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VORLÄUFER DES SEMINARS

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Seine Sicht auf die Welt hatte Tscharner wesentlich jener Schule zu verdanken, die zur Vorgängerin und zum Vorbild Reichenaus wurde: dem Seminar Haldenstein. Mit zwölf Jahren trat Tscharner dort ein, nachdem er zunächst die Stadtschule Churs besucht hatte und auch privat unterrichtet worden war.

Das Seminar Haldenstein war 1761 von zwei ehemaligen Hauslehrern, dem Unterengadiner Pfarrer Martin Planta (1727–1772) und dem etwa gleichaltrigen Johann Peter Nesemann (geboren vermutlich 1726 in Bahrendorf bei Magdeburg, gestorben 1802 in Chur), begründet worden; Tscharner blieb von 1763 bis nach Neujahr 1768 dort. In seinen Kindheitserinnerungen schrieb er: «Frühe schon äusserte sich bei mir Freiheitssinn und Vaterlandsliebe, frühe der Sinn für Gerechtigkeit und bürgerliche Ordnung, frühe der Hass gegen Anmassungen, Liebe zu öffentlichen Verträgen, Trieb zum Verbessern und Vervollkommnen alles dessen, was zu meiner Kenntnis kam. […] Auf der Schule zu Haldenstein hatte man die Zöglinge zu einer römischen Republik konstituiert. Ich war immer mit irgend einer Würde bekleidet.»73

Ähnlich äusserten sich später auch andere Schüler Haldensteins, die in der Politik eine Rolle spielten, so der Waadtländer Politiker Frédéric César de Laharpe (1754–1838), Erzieher von Zar Alexander I. und 1798, in einer Umbruchzeit der Schweiz, Präsident der helvetischen Direktorialregierung. Er war ein Förderer und Freund Heinrich Zschokkes, dem er seine autobiografischen Notizen anvertraute. Laharpe kam kurze Zeit nach Tscharners Austritt nach Haldenstein und blieb bis 1771, als Ulysses von Salis-Marschlins das Seminar unter seine Fittiche nahm und in sein Schloss Marschlins verlegte.

In Haldenstein sei sein erster Entwurf für eine moderne Schweizer Verfassung entstanden, die das alte Ständewesen ersetzen sollte, schrieb Laharpe.74 Gefördert wurden diese Ideen durch den Geschichts- und Philosophieunterricht Nesemanns, der die Schüler in allgemeines Naturrecht und im Geschichtsunterricht in die Welt des antiken, vorkaiserlichen Roms einführte. Die Schüler übernahmen verschiedene altrömische Ämter wie die eines Konsuls, Prätors, Volkstribuns, Quästors oder Senators, hielten Reden, in denen sie «die Pflichten der obrigkeitlichen Personen und der Untergebenen, die Tugenden und Laster der Jugend» und «andere nützliche Wahrheiten» darstellten. Jeden Samstag wurde in einer Art Tribunal das Verhalten der Mitschüler beurteilt, wobei stets auf Unparteilichkeit, Fairness und die Einhaltung juristischer Formen Wert gelegt wurde.75

Von Tscharner hat sich im Nachlass eine Rede aus Haldenstein über den politischen Ehrgeiz und über die Pflichten der Oberen und Untertanen erhalten.76 Gerne erinnerte er sich an die sechs Jahre im Seminar.77

«Den grössten Nutzen schöpfte ich zu Haldenstein im Seminario. Hr. Nesemann lehrte uns denken, das Gedachte ordnen und in gewählten Ausdrücken schriftlich und mündlich vortragen, in Logik, Redekunst, Geschichts-Einleitung p.78 Hr. Planta gab uns Richtung, Festigkeit und Gründlichkeit durch die reine und angewandte Mathematik und durch die Experimental-Physik. Beide beaufsichtigten die Unterlehrer und unsre Conduite.79 Wir waren wohlgenährt, reinlich besorgt, unter steter Aufsicht, hatten zwar täglich 8 Lehrstunden; und herrschte darin aber eine solche Abwechslung, ein solches Interesse, so zweckmässige Zwischenbewegung, so zeitige Unterbrechung und Erholung durch Spaziergänge, Spiel, Arbeiten (z. B. von Papparbeit, Glasschleifen), dass unsre Gesundheit dadurch so wenig litt als unser Frohmut. Und ob wir schon keinen Augenblick ohne Aufsicht waren, so nahmen nicht nur die Unterlehrer, sondern die Professoren selbst jugendlichen Anteil an unsern Spielen, dass uns kein Unterricht ermüdete. Wir wurden dabei durch Aufführung von Schauspielen und Bildung einer Republik zum bürgerlichen Leben und zur Welt angewöhnt. Kurz ich verehre die 2 Stifter und Direktoren, deren der eine unsre Liebe und der andre unsre Hochachtung im hohen Grad zu fesseln verdiente und verstand, noch unter der Erde, und danke ihnen nächst Gott und meinem lieben Vater alles, was ich bin. Diesen Dank sind ihnen auch bald alle verdienstvollen Bündner meiner Zeit schuldig, wenn schon einige durch nachherige politische Verhältnis dem republikanisch gesinnten Nesemann nicht gewogen blieben.»80

Für seine eigenen und einige Söhne von Freunden liess Tscharner die republikanische Erziehung von Haldenstein 1786 auf seinem Landgut in Jenins wieder auferstehen, dachte aber bereits 1790 an eine Schule für ganz Bünden, eine Nationalschule, die den Gegebenheiten und Erfordernissen des Landes gerecht werden sollte. Als Schüler wurden Jünglinge aus dem Adel und anderen vermögenden Familien ins Auge gefasst, denen später Stellen im Staat in Aussicht standen. Seine weitgesteckten Ziele hielt Tscharner in einem langen Memorandum fest, das er «Plan der von Tscharnerischen Familien-Schule zu Jenins» nannte.81 In einer Eingabe vom September 1789 an den Bundstag versuchte er die Abgeordneten der Drei Bünde zu überzeugen, wie nützlich eine solche Schule dem Staat werden müsse. Hier ein Auszug:82

«Mancherlei sind die auswärtigen und inländischen Schulen und Privatunterrichte, welche bündnerische Jünglinge zu besuchen pflegen. Die Sprache, die Rechenkunst, die allgemeine Geschichte und Geographie nebst mehreren Schulkentnissen werden in diesen Schulen gelehrt und die Knaben zu guten Mitbürgern gebildet.

Aber nirgends werden unsere Söhne insbesondere zu Bündnern gebildet und recht eigentlich für unser Vaterland erzogen.

Nirgends werden sie in der Spezialgeschichte von Graubünden lehrreich unterrichtet, welche doch vorzüglich jeden freien Bündner in den Stand setzen würde, aus der Erfahrung des Vergangenen auch die gegenwärtigen und zukünftigen Standesangelegenheiten, ohne fremde Leitung, gründlich zu beurteilen.»

Daneben studierte Tscharner die wichtigsten pädagogischen Werke und arbeitete Unterrichtskonzepte aus. Mangels Nachfrage und finanzieller Mittel liess sich davon nicht viel realisieren. Die Zahl der Schüler in Jenins, die von einem Hauptlehrer und, wie es scheint, meist von nur einem bis zwei wechselnden Unterlehrern betreut wurden, schwankte zwischen acht und zwölf.83 Lehrreich waren mehrtägige sommerliche Fussreisen durch verschiedene Gegenden des Landes, 84 bei denen Tscharner seinen Schülern die Geschichte der bereisten Orte erzählte, ihnen die Verfassung der Gemeinden auseinandersetzte und sie auf die Mängel in der Kultur des Landes aufmerksam machte. «Wohl selten dürften Schüler von ihren Reisen eine so grosse geistige Bereicherung heimgetragen haben, wie die der Jeninser Anstalt.»85

Im Mai 1794 sah Tscharner eine Gelegenheit, seinen Vorschlag einer höheren allgemeinen Landesschule der in Chur tagenden Standesversammlung der Delegierten aller Drei Bünde und im August auch dem Volk erneut vorzulegen. Von der Standesversammlung wurde diese Initiative begrüsst, von den Gemeinden aber, wie nicht anders zu erwarten, verworfen.86 Nach ihrer Auffassung war es zweckmässiger, für eine Verbesserung der Dorfschulen zu sorgen, statt eine Mittelschule zu schaffen. Um die höhere Ausbildung sollten sich die Herren, die für ihre Söhne eine Karriere bestimmten, selber kümmern. Tatsächlich entstand in Graubünden erst 1804 ein öffentliches Gymnasium. Zuvor mussten die Jünglinge ins Ausland gehen oder eine der wenigen Privatschulen besuchen.

Die Nationalschule von Jenins, die eine Familienschule für die Söhne Tscharners und einige wenige Freunde blieb, war stark defizitär. Tscharner hätte sie Ende 1791 am liebsten aufgegeben oder dem Hauptlehrer Jakob Valentin (1760–1841) überlassen, einem reformierten Theologen aus dem Prättigau, der sie seit 1786 leitete. Aber Valentin scheute, der ungewissen Zukunft der Schule wegen, davor zurück.

Mit dem Kauf von Reichenau eröffnete sich Tscharner eine neue Perspektive. Die Herrschaft unterstand weder der Jurisdiktion noch den Behörden der Stadt Chur oder einer anderen Gemeinde, die befugt gewesen wären, sich in die Schulgestaltung einzumischen und Abgaben zu verlangen. Auch konnte sie von keiner Zunft oder Bürgerschaft gegängelt werden, die darüber wachte, wer ansässig sein und ein Gewerbe ausüben durfte, und es war keine Instanz da, welche eine Schule hätte ablehnen können, wenn ihre Ziele allfälligen Satzungen oder Privilegien zuwiderliefen.

Schon lange vor Heinrich Pestalozzi war es üblich, in Privatschulen auf Kopf, Herz und Hand einzuwirken und die Schüler neben dem Unterricht auch noch mit einem Gewerbe zu beschäftigen. Das Gefühl sprach man schon in Haldenstein mit religiöser Hingabe und der Vermittlung eines gelebten Christentums an, indem – vor einem pietistischen Hintergrund – auf Liebe zum Nächsten, Toleranz und Friedfertigkeit hingewirkt wurde.87 Die Erziehung zur Vernunft wurde in Haldenstein durch den eigentlichen, wissenschaftlichen Unterricht abgedeckt, der im Zeichen der Aufklärung stand, und für die handwerkliche Komponente wurde gesorgt, indem die Knaben im Drechseln, Glasschleifen, in Papierarbeiten und im Frühjahr und Sommer im Gärtnern, Pflanzen und Pfropfen unterwiesen wurden.88

Handwerkliche Tätigkeiten waren auch für Jenins vorgesehen gewesen89 und finden sich in den Prospekten des Seminars Reichenau; sie wurden jedoch, abgesehen von der Gartenpflege, nicht ausgeübt. Im Unterschied zu Pestalozzi, der die Kinder arbeiten liess, um sie ihren Lebensunterhalt bestreiten zu lassen, ging es in den Bündner Seminarien darum, ihnen einen körperlichen Ausgleich zu bieten und sie sinnvoll zu beschäftigen.90

Auf politisch und konfessionell neutralem Grund wie Reichenau konnte eine Schule eher gedeihen, in welcher künftige Staatsmänner und Weltbürger, Bündner und Ausländer, gleich welcher Sprache und Religion, erzogen wurden. Vielleicht liessen sich Eltern, die davor zurückscheuten, ihre Kinder einem Privatlehrer anzuvertrauen, verlocken, sie in ein Internat zu schicken. In erster Linie aber mussten sie davon überzeugt werden, dass sich ihre Kinder in einem gesunden Klima aufhielten, vor allen Gefahren beschützt und gründlich unterrichtet wurden. Marschlins nämlich, wohin das Seminar Haldenstein 1771 verlegt worden war, war seines schattigen Sumpfgeländes wegen91 mit dort grassierenden Epidemien in Zusammenhang gebracht worden: Die Schüler wurden von Faul- oder Nervenfieber, einer Ruhrepidemie und dem Tertianfieber (Malaria) befallen, 92 Infektionen, für die man damals aus dem Boden aufsteigende Miasmen verantwortlich machte. Von der reinen Luft und dem sauberen Wasser in Reichenau war dies nicht zu befürchten, dafür war mit Erkältungskrankheiten zu rechnen.

Eines der wichtigsten Argumente für die Aufnahme des Schulbetriebs im Schloss Reichenau war, dass Tscharner Johann Peter Nesemann dafür gewinnen konnte, seine Privatschule in Chur aufzugeben und die Schulleitung in Reichenau zu übernehmen. Nach dem Tod von Martin Planta war Nesemann, der im Verlauf seiner 14-jährigen Tätigkeit in Haldenstein und Marschlins gegen 300 Knaben und Jünglinge aus Bünden und der Schweiz erfolgreich unterrichtet hatte, die mittlerweile selber Väter von Kindern waren, der wohl geachtetste Pädagoge weit und breit. Nach Tscharners Vorstellungen sollte das Seminar Reichenau gemäss den neusten pädagogischen Prinzipien, aber nach bewährten Methoden geführt werden, und dies war durch seinen alten Lehrer, Mentor und Freund Nesemann am besten gewährleistet.

Dass sich Nesemann im hohen Alter von 66 Jahren überreden liess, nach Reichenau zu kommen, noch einmal von Neuem zu beginnen oder vielmehr an Haldenstein anzuknüpfen, muss mit der Freundschaft in Zusammenhang gebracht werden, die ihn mit Tscharner verband, aber auch, da er ein kluger Geschäftsmann war, mit Vorteilen, die ihm versprochen wurden. Tscharner vereinbarte mit ihm ein für damalige Verhältnisse hohes Jahresgehalt von 800 Gulden. Ausserdem durfte er ein Drittel der Geschenke behalten, welche die Schule von den Eltern erhielt. Laut einem nicht datierten Entwurf zu einem «Akkord» (Vertrag), der nach seinem Umfeld in den «Reichenauer Notanda» zu urteilen auf Ende 1793 oder Anfang 1794 zu datieren ist, hatte Nesemann statt wie die anderen Lehrer sieben Stunden Unterricht oder Aufsicht pro Tag nur vier «in jedem erforderlichen Fache» zu geben und eine Stunde Aufsicht zu führen, damit er die Leitung und weitere administrative Arbeiten wahrnehmen, also den Stundenplan koordinieren, die Lehrer überwachen, die Rechnungen führen und Korrespondenz erledigen konnte. Er sollte zwei Zimmer und eine Küche zur Verfügung haben, und es war ihm freigestellt, ob er sich privat verpflegen oder gegen einen Betrag von 150 Gulden jährlich mit den anderen essen wollte. Ausserdem durfte er, was sonst keinem Lehrer erlaubt war, das Wochenende mit seiner Frau und den beiden Töchtern in Chur verbringen. Er war direkt Tscharner unterstellt, dem Kurator und Verbindungsmann zur Herrschaft.93

Nachdem sich Nesemann bereit erklärt hatte, die Leitung des Seminars zu übernehmen, bemühte sich Tscharner, einen zweiten Direktor zu finden, und bat Jakob Valentin, diese Stelle einzunehmen. Bis alle Abklärungen getroffen und die Räume für die neuen Bedürfnisse instand gestellt waren, sollte die Familienschule in Jenins weitergeführt werden. Danach sollte die Schülerschar geschlossen nach Reichenau kommen: die drei ältesten Söhne Tscharners, ein Planta von Zuoz, Alexander Sulzer oder Sulser von Azmoos, Jan Corv von Ramosch und Peter Ludwig Donatz, Sohn des Marschalls Conradin von Donatz und der Baronesse von Saint-Six.94

Die Schülerrepublik im Schloss Reichenau

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