten im Reich mit rund 7.700 km2 flächenmäßig an achter Stelle und mit 1,35 Mio. Einwohnern (1925) nach der Bevölkerungszahl auf dem siebten Platz. Zwei der bis zu 66 Stimmen hatte das kleine Land im Reichsrat, der Ländervertretung. Das Land gliederte sich in drei Provinzen, den beiden rechtsrheinischen, durch eine Schiene Hessen-Nassaus (Frankfurt und Umland) getrennten Starkenburg (sieben Kreise) und Oberhessen (sechs Kreise) sowie dem linksrheinischen Rheinhessen (fünf Kreise).

Hinzu kamen der seit 1816 zur preußischen Rheinprovinz, hier dem Regierungsbezirk Koblenz zugehörige Kreis Wetzlar, der von hessischen Gebieten – sowohl von Hessen-Nassau und auch des Volksstaates – umschlossen war, und das halbsouveräne Fürstentum Waldeck-Pyrmont, das eine Fläche 1.120 km2 und eine Einwohnerzahl (1925 ohne die 1922 abgetretene Grafschaft Pyrmont) von 59.000 umfasste. Das Fürstentum, seit 1893 von Fürst Friedrich regiert, stand aufgrund des Akzessionsvertrages von 1867, der 1877 und 1887 verlängert worden war, in preußischer Abhängigkeit. Waldeck und Wetzlar kamen in der Weimarer Zeit zu Hessen-Nassau (1929 bzw. 1932). Damit sind im Wesentlichen die Territorien benannt, aus denen im September 1945 die amerikanische Besatzungsmacht das geeinte Land Groß-Hessen schaffen sollte. Nicht dazu gehörten die im Zuge der Aufteilung Deutschlands in Besatzungsgebiete der französischen Zone zugesprochenen Distrikte, das linksrheinische Rheinhessen sowie vier rechts des Rhein liegende nassauische Kreise um Montabaur, die dann in das später begründete Rheinland-Pfalz eingegliedert wurden.

Es handelt sich bei der vorliegenden Darstellung also um eine Geschichte eines Raumes, den es politisch in sich geschlossen so gar nicht gegeben hat. Doch ist es legitim, eine Geschichte Hessens für die Zeit der ersten Republik vorzulegen, die den territorialen Rahmen des heutigen Landes als Betrachtungsgegenstand nimmt, gab es doch schon historische, institutionelle und ideelle Verschränkungen und Verbindungen. Bislang wurden immer die unterschiedlichen Territorien einzeln behandelt. Karl E. Demandt tat dies in seiner fabelhaften großen Geschichte Hessens.4 Auch die wegweisenden Sammelbände mit Überblicken zu einzelnen Perioden der Gesamtgeschichte Hessens von Uwe Schultz und Walter Heinemeyer aus der Mitte der 1980er Jahre folgen dieser Unterteilung5, mit dem auch das große Projekt „Handbuch der hessischen Geschichte“ (hier: Vierter Band/Zweiter Teilband: Die hessischen Staaten bis 1945) startete. Dort findet sich neben den großen Überblicken zur preußischen Provinz Hessen-Nassau6 und zum Großherzogtum bzw. Volksstaat Hessen7 – im Folgenden wird das eigenständige Hessen zur Verdeutlichung zumeist mit dem Zusatz (-Darmstadt) versehen – auch ein eigenes Kapitel über Waldeck.8 Alle reichen jeweils bis ins Jahr 1945, bei Waldeck freilich nur bis zur Angliederung an Preußen 1929.

Man wird also zunächst nicht von der hessischen Politik sprechen können, jedenfalls nicht bis zum Jahr 1933, als mit der Festigung der nationalsozialistischen Macht Nivellierungen durch Zentralisierung und Gleichschritt einsetzten, welche die politischen Unterschiede einebneten und nahezu gänzlich verwischten.9 In der 2010 erschienenen Fortsetzung des Handbuches der hessischen Geschichte wird die gesamthessische Perspektive für einzelne Teilbereiche eingenommen.10 Diese Schau auf das Hessen in seinen 1945 gezogenen Grenzen liegt auch der vorliegenden Darstellung zugrunde. Dabei rückt zwangsläufig der Volksstaat stärker als die preußische Provinz in den Fokus, denn in Darmstadt gab es Landesparlament und Regierung11, wurden Kämpfe um Regierungspolitik ausgefochten, während Hessen-Nassau nur ein kleiner Teil eines großen Ganzen darstellte. Preußische Regierung12 und preußischer Landtag saßen in Berlin; hier wurde die Politik beschlossen, bei der die Provinz lediglich ausführende Ebene darstellte.


Hoffnungen auf Völkerfreiheit und Völkerfrieden: Demonstrationszug in Darmstadt 1919.

Insgesamt bleibt trotz des allgemeinen Anspruchs einer gesamthessischen Betrachtung festzuhalten: Die vorliegende Studie ist nicht die Geschichte Hessens in den 14 Jahren der ersten Republik, sondern es ist eine Geschichte des hessischen Raumes, denn in Gänze kann sie in diesem begrenzten Rahmen nicht nachgezeichnet werden. Dabei geht es hier um die politische Geschichte. Determinierende wirtschaftliche, gesellschaftliche und soziale Entwicklungen finden nur insoweit Berücksichtigung, als diese die Politik herausforderten. Dabei geht es immer um die Frage, inwieweit die Geschichte Hessens typisch für die Zeit war oder ob sie sich durch Besonderheiten auszeichnete, Besonderheiten in der Stabilisierung oder aber auch Destabilisierung der Republik. Gab es hier allgemeine oder besondere Wegmarken und Tendenzen in der politischen Entwicklung und der politischen Kultur?

Hier liegt also einer von zahlreichen möglichen, ganz verschiedenartigen Gängen durch die politische Geschichte Hessens in der Weimarer Republik vor – mit Seitenblicken auf zentrale soziale, ökonomische und gesellschaftliche Tendenzen und Interdependenzen, die wiederum Politik beeinflussten und von dieser beeinflusst wurden. Mancher wird seine Heimatregion oder seinen Heimatort in der Darstellung vermissen, die ebenso das Recht der Erwähnung gehabt hätten. Zahlreiche Autoren und Autorinnen13, die für die Geschichte ihres lokalen Raums Beachtliches geleistet haben, werden ihre verdienstvollen Werke hier vergeblich suchen. Manche Lokalstudie hätte wie die angeführten Analysen auch Einfluss nehmen oder zumindest genannt werden können.14 Aber das wäre schlicht nicht leistbar gewesen. Wenngleich die Geschichte Hessens letztlich auch die Summe lokaler und regionaler Entwicklungen ist, so kann die gesamthessische Perspektive, gewissermaßen von oben, sich der örtlichen und regionalen Ebene und dem dortigen Beispielhaften oder Prägenden nur sehr begrenzt widmen. Eine Vollständigkeit kann sie nicht erzielen. Sie kann nur vereinzelt die Lokalgeschichte aufgreifen. Das Entscheidende, das Charakteristische und das Besondere der Geschichte Hessens zwischen 1918 und 1933 herausgefiltert zu haben, ist die Hoffnung des Autors, der seine Sicht auf diese Periode des Landes hiermit vorlegt.

Hessen in der Weimarer Republik

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