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1. Bardo

Die Tibeter nannten es den Bardo, die alten Ägypter sprachen von der Unterwelt, für die Christen ist es das Fegefeuer, jede Religion hat ihren eigenen Namen dafür: Das, was für den Geist des Gestorbenen nach dem Tod folgt. Es ist die Zeit der Wandlung, des großen Vergessens, wer man war, was einmal war und des Loslassen-Müssens, jener Zustand, der auf die große Reise vorbereitet, die die Seele durch die Wasser jenseits von Raum und Zeit führt, dem fernen Licht eines neuen Lebenstraums entgegen.

Ein Mensch stirbt.

Der Kreislauf stellt seine Arbeit ein, wenn das Herz aufhört zu schlagen. Das Gehirn wird nicht mehr mit Sauerstoff versorgt und die Gehirnzellen gehen binnen kürzester Zeit zugrunde. Alle Sinne versagen, kein Eindruck von der Welt des Außen wird für das Bewusstsein mehr verarbeitet.

Doch schon davor hat das Bewusstsein sich verabschiedet. Die Augen, in denen zuvor noch das Licht unseres Verstandes sich mitteilte, sind leer und gebrochen. Nichts mehr ist zu erkennen von dem Geist, der das Wesen des jetzt Toten noch kurz zuvor erfüllt hat.

Nicht lange danach beginnt die Totenstarre, die, wenn sie nach ein paar Stunden wieder nachlässt, den Leichnam allmählich in den Zustand der Verwesung übergehen lässt.

Am Ende bleiben nur Knochen übrig, sofern die Leiche nicht verbrannt wird. Das Skelett ist das einzige materielle Substrat, das unseren Tod überdauert, in versteinerter Form sogar über Millionen von Jahren. Daher wissen wir auch von unseren Vorfahren aus den Kindheitstagen der Menschheit. Denn ihre Knochen werden auch noch Millionen Jahre nach ihrem Tod gefunden und erzählen uns heute einen Teil ihrer Geschichte.

Doch was geschieht mit unserem Bewusstsein, oder unserer "Seele", nachdem der Körper seinen "Geist aufgegeben" hat? Dem, was wir einmal waren, was unsere Persönlichkeit ausgemacht hat?

Existiert es noch, jetzt ohne die Funktionalität des physischen Gehirns? Kann das individuelle Bewusstsein überhaupt unabhängig vom Gehirn existieren?

Und wenn ja, wie lange? Für immer, in alle Ewigkeit? Oder doch nur eine kurze Zeit, bevor es zwischen den Räumen der physischen Welt und dem "Jenseits" vergeht, verweht wie der Hauch eines Windes...?

Oder verhält es sich doch so, wie der nihilistische Denkansatz es formuliert, nach dem Tod ist nichts mehr, alles aus? Das war's..?

Demnach wäre auch jeder Versuch, eine darüber hinaus gehende Antwort zu finden, sinnlos.

Doch mir geht es dabei so, wie es wohl vielen anderen Menschen ebenso dabei ergehen dürfte: Bei dem Versuch, die nihilistische Antwort auf die Frage nach dem Tod zu akzeptieren, beschleichen mich Zweifel, erhebliche sogar. Etwas sagt mir, das stimmt nicht. Das hat auch nichts mit einer religiösen Einstellung zu tun, denn ich empfinde mich selbst nicht als religiös. Doch auch nicht als Atheist, sondern eher agnostisch. Die mögliche Existenz eines all-gewaltigen Schöpfer-Gottes schließe ich keineswegs aus, würde mir auch niemals anmaßen, zu behaupten, dass jener Gott nicht existiert. Aber dieser Punkt steht für mich auch gar nicht im Raum. Auch nicht in Bezug auf die Frage, was der Tod ist und was danach folgt.

Auch wenn ich mich religiösen Ideen nicht grundsätzlich verschließe und mein Ansatz durchaus spiritueller Art ist, suche ich hier implizit keine religiöse Antwort. Denn ich bin mir bewusst, dass jede religiöse Beantwortung der Frage nur auf Wunschdenken basieren kann.

Religion hat eine Menge mit Wunschdenken zu tun. Seit jeher schon, als die Menschen noch versuchten, ihre jeweiligen Götter die nichts Anderes sind als gedachte reflektive Wesenheiten (ein esoterischer Fachbegriff bezeichnet dies als „Egregoren“), auf die menschliche Allmachtsfantasien projiziert werden - mit Opfergaben für ihre Wünsche zu interessieren und gnädig zu stimmen.

Ich muss es gestehen, die Antwort auf die Frage nach dem Tod und dem was danach kommt durch die großen etablierten Religionen dieser Welt kann ich genauso wenig einfach so akzeptieren wie die nihilistische.

Nein, der Zweifel sitzt tiefer. Es ist wie der nagende Zweifel, den jemanden beschleicht, der das sichere Gefühl hat, belogen worden zu sein und sich sagt, ich muss die Wahrheit herausfinden.

Ich habe mich vor mehr als 30 Jahren - tatsächlich auch noch heute - auf diese Reise begeben. Dabei habe ich auch Gefahren nicht gescheut, die sich dadurch ergaben, dass ich mich in Grenzbereichen des psychisch Erfahrbaren aufgehalten habe, und das nicht nur einmal. Damit meine ich nicht tiefe Meditationen, die mir bereits über vieles Aufschluss gegeben haben, sondern auch die Befassung mit parapsychischen und okkulten Praktiken, magische Ritualtechniken, technische Transkommunikation ("Tonbandstimmen-Forschung"), und auch Erfahrungen mit psychotropen Drogen (Psilocybine), um in den Tiefen meiner eigenen psychischen Abgründe Antworten zu finden. Und ich habe viele Antworten gefunden.

Die letzte Frage lautet, bin ich, sind wir überhaupt bereit für eine Antwort, die uns der Wahrheit näher bringt, diese vielleicht sogar offenbart?

Wahrheit kann bekanntlich schmerzhaft sein, besonders wenn es das ist, was man nicht hören wollte.

Dennoch, wenn man sich auf die Suche macht, die Frage zu beantworten, was der Tod ist, ist der Schlüssel, der die erste Pforte sozusagen öffnet, die Bereitschaft, die Wahrheit zu akzeptieren, auch wenn sie schwer zu ertragen ist.

Und selbst, wenn die "Wahrheit" selbst dabei nicht ans Tageslicht kommt, weil der Tod und dem, was danach folgt, dem menschlichen Verstand für immer verschlossen bleibt, lohnt es sich dennoch, nach der Antwort zu suchen.

Denn egal, was man erfährt, es ist mehr als "Da ist Nichts. Gar Nichts..."

Auf diesem Weg können wir uns nur auf das verlassen, was letztendlich als Einziges - wenn es denn so ist. - durch diese Pforte gehen kann, die für uns das Ende des physischen Daseins ist: Unseren Geist.

Die Antwort - wenn es denn eine gibt. - kann nicht mit den Mitteln der empirischen Wissenschaft gefunden werden. Die stößt bei dem Thema an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Beobachten, Messen, Wiegen, Berechnen oder Statistiken erstellen, damit kommen wir nicht weiter.

Diesem Thema können wir uns nur nähern, indem wir uns in Grenzbereiche des Denkens und Erfahrbaren begeben. Der Versuchung, dabei wieder auf religiöse Modelle zurück zu greifen, muß man jedoch widerstehen, auch wenn ich nicht verhehlen kann, dass die Suche nach einer Antwort, was der Tod ist und was danach folgt, eine spirituelle Suche ist, und eigentlich auch nichts Anderes sein kann.

Aber eine spirituelle Suche und Religion sind nicht unbedingt dasselbe. Religion ist, um einen Vergleich zu benutzen, die niederfrequente Form von Spiritualität. Das eine kann zum anderen leiten. Doch hat man einmal zum Level einer höheren Spiritualität gefunden, wird man nie wieder zum religiösen Zustand zurück kehren wollen. Denn Letzterer liefert keine echten Antworten, nur Illusionen.

Das Angebot, religiöse Vorstellungen anzunehmen und sich damit zufrieden zu geben, ist wie das Angebot eines Königs, er würde einem alle Schätze der Welt zu Füßen legen, wenn man nur bereit ist, die Suche bei ihm zu beenden und ihm zu huldigen.

Für eine gewisse Zeit mag das gehen, doch was ist, wenn einen dann wieder der Zweifel beschleicht und man wieder aufbrechen möchte, die Suche fortzusetzen?

Ich habe mich bereits mit den Antworten der Religionen auseinander gesetzt, lange bevor ich mich entschloss, dieses Buch zu schreiben. Dazu zählten auch das Ägyptische und das Tibetanische Totenbuch.

Besonders Letzteres enthält interessante Ansätze, die zumindest so etwas wie eine Karte in das Jenseitsreich offeriert, nach der man sich für die ersten Schritte orientieren kann.

Der Ansatz aus dem ägyptischen Totenbuch beschreibt die Reise der Seele des Verstorbenen durch die Unterwelt zum Gericht der Götter, nach deren Richtspruch sich entscheidet, ob der Verstorbene in eine Art Weiterleben in einer Jenseitswelt eingeht, die sich vom physischen Leben nur durch ein Freisein von Sorgen und Plagen unterscheidet, oder den sogenannten "Zweiten Tod" erleidet, und damit seine Seele für immer vergeht.

Damit dabei nichts schief gehen kann, werden dem Verstorbenen für seine Reise durch das Jenseitsreich eine ganze Reihe magischer Sprüche und Formeln mitgegeben, die dazu geeignet sein sollen, Probleme und Hindernisse aus dem Weg zu räumen und am Ende dem Gericht der Götter erfolgreich weis zu machen, "das eigene Herz wäre so leicht wie die Feder der Maat", der Göttin des Rechts und der Gerechtigkeit, und damit ein Durchwinken ins jenseitige Land der Glückseeligkeit zu bewirken.

Das Ganze ist im Prinzip eine Form astraler Wiedergeburt, die übrigens zwingend voraussetzt, dass der physische Körper durch den Prozess der Einbalsamierung erhalten bleibt.

Das alles orientiert sich an den Glaubensvorstellungen der alten Ägypter.

Um dem weiter folgen zu können, muss man sich der ägyptischen Religion öffnen und diese intensiv studieren, und das sehe ich in diesem Zusammenhang als nicht zielführend.

Die Reise durch die Unterwelt nach den Jenseitsvorstellungen der alten Ägypter entspricht übrigens der christlichen Vorstellung des Fegefeuers, wo die Seele einem spirituellen Reinigungsprozess unterworfen ist, und dann geht's je nach Ergebnis entweder in den Himmel oder in die Hölle.

Obwohl dieser Vorstellung sicherlich eine tiefere Wahrheit zugrunde liegt, legt die Art und Weise, in der es den christlichen Gläubigen seit fast 2000 Jahren vorgelegt wird, den Verdacht nahe, dass hier die Kirche einen Mythos kreiert hat, um die Masse der Gläubigen besser kontrollieren zu können. Und da bin ich weder der erste noch der Einzige, der zu dieser Erkenntnis gekommen ist.

Mit der islamischen Jenseitsvorstellung habe ich mich so gut wie gar nicht befasst, sodass ich hier darauf überhaupt keinen Bezug nehmen werde. Sie scheint allerdings in vielen Punkten einen äußerst bizarren Charakter zu haben.

Möglicherweise, eher sogar wahrscheinlich, liegt auch hier ein Manipulationshintergrund vor, um die Masse der Gläubigen auf Kurs zu halten bzw. in gewünschte Richtungen zu lenken. Die Angst vor dem, was einen an Jenseitsgerichten – oder auch Freuden. - erwarten mag, hat schon immer in religiösen Umfeldern gezogen, um die Gläubigen dahingehend zu bewegen, so zu funktionieren, wie die Religionsführer es wollten.

Als Pendant zur ägyptischen Unterwelt und dem christlichen Fegefeuer findet sich im tibetanischen Totenbuch in der Entsprechung der Begriff des "Bardo" wieder. Deshalb ist der Titel jenes Buches auch "Bardo Thödol", was soviel wie "Befreiung durch Hören im Dazwischen" bedeutet. Mit dem "Dazwischen" ist der Zustand zwischen Tod und Wiedergeburt gemeint.

Während ich es vorziehe, die Aussagen der etablierten Religionen sowie des ägyptischen Totenbuches nicht weiter zu behandeln, möchte ich den Ansatz aus dem Tibetischen Totenbuch etwas näher betrachten. Dieser scheint mir der einzig brauchbare zu sein, soweit ich mich auf ein religiöses Modell beziehe (obwohl es eigentlich gar kein religiöses Modell im herkömmlichen Sinne ist. Das Tibetische Totenbuch ist ein Weisheitsbuch.).

Die im Bardo Thödol geschilderten Phänomene sind Ergebnisse tiefer Meditationen, in denen sich durch frühe Jahrhunderte hindurch jenen Mönchen und Lamas, aus deren Feder das Buch entstammt, diese Bilder und Vorstellungen offenbarten.

Sie sind also nicht frei von der Vorstellungswelt jener Zeitalter. Um sie in unser heutiges Verständnis zu übertragen, muss man die in den Jenseitszuständen beschrieben Visionen in eine bereinigte Form übersetzen.

Dann ist das Tibetanische Totenbuch zu gebrauchen wie eine alte Karte, die in grauer Vorzeit gezeichnet wurde, aber immer noch imstande ist, den Suchenden anzuleiten.

So wie der Reisende sich zunächst einer Karte bedienen muss, die andere vor ihm angefertigt haben, nehme ich auch ich eine solche Karte zur Hand, um die ersten Schritte zu tun und die Wege in die Landschaft zu erkunden, die ins Jenseits führen, und auf denen ich mich bewegen kann, bevor ich eigene Wege erkunde.

Diese Karte ist das "Bardo Thödol", das Tibetanische Totenbuch.

Eine kleine Theorie über den Tod

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