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Einleitung

DIE BEDEUTUNG DES SEMINARS REICHENAU AUS HEUTIGER SICHT

Vor 250 Jahren richteten sich die Augen vieler gebildeter, fortschrittlich gesinnter Eidgenossen auf den kleinen Freistaat Gemeiner Drei Bünde an der südöstlichen Grenze der Eidgenossenschaft, genauer nach Haldenstein, wo ein Wunsch in Erfüllung zu gehen schien, den die Helvetische Gesellschaft seit ihrer Gründung im Jahr 1762 gehegt hatte: die Förderung des Bürgersinns unter jungen Schweizern. Vielen Mitgliedern dieses patriotischen Vereins war bewusst, dass das künftige Staatswohl in der Hand der Jugend lag, dass diese Jugend aber zuerst selber staatsmännisch erzogen werden musste, bevor sie die Schweiz im Sinne der Reformer umgestalten konnte.

Die Eidgenossenschaft der dreizehn Orte blickte auf eine ruhmreiche Vergangenheit zurück, die bei jeder Gelegenheit aufs Neue beschworen wurde, aber sie war innerlich erstarrt und zu keiner grundlegenden politischen Veränderung mehr fähig. Zerrissen im Kampf rivalisierender Kräfte und Konfessionen wachten Altgesinnte und Ewiggestrige darüber, dass kein Neuerer die bewährte Politik und ihre Institutionen kritisierte oder die Vormachtstellung herrschender Familien angriff. Die Verfolgung und Bestrafung solcher Ruhestörer blockierte während des 18. Jahrhunderts dringend notwendige Veränderungen und hätte beinahe die Helvetische Gesellschaft in den Abgrund gerissen, die an ihren jährlichen Tagungen in Schinznach Bad das Bild einer erneuerten Schweiz entwarf.

Überraschend trat im Mai 1766 der Bündner Pfarrer Martin Planta vor die Versammlung und schilderte ein Experiment im Schloss Haldenstein, das weitherum seinesgleichen suchte. Die Mitglieder und Gäste lauschten gebannt seinen Ausführungen zu einer Privatschule, in der Bürgertugenden, Gemeinschaftsgeist und Gerechtigkeitssinn gelehrt und praktisch geübt wurden. Nicht zufällig konnte eine solche Schule gerade in Bünden entstehen, wo die (männliche) Jugend von alters her, im Elternhaus, bei dörflichen Veranstaltungen und in Knabenschaften, ans Politisieren gewöhnt war. Im Seminar Haldenstein erhielten die Schüler politische Aufgaben und Führungsfunktionen übertragen, die man der antiken römischen Republik entnahm. Die Wahl in diese Ämter erfolgte auf demokratischem Wege, und die Inaugurations- und Abtrittsreden wurden, wie es in Bünden Brauch war, ebenfalls von den Amtsträgern gehalten. Zahlreiche Staatsmänner erhielten hier ihr Rüstzeug für ihre politische Laufbahn. Wenige Jahre darauf starb Martin Planta; das Seminar zog ins Schloss Marschlins und wurde nach dem Willen des Schlossherrn Ulysses von Salis-Marschlins auf die philanthropischen Ideen Joachim Basedows ausgerichtet, eines damals viel beachteten deutschen Pädagogen, geriet bald ins Trudeln und stürzte 1776 ganz ab.

Nach der Französischen Revolution, in einer politisch hochbrisanten Zeit, wurde in Reichenau die Schule wieder eröffnet, interkonfessionell, vielsprachig und mit Schülern aus dem In- und Ausland. Man erteilte Unterricht in modernen Sprachen, theoretischen und praktischen Fächern, erzog ganzheitlich, zu Toleranz und demokratischem Verhalten und erklärte sich zur Schülerrepublik.

Der Politiker Johann Baptista von Tscharner, Gründer und Kurator des Seminars Reichenau, verpflichtete Johann Peter Nesemann, einen der beiden ehemaligen Direktoren von Haldenstein, zum Schulleiter und richtete die Ausbildung auf künftige Gutsbesitzer, Kaufleute, Politiker und Akademiker aus. Er hoffte, mit dem Schulinternat einflussreichen Bündner Familien eine Alternative zu den damals üblichen Privatlehrern zu bieten. Leider fand auch das Seminar Reichenau nach einigen Jahren ein Ende, als der Zweite Koalitionskrieg der europäischen Grossmächte über die Schweiz und Bünden hereinbrach und die Bevölkerung in zwei feindliche Lager spaltete.

Wenn ich mir nur vorgenommen hätte, eine Studie zum Seminar Reichenau zu schreiben, würde das eine Publikation dieses Umfangs kaum rechtfertigen. Erstens ist es aber mein Anliegen, auch die Vorgänger des Seminars in Haldenstein, Marschlins und Jenins vorzustellen und pädagogikgeschichtlich zu verorten, zweitens möchte ich die politische Geschichte und die Kulturgeschichte Graubündens jener Zeit darstellen und drittens die besondere Situation Reichenaus in historischer, politischer, verkehrstechnischer und ökonomischer Hinsicht aufzeigen. Das Schloss Reichenau stand durch seine Position immer wieder im Brennpunkt politischer Ereignisse und spielte zugleich eine wichtige Rolle im Transportwesen und Handel über die Bündner Pässe.

Johann Baptista von Tscharner – Initiator des Seminars, Miteigentümer der Herrschaft und des Schlosses – machte immer wieder Pläne für Reichenau: Bald sah er es als eine eigenständige Republik, einen Idealstaat, bald als ein wirtschaftliches und kulturelles Zentrum mit Fabriken, Werkstätten und Künsten, ein anderes Mal erträumte er sich Reichenau als Hafenstadt an einer europäischen Wasserstrasse, die von der Nordsee bis nach Italien reichte. Im Tscharner-Archiv, das sich im Staatsarchiv des Kantons Graubünden befindet, schlummert eine Fülle von Material mit allerlei Notizen, Entwürfen und Träumen Tscharners, das nach verschiedenen Richtungen zu durchschiffen und zu durchkreuzen sich lohnt.

DIE HERRSCHAFT REICHENAU UND IHR SCHLOSS

Für unser Thema von Bedeutung ist die Lage von Reichenau am Zusammenfluss des Vorder- und Hinterrheins, am Kreuzungspunkt der Transitwege von Uri über den Oberalppass und von Italien über den San Bernardino- und Splügenpass nordwärts. In Reichenau war es seit dem Mittelalter möglich, auf zwei soliden Brücken die beiden Rheine zu überqueren und Güter und Menschen auf der Strasse nach Chur oder mit Holzflössen bis zum Bodensee zu transportieren. Dadurch wurde Reichenau zu einem bedeutenden Handels-, Zoll- und Warenumschlagsplatz mit Gast- und Zollhaus, Schreibstube, einem Laden, Metzger, Bäcker und Handwerksbetrieben, wo man das Notwendige für eine Reise einkaufen, herrichten und reparieren lassen konnte. Die Gewerbebetriebe waren, anders als in Chur, keinem Zunftzwang unterworfen, was eine grössere Flexibilität bei der Ansiedlung erlaubte, soweit nicht Rechte der umliegenden Gemeinden Tamins und Bonaduz sie einschränkten.

Darüber hinaus war Reichenau eine Herrschaft, das heisst ein ursprünglich sich selbst verwaltender Adelssitz mit Untertanen (sogenannten Herrschaftsleuten), mit politischen und juristischen Privilegien, ja sogar mit dem Recht, Münzen zu schlagen, was dem Weiler mit dem Schloss und der Gemeinde Tamins eine gewisse Eigenständigkeit verlieh. Im Prinzip konnte Reichenau somit seine eigene Politik bestimmen. Das ist auch deshalb wichtig, weil auf Schloss Reichenau, zwei Gehstunden von Chur entfernt, Unterhandlungen stattfanden und Entscheidungen getroffen wurden, von denen man anderswo nichts wusste oder wissen durfte. Während zweieinhalb Jahren, seit April 1796, residierte ein französischer Botschafter auf Schloss Reichenau und ging dort seinen Geschäften nach, während sein österreichischer Kollege traditionsgemäss den Bischofssitz Chur als Standort benutzte. Dass dies nicht ohne Einfluss auf das Seminar Reichenau blieb, wird anhand von Beispielen sichtbar werden.

QUELLENLAGE UND LITERATUR

Über das Seminar Reichenau existiert noch keine eigenständige Schrift, welche die ganze Zeit seines Bestehens abdeckt. Man findet Beschreibungen in den Biografien über Johann Baptista von Tscharner (Alfred Rufer), Johann Peter Nesemann (Benedikt Hartmann) und Heinrich Zschokke (Carl Günther, Werner Ort). Alle Autoren stützen sich hauptsächlich auf den Nachlass Tscharner im Staatsarchiv Graubünden, der aber in dieser Hinsicht unvollständig ist und nur teilweise als objektiv betrachtet werden kann. Das liegt einmal an den Eigentumsverhältnissen der Herrschaft Reichenau, die 1792 von der Speditions- und Handelsfirma S. und J. B. Bavier in Chur und einer Privatperson gekauft worden war. Tscharner war seit 1788 Teilhaber dieser Firma. Als solcher, mit einem Anteil von einem Drittel, musste er sich den Beschlüssen der Mehrheit fügen. 1806 zog er sich daraus zurück und verkaufte seinen Anteil, was zur Folge hatte, dass die meisten Akten bei der Firma blieben, soweit sie nicht schon in den Kriegswirren verloren gegangen waren.

1808 wurde die Herrschaft an eine Bergbaugesellschaft veräussert, die von Reichenau aus den Abbau von Erzen betrieb, aber mangels Erfolg 1815 in Liquidation ging. 1819 gelangte das Schloss Reichenau in die Hand von Hauptmann Ulrich von Planta-Samaden, der es umfassend renovierte. Durch diese Transaktionen gingen ebenfalls Dokumente verloren; im Besitz von Tscharner blieben Abschriften, Entwürfe und Notizen, die oft nachträglich entstanden und subjektiv gefärbt sind. Gleichwohl erlauben manche von ihnen dank ihrer Unmittelbarkeit wertvolle Einblicke in Abläufe, Geschehnisse, Entscheidungsfindungen, in Schwierigkeiten und Streitfälle. Dies muss uns für die Lückenhaftigkeit der uns zur Verfügung stehenden Dokumente entschädigen.

Wir hätten gerne die Verträge und Sitzungsprotokolle der Eigentümer der Herrschaft Reichenau gekannt, die Abmachungen mit Lehrern und Angestellten, die Aufzeichnungen über Schüler, Stundenpläne, Korrespondenzen mit Eltern und Behörden, ökonomische Verzeichnisse, Haushalts- und Rechnungsbücher, Menüpläne, Auskünfte über die Benutzung und Herrichtung von Räumlichkeiten, über Vorfälle usw. Einiges lässt sich aus Briefen an Tscharner, aus dessen Notizen und aus verstreuten anderen Dokumenten rekonstruieren. Wir müssen uns aber stets bewusst werden, dass uns für wichtige Sachverhalte kaum gesicherte und eindeutige Dokumente vorliegen.

Es ist der Wunsch des Autors, das Schicksal des Seminars Reichenau möglichst farbig und anschaulich darzustellen, ohne Kompromisse bei der wissenschaftlichen Genauigkeit einzugehen. Ich werde mich eng an die Fakten halten und nach Möglichkeit die Quellen sprechen lassen, um dem Buch die notwendige Glaubwürdigkeit und Authentizität zu verleihen. Auf Spekulationen und einseitige Deutungen wird verzichtet und Interpretationen werden als solche gekennzeichnet. Um die Lesbarkeit zu verbessern, werden die Zitate zwar im Wortlaut, aber in modernisierter Orthografie und mit bereinigter Interpunktion wiedergegeben. Die Herkunft von Textstellen und Aussagen, die nicht vom Autor stammen, ist in den Endnoten vermerkt; Belege und Abschriften liegen in Kopie und/oder in elektronischer Form vor und werden dem Staatsarchiv des Kantons Graubünden übergeben.

Mein besonderer Dank gilt Thomas Pfisterer, Christian Rathgeb und Gian-Batista von Tscharner in Reichenau für die Ermutigung, dieses Projekt in Angriff zu nehmen, Marius Risi und Cordula Seger vom Institut für Kulturforschung Graubünden für die vorzügliche Betreuung, Peter Jäger, Cordula Seger und Bruno Meier für ihr Lektorat, dem Verlag Hier und Jetzt, dass er diesem Buch eine Heimat geboten hat, nicht zuletzt aber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Staatsarchive der Kantone Aargau und Graubünden, der entsprechenden Kantonsbibliotheken, dem Rätischen Museum in Chur und der Zentralbibliothek Zürich für die stets freundliche und kompetente Hilfe.

Die Schülerrepublik im Schloss Reichenau

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