Читать книгу Der Henker von Rothenburg - Werner Diefenthal - Страница 11

April 1526 1. Kapitel

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Eine strahlende Frühlingssonne schien vom Himmel und tauchte die Türme von Rothenburg in die erste wirkliche Wärme seit Wochen. Zwar war der Schnee längst geschmolzen, aber statt des Frühlings hatte bisher nur graues, regnerisches Wetter Einzug gehalten und die schmalen Wege um die Stadt in Schlammpfade verwandelt, auf denen kaum ein Wagen durchkam. An diesem Tag jedoch schien Mutter Natur sich endlich darauf zu besinnen, dass der Mai vor der Tür stand. Sie legte sich kräftig ins Zeug – kein Wölkchen war am Himmel, eine sanfte Brise trocknete die Pfützen am Boden und rauschte im ersten Grün der Bäume, während die Vögel den Einzug des Frühlings aus vollem Hals feierten.

Die Tauber funkelte im Sonnenlicht. Träge floss sie an Rothenburg vorbei, in engen Schlingen umkurvte sie die leicht über ihr gelegene Stadt. Einige hatten sich bereits daran versucht, Fische zu fangen, aber bisher hatten noch keine angebissen.

An einem solchen Tag hielt Marie nichts innerhalb der Stadtmauern. Seit sie als Magd im Hause des Stadtvogts arbeitete, kam sie ohnehin kaum noch in die Natur, die sie so sehr liebte. Also nutzte sie das schöne Wetter, um die Wäsche nicht in der Waschküche der Vogtei, sondern am Waschsteg unten an der Tauber zu waschen. So verließ sie die Stadt durch das Galgentor, damit sie nicht durch das ehemalige jüdische Viertel laufen musste. Sie fand es unheimlich, von den leeren Augen der Fenster angestarrt zu werden, und nahm lieber den Umweg um die Stadt herum in Kauf. Ihre besten Freundinnen, Helga und Greta, begleiteten sie. Die hellen Stimmen der Mädchen, als sie scherzten und lachten, vermischten sich auf ihrem Weg zum Fluss mit dem Vogelgesang.

Die drei jungen Frauen waren in der Tat ein hübscher Anblick – blutjung und wohlgeformt, die langen Haare wehten wie bunte Fahnen im Wind. Helga, die Tochter des Bäckers, war rothaarig, während Greta, deren Vater die Stadtschänke gehörte, rabenschwarzes Haar ihr Eigen nannte. Die meisten Blicke der passierenden jungen Männer jedoch zog Marie auf sich. Mit ihren knapp achtzehn Jahren war sie von atemberaubender Schönheit. Ihre strahlend blauen Augen blitzten in der Sonne. Ihre Haut glänzte wie ein frischer Apfel und goldblondes, leicht lockiges Haar umrahmte das wunderschöne Gesicht.

Nicht wenige Männer in Rothenburg, verheiratet oder alleinstehend, leckten sich die Finger nach ihr, denn Marie war nicht nur schön, sondern auch klug, ein wenig kokett und nicht auf den Mund gefallen. Obwohl es ihr an Bewerbern nicht mangelte, dachte sie jedoch nicht daran, zu heiraten – keiner schien ihr gut genug. Und in Rothenburg wisperte man hinter vorgehaltener Hand, dass dieser Umstand dem Stadtvogt sehr recht sei. Seiner Ehefrau weniger!

»Habt ihr es schon gehört?«, erzählte sie eifrig ihren Freundinnen. »Der Vogt plant, doch wieder einen Frühjahrsmarkt in der Stadt abzuhalten, um Händler anzulocken, damit nach dem langen Winter wieder ein wenig Geld in die Kassen kommt. Das wird ein Spaß! Ich habe so lange nicht mehr getanzt!«

»Du hoffst doch nur, dass Jakob von Scharfenstein dich wieder auffordert!«, spottete Greta amüsiert.

»Ich weiß nicht, was du dir davon versprichst. Als ob ein Patrizier jemals eine einfache Magd heiraten würde!«

»Er muss mich ja nicht gleich heiraten!«, erwiderte Marie keck. »Er küsst wunderbar, das reicht schon!«

Greta setzte zu einer missbilligenden Antwort an, als Helga abrupt stehen blieb und mit der Hand, mit der sie keinen Waschkorb trug, die Schwarzhaarige zurückhielt. Ihre Augen waren riesengroß geworden und sie flüsterte.

»Meister Matthias ist draußen … «

Die Augen der beiden anderen folgten ihrem verängstigten Blick, auch wenn ihre geflüsterten Worte schon erklärten, wovor sie sich fürchtete – außerhalb der Stadtmauern, direkt neben dem Weg, der vom Galgentor aus wegführte, hatte der Scharfrichter der Stadt, Matthias Wolf, sein Haus. Man sah ihn normalerweise nur selten außerhalb seiner Räume, wenn keine Hinrichtung oder öffentliche Bestrafung anstand. Wenn doch, dann vermied man es, ihn anzusehen – es brachte Unglück, Blickkontakt mit dem Henker herzustellen oder gar mit ihm zu sprechen, hieß es. Die Leute wechselten sogar die Straßenseite, wenn sie ihn trafen. Er war nicht weniger ein Geächteter als die Frauen, die in der Stadt ihre Liebesdienste anboten. Heute saß er auf einer Bank vor seinem Haus im Garten und genoss die Sonne.

Auch Marie lief jedes Mal ein kalter Schauer über den Rücken, wenn sie ihn nur aus der Ferne sah – immerhin verband sie nicht gerade angenehme Situationen mit dem Mann. Trotz alledem konnte sie es diesmal nicht lassen, die Freundin zu necken.

»Na und? Was soll er schon machen? Glaubst du vielleicht, er braucht nur mit dem Finger zu schnippen und dir fällt der Kopf herunter?«

Alle drei Mädchen kicherten nervös.

»Nein … trotzdem, lasst uns lieber warten, bis er wieder hineingeht!«, bat Helga mit unbehaglich verzogener Miene.

»Unsinn!«

Marie straffte ihre Gestalt.

»Wer weiß, wie lange das dauert! Wenn ich nicht rechtzeitig zum Mittagessen zurück bin, bestraft die Vogtin mich wieder! Lasst uns vorbeigehen, er wird uns schon nicht fressen!«

Unbeirrt setzte sie ihren Weg fort. Die beiden anderen Mädchen folgten der Blonden zögernd, warfen immer wieder nervöse Blicke auf den Henker.

Matthias Wolf war kein abstoßender Mann. Im Gegenteil, er war groß, breitschultrig und hatte ein anziehendes Gesicht, umrahmt von halblangem dunklem Haar, das Kinn von einem stets gestutzten, kurzen Bart bedeckt. Wäre er nicht ausgerechnet der Schinder gewesen, die Frauen der Stadt hätten sich ein Bein ausgerissen, ihn zum Mann zu bekommen. So jedoch war er, obwohl bereits Mitte zwanzig, immer noch unverheiratet.

Als die drei Mädchen, die ihr fröhliches Gespräch durch verbissenes Schweigen ersetzt hatten, sein Haus passierten, sah er auf und musterte die Drei. Augenblicklich blieben sie stehen, wie angewurzelt, als befürchteten sie tatsächlich, ihnen könnten die Köpfe auf wundersame Weise von den Schultern fallen. Marie bemerkte, dass sie die Luft anhielt, und schalt sich plötzlich eine Närrin – elender Aberglaube! In der Öffentlichkeit wurde der Henker gemieden wie der Teufel, aber im Schutz der Dunkelheit schlich sich so mancher Rothenburger zu seinem Haus hinunter, um die eine oder andere Wundertinktur zu erstehen, die gegen alle möglichen Leiden helfen sollte! Warum sollte das weniger Unglück bringen als eine Begegnung auf offener Straße?

Matthias hatte die drei jungen Mädchen schon gehört, bevor er sie sah. Er kannte sie alle drei und ahnte, warum sie jetzt langsamer wurden. Er seufzte. Als er zum Henker bestellt worden war, nach dem Tode des alten Meisters, da hatte er gewusst, worauf er sich einließ. Mit fünfzehn war er zu Meister Malachias gekommen, erst als Bursche, dann als Gehilfe.

Er hatte am Anfang nur die Zellen der Gefangenen sauber gemacht, ihnen das Essen gebracht und die Abtritte geleert. Doch recht schnell war dem alten Meister aufgefallen, dass er zu mehr zu gebrauchen war. Von Natur aus mit einer gewaltigen Körperkraft ausgestattet half er bald, die Bestrafungen vorzunehmen. Zuerst nur die kleineren Strafen, wie das Umlegen des Schandsteines oder das Verschließen des Prangers. Bald schon ging er zu den körperlichen Strafen über. Er stäupte die Ehebrecher, zerschlug Wucherern die Hände oder entflohenen Schuldnern die Knie. Nach und nach lernte er, die Bestrafungen, die sich das hohe Gericht ausdachte, durchzuführen.

Als er die erste Hand hatte abschlagen müssen, war ihm anschließend übel gewesen. Aber mit der Zeit legte es sich. Der Meister hatte ihn gelehrt, allerlei Tränke und Tinkturen herzustellen. Darunter einige, welche die Gefangenen in eine Art Dämmerzustand versetzten, damit diese sich willig wie Schafe, die man zur Schlachtbank führte, bestrafen ließen.

Im letzten Winter war sein Meister gestorben. Er hatte sich, als er betrunken aus der Wirtschaft kam, nur einen Augenblick ausruhen wollen. Dabei hatte er sich eine Erkältung geholt, von der er sich nicht mehr erholt hatte. Am Weihnachtsabend war er dann zu seinen Ahnen gegangen.

Zu Neujahr war Matthias zum Vogt gerufen worden. Dieser hatte ihm eröffnet, dass er von nun an die Pflichten seines Meisters übernehmen würde. Als Matthias verstand, was das hieß, musste er nach Luft schnappen. Er würde das Haus des Meisters bewohnen. In der Stadt selber war kein Platz für ihn. Jeder schrie nach dem Büttel des Vogts, wenn ihm Unrecht geschah. Doch keiner wollte ihn in seiner Nähe haben. So übernahm er die Pflichten. Bisher hatte er nicht viel zu tun gehabt. Nur einige kleinere Kneipenscharmützel, die mit ein paar Stockschlägen geahndet wurden und ein Bauer, der seine Schulden nicht bezahlen konnte. Dieser arme Tropf musste zwei Tage auf dem Platz vor der Vogtei am Pranger stehen.

Matthias lauschte den Stimmen der Mädchen. Langsam schienen sie sich doch näher zu trauen. Er betrachtete die drei Schönheiten. Zu gerne hätte er eine von ihnen bei sich gehabt. Vor allem die Blonde, Marie, hatte es ihm angetan. Sie war Magd beim Vogt und schon das alleine war der Grund, aus dem sie absolut tabu für ihn sein musste.

Er knirschte mit den Zähnen, wollte sich erheben und in sein Haus gehen, da glaubte

er, seinen Ohren nicht zu trauen. Marie nahm allen Mut zusammen und rief laut zu ihm hinüber.

»Grüß dich Gott, Meister Matthias!«

Das Erstaunen auf seinen Zügen nahm sie noch wahr, dann packten ihre zu Tode erschrockenen Freundinnen sie rechts und links an den Armen und zerrten sie, so schnell sie konnten, am Henkershaus vorbei und bogen nach links ab, um dem Weg rund um die Stadtmauer zu folgen, der zur Tauber führte.

Er sah ihnen nach und es wurde ihm ein wenig eng in seiner Lederhose. Sollte er ihnen doch folgen? Da hörte er plötzlich laute Rufe, die von der Stadt herüberschallten.

»Haltet ihn! So haltet den Schuft!«

Er drehte sich um und sah eine Horde von Menschen aus der Stadt rennen, die einen Mann verfolgten, der buchstäblich die Beine in die Hand nahm. Die Menge schien extrem aufgebracht zu sein.

»Mörder! Haltet ihn auf.«

»Er hat mein Kind geschändet!«

Matthias schätzte den Abstand zu dem Fliehenden. Zwischen ihm und dem Mann lagen nur noch fünfzig Schritte. Schnell kauerte Matthias sich nieder und wartete. In dem Moment, in dem der Flüchtling ihn passierte, schnellte er hoch und warf den Mann mit seinem ganzen Gewicht zu Boden. Sie rutschten in das nasse Gras. Der Mann wehrte sich, aber Matthias war stärker und vor allem erfahrener. Mit seinem linken Bein drückte er den rechten Arm des Mannes zu Boden, seine rechte Hand umfasste das linke Handgelenk. Mit der Linken drückte er den Kopf in das nasse Gras, während sein rechtes Knie gegen das Gemächt des fluchenden Mannes drückte.

»Halt still oder das, was dich zum Manne macht, wird nur noch ein Haufen Brei sein«, zischte Matthias.

Die Menge kam näher.

»Meister Matthias, dank Euch.«

Ein Mann löste sich aus der Menge.

»Was habt ihr ihm vorzuwerfen?«

Matthias sah sich in der Menge um. An den Gesichtern erkannte er, dass sich etwas Schreckliches ereignet haben musste.

Der Mann, es war der Gastwirt des ›Roten Ochsen‹, scharrte mit dem linken Fuß im Dreck.

»Wir haben ihn erwischt, als er die kleine Tochter der Schneiderin geschändet und umgebracht hat.«

Matthias sah den am Boden Liegenden an.

»Stimmt das, Bursche? Ist das wahr, was man mir sagt?«

Seine Stimme war scharf wie ein Peitschenknall. Der Mann jedoch sagte kein Wort. Aus dem Gesicht aber konnte Matthias erkennen, dass dies wohl die Wahrheit sein musste. Schlagartig wurde ihm klar, dass seine erste eigene Hinrichtung ohne die Unterstützung und der Aufsicht seines Meisters wohl nur noch wenige Stunden entfernt war.

»Aufhängen!« »Steinigen« »Schneidet ihm die Eier ab!«

Matthias erhob sich und zerrte den Mann an den Haaren hoch.

»Das entscheidet der Vogt!«, brüllte er.

Aus den Augenwinkeln sah er, dass die drei Mädchen stehengeblieben waren. Ihre Gesichter waren blass. Marie stand fast genau neben seinem Haus.

»Du da«, er zeigte auf sie, »dort am Gatter, der Strick. Bring ihn mir.«

Marie blieb erst wie angewurzelt stehen, doch dann ließ sie ihren Wäschekorb fallen und tat, wie Meister Matthias ihr geheißen hatte.

Er nahm den Strick, lächelte ihr dankbar zu und begann, dem Mann die Hände auf den Rücken zu binden. Es war Marie unmöglich, den Blick abzuwenden. Sie musste einfach zusehen, wie Matthias dem vermeintlichen Mörder den Strick durch die Beine führte, ihn sich über die Schulter legte und so den Mann hinter sich her zerrte, obwohl es schicklicher gewesen wäre, sich wegzudrehen und nicht zu starren wie die sensationslüsterne Menge. Ihr wurde ganz flau allein vom Anblick.

Dem Verbrecher erging es ähnlich, allerdings aus anderen Gründen. Der Strick, so geführt, presste seine Hoden gegen sein Schambein und verursachte unsägliche Schmerzen. Dazu kam, dass er durch die Fesselung der Hände sein Kreuz extrem durchdrücken musste. Diese Art, einen Gefangenen zu binden, hatte Matthias von seinem Meister gelernt.

»Glaub mir, jeder, den du so hinter dir herziehst, hat keinen Gedanken an Flucht oder Widerstand. Er hat genug damit zu tun, seine Eier zu retten.«

So watschelte er hinter dem Henker her, der mit schnellen Schritten zur Vogtei ging, um das Urteil seines Herrn zu hören.

Die Rothenburger gingen hinterher, in gebührendem Abstand zum Henker, der sichtlich keine Hilfe brauchte, um den Mörder in Schach zu halten. Langsam, die Augen nicht vom Geschehen abwendend, ging Marie in die Knie und sammelte ihre herumliegende Wäsche wieder ein. Greta und Helga sahen zwischen ihr und dem lärmenden Zug hinterher und wurden sichtlich nervöser.

Es war Helga, die schließlich herausplatzte.

»Was machen wir jetzt? Gehen wir die Wäsche waschen?«

Greta versetzte ihr eine unsanfte Kopfnuss.

»Du bist wohl närrisch! Los, wir müssen hinterher, ich will wissen, was mit ihm passiert!«

Marie, die inzwischen alles wieder in ihrem Weidenkorb verstaut hatte, erhob sich mit verächtlichem Blick.

»Waschweib! In drei Stunden spricht sowieso ganz Rothenburg darüber!«

Aber als die Blonde sich in Bewegung setzte, führten ihre Schritte sie keineswegs in Richtung Fluss, sondern zu den Stadttoren. Die anderen beiden Mädchen beeilten sich, den Anschluss nicht zu verlieren. Als sie am Herrenhaus des Vogts, das am Marktplatz lag, ankamen, hatte sich vor dem Eingang eine gewaltige Menschentraube gebildet. Anscheinend hatte der Zug mit dem Henker an der Spitze alle Rothenburger mit sich genommen, die zu dieser Zeit auf der Straße gewesen waren – und das waren fast alle! Und alle hämmerten sie gegen das Portal, drohten mit Fäusten und schrien nach Blut und Vergeltung. Missbilligend schüttelte Marie den Kopf.

»Die Leute sind verrückt … ich gehe hintenrum. Allein!«, setzte sie hinzu, als ihre Freundinnen sich anschickten, ihr zu folgen. Bevor sie protestieren konnten, lief die Magd des Vogts schon davon, so schnell sie mit dem Wäschekorb konnte.

An den Hintereingang der Vogtei hatte zu ihrem Glück keiner aus dem Pöbel gedacht. Marie schlüpfte unbehelligt hindurch und gelangte auf diesem Weg ins Haus. Selbst in der Küche war das Gebrüll der Leute noch zu hören, untermalt von dröhnendem Gehämmer. Offenbar schlugen sie immer noch ans Portal!

Schon bevor Marie die Eingangshalle betrat, sah sie aus dem Gang die beiden Knechte Heinrich und Karl, die sich verzweifelt gegen die Tür pressten und versuchten, die Massen draußen zu halten. Immer wieder wurden die Portalflügel ein Stück aufgeschoben und die Schreie hallten lauter durch den Raum. Die Gesichter der Männer waren vor Anstrengung verzerrt.

Ohne ein Wort und ohne ihre Hilfe anzubieten, ging Marie an den Knechten, die hinter ihr her schimpften, vorbei und in den ersten Stock. Der Eingang lag genau unter dem Arbeitszimmer des Vogtes. Die Tür stand offen, ein schneller Blick hinein zeigte Marie, dass Bernhard Steiner sich nicht darin aufhielt. Zum Glück hatte sie heute Morgen den Nachttopf der gnädigen Frau noch nicht geleert. Das würde sie jetzt nachholen!

Sie eilte zum Schlafzimmer ihrer Dienstherrin, holte das Gefäß und ging schnell wieder zum Arbeitszimmer zurück. Sie grinste, dieser Spaß gefiel ihr.

In der Menge bemerkte niemand, wie über ihm die Fenster geöffnet wurden. Umso größer war das Gekreische, als Marie den vollen Topf über den rachsüchtigen Rothenburgern auskippte, und ausnahmslos alle wichen zurück. Im Erdgeschoss fiel mit einem dumpfen Knall die Eingangstür ins Schloss. Zufrieden schloss Marie das Fenster und beeilte sich, in den Speisesaal des Vogts zu kommen, wo er offiziellen Besuch zu empfangen pflegte. Vielleicht brauchte dort ja jemand etwas zu trinken und ganz nebenbei würde sie aus erster Hand erfahren, wie es mit dem Kindsmörder weiterging. Auf leisen Sohlen, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich erregend, betrat sie den holzgetäfelten Raum und blieb gleich neben der Tür stehen.

Mittlerweile war der Vogt auf das Getöse vor seinem Haus aufmerksam geworden. Am gestrigen Abend hatte er sich ziemlich betrunken und war ein wenig länger im Bett geblieben, als es sonst seine Art war. Schnell zog er sich ein Wams über, schnürte seine Hosen zu, eilte zu seinem Arbeitszimmer und öffnete das Fenster, aus dem Marie erst wenige Augenblicke vorher den Nachttopf auf die Meute geleert hatte. Er sah hinaus, dabei fragte er sich, was dieser Aufruhr sollte. Im ersten Moment dachte er, das Volk wolle ihm an den Kragen, doch dann begriff er, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Er beugte sich aus dem Fenster.

»He, ihr da! Was geht hier vor sich? Was ist das für ein Lärm?«

Mit einem Mal wurde es ruhig auf dem Marktplatz. Die Menge rückte ein wenig zurück und machte Platz. Ein Mann trat vor. Der Vogt erkannte den Marktmeister.

»Euer Gnaden, ein Unhold wurde gefangen, als die Bürger ihn jagten. Ihm wird vorgeworfen, die Tochter der Schneiderin geschändet und getötet zu haben.«

Der Vogt erbleichte. Das war eine ernste Sache. Vergewaltigung und Mord. Er dachte kurz nach, wie alt die Tochter der Schneiderin gewesen war.

»Die Tochter der guten Frau Marlies?«

Der Marktmeister sah sich kurz um und sah die Menge nicken.

»Ja, Euer Gnaden.«

Der Vogt überlegte kurz. Gelegentlich pflegte er Gerichtsverhandlungen auf dem Gerichtsplatz abzuhalten, der sich direkt vor den Toren der Stadt befand, wenn die Menschenmenge für die Vogtei zu groß war. Dieser Platz war gesäumt von einigen Trauerweiden. In der Mitte war ein Podium aufgebaut, am westlichen Ende ein Galgen. Aber in Anbetracht der Umstände würde er anders handeln müssen. Er drehte sich um und winkte einen seiner Diener zu sich.

»Nehmt die Wachen und lasst die Menschen in den Speisesaal. Aber man soll darauf achten, dass sie sich ruhig verhalten. Und schickt nach Nikolaus von Brümme, er soll sofort zur Schneiderin!«

Kurze Zeit später öffneten sich die Portale und die Menschen wurden in den Speisesaal gelassen. Am anderen Ende, gegenüber den Eingangstüren, befand sich ein Podium, auf dem der Vogt mit seiner Familie bei offiziellen Anlässen zu speisen pflegte. Von dort würde er das Gericht leiten, wie er es bei den monatlich stattfindenden Gerichtstagen üblicherweise machte. Die Menge murmelte nur noch leise. Zu groß war der Respekt vor ihrem Herrn. Vorne, direkt vor dem Podium, stand der Henker mit seinem Gefangenen, den er auf die Knie gezwungen hatte.

Es dauerte einige Minuten, bis der Vogt die Treppe, die vom ersten Stock auf das Podium führte, herunterkam. Mit versteinerter Miene sah er in die Menschenmenge, schwieg, ließ alleine seine Anwesenheit wirken. Bernhard Steiner war stattlich, das musste man anerkennen. Neben Matthias wirkte er zwar klein, aber das war bei den meisten Männern so. Sein dunkles, schulterlanges Haar glänzte, seine Augen waren wie Eiskristalle, die alles zu durchdringen schienen. Sein Kinnbart war etwa so lang, wie eine Hand breit war, aber nach unten hin spitz zugeschnitten. Wenn er nervös war, dann strich er immer wieder über die Spitze, doch jetzt lagen seine Hände ruhig an der Seite. Es dauerte einige Minuten, dann kam ein Mann durch die Menge, kletterte mühsam auf das Podium und sprach leise zum Vogt. Dieser nickte, dann begann er, zu reden.

»Ich habe Nikolaus von Brümme zu dem armen Kind geschickt. Er hat mir bestätigt, dass ein Tier, denn nur ein solches kann zu einer derlei verabscheuungswürdigen Tat fähig sein, die kleine Rosa so zugerichtet hat. Doch hört seinen Bericht.«

Es war dem untersetzten Mann anzusehen, dass ihm dies nicht behagte, aber er richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Damit war er allerdings immer noch fast einen halben Kopf kleiner als der Vogt. Er räusperte sich, im Saal war es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können.

»Manchmal muss man traurige Pflichten erfüllen. Heute ist einer dieser Tage, an dem einem bewusst wird, wie brutal manche Menschen sein können.«

Er wirkte sichtlich erschüttert. Die Menschen hingen an seinen Lippen, lauschten angestrengt den leisen Worten.

»Ich wurde zu einem Kind geschickt, dessen Leben auf eine äußerst rohe, ja auf bestialische Art und Weise, beendet wurde. Sie wurde vor ihrem Tod auf das Übelste missbraucht. Er hat sie sich genommen, ohne Rücksicht, ohne Gnade, ohne zu beachten, dass sie ein Kind war. Und er hat zudem Sodomie mit ihr betrieben.«

In der Menge wurde es unruhig. Der Vogt hob die Hände, bedeutete von Brümme, weiterzusprechen.

»Als er seinen Trieb, den ich nur als widernatürlich und abartig bezeichnen kann, befriedigt hatte, hat er sie gewürgt. Und zwar mit einer solchen Kraft, dass ihr kleines Genick brach.«

Die Menschen schrien jetzt laut. Matthias ließ die Menge keinen Moment aus den Augen, bedeutete den Wachen, dass sie sich zwischen ihn und die herandrängende Menschenmasse stellen sollten. Er wollte nicht riskieren, dass man sich den Gefangenen schnappte und totschlug.

Der Vogt verzog keine Miene, nur seine Augen blitzten. Er wandte sich an den Arzt.

»Habt Ihr noch etwas hinzuzufügen?«

»Euer Gnaden, ich habe in meinem Leben schon vieles gesehen. Abgerissene Gliedmaßen, gespaltene Schädel, klaffende Wunden. Aber das, was ich dort habe sehen müssen, das sollte kein Mensch sehen müssen.

Ihre Mutter schrie die ganze Zeit. Ich habe die Befürchtung, dass die gute Frau den Verstand verliert. Ich musste ihr Laudanum einflössen, sonst wäre sie sogar noch auf mich losgegangen.«

Er nahm ein Taschentuch und putzte sich umständlich die Nase, faltete es und schob es wieder in seine Tasche.

»Euer Gnaden, ich kann Euch nur beschwören, wenn Ihr den Täter habt, keinerlei Gnade walten zu lassen. Dieses Kind wurde gequält, geschändet, getötet.«

Der Vogt nickte, sah auf die Menschen, die atemlos zugehört hatten und jetzt den Vogt anstarrten. Sie lechzten nach Gerechtigkeit, wurde Bernhard Steiner bewusst. Aber er durfte sich keinen Fehler erlauben. Er fasste einen Entschluss.

»Danke, Doktor. Dieses Tier«, er zeigte auf den Mann, der neben Matthias stand, »hat sich brutal an ihr vergangen. Er hat ihr nicht nur ihre Ehre geraubt! Nein, er hat auch Sodomie betrieben, bevor er ihr das Genick brach!«

Die Menge murrte. Der Vogt hob die rechte Hand.

»Woher kommt dieser Mann? Er ist fremd hier. Wer kann mir sagen, was er hier in Rothenburg gewollt hat?«

Es war nicht üblich, den Verdächtigen zu Wort kommen zu lassen. Vor allem nicht, wenn der Fall so klar war. Aber der Vogt musste wissen, woher dieser Strolch in seine Stadt gekommen war. Ob er alleine war oder es gar zu befürchten war, dass noch mehr von ihnen kamen. Da trat ein Mann vor, zog seine Mütze vom Kopf und blickte zu Boden.

»Euer Gnaden, wenn ich antworten darf?«

Mit einem Nicken forderte der Vogt ihn auf, weiterzureden.

»Ich bin Baumeister Thomas Walder. Ihr kennt mich. Ich habe seit Kurzem den Auftrag, einen Anbau für das Kloster zu errichten. Ich stelle immer wieder Männer auf der Durchreise ein. Als dieser Mann dort«, er zeigte auf den Angeklagten, »bei mir klopfte und ich dann feststellte, dass er ein guter Steinmetz ist, habe ich ihn eingestellt.«

Er seufzte.

»Woher sollte ich wissen, Euer Gnaden, dass es sich um einen Dämon handelt?«

Der Vogt sah ihn ernst an.

»Meister Thomas, ich kenne Euch wohl und war immer sehr zufrieden mit Eurer Arbeit. Und doch muss ich Euch fragen, warum habt Ihr ihn nicht unter Eure Obhut genommen, so wie ich es befohlen habe?«

In der Tat galt ein Edikt des Vogtes, dass es zwar erlaubte, fremde Arbeiter einzustellen, aber diese mussten unter der Obhut des Meisters bleiben. Es war ihnen nicht erlaubt, alleine durch die Stadt zu gehen, bis man ihnen nach Ratsbeschluss diese Freiheit gewährte.

»Es ist ein unverzeihlicher Fehler, für den ich um Gnade bitte. Er hatte von mir den Auftrag bekommen, ein Fass Bier zu holen und es zur Baustelle zu bringen. Wie konnte ich ahnen, dass er diese Schändlichkeit begeht?«

Der Vogt nickte. Er verstand, wie zerknirscht der Baumeister war, und dachte über die Bestrafung nach.

»Baumeister Thomas, so hört Euer Urteil: Euch trifft keine unmittelbare Schuld am Tode des Mädchens, jedoch hätte er verhindert werden können. So werdet Ihr dazu verurteilt, am Ostersonntag nach der Messe durch die Gasse zu gehen. Ferner werdet Ihr auf Lebzeiten alle Arbeiten, die am Hause der Schneiderin Marlies anfallen, umsonst ausführen. Nehmt Ihr Euer Urteil an?«

Der Baumeister zuckte kurz. Die Arbeiten am Haus, das war nicht so schlimm. Aber durch die Gasse gehen hieß, er musste am Ostersonntag als Letztes die Kirche verlassen. Alle Gläubigen würden sich links und rechts aufbauen. Dann musste er gemessenen Schrittes durch diese so gebildete Gasse schreiten und alles, was man mit ihm machte, ertragen. Dies konnten Tritte sein, Hiebe, Stockschläge. Auch Nachttöpfe durfte man über ihm ausgießen.

Verboten waren Messer, Schwerter und alles, was schwere Verletzungen nach sich zog. Er seufzte. Mit etwas Glück würde es nicht so schlimm werden.

»Euer Gnaden, ich danke Euch für Eure Güte und nehme das Urteil an.«

Der Vogt nickte.

»Nun zu dem Kerl hier. Wenn ich mir dieses verschlagene Gesicht so ansehe, kann ich mir nicht vorstellen, dass er zum ersten Mal ein solches Verbrechen begangen hat. Meister Matthias!«

Der Henker trat einen Schritt vor.

»Euer Gnaden?«

»Bevor ich ein endgültiges Urteil spreche, muss ich wissen, welche anderen Gräueltaten dieser Kerl dort noch auf dem Kerbholz hat. Daher werdet Ihr ihn mitnehmen und befragen.«

Matthias nickte. Er verstand, obwohl er nicht wirklich viel von dieser Art der Befragung hielt. Im Grunde genommen hieß es, er musste ihn der hochnotpeinlichen Befragung unterziehen, also foltern. Während seiner Ausbildung hatte er auch dies gelernt. Doch hatte er Zweifel an der Aufrichtigkeit bei der Beantwortung der Fragen gehabt. Waren es wirklich echte Geständnisse oder nur der Versuch der Delinquenten, sich weitere Schmerzen zu ersparen? Als er seinen Meister darauf angesprochen hatte, war dieser ernst geworden.

»Matthias, äußere diese Gedanken NIEMALS öffentlich. Es ist nicht unsere Aufgabe, über Wahrheit zu entscheiden. Dazu ist der Gesandte des Herrn dabei. Er entscheidet, ob er jemandem Glauben schenkt. Nicht du! Vergiss das niemals. Es ist schon vorgekommen, dass der Henker plötzlich selber auf der Streckbank lag.«

»Ja, Euer Gnaden«, antwortete Matthias also folgsam seinem Herrn. Er wusste, dass er vom Vogt genau beobachtet werden würde.

»Sobald ich eine Liste mit all seinen Verfehlungen habe, werde ich sein Urteil sprechen, welches Ihr, Meister Matthias, ausführen werdet. Seid Ihr bereit dazu?«

»Ja, Euer Gnaden.«

Der Vogt nickte. Er sah sich in der Menge um. Dort, oben auf der Empore, glaubte er seine Magd, Marie, zu sehen. Dabei sollte sie doch die Wäsche waschen. Er nahm sich vor, sie zu bestrafen. Aber noch war das Thema mit dem Kindsmörder nicht ganz erledigt.

»Ich erwarte Euren Bericht bis Sonnenuntergang.«

Der Vogt verließ das Podium. Die Menge machte ihm bereitwillig Platz und bezeugte ihm die zustehende Verehrung, bevor sie sich langsam zerstreute. Hier würde heute nichts mehr geschehen.

Der Henker von Rothenburg

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