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Nihil in terra sine causa fit oder Nichts auf Erden geschieht ohne Grund.

Er nahm die Straße über Miamou , Plora und Platanos und erreichte nach zwei Stunden die Ausgrabungsstätte der antiken Stadt Gortyn . Die weiter nach Heraklion führende Hauptstraße führte direkt durch das ehemalige Zentrum der antiken Stadt, die unter den Römern die Hauptstadt Kretas gewesen war. Die meisten Touristen, die hierher mit dem Bus oder einem Mietwagen kamen, besuchten fast ausnahmslos die sog. Odeion mit seinen berühmten Gesetzestafeln. Wenige verirrten sich in den großen Olivenhain südlich der Hauptstraße. Hier lagen weitere antike Ausgrabungen versteckt und hier wollte Prager nun schon zum wiederholten Mal in aller Ruhe zwischen den alten Olivenbäumen nach den Überresten der antiken Stadt suchen. Einzelne Ruinen waren hier noch in einem erstaunlich guten Zustand.

Wie schon bei seinem letzten Besuch stellte Prager den Mietwagen auf dem Parkplatz des zentralen archäologischen Geländes von Gortyn ab. Jetzt, Ende Mai waren erst wenige Touristen unterwegs. Aber ein Bus aus Agia Galini mit dem Schild „Schauinsland“ hinter der Frontscheibe hatte einen Schattenplatz nicht weit vom Eingang des umzäunten Geländes gefunden. Prager vermutete, dass der kleinen Ausflugsgruppe gerade die Gesetzestexte im römischen Odeion gezeigt wurden. Die Führung ist sicherlich auf Deutsch und könnte eine Anregung sein, dachte Prager. Entgegen seiner ursprünglichen Absicht, sich heute eingehend die Palastanlage des römischen Provinzgouverneurs anzusehen, kaufte er sich eine Eintrittskarte für das kleine Museum auf dessen Areal sich auch die Titus-Basilika und das Odeion befanden. Als er sich dem Rundbau näherte, sah er schon die Besuchergruppe auf der Agora der antiken Stadt stehen. Beim Herankommen hörte er, dass eine blonde Frau, die eine Gruppe von etwa 15 Touristen um sich geschart hatte, Erklärungen in deutscher Sprache gab. Prager setzte sich etwas entfernt auf eine Stufe des alten Theaters und lauschte, was die Frau zu sagen hatte. Es waren die üblichen Erklärungen, die man in jedem kleinen Kretaführer nachlesen konnte: Was Sie hier im geschützten Bereich des Odeions sehen können, befand sich ursprünglich an den Wänden eines öffentlichen Gebäudes an der Agora. Erhalten sind nur zwölf der Tafeln, die sich auf den Wänden eines hellenistischen Gebäudes befanden, das in römischer Zeit in den Bau hier mit einbezogen wurde. Bei der „Großen Inschrift“ handelt es sich um Gesetzestexte. Da finden Sie z. B. Regeln aus dem Familienrecht. Ich lese Ihnen da mal was vor, damit Sie sich eine Vorstellung machen können. Die Frau mit den kurzen, aber nicht unweiblich wirkenden blonden Haaren, kramte einen Zettel aus ihrer Umhängetasche und las: , Wenn Mann und Frau sich scheiden, soll sie das Ihrige haben, was sie mitbrachte zu dem Manne, und von dem Ertrage die Hälfte, wenn solcher aus ihrem eigenen Vermögen vorhanden ist, und von dem, was sie erarbeitete, die Hälfte, was es auch ist.. .‘ Also immer nur die Hälfte, rief ein Mann aus der Gruppe, das ist ja heute nicht anders. Eine kleine Dicke im viel zu kurzen Jeansrock kicherte, siehst du Egon, wie ich gesagt habe, immer die Hälfte. Die Frau mit der Kurzhaarfrisur wollte sich aber jetzt nicht unterbrechen lassen. Liebe Gäste, es ist leider etwas komplizierter, es geht ja hier nicht nur um die Rechtsstellung geschiedener Frauen und Witwen, sondern auch um die nach einer Scheidung geborenen Kinder und die Kinder, die aus Mischehen hervorgegangen sind. Der Zwischenrufer von eben fragte: An welche Mischehen ist denn hier zu denken? Die Führerin hob etwas unsicher die Schultern. Na, ich denke mal, dass damit Ehen zwischen Personen bezeichnet werden, die unterschiedlichen Religionen angehören. So viel ich weiß, gab es doch bei den Griechen und Römern die Vielgötterei, wie soll das denn dann geregelt werden? entgegnete der Mann.

Prager musste grinsen, solche Typen konnten jede Führung zerlegen. Die blonde Führerin tat ihm leid. Ihr fehlte jetzt offensichtlich der nötige Humor, um mit solchen Situationen souverän umgehen zu können.

Prager stand auf, vorn beim Museumsladen gab es eine kleine Restauration, ein Tee wäre jetzt nicht schlecht. Die deutsche Gruppe würde hier sicherlich mit ihrer blonden Führerin noch eine kleine Rast einlegen, schließlich wollten auch Karten für die Lieben daheim gekauft werden. Prager musste nicht lange warten, bis die Gäste aus Deutschland den Kartenständer umlagerten. Die Führerin der Gruppe hatte sich auf einen Gartenstuhl neben der Skulptur eines Philosophen niedergelassen. Gute Wahl, dachte Prager. Er nahm seinen Klappstuhl und setzte sich, ohne eine Antwort auf sein „Gestatten Sie?“ abzuwarten, neben sie. Entschuldigen Sie, aber einer deutschen Stimme folgt man hier gern. Ich habe ohne Ihre Erlaubnis an Ihrer Führung teilgenommen, im Nachhinein herzlichen Dank. Darf ich Ihnen einen Tee oder eine Limonade bringen? Die Frau lachte, so viel Anteilnahme bin ich gar nicht gewohnt, aber wenn Sie mich schon so fragen, ich hätte gern einen Tee. Prager legte seinen Strohhut auf die Sitzfläche seines Gartenstuhls und holte von der Theke das Gewünschte. Reisen Sie allein, fragte die Frau, nachdem sie einen Schluck zu sich genommen hatte. Ja, ich habe das Vergnügen. Ist es wirklich ein Vergnügen, allein zu reisen? Wenn man sein ganzes Interesse der Geschichte widmet, kann es von Vorteil sein, lächelte Prager. Oh, dann waren Sie eben ein kritischer Zuhörer meiner Ausführungen. Wie Sie vielleicht bemerkt haben, war meine Gruppe heute auch etwas kritisch. Prager las das Namenskärtchen ihres Reisebüros auf der Bluse. Sie haben Ihre Sache sehr gut gemacht, Frau Gloger, aber es gibt wohl in jeder Gruppe ein paar Banausen. Allerdings, wenn ich das sagen darf, bei Ihren Erklärungen zur Mischehe lagen Sie nicht ganz richtig. Sie haben die moderne Form der Mischehe angesprochen. Bei den alten Griechen aber handelte es sich dabei um Ehen zwischen Sklaven und Freien. Das hat die Regelungen im Familienrecht damals erheblich verkompliziert, aber, das muss man sagen, es wurde immerhin geregelt und konnte nicht nach Gutdünken gelöst werden. Frau Gloger lachte, da kann ich ja froh sein, dass Sie nicht in meiner Gruppe waren. Vielleicht wäre es dann das Beste gewesen, Ihnen die Erklärungen zum Familienrecht zu überlassen. Prager wehrte ab, die Frau gefiel ihm. Jetzt hatte sie ihren Humor zurückgewonnen und gut sah sie in ihrer olivfarbenen Schlabberhose mit der eingesteckten hellgelben Bluse auch aus. Die kurzen Haare passten zu ihrer sportlichen Erscheinung und ihrer gebräunten Haut.

Meine Kenntnisse sind leider auch nur begrenzt, sagte Prager. Mich interessiert hier auf Kreta nur die römische Geschichte und hier in Gortyn bin ich schon oft gewesen. Frau Gloger wurde neugierig. Gehören Sie vielleicht zu einem der Ausgrabungsteams, die man hier ab und zu auf dem Gelände sieht? Sie haben eine gute Nase, Frau Gloger. Ich wollte tatsächlich einmal Archäologie studieren, es hat aber bei mir nur zum Geschichtslehrer gereicht. Nein, ich gehöre nicht zu den Ausgräbern, aber ich schaue gern in ihre Gruben. Ich wollte heute eigentlich noch auf die andere Straßenseite und dem ehemaligen Prätorium einen Besuch abstatten. Die Touristenführerin schaute ihm neugierig ins Gesicht: Wenn ich keine Gruppe im Rücken hätte, würde ich Sie gerne begleiten. Mein Name ist Prager, entschuldigen Sie, ich habe mich gar nicht vorgestellt, Rudolf Prager. Ich bin noch längere Zeit auf Kreta, es wäre mir eine Ehre, wenn ich einmal mit Ihnen dort drüben durch den Olivenhain auf den Spuren der alten Römer wandeln könnte.

Die kleine Dicke aus der Reisgruppe baute sich vor ihnen auf. Frau Gloger, unser Busfahrer wartet, die anderen sind schon am Tor. Prager wandte sich an die Reiseleiterin: Melden Sie sich, hier ist meine Nummer. Auf der Visitenkarte stand Rudolf Prager, dazu eine Handynummer und handschriftlich der Zusatz: bei Adam und Xanthoula Grigoraki, Lentas.

Bevor Frau Gloger mit der Dicken hinter den Zypressen verschwand, drehte sie sich noch einmal um und winkte Prager zu, der seinerseits mit dem Hut in der Hand zurückwinkte. Nun war es Zeit auf die andere Straßenseite zu wechseln. Aus dem Auto holte er noch sein Klemmbrett, steckte sich Bleistift und Papier in die großen Taschen seiner Leinenjacke und stapfte trotz einsetzender Mittagshitze im Schatten der Olivenbäume zuerst zum Castellum Aquae , das ebenso wie das danebenliegende Nymphäum über einen Aquädukt mit Wasser versorgt wurde. Prager hatte sich den Plan des Statthalterpalastes mit Gerichtshalle, Thermen und Tempelbereich aus alten Grabungsberichten heraus kopiert und in eine eigens angefertigte Karte der Umgebung eingepasst. In keinem Buch hatte er bisher eine vernünftige Übersichtskarte gefunden, die dem interessierten Besucher eine klare Orientierung hätte geben können. Da muss erst ein alter Offizier der Nationalen Volksarmee kommen, um diesen Mangel abzustellen. Prager kicherte in sich hinein: Das machst du gut, du falscher Gelehrter.

Er schaute jetzt von Nordwesten her auf die monumentalen Überreste des Prätoriums , dem Sitz des Statthalters der Provinz Creta et Cyrenae . Eine aufrechte Ziegelwand, die zum Bereich der Thermen gehörte. Er hatte sich in einem Buch einmal Bilder von den Caracallathermen in Rom angesehen. So groß waren die in Gortyn natürlich nicht. Man hatte in späterer Zeit hier zusätzliche Räume eingezogen, da war das römische Reich schon im Niedergang begriffen. Vor der mächtigen Ziegelwand lagen Säulenreste, die vermutlich Teil einer Gerichtsbasilika waren. Davor wiederum Inschriftbasen, die, so hatte Prager gelesen, einst die Statuen der Statthalter trugen. Wenn das hier der Mittelpunkt des alten Gortyn gewesen sein soll, müssten eigentlich die Straßenzüge noch klar erkennbar sein. Er wandte sich nach rechts, hin zu den Resten des Aquädukts . Ein kräftiges ,saluto‘ ertönte in seinem Rücken. Hinter den Mauerresten des Nymphäums trat ein junger Mann hervor, der ihn mit strenger Miene ansah. „It‘s not allowed to be here, it‘s an archaeological area.“ Prager schaltete schnell, der junge Mann gehörte sicherlich zu einer Gruppe italienischer Archäologen, die er am Morgen von der Straße aus gesehen hatte. Ohne sich lange rechtfertigen zu wollen zeigte ihm Prager seinen Lageplan und sagte: I‘m looking for the roman streets. Der nicht unsympathisch wirkende Mann mit dem Dreitagebart streckte die Hand aus. Let me have a look into your map, please. Prager gab ihm seinen Plan und der junge Mann nickte anerkennend mit dem Kopf. I see, you are a professional. Prager konnte sich ein Lachen nicht verkneifen: I‘m a teacher for history. Roman history is my hobby.

Das Eis war gebrochen. Der junge Mann zeigte ihm auf der Karte den Verlauf der römisch-byzantinischen Straßen und bot ihm an, ihn ein Stück zu begleiten. Er wollte einige Kollegen aufsuchen, die weiter im Süden Vermessungen in der römischen Nekropole vornahmen. Prager konnte sein Glück kaum fassen, der Tag brachte ihm mehr als er am Morgen erhofft hatte. Seine Verwandlung zum Gelehrten schritt voran.

Der falsche Gelehrte

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