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Fünf Monate vorher: Eine Wiederannäherung

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Das war nicht Prager . Der Satz des Psychiaters brannte in Meier Hirn. Wenn das nicht Prager war, den Dr. Fuchs im Restaurant am Waldsee in Begleitung eines Maklers getroffen hatte, wer war es dann? Petzolds Ausruf, der sieht ja aus wie mein Selbstmörder, konnte die passende Verbindung sein. Aber Meier fand keinen Gefallen an dieser Konstruktion. Ein Mann will verschwinden, weil er fürchtet, das etwas herauskommt, was ihn belasten könnte. Er bringt einen anderen Mann um, der ihm ähnlich sieht und zur Sicherheit auch noch dessen Frau. Den Mord an seinen Doppelgänger tarnt er als Selbstmord. Von heute auf morgen nimmt er die Rolle des anderen ein. Der andere ist ein Gymnasiallehrer, der sich eben erst pensionieren ließ. Das würde natürlich gut ins Konzept passen, als pensionierter Lehrer muss man sich nicht mehr der Öffentlichkeit zeigen. Sehr gelegen käme auch, dass der Ermordete, dessen Identität man angenommen hat, recht vermögend war. Die Villa in Littenweiler kann man für eine Million Euro verkaufen. Hinzu kommt eine stattliche Pension, von der ein Polizeibeamter wie er nur träumen kann.

Eine filmreiche Geschichte, aber genau das störte Meier. Er dachte daran, was ihm Gerlinde Körner über ihre Freundin erzählt hatte. Das sind Szenen, die in einen Tatort passen aber doch nichts mit der Realität zu tun haben, oder doch? Vielleicht kann Kommissarin Stumpf in Petzolds Fall noch etwas herausfinden. Sie sollte sich den Bekanntenkreis von diesem Schmidt einmal vornehmen und nachschauen, zu welchen Ergebnissen die Spurensicherung gekommen ist. Wenn es brauchbare Hinweise auf Fremdeinwirkung gibt, können wir vielleicht den Fall Prager neu aufnehmen.

Mit diesen und ähnlichen Gedanken im Kopf machte sich Meier auf den Weg zur Modeboutique Adèle. Lieber wäre Meier mit deren Besitzerin an einem gemütlicheren Ort zusammengetroffen, aber Gerlinde Meier hatte darauf bestanden, dass er kurz vor Ladenschluss bei ihr vorbeikommen sollte. Von einer Einladung ins Präsidium hatte Meier abgesehen. In seinem Büro hätte er kaum Dienstliches mit Privatem verbinden können. Das bevorstehende Treffen war ihm schon am Morgen durch den Kopf gegangen. Es beeinflusste sogar seine Kleiderwahl. Er entschied sich für eine dunkle Anzugsjacke. Die Jeans sollten eine gewisse Lässigkeit hervorheben. Ein helles Hemd zum Wechseln steckte er zusammengelegt in seine Aktentasche. Die Entscheidung für ein frisches Hemd war goldrichtig, wie er jetzt, da er vor dem Laden stand, zufrieden feststellte. Gerlinde Körner, die gerade mit einer Kundin beschäftigt war, sah ihn hereinkommen und deutete mit einem Blick an, dass er schon mal nach hinten gehen könne. Um Missverständnisse zu vermeiden, sagte Meier im Vorbeigehen: Dann darf ich schon mal in Ihr Büro? Frau Körner strahlte ihn an und nickte. Sie trug ein schwarzes Kleid, das gut zu ihrer Figur passte, dazu rote Ohrringe und einen roten Armreif. Der Ausschnitt des Kleides ließ ihr Schlüsselbein sehen, ein Detail, das Meier besonders anziehend fand. Ihre dunklen Haare hatte sie zu einer einfachen Frisur zusammengesteckt. Nehmen Sie sich einen Kaffee, rief Gerlinde Körner hinter ihm her.

Meier stand etwas unschlüssig im Vorführraum der Boutique herum und konnte sich nicht entscheiden, ob er zur Kaffeetheke gehen oder die kleine Sitzecke ansteuern sollte. Er betrachtete die Bilder der großen Modeunternehmen Chanel, Dior, Jil Sander, Armani und Versace. Ihm kam das Wort ‚Verwandlung’ in den Sinn. Mode und Schmuck verwandeln die Frauen manchmal in entrückte Wesen. Die Gesichter auf den Bildern schienen das zu bestätigen. Gesellschaftliche Konvention und persönliche Befreiung, beides konnte Mode bedeuten. Wie viel fehlte ihm, um sich in einen Dandy verwandeln zu können? Er hatte am Morgen nach dem Aufstehen daran gedacht, was er heute anziehen sollte. Normalerweise dachte er nicht darüber nach, er zog einfach an, was er immer anzog. Braune Hose, kariertes Hemd und braune Jacke, so kannte man ihn im Präsidium.

Heute Morgen dachte er an Gerlinde Körner, an die Frau, die ihm spontan einfallen würde, wenn man ihn fragen würde, ob er eine schöne Frau kenne. Für sie und nur für sie trug er die dunkle Jacke und das frische Hemd. Er dachte an Rudolf Prager, was trug der eigentlich, wenn er zur Schule fuhr? War das ein Anzugsmensch oder liebte er es etwas legerer? Gerlinde Körner unterbrach seine Gedanken, ihr Parfum umhüllte ihn wie eine rosa Wolke. Herr Meier, darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Tee oder Wasser? Ich hätte auch ein Bier da, Sie haben schließlich schon Dienstschluss, oder? Meier entschied sich für ein Glas Wasser. Nehmen Sie doch schon mal Platz, Herr Kommissar, ich schließe nur schnell den Laden ab, dann können wir ungestört reden. Wie sollte er anfangen, er wollte nichts verderben. Am besten konventionell, entschied er.

Frau Körner, normalerweise gehört es nicht zu meinen Aufgaben, Komplimente zu vergeben, aber in Ihrem Fall muss ich einfach eine Ausnahme machen. Sie sehen einfach bezaubernd aus! Wie sich das anhört, ‚bezaubernd’, dieses Gesülze ist eigentlich gar nicht mein Stil, dachte Meier, aber bitte, wenn’s wirkt. Gerlinde Körner fühlte sich tatsächlich geschmeichelt, sie mochte den Kommissar und naja, beinahe wäre es ja schon zu einem Rendezvous gekommen, wenn da nicht diese vorgeschriebene Distanz gewesen wäre. In einem Film hatte sie einmal gesehen, wohin es führen konnte, wenn sich der Kommissar mit einer Zeugin einließ. Der Gedanke an den Film ließ sie fragen: Was treibt Sie denn in meine Arme, Herr Kommissar? Meier lächelte fast etwas verlegen. Nun ja, ich wollte eigentlich nur wissen, ob sie mit Herrn Prager noch in Kontakt stehen. Warum wollen Sie das wissen? Naja, es gäbe da noch einiges zu klären. Ich will den Fall erst mal zur Seite legen. Uns geht ja, wie Sie sich denken können, die Arbeit nicht aus und bei diesem Fall kommen wir irgendwie nicht weiter, aber wie gesagt, ich hätte gern mit ihm gesprochen. Ich weiß ja nicht einmal, wo er sich zur Zeit aufhält. Irgendwie will mir auch die Sache mit dem „Doppelgänger“ nicht aus dem Kopf. Ich denke oft noch an diese Kaufhausgeschichte, die Sie mir erzählt haben. Sie erinnern sich, die Sache in der Umkleidekabine.

Der schlaue Ermittler Meier schlug bewusst diesen vertraulichen Ton an. Schon oft hatte er bei Befragungen einiges in Erfahrung bringen können, weil es ihm gelungen war, sein Gegenüber auf seine Ebene zu ziehen. Das schien ihm auch dieses Mal zu gelingen. Gerlinde Körner hielt nicht lange mit ihren Informationen zurück und gab mehr preis, als man erwarten konnte. Ich habe Rudolf, also Herrn Prager, das letzte Mal Mitte November gesehen. Wir sind zusammen zum Essen gegangen. Ich habe ihn mit dem Auto abgeholt, weil ich dachte, dass ich mich ein wenig um ihn kümmern sollte. Er war ja wirklich nicht gut beieinander. Das wollte ich Sie gerade fragen, Frau Körner, welchen Eindruck hatten Sie? Fiel Ihnen an Herrn Prager etwas Besonderes auf? Nun ja, ich kenne ihn ja nicht so gut, ich kann also schlecht sagen, ob er vorher anders war. Aber dass es ihm nicht gut ging, hätte jeder sehen können. Er wirkte auf mich irgendwie panisch. Als wir schon beim Auto waren ging er noch einmal zum Haus zurück und überprüfte, ob er alle Türen abgeschlossen hatte. Haben Sie mit ihm über einen bevorstehenden Verkauf der Villa gesprochen? Gerlinde Körner nahm einen Schluck aus ihrem Wasserglas. Nicht zum ersten Mal bewunderte Meier ihre schlanken Hände. Die kleine Unterbrechung bot ihm die Gelegenheit, einen Blick auf ihr Dekolleté zu werfen, das die Fülle ihrer Brust dezent zur Geltung brachte. Gerlinde Körner lächelte ihn an und da dieses Lächeln so gar nicht zu dem passte, was Frau Körner über Prager erzählte, wusste Meier, dass sie sein Interesse für sie durchaus bemerkt hatte.

Rudolf hat mir erzählt, dass er einen Antrag auf vorzeitige Pensionierung eingereicht habe. Eine Genehmigung seitens der Schulbehörde stellte er nicht in Frage. Bei einem Psychiater hatte er sich ein robustes Attest verschafft. Von einem Verkauf des Hauses hat er nicht gesprochen. Dass es dann aber doch dazu kam, hat mich eigentlich nicht gewundert. Ich selbst habe noch zu ihm gesagt, er solle sich doch jetzt ein schönes Leben machen, Geld war ja vorhanden. Hat Herr Prager Ihnen gegenüber eine Andeutung gemacht, wie dieses „schöne Leben“ aussehen könnte? Nein, aber ich habe ihm vorgeschlagen, doch jetzt im Ruhestand seinem Hobby nachzugehen. Welches Hobby hatte Herr Prager? Er interessierte sich leidenschaftlich für Geschichte. Er war sicherlich nicht der Geschichtslehrer, von dem die Schüler schwärmen, ausgenommen vielleicht die, die selber in diesem Fach ihre Erfüllung finden. Rudolfs Platz wäre eigentlich an der Universität gewesen, nicht an einer Schule, wo man sich mit Idioten herumschlagen muss. Das ist jetzt nicht von mir, das hat er gesagt. Hannah hat mir erzählt, dass er gern Archäologie studiert hätte, aber seine Eltern wollten was Bodenständiges. Ich hab’ ja auch Kunstgeschichte studiert und was ist aus mir geworden? Eine Frau wie aus einem Modejournal, entfuhr es Meier. Gerlinde Körner lachte, na ich weiß nicht, ob das gerade ein Kompliment war. Sie haben recht, sagte Meier. Wenn ich die Bilder an der Wand anschaue, die Damen haben alle etwas Seelenloses im Blick, eine laszive Langeweile spricht aus ihren Augen. Herr Kommissar, so kenne ich Sie ja gar nicht. Schreiben Sie in Ihrer Freizeit vielleicht Gedichte? So weit ist es bei mir noch nicht gekommen, grinste Meier, aber darf ich noch einmal auf unseren Herrn Prager zurückkommen. Hat er Ihnen gegenüber mal von einem „Doppelgänger“ gesprochen? Sie meinen in Zusammenhang mit der Ermordung seiner Frau? Meier nickte. Ja, er hat seinen Doppelgänger gesehen, eine merkwürdige Geschichte war das. Im Colombipark lief er an einem Mann vorbei, der auf einer Parkbank saß. Das war schon etwas ungewöhnlich, weil es ja schon recht kalt war. Noch ungewöhnlicher aber war, dass der Mann auf der Parkbank genauso aussah wie er, nur mit Hut. Rudolf ging an ihm vorbei, schaute sich dann aber nach ihm um, ich weiß nicht, vielleicht wollte er mit ihm reden. Dieser Mann, also man kann vielleicht sagen, dieser Doppelgänger, ist dann aber davongelaufen. Auf der Parkbank fand Rudolf eine Zeitung. In einem Artikel war deutlich das Wort „Tod“ unterstrichen worden. Er hat mir die Zeitung später gezeigt und ich habe ihm geraten, zur Polizei zu gehen. Bei uns hat er sich nicht gemeldet, sagte Meier. Ich weiß ja auch nicht, was ich davon halten soll, es war vielleicht nicht unbegründet, dass Rudolf dann zu einem Psychiater gegangen ist.

Sie hatten vorhin gesagt, dass Herr Prager noch mal nachgesehen hätte, ob auch alle Türen des Hauses verschlossen waren. Hatte er Angst, dass jemand bei ihm einbrechen würde? Ja, es gibt da noch eine merkwürdige Geschichte. Als Rudolf einmal einen Arzttermin hatte, war ein Handwerker im Haus, der die Sicherheitsanlagen überprüfen wollte. Frau Scholz, die am Vormittag im Haus putzte, hat ihn hereingelassen, weil sie dachte, dass der Besuch des Handwerkers mit Rudolf abgesprochen sei. Rudolf hatte den Eindruck, das hat er mir bei unserem letzten Treffen erzählt, dass dieser ihm unbekannte Handwerker irgendetwas an der Überwachungs-anlage manipuliert habe. Na, jedenfalls war der Rudolf sehr verunsichert, er witterte hinter allem und jedem Unheil und Verrat. Ich habe ihm spontan angeboten, bei mir zu wohnen aber das wollte er nicht. Und seitdem sind Sie nicht mehr mit ihm zusammengetroffen? Nein, ich habe mich ein bisschen geärgert, dass er sich nicht mehr bei mir gemeldet hat. Er war ja wie von einem Tag auf den anderen verschwunden. Seine Haushälterin, die Frau Scholz, hat mir gesagt, dass Herr Prager das Haus verkaufen wolle und vorübergehend zu einem Freund nach Hamburg gezogen sei. Ich hab’ natürlich verstanden, dass der Rudolf das alles irgendwie hinter sich bringen wollte, aber dass er mich nicht in seine Pläne eingeweiht hat, nehme ich ihm persönlich übel. Das kann ich mir vorstellen, sagte Meier so mitfühlend er konnte. Wenn ich es richtig sehe, waren Sie ja die Einzige, die sich nach dem Tod seiner Frau um ihn gekümmert hat. Ob ich die einzige war, weiß ich nicht. Es kann sein, dass er auch noch Kontakt zu einem Kollegen am Friedrich-Gymnasium hat. Ich weiß, wen Sie meinen, der allseits beliebte Mathelehrer Leber. Gerlinde Körner musste lachen, ja, mit dem wollte mich meine Freundin Hannah fast verkuppeln, aber nein danke, ich stehe nicht so auf Formeln und deren Ableitung. Da haben wir etwas gemeinsam, grinste Meier.

Die schöne Frau Körner lächelte ihn an: Ich hoffe, das ist nicht die einzige Gemeinsamkeit. Ich würde jetzt gern das Gespräch beenden und zum gemütlichen Teil übergehen, sagte Meier mutig. Darf ich Sie noch zu einem Drink einladen? Kennen Sie Henry’s Bar in der Talstraße? Sehr gute Wahl, Herr Kommissar, aber bevor Sie mich dorthin entführen, muss ich unserem Gespräch noch das „i-Tüpfelchen“ aufsetzen. Meier war gespannt, welche Zutat wollte ihm Gerlinde Körner denn noch servieren? Es kam selten vor, dass ihm bei einer Befragung der oder die Befragte mehr sagte, als erforderlich war. Oder hatte er, der versierte Ermittler, in seiner Empfänglichkeit für weibliche Reize darauf vergessen, nach einer wichtigen Sache zu fragen?

Rudolf hat mir einen Brief geschrieben, sagte Frau Körner schlicht. Falls Sie ihn lesen wollten, ich habe ihn nicht hier. Meier konnte seine Verblüffung kaum verbergen: Und was schreibt er? Dass er jetzt in Mexiko sei und im Frühjahr vielleicht nach Kreta gehen wolle. Nach Kreta? Herr Kommissar, vergessen Sie nicht, Rudolf ist Geschichtslehrer, wobei, auf Kreta kann man auch schön zum Baden gehen. Wir können uns ja in Henry’s Bar noch ein wenig über Kreta austauschen.

Der falsche Gelehrte

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