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Téssera – 4

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Da stand sie auf der Dorfstraße von Kato Koutrafas und fühlte sich, als hätte sie Lepra. Und dieses Kaff wäre ihre Quarantäne. Um keinen Preis wollte sie hierbleiben. Und es schien, als wollte auch niemand, der hier wohnte, sie hier haben. Ihr Leben hatte sich in den letzten zwölf Stunden gehörig verändert. Sofia hätte nicht gedacht, dass sie sich jemals ins kalte und regnerische England zurückwünschen würde. Schwups. Da war es passiert. Nach nur zwei Stunden im Land.

Ihr mechanischer Vichy-Sonnenschutz in Stärke 20 war der zypriotischen Sonne zumindest hier im ländlichen Glutofen nicht gewachsen. Ihre Haut begann zu ziehen und zu brennen. Sie brauchte dringend eine Herberge. Sie fühlte sich ein bisschen so wie Maria in der Weihnachtsgeschichte. Nur ohne Mann und ohne Bauch und mitten am Tag.

Vor dem Kafenion saß niemand. Kein Wunder bei der Hitze. Der Bau war zweistöckig, offenbar war unten das Café des Ortes und oben das Wohnhaus der Besitzer. Die Farbe des Hauses hätte bereits vor fünfzig Jahren mal wieder nachgebessert werden können. Jetzt kam eigentlich nur noch ein Neubau infrage. Sofia öffnete die Tür und fand sich in einem Film von Aki Kaurismäki wieder. Ungefähr ein Dutzend Augenpaare hefteten sich an sie, wie sie da stand in ihren Designerklamotten. Die meisten Augenpaare gehörten alten Männern, wobei alt noch schmeichelhaft war. Sofia hatte mal gelesen, in Sardinien gebe es ein Dorf der Hundertjährigen. Das hatte wohl in der Zeitung gestanden, weil der Redakteur sich nicht nach Zypern traute. Die Männer waren jedenfalls uralt. Ihre Gesichter bestanden aus Falten, die aussahen wie Ackerfurchen, und sie hatten diese tiefbraune Farbe angenommen, die nur bekommen konnte, wer mehrere Dekaden lang auf Feldern und Hügeln zwischen Nikosia und Larnaka Schafe und Ziegen gehütet hatte. Keiner von ihnen sagte ein Wort.

Sofia überlegte, ob alle nur einfach so zur Türe starrten, weil sie ob ihres Alters ohnehin nichts mehr sehen konnten – und weil es hier drinnen dunkel war wie in einem nächtlichen Pumakäfig. Nebenbei roch es auch so. Als sie sich auf die Bar zubewegte, bewegten die alten Herren allerdings die Köpfe. Der Test war also geglückt, sie sahen doch etwas. Ein Hoch aufs zypriotische Gesundheitssystem. Offenbar hatte Sofia das Tavli-Spiel unterbrochen, das an mehreren Tischen gespielt wurde, denn die Backgammon-Bretter lagen geöffnet vor den Herren. Sie hatten die Steine wohl schon fallen lassen, bevor sie die junge Frau erblickt hatten. Sofia hatte Tavli nie verstanden. Irgendwie war es wie Backgammon. Ihr Vater hatte es ihr als Kind nicht beibringen wollen. Er hatte immer wieder erklärt, in ihren Kreisen spiele man nicht an einem Tisch in einem Kafenion, sondern im familieneigenen Salon. Später als Jugendliche wollte sie mit anderen Dingen spielen als mit Brettern auf Tischen.

Sofia beschloss, sich der Hauptrolle in dem Kaurismäki-Drehbuch nicht hinzugeben. Sie nahm die letzten Meter bis zur Bar mit festem Schritt und stolz erhobenem Kopf – mit Würde sozusagen.

Der Raum war riesig. An der Wand lief ein Fernseher, der auf RIK1 eingestellt war. Die Nachrichten begannen gerade. Der Sender lief lautlos, weil parallel ein Radio eine zypriotische Volksweise dudelte. Hinter der Bar stand ein junger Mann, der eben noch an der Kaffeemaschine hantiert hatte und nun aufsah. Er war … Nun ja, er war dick. Er war sogar sehr dick. Dicker als so mancher Engländer, den Sofia bei Pubcrawl-Touren in Manchester gesehen hatte. Er hoffte wohl, dass der Tresen seine Ausmaße verdeckte, aber sie konnte selbst über die Bar hinweg sehen, wie seine Gestalt nach unten hin auseinanderquoll wie ein riesiger Muffin. Sein Gesicht war gar nicht hässlich, er versuchte sogar ein Lächeln. Es war vielmehr ein recht hübsches Gesicht. Das half nur nicht, da der Rest gezeichnet war von zu viel Keo-Bier und jahrelangem Souvlaki-Konsum. Oder er hatte was mit der Schilddrüse. Konnte ja sein.

»Kalispera«, begann Sofia zaghaft, ihr frischer Mut war irgendwo auf dem Weg durchs Lokal wieder verlorengegangen.

»Kalispera, mia kopela«, antwortete er, womit er höflicher war, als sie es erwartet hatte. Junge Frau. In London war ihr überwiegend nachgepfiffen worden.

»Möchten Sie etwas trinken? Haben Sie sich verfahren?« Er wirkte ehrlich besorgt. Offensichtlich verirrte sich nie jemand hierher.

»Nein, keine Sorge«, antwortete sie. »Ich bin für einige Wochen hier als Hilfspolizistin eingesetzt, drüben im Revier. Ich brauche einen Schlafplatz.«

Sie hatte wohl etwas zu laut gesprochen, denn im selben Moment wurde es unglaublich still im Raum. Die Männer, die ihr Spiel wieder aufgenommen hatten, ließen die Steine diesmal buchstäblich fallen. Und der junge Mann hinter der Bar schaute auf einmal verdattert, gluckste dann zweimal und fing an zu lachen, so wie Kostas vorhin gelacht hatte – nur dass Adonis’ Körper bebte wie die griechische Halbinsel einmal im Jahr.

»Bei Kostas?« Er kriegte sich gar nicht wieder ein. Mann, das war ja ein fröhliches Örtchen.

»Ja, bei Chief Inspector Karamanlis.«

»Waren Sie etwa schon bei ihm?«

»Ich komme gerade von drüben.«

Er sah aus dem Fenster, als wollte er nachprüfen, ob der Polizeicontainer noch an seinem Platz stand. Dann sah er sie wieder an.

»Und geht es Ihnen gut?«

»Na, geht so. Ich brauche einen Schlafplatz. Und Kostas meint, es gebe hier Betten.«

»Oh, natürlich.« Er hörte auf zu lachen und betrachtete sie nun endlich als Kundin statt als witzige kleine Anekdote. Mit seinem Kopf wies er in Richtung der alten Männer.

»Weiterspielen«, sagte er leiser, aber bestimmt, und die Herren hörten offenbar noch einigermaßen gut, denn sie folgten seinen Worten. Sofort hob das Gemurmel im Raum wieder an. Er kam um den Tresen herum.

»Willkommen in Kato Koutrafas«, sagte er. »Mein Name ist Adonis.« Er wartete einen Augenblick, als wollte er den Namen sogleich wieder zurücknehmen oder als erwartete er, dass sie es täte.

Das konnte doch wirklich nur ein Witz sein. Aber es passierte nichts. Also musste Sofia reagieren. Sie hielt ihm ihre kleine, fein manikürte Hand hin, die in seiner ausladenden Schaufel fast versank.

»Sofia Perikles. Innenministerium in Nikosia.« Sie konnte nicht mit Gewissheit sagen, ob diese Bezeichnung jemals gestimmt hatte oder jemals stimmen würde. Aber sie würde im Leben nicht sagen: Sofia Perikles, Polizei von Kato Koutrafas. Im Leben nicht. Ihn schien aber nicht zu interessieren, welche hohe Behörde sie hierhergeschickt hatte. Vielmehr interessierte sich dieser fleischgewordene Anti-Adonis stattdessen für Sofia als Person. Oder als Frau. So schien es ihr jedenfalls, als sein Blick an ihr herunterwanderte, nachdem er den Tresen umrundet hatte.

»Haben Sie Gepäck? Dann zeige ich Ihnen das Zimmer. Kostet zwölf Euro die Nacht. Wenn Sie länger bleiben, so einen Monat, reduzieren wir auf zehn Euro pro Nacht. Wäre das o.k.?«

»Kann ich mit Karte zahlen?«

Es sollte ein Witz sein, aber er schaute sie an, als käme sie vom Mond. »Natürlich. CYTA hat uns einen ganz neuen Internetanschluss hierhergebastelt. Das WLAN ist rasend schnell. Funknetz gibt es aber leider nicht, das haben Sie bestimmt schon gemerkt, oder? Sie können also mit Karte zahlen, für uns wäre es aber natürlich besser, Sie würden bar …«

Er beendete den Satz nicht, als erinnerte er sich, dass Sofia gesagt hatte, sie käme von einem Ministerium. Vielleicht überlegte er gerade, ob sie Finanzministerium gesagt hatte. Wie auch immer. Selbst wenn sie künftig zur Schwarzarbeitsbekämpfung eingesetzt werden sollte – die verdammten Kommunisten in der Regierung würden von ihr nicht einen Euro Steuergeld bekommen.

»Dann gehe ich zum Auto und hole meine Koffer.«

»Ich helfe Ihnen.«

Er war schon hinter ihr.

»Sie sind schwer, die Koffer, sehr schwer. Und es sind viele.«

»Kein Problem. Kommen Sie, ich helfe Ihnen.«

Und dann rief er lauter: »Giorgios, komm bitte mit, wir müssen der Dame helfen.«

Irgendwie erwartete Sofia für den Bruchteil einer Sekunde, dass aus einem Nebenraum ein junger athletischer Mann kommen würde, der als Kofferträger angestellt war. Stattdessen stand einer der alten Männer auf, murmelte etwas zu seinen Freunden und griff sich mit der Hand vielsagend an den Kopf, dann schlurfte er ihnen entgegen. Er sah aus wie junggebliebene hundert.

»Mein Urgroßvater«, erklärte Adonis, als wäre es das Logischste auf der Welt, dass man seinen Urgroßvater überhaupt irgendwo anders hinschleppte als in die Geriatrie.

Sie mussten ein herrliches Bild abgeben – zumindest für den Regisseur einer Komödie: eine junge zypriotisch-britische Lady auf Keilabsätzen, dahinter ein ausgemergelter Ultrasenior im Karohemd, der seinen fleischlich ausgedehnten Urenkel mittlerweile im Gehen überholt hatte. Der wiederum wild schnaufend hinterdrein. Sofia war sich sicher, dass dieser Szene ganz Kato Koutrafas beiwohnte.

Sie bat Giorgios während des Ausladens, nicht den schwersten Koffer allein zu tragen, doch er hörte nicht, antwortete nicht, trug einfach nur stur den 30-Kilo-Koffer – das genaue Gewicht kannte sie, weil die Frau am Aegean-Schalter missbilligend den Kopf geschüttelt hatte – in Richtung Gasthaus. Während sich Adonis mit den zwei kleineren Koffern abmühte und sie selbst ihre Handtasche trug.

Da ging die Tür des Kafenions auf und eine junge Frau kam heraus. Sie war nicht sehr hübsch, eher hatte sie diese zypriotische Strenge um die Augen, in Verbindung mit leichten Augenringen. Doch ihre Figur war top, das sah Sofia sofort.

»Ach, da ist Constantina«, sagte Adonis, »meine Frau.«

Das war Sofia eben auch klar geworden, als sie bemerkte, wie die Grazie einen Gang zulegte, als sie die Neuangekommene sah und ihr Blick alles andere ausstrahlte als heitere Gastfreundschaft.

»Adonis? Wer ist das?«

»Eine Kundin, Consti, eine Kundin. Und zudem die neue Hilfspolizistin im Ort.«

»Sie?« Ihre Stimme war schrill, und sie konnte es nicht unterlassen, mit dem Finger auf Sofia zu zeigen. Die beiden Koffer indes ließ sie ihn weiter allein tragen.

Der Urgroßvater war mittlerweile im Haus angekommen. Mann, ist der schnell, dachte Sofia. Wie ein Rennpferd.

»Woher kommen Sie denn ursprünglich?«, fragte Adonis, um die Unterhaltung von seiner Frau weg und wieder in normale Bahnen zu lenken.

»Aus Limassol«, antwortete sie, »aber wir haben lange im Ausland gewohnt. Mein Vater ist Botschafter. Wir waren zusammen in Afrika, dann in Prag, Rom, Berlin, und jetzt war ich ewig in London.«

»Sie sind ja rumgekommen«, sagte er, immer noch schwer schnaufend, und seine Frau fügte bissig hinzu: »Na, das wär’ mir ja nichts. Ich bin lieber hier. Schön ruhig. So viel rumreisen … nein, nein, nein …«, und sie plapperte noch weiter, bis zur Tür.

Merkwürdig war das, eine durchaus attraktive Frau, die ihren – zumindest äußerlich – recht unvorteilhaften Mann derart argwöhnisch betrachtete.

»Und Sie führen den Betrieb zusammen?«

»Ja«, sagte er, und der Stolz belegte seine Stimme, »es ist ein echter Familienbetrieb. Meine Frau und ich. Unsere Eltern und Großeltern. Mein Urgroßvater. Und mein Zwillingsbruder.«

Gab es etwa noch einen Adonis? Auf dessen Ausmaße war Sofia gespannt.

Sie betraten das Kafenion wieder. Die Aufregung war vorüber. Die alten Herren beachteten sie gar nicht mehr, spielten ihr Tavli ungerührt weiter.

»Könntest du hinter die Bar gehen, während ich die Koffer hochtrage, Consti-Schatz?«, fragte Adonis seine Frau.

»Na, das könnte dir so …« Sie sprach nicht weiter, ließ aber auch nicht ab von den beiden, sondern folgte ihnen ins obere Stockwerk.

Von einem langen dunklen Flur gingen vier Türen nach links ab. Schlüssel gab es offenbar keine, Adonis öffnete die Tür zum zweiten Zimmer einfach so und ließ Sofia eintreten.

»Zimmer 2. Unsere Suite. Unser schönster Raum. Sie können ihn dennoch für zehn Euro haben. Treten Sie ein.«

Sofia tat wie geheißen und atmete auf. Es gab vier Wände, zwei Fenster und sogar ein Bett und einen Schrank. Mehr, als zu erwarten gewesen war. Und es war einigermaßen sauber. Gut, Bett und Schrank waren aus billiger Spanplatte und die einzigen Möbel im Zimmer. Es gab keinen Schreibtisch, keinen Stuhl und keinen Fernseher. Aber es kostete nur zehn Euro pro Nacht. 38-mal weniger als ihre letzte Hotelübernachtung. Mit Carl in einem wunderschönen kleinen Boutique-Hotel bei Neapel. Doch sie ahnte, dass sie in Zukunft eventuell etwas sparsamer würde leben müssen. Noch war unklar, wie es weiterging mit den Kommunisten: Vielleicht froren sie die Löhne für die Beamten ein – und damit auch für Sofia. Oder ihr Vater, der sie bislang immer unterstützt hatte, würde künftig sein Geld für andere Dinge ausgeben als für seine von der Karriereleiter gefallene Tochter, die nun Dorfpolizistin war. Auch deshalb kam ihr diese Unterkunft ganz gelegen. Und sie war ja immer noch fest davon überzeugt, dass dieses Versehen irgendwann jemandem auffallen musste und es sich nur um eine Frage von Tagen oder Wochen handeln konnte. Die verdammte neue Regierung konnte doch nicht die Zukunft des Landes – die bestausgebildeten Studenten von internationalen Unis – in der Provinz verkommen lassen.

Sofias großer Koffer stand schon in der Ecke, und Urgroßvater Giorgios hatte sich unbemerkt aus dem Staub gemacht. Vielleicht war er einer dieser Hundertjährigen, die aus Fenstern springen. Adonis stellte die beiden kleineren Koffer ab, und seine Frau ließ ihn dabei nicht aus den Augen.

»Efaristo«, sagte Sofia und meinte es gar nicht so ironisch, wie es herauskam, »ich werde mich dann mal frisch machen. Ich komme danach wieder runter.«

»Natürlich. Kommen Sie erst mal an, Fräulein Perikles.«

Er war wirklich sehr freundlich. Vielleicht war Constantina deshalb so eifersüchtig. Weil sie wusste, wie viel sie an ihm hatte. Obwohl sich Sofia nicht vorstellen konnte, dass er zu ihr auch so liebenswürdig war. Sie hörte Constantina jedenfalls immer noch auf Adonis einreden, als ihre Zimmertür längst geschlossen war. Sie atmete tief durch und betrachtete ihre neue Wohnumgebung, verglich sie in Gedanken mit dem alten Apartment in London-Shoreditch. Den hohen Decken. Den alten Möbeln. Altehrwürdig, nicht altbacken.

»Bonjour tristesse«, murmelte sie.

Tod am Aphroditefelsen

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