Читать книгу Die Farbe der guten Geister - A. A. Kilgon - Страница 2

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KAPITEL 1

Es war ein schöner, sonniger Morgen Mitte Mai, als das aufdringliche, schrille Piepen des Weckers Tilda unsanft aus ihren Träumen riss. Sie drehte sich noch einmal um, fühlte sich wie erschlagen. Einen Moment lang lag sie noch so da, unfähig sich zu bewegen. Ihr Mund war trocken. Ein dumpfer Druck lastete auf ihrem Bauch. Ihre Beine schienen wie gelähmt zu sein. Sie hatte ganz fest geschlafen und war noch immer wie benommen.

Neben ihr lag Ludwig. Er schnarchte inbrünstig vor sich hin. Ein in die Jahre gekommenes Sägewerk konnte keine schaurigeren Töne von sich geben. Es klang, als wäre er dabei, den gesamten nordischen Waldbestand abzusägen. Tilda kannte dieses schreckliche Schnarchen bis dahin nur von ihren Großeltern. Aber alte Leute durften das. Nur Ludwig, der war weit davon entfernt, so alt zu sein wie ihre Großeltern es gewesen waren. Ludwig war erst 35 Jahre alt. 35 Jahre waren nicht alt genug für eine derart fürchterliche Geräuschkulisse. Tilda bemühte sich trotzdem, ruhig zu bleiben. Sie wollte sich nicht schon wieder darüber aufregen. Schließlich änderte sich dadurch nichts. Ludwig schnarchte schon solange sie ihn kannte. Außerdem hatte sie die ganze Nacht lang neben ihm gelegen und fest geschlafen. Sein Sägen hatte sie dabei offenbar nicht gestört. Das war der Beweis dafür, dass es so schlimm eigentlich nicht sein konnte. Angestrengt versuchte sie, gelassen zu bleiben. Doch auch mit der gelassensten Einstellung änderte sich nichts daran, dass sie das Schnarchen neben sich einfach nur schrecklich fand. Ein unangenehmer Schauer rannte über ihren Körper, jagte eiskalt vom Scheitel bis zu ihren Fußsohlen hinunter. Sie biss die Zähne fest aufeinander und atmete wütend aus. Wie hypnotisiert starrte sie an die weiß gestrichene Decke über sich. Auf ihr huschten, von der Morgensonne beschienen, die Schatten einiger Zweige hin und her. Ein paar verirrte Sonnenstrahlen glitten durch die leichten Vorhänge mit dem maritimen, blau-weißen Streifenmuster. Sie hatte diesen Vorhangstoff selbst ausgesucht und genäht. Sie mochte den Stil, der noch dazu so gut zu Hamburg passte. Bei dem wunderbaren Sonnenschein draußen hätte man fast glauben können, es wäre bereits Hochsommer. Die Sonnenstrahlen schon so früh am Morgen vermittelten das Gefühl, als stünde ein schöner, langer Sommertag bevor. Doch die Sonne hatte in Wahrheit noch gar nicht genug Kraft dafür. Es war noch kalt draußen. Die Sonne war noch zu schwach. Der Sommer sollte erst noch kommen.

Nachdenklich glitt Tildas Blick von der Decke abwärts über das schlafende Gesicht ihres Lebensgefährten. An Ludwig war, wenn sie ehrlich blieb, im Laufe ihrer sechsjährigen Beziehung so einiges unattraktiv geworden. Nicht sein Äußeres. Das ganz und gar nicht. Ludwig sah, ohne zu übertreiben, einfach großartig aus. Er war sportlich und durchtrainiert, sehr gepflegt und hatte diesen mitreißenden Charme, der andere Männer neben ihm blass aussehen ließ. Er war ein typischer Münchner, ein Bayer eben. Er war in München geboren und aufgewachsen und Tilda hatte ihn damals, vor gefühlt ewigen Zeiten, während ihres Studiums in Hamburg kennengelernt. Sie hatte gerade mit ihrem Lehramtsstudium für die Fachrichtungen Deutsch und Physik begonnen. Ludwig war damals schon im vorletzten Semester gewesen. Er studierte Bauingenieurwesen. Bei genauer Betrachtung war das eigentlich sein vorletztes Semester in zweiter Wiederholung. Das wusste sie damals aber noch nicht. Letzten Endes hatte er dann aber doch erfolgreich abgeschlossen. Auch jetzt, nach den Jahren in Hamburg, hatte Ludwig noch immer einen ganz heißen Draht nach Süddeutschland. Seine Eltern, sein Bruder und der ganze Rest seiner Verwandtschaft lebte in München. Wenn Tilda es ganz genau betrachtete, so waren die „ewigen Zeiten“, die sie Ludwig kannte, doch noch gar nicht so lang. Es waren sechs Jahre. Inzwischen kam ihr das aber wie eine Ewigkeit vor.

Ludwig, der Prüfstatiker, war sozusagen ein fescher bayrischer Buar, der in Hamburg gestrandet war. Augenscheinlich fühlte sich aber doch ganz wohl dabei. Sein Bayrisch hatte inzwischen eine dezentere Note angenommen, wurde von seiner Umgebung aber dennoch ganz klar bemerkt. Die meisten Leute, die ihn kannten, mochten jedoch die Art, in der er sprach. Auch ansonsten war er bei allen recht beliebt, denn er konnte durchaus nett sein. Er hatte das Talent dazu, sich immer im besten Licht zu präsentieren. Das mochte oberflächlich klingen und im Grunde genommen war Ludwig das auch. Er war oberflächlich. Dafür war er aber recht intelligent und sah umwerfend aus. Seine blauen Augen standen in auffälligem Kontrast zu seinem dunkelbraunen, glänzenden Haar, das er immer kurz geschnitten und perfekt gestylt trug. Er hatte auffallend schöne, weiße Zähne. Das war allerdings nicht wirklich sein Verdienst, sondern, wie Tilda bald feststellte, ein Familienerbe. Ein Blick auf die Münder seiner Verwandtschaft zeigte die Herkunft seiner schönen Zähne schnell an. Doch Ludwigs glänzende Erscheinung war nicht ganz so ohne Schatten, wie es im ersten Moment den Anschein haben mochte. Vor allen Dingen war es seine Spießigkeit, die gutmeinende Zeitgenossen vielleicht als „bodenständig“ oder „zuverlässig“ bezeichneten. Tilda ging diese Eigenschaft jedoch seit geraumer Zeit gehörig auf die Nerven. Und irgendwie war es auch genau diese Spießigkeit, die bei ihm im Laufe der Zeit immer stärker hervorzutreten schien.

Sicher war sich Tilda allerdings nicht, ob es vielleicht notwendig war, spießig zu sein, wenn man so wie Ludwig im Hamburger Stadtbauamt arbeitete. Möglicherweise war er an diesem Ort auch erst so geworden. Vielleicht, weil dieser Job gar nicht anders zu bewältigen war. Das würde allerdings die klassische Fragestellung aufwerfen, was zuerst da war: das Ei oder die Henne, der Job oder die Spießigkeit. Oder war es vielmehr so, dass Ludwig genau deshalb Baustatiker geworden war, weil er in seinem innersten Kern schon immer ein Spießer gewesen war? Wie immer auch die Dinge in dieser Hinsicht lagen. In jedem Falle liebte er seine Arbeit ohne jede Einschränkung. Er ging vollständig darin auf. Zumindest hatte er auf Tilda bisher immer diesen Eindruck gemacht. Er sprach zwar fast nie darüber, was er den ganzen Tag lang so tat, aber er beschwerte sich auch nicht. Tilda ging folglich davon aus, dass er mit seiner Arbeit im Stadtbauamt glücklich war. Nachdenklich fragte sie sich, ob er wohl auch in seiner Beziehung mit ihr glücklich war. Vielleicht gab es etwas, das ihn an ihr störte? Etwas, das ihm nicht gefiel?

Tilda holte tief Luft und war unschlüssig. Ihre Gedanken kreisten darum, was das möglicherweise sein konnte. Vielleicht war es ihr blondes, kurzes Haar, das sie seit Jahren immer gleich trug und das sie nie lang wachsen ließ, obwohl er sich das so sehr wünschte. Er hatte ja keine Ahnung davon, wie langes Haar bei ihr aussehen würde. Tilda wusste, dass es viel zu dünn dafür war, um es lang zu tragen. Aber musste sie ihm das wirklich beweisen? Und dann war da noch diese blöde Brille, die sie neuerdings zum Lesen brauchte und mit der sie sich selbst furchtbar hässlich fand. Und da war noch etwas. Sicher mochte er auch ihre Antipathie gegen High Heels nicht. Umso mehr, weil sie ganz im Gegenteil eine Vorliebe für flache, schnöde Ökotreter hatte. Die Schuhe, die ein kleines Vermögen kosteten, aber immer irgendwie den Charme von orthopädischen Spezialanfertigungen hatten. Ihre Schuhe, die er meist nur „Rinden“ nannte, weil sie den Gang einer Frau nicht elegant, beschwingt und sexy machten, sondern im besten Falle sportlich. Vielleicht hasste Ludwig auch ihre Begeisterung für gesunde Ernährung. Tilda war sich inzwischen ziemlich sicher, dass das der Fall sein musste. Ludwig konnte gesundes Essen nicht ausstehen. Schon deshalb nicht, weil er ständig unter ihren „gesunden Kochkünsten“ leiden musste, wie er das selbst immer nannte. Ludwig verschmähte Gesundfutter, wie er es nannte, aus tiefstem Herzen. Nach Möglichkeit vermied er alles, was auch nur annähernd so aussah. Dafür liebte er umso inbrünstiger Burger, Schweinshaxen, Bratwürste und Leberkäs-Semmeln. Auch Cola, Eis und Schokolade standen unbekümmert und reichlich auf seinem Speiseplan. Und er hatte auch kein Problem damit, das zuzugeben. Zwar hatte Ludwig sich vor kurzem zu einer Art Kompromiss hinreißen lassen und war mehr oder weniger konsequent auf Light-Cola umgestiegen, aber das war letzten Endes keine wirkliche Verbesserung. Für ihn selbst war das allerdings schon ein Quantensprung. Für Tilda brachte seine Entscheidung aber gleich neuen Diskussionsstoff mit sich. Für sie war das auf keinen Fall eine Bewegung in die richtige Richtung, zumal seine Light-Cola letzten Endes auch nicht mehr als eine chemische, braune Brühe war. Ludwig aber brauchte dieses Getränk. Er schien davon regelrecht abhängig zu sein. Wie immer, wenn Tilda daran dachte, stieg Ärger brennend heiß in ihr auf. Sie fand es einfach eines erwachsenen Mannes unwürdig, wenn er sich mit Händen und Füßen dagegen sträubte, auch nur einen einzigen Tag lang ohne sein braunes Getränk zu sein. Wo auch immer er war und wohin er auch immer ging, so trug er doch ständig eine von seinen heiligen Cola-Flaschen mit sich herum. Tilda konnte einfach nicht verstehen, dass es beim Einkaufen immer wieder Streit geben musste, weil sie sich weigerte, die Kästen mit der braunen Brause in den Einkaufswagen zu stellen. Sie hatte schon so vieles versucht. Sie hatte sich auch bemüht, die Angelegenheit positiv zu sehen. Aber ihr Innerstes sträubte sich strikt dagegen. In ihren Augen war Zucker ein Gift und die meisten ersatzweise eingesetzten Austauschstoffe führten zu Verblödung oder verursachten Krebs. Sie hatte darüber gelesen. Natürlich machte sicher auch die Dosis das Gift. Doch Ludwig´ s Dosis war definitiv zu hoch, als dass sie sich damit entspannt zurücklehnen konnte.

Tilda war in dieser Hinsicht richtig sauer auf ihn. Sie hatte sich wirklich nach Kräften bemüht, das Cola-Problem mit ihm zu lösen, doch es kochte zwischen ihnen immer wieder hoch wie ein aktiver Vulkan. Sie hatte sogar versucht, sich einzureden, dass die Chemie- Cola immer noch besser wäre, als das Bier, das andere Männer stattdessen regelmäßig tranken. Aber irgendwie war sie davon auch nicht überzeugt. War es nicht letztendlich der Unterschied zwischen Pest und Cholera? Eins hatte sie inzwischen allerdings begriffen: Sie konnte Ludwig´ s Probleme nicht lösen. Er musste sie selbst lösen. Und er würde sie erst lösen, wenn er selbst es wollte und nicht, wenn sie es wollte. Tilda schloss ihre Augen und streckte sich noch einmal in ihrem Bett aus. Sie versuchte dabei, alle Muskeln und Sehnen in ihrem Körper zu dehnen, so wie die Katzen es taten. Ein bisschen zwickte es schon hier und knackte es da. Sie fragte sich, ob das schon die subtilen Botschaften waren, die das Älterwerden in ihre Richtung schickte. Morgens fühlte sie sich mit ihren dreißig Jahren tatsächlich oft wie eingerostet. Sie nahm sich zwar regelmäßig vor, etwas dagegen zu unternehmen, aber dabei blieb es dann auch. Erschöpft stellte sie sich die Frage, was das wohl für ein Tag sein würde, der da draußen auf sie wartete.

Wenn alles nach Plan lief, dann würde es ein ganz normaler Montag mit fünf Unterrichtsstunden für sie werden. Das war das Übliche, also nichts Besonderes. Danach würde die kleine Lehrerkonferenz folgen und im Anschluss daran wartete noch ein Stapel Tests der siebten Klasse auf sie, den sie noch korrigieren musste. Alles in allem war es wirklich ganz und gar das Übliche. Sie würde wie immer in Eile sein und der Tag würde sein Ende finden, noch bevor sie sich seiner so richtig bewusst geworden war. Der Montag war für Tilda schon lange Zeit der schlimmste Tag der Woche, weil sich da irgendwie immer alles staute. Das betraf das Gute wie das Schlechte in gleichem Maße. Wieder einmal fragte sie sich, wie es nur möglich war, dass scheinbar die ganze Welt zu wissen glaubte, dass Lehrer zu sein ein sagenhaft entspannter Job war. Ein Job, bei dem man mittags nach Hause gehen konnte und dann den Rest des Tages frei hatte. Wenn das wirklich so wäre, dann ergab sich daraus die Frage, wieso nicht alle Abiturienten ein Lehramtsstudium beginnen wollten. Warum also gab es dann diesen Lehrermangel, der in der Realität alle ihre möglichen Pausen während des Tages verhinderte?

Natürlich war es toll, Lehrer zu sein. Zumindest für Tilda war das so. Sie liebte es. Lehrer war schon immer ihr Traumberuf gewesen. Bereits ganz früher, als kleines Mädchen, hatte sie ständig alle Nachbarskinder „unterrichtet“. Meist hatte sie das dann so häufig und so intensiv getan, dass die anderen überhaupt keine Lust mehr darauf hatten und sich weigerten, weiter mitzuspielen. Tilda war tatsächlich mit einer überaus großen Liebe zu diesem Beruf geboren worden. Doch leicht war er wirklich nicht. Das musste sie nach den beinahe fünf Jahren, in denen sie mittlerweile im Schuldienst war, zugeben. Lehrer zu sein musste man mögen. Wer das nicht tat, der hatte keine Chance, mit diesem Beruf glücklich zu werden. Das war die einfache Wahrheit.

Ludwig drehte sich neben ihr mit einem Grunzlaut auf die andere Seite. So, wie er jetzt lag, sah sie nur seinen Rücken. Während Tilda ihn betrachtete, kam ihr das Bauamt wieder in den Sinn. Nein, sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie es wäre, wenn sie dort arbeiten würde. Für kein Geld der Welt würde sie ihr Leben in so ein Korsett zwängen. Nicht einen einzigen Tag lang wollte sie das probieren. Tilda hatte schon immer sehr viel Wert auf ihre persönliche Freiheit gelegt. Sie brauchte Luft zum Atmen. Verbeamtet zu sein wie Ludwig war bestimmt nicht das Schlechteste, was man sich vorstellen konnte. Der Staatsdienst hatte ein paar großartige Vorteile, aber er konnte auch zur Fessel werden. Und er war bestimmt nicht die Lösung aller beruflichen oder finanziellen Probleme. Im Gegenteil. Er schaffte zusätzliche Zwänge. Aus Tilda´ s Sicht brachte er eine Menge neuer, anderer Probleme mit sich. Eines davon war diese merkwürdige Art von Starrheit, die schon nach kurzer Zeit von Ludwig Besitz ergriffen hatte. Es war eine Art lähmungsartige Trägheit seines Innern. Eine Art Unfähigkeit, dem Leben lebend zu begegnen, sich von ihm tragen zu lassen und sich dabei sicher zu fühlen. Einfach die Gelassenheit, die täglichen Dinge auf sich zukommen zu sehen und sie entspannt anzugehen. Ludwig war immer nur angespannt und ständig darauf bedacht, alles im Griff zu haben und alles zu kontrollieren.

Er, der Statiker, schien die Statik eines ganz normalen Menschenlebens inzwischen für unsicher zu halten. Er liebte seine Sicherheit über alles. Er hielt sich immer an die Regeln. Und er passte sein Verhalten immer den Umständen an. Ludwig bevorzugte Ordnung, Stabilität und Gesetze. Irgendwie machte er auf Tilda immer öfter den Eindruck, als wäre ihm durch seinen Job nach und nach das Leben abhandengekommen.

Aber wie dem auch immer war. So, wie es aussah, schien er trotzdem zufrieden mit sich und seiner Welt zu sein. Er hatte sich nie beschwert. Seine Arbeit im Stadtbauamt war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Tilda war sich sicher, dass er ein Vorzeige-Angestellter war. Auch ihre Eltern, die beide bei der Hamburger Sparkasse gearbeitet hatten und inzwischen im Ruhestand waren, mochten ihn wegen seiner Verlässlichkeit. Ludwig ging morgens pünktlich aus dem Haus und kam genauso pünktlich am Nachmittag zurück. Um 7.00 Uhr morgens verließ der die Wohnung und pünktlich um 16.30 Uhr war er wieder zu Hause. Am Freitag kam er schon um 15.00 Uhr zurück. Er funktionierte wie ein Schweizer Uhrwerk, fehlerfrei und vollkommen präzise. Seit kurzem fuhr er sogar einen großen Range Rover, der unten vor dem Haus parkte. Ein Monstrum. Er hatte sich seinen Männertraum erfüllt.

Tilda lag immer noch da schaute an die Decke. Sie konnte sich nicht aufraffen, aufzustehen. An diesem Morgen fühlte sie sich wieder einmal schlapp. Ihr Hals war trocken wie ein Reibeisen. Sie schluckte. Es wurde nicht besser. Unangenehme Gedanken drängten sich ihr auf. In Wahrheit war die Luft ganz schön raus aus ihrer Beziehung mit Ludwig. Sie konnte nicht anders, als sich das selbst einzugestehen. Auch wenn es unangenehm war, so war es doch eine Tatsache. Wahrscheinlich war das auch der Grund für das beklemmende Schweigen, das sich in den letzten Monaten mehr und mehr zwischen sie geschlichen hatte.

Auch wenn sie sich momentan irgendwie körperlich nicht so gut fühlte, so war Tilda doch klar, dass ihr Leben trotzdem ganz in Ordnung war. Ihre merkwürdigen Befindlichkeitsstörungen, die sie seit einiger Zeit plagten, änderten nichts daran. Die Gesamtschule in Bergedorf war für sie ein guter Ort. Nur selten hatte sie es bisher bereut, dort zu arbeiten. Wo gab es nicht ab und zu Probleme? Es war einfach eine Tatsache, dass in solch einer Schule wie der ihren bei weitem mehr los war, als man im Zustand innerer Tiefenentspannung verkraften konnte. Meist konnte Tilda aber gut damit umgehen und die Phasen, in denen alles reibungslos lief, entschädigten sie für den Stress zwischendurch. In anderen Schulen war es vermutlich auch nicht besser. Meist blieb der Deckel auf dem Topf. Nur selten kochte er über. Aus ihrem Arbeitsplatz wurde dann kurzzeitig so etwas wie ein vibrierender Ameisenhaufen. Aber diese Zustände waren gewöhnlich nicht von langer Dauer.

In jedem Falle aber versuchte Tilda, ihr Berufsleben so entspannt wie möglich zu sehen. Natürlich gab es die Querelen der Kollegen mit dem Angezicke untereinander. Und es gab den Disput mit den Eltern der Schüler, die immer häufiger völlig unrealistische Ansichten vertraten. Oder die Probleme mit den Migranteneltern, die von irgendwoher aus der Welt nach Deutschland gekommen waren, um eine Zukunft in Wohlstand zu erleben. Das war verständlich. Obwohl Tilda inzwischen der Meinung war, dass sich die Menschen anderer Konfessionen besser kein christliches Land für ihre neue Zukunft ausgesucht hätten. Sie hatte längst beobachtet, dass sich viele von ihnen nicht in die deutsche Mehrheitsgesellschaft mit ihren Werten integrieren wollten. Allzu oft erlebte sie den Frontalcrash zwischen der Weltanschauung und den Glaubensinhalten der Migranteneltern und den deutschen Normen und Wertvorstellungen mit. Die Schule war nicht der geeignete Ort, um die Probleme dieser Eltern zu lösen. Erst in der letzten Woche war da wieder der erboste Brief eines arabischen Vaters auf den Tisch des Direktors geflattert, der darauf bestand, aufgrund seines Glaubens und dem seiner vier Kinder an der Schule das Schweinefleisch generell aus der Schulkantine zu verbannen. Tilda wusste, dass solche Forderungen auch schon an Direktoren anderer Schulen herangetragen worden waren.

Sie ärgerte sich über derlei Respektlosigkeiten. Vielleicht wäre der Mann unter diesen Umständen mit seiner Familie besser nicht nach Deutschland, sondern in eines der sechsundfünfzig muslimischen Länder dieser Welt ausgewandert, die es außer seinem Herkunftsland noch gab. Dann hätte er viele Probleme nicht und der Schule seiner Kinder ginge es ebenso. Tilda wusste, dass nicht alle Kollegen ihre Sichtweise teilten. Doch sie hatte immer zu ihrer Meinung gestanden. Die Wahrheit musste schließlich die Wahrheit bleiben und durfte nicht schöngeredet werden. Wenn die Migrantenfamilien Deutschland wählten, dann war es selbstverständlich, dass sie sich in die Mehrheitsgesellschaft integrieren mussten. Schon im Interesse ihrer Kinder war das unumgänglich. Niemand hatte diese Menschen dazu gezwungen, nach Deutschland zu kommen. Niemand hatte hier auf sie gewartet. Wenn es Probleme mit der Integration gab, dann mussten letztendlich immer die Kinder darunter leiden. Die Kinder, die sich später als Erwachsene ständig darüber beschweren würden, dass sie in diesem Staat nur Bürger zweiter Klasse waren. Das war die unausweichliche Folge der fehlenden Integrationsbereitschaft ihrer eigenen Elternhäuser. Tilda fand das traurig für diese Kinder. Und sie fand es auch gefährlich. Diese Kinder steckten zwischen zwei Welten fest und konnten sich nicht dagegen wehren. Als Lehrerin versuchte sie in solchen Fällen immer, mit den Eltern zu reden. Leider waren ihre Bemühungen in dieser Hinsicht meist wenig erfolgreich.

Trotzdem war sie immer darum bemüht, den Stress aus der Schule nicht mit nach Hause zu nehmen. Und sie machte zunehmend Fortschritte damit. Damit, auch einmal einfach „nein“ zu sagen. Früher war ihr das noch schwerer gefallen, als in den letzten Jahren. Jetzt machte es sie stolz, dass sie das ab und zu schon überzeugend hinbekam. Sie hatte festgestellt, dass es das Leben ungemein erleichterte, im richtigen Moment „nein“ sagen zu können.

Auch in anderer Hinsicht war die Schule natürlich immer für ein wenig Aufregung gut. Da gab es das Zerren im Kollegenkreis um die besten Pöstchen und die ewigen Gehaltsdebatten, die Vertretungspläne, den Kleinkrieg zwischen den verbeamteten und den nicht verbeamteten Kollegen und denen mit befristeten und unbefristeten Arbeitsverträgen. Auch das Problem mit dem Essen aus der Schulkantine, das eigentlich ganz wohlschmeckend war, aber vollständig ungesund und voller Konservierungsstoffe, kam regelmäßig wieder an die Oberfläche wie ein gasgefüllter Ballon. Und natürlich brachten auch die Schüler selbst allerlei Bewegung mit sich. Ein Sack Flöhe war vermutlich einfacher zu bändigen, als sie. Und doch: summa summarum waren die Schüler genau genommen diejenigen, die im Endeffekt die geringsten Probleme verursachten. Viele davon erledigten sich im Laufe der Zeit von allein, auch wenn das keiner ihrer Pädagogen-Kollegen offiziell hören wollte. In einer Schule wie der ihren gab es tatsächlich Probleme, die man als Lehrer aussitzen musste. Lehrer konnten definitiv nicht alles klären. Noch dazu gab es für alles im Leben eines Menschen den richtigen Zeitpunkt. Es war also sinnlos, den Fluss schieben zu wollen oder an den Halmen zu ziehen, damit das Gras schneller wuchs. Wenn es nicht der richtige Zeitpunkt war, dann waren oft alle Bemühungen umsonst. Manche Schüler brauchten eben mehr Zeit, als andere. Und bei einem Teil von ihnen war der Zug dann eben leider abgefahren, auch wenn sie sich endlich doch noch bequemten. Schüler änderten ihr Verhalten wie alle anderen Menschen auf dieser Welt eben auch erst dann, wenn sie selbst es wollten und nicht, wenn ihr Lehrer oder ihre Eltern meinten, es wäre gut für sie. Das war die Realität. Tilda hätte früher nie gedacht, dass sie das einmal so abgeklärt sehen würde. Fünf Jahre Schuldienst hatten sie zu Erkenntnissen geführt, hatten ihr die Augen geöffnet. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb war Tilda Optimistin geblieben. In ihren Augen war das Glas immer halbvoll und nie halbleer.

Ludwigs Schnarch-Orgie neben ihr hatte ein jähes Ende gefunden. Die Stille irritierte Tilda und riss sie aus ihren Gedanken. Mit einem Schwung schlug sie ihre Bettdecke zurück. Während sie noch einen allerletzten Moment lang auf der Bettkante saß, begann Ludwigs Geschnarche neben ihr erneut. Sie hatte sich zu früh gefreut. Jetzt, wo sie hellwach war, kroch so etwas wie Wut in ihr hoch. Sie atmete ein paarmal tief durch, um sich zu beruhigen. Es gab nichts, was sie an der Situation ändern konnte. Letzten Endes war die Wohnung groß genug und zur Not würde sie auch nebenan im Arbeitszimmer schlafen können. Ludwig würde das bestimmt nicht gefallen, doch schließlich war er derjenige, der jede Nacht mit der Säge in den Wald ging. Er war der Verursacher des Problems, also würde er mit ihrer Entscheidung leben müssen.

Tilda erhob sich leise. Ihre Füße berührten den kühlen, glatten Fußboden mit den Holzdielen. Mit einem Mal verspürte sie wieder diese stumme Übelkeit, die sie seit Monaten in unregelmäßigen Abständen überkam. Langsam kroch sie in ihr hoch und schien sich bis in die letzte ihrer Zellen auszubreiten, schien sie zu überschwemmen wie eine Flut. Sie empfand dabei auch einen dumpfen Schmerz im Oberbauch. Allein bei dem Gedanken an Frühstück drehte sich ihr fast der Magen um. Dabei hatte sie ihr Frühstück früher immer so geliebt.

Tilda hatte nicht die geringste Ahnung, woher ihr Problem kam. Es gab keine Regel für diese Erscheinungen und erst recht keine Erklärung. Schon seit Weihnachten quälte sie sich damit herum. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass der Spuk endlich vorbei wäre. Sie hatte genug davon.

Ratlos hielt sie inne und nestelte mit den Fingern an dem kratzenden Schild in ihrem Nacken herum, direkt am Halsausschnitt ihres Schlafanzuges. Es piekte und schabte. Es war einfach unerträglich. Sie fühlte sich unwohl genug. Sie brauchte das nicht auch noch. Müde raffte sie sich auf und ging leise ins Badezimmer. Dort schnitt sie das Schild kurzentschlossen heraus und warf es ärgerlich in den silbernen kleinen Mülleimer unter dem Waschbecken. Ratlos setzte sie sich dann auf den kleinen Holzhocker, der in der Ecke stand. Alles war irgendwie verändert. Sie war innerlich ständig angespannt, seitdem sie sich nicht mehr wohlfühlte. Und irgendwie war sie dadurch auch ständig auf Krawall gebürstet, hätte wegen jeder Kleinigkeit aus der Haut fahren können. Sie merkte das selbst, aber sie konnte nichts dagegen tun.

Leider war es unmöglich, die schreckliche Übelkeit und den Druck in ihrem Oberbauch so einfach loszuwerden wie das Schild aus ihrem Schlafanzug. Wenigstens sollte ihre Befindlichkeitsstörung aber nichts Schlimmes sein. Zumindest hatte das Dr. Pfeifer gesagt. Dr. Pfeifer war ihr Hausarzt, in dessen Sprechstunde sie deshalb schon zweimal gewesen war. Doch noch immer waren die lästigen Beschwerden nicht verschwunden. Lag es am Ende doch daran, dass sie die Tabletten nicht eingenommen hatte, die er ihr verschrieben hatte? Sie hatte sein Rezept in Wahrheit noch nicht einmal in der Apotheke eingelöst. Sie trug es noch immer irgendwo in ihrer Handtasche mit sich herum. Tilda mochte keine Tabletten. Seit Jahren hatte sie keine Medikamente mehr angerührt. Ihr Misstrauen gegen diese chemischen Mittel war zu groß. Das hatte seinen Grund in der Vergangenheit.

Damals, vor vielen Jahren, als sie etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen war, hatte sie gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester Doro, die eigentlich Dorothea hieß, auf einer Zugfahrt von Hamburg nach Köln eine Frau kennengelernt. Ihre Mutter hatte sich die ganze Zeit über angeregt mit ihr unterhalten. Die Frau war sehr groß und sehr schlank gewesen. Sie trug ein helles Kostüm. Tilda konnte sich auch heute noch gut an sie erinnern. Die fremde Frau hatte wunderschönes, kupferrotes, Haar, das ihr bis auf die Schultern herabfiel. Sie mochte so etwa vierzig Jahre alt gewesen sein. Ihre grünen Augen strahlten und ihr Gesicht war über und über mit winzigen, hellbraunen Sommersprossen bedeckt gewesen. Sie lachte oft, wenn sie sprach. Es stellte sich bald heraus, dass die Frau für einen großen Pharmakonzern arbeitete. Sie erzählte ihrer Mam, sie stünde dort an einer Maschine, mit der Schmerztabletten hergestellt wurden. Auf der einen Seite müsse sie die Säcke mit dem Pulver für die Tabletten in einen großen Trichter hineingeben. Auf der anderen Seite der Maschine fielen dann die fertig gepressten Tabletten heraus. So zumindest hatte Tilda die Schilderung der Frau in Erinnerung. Auf die neugierige Frage ihrer Mutter, ob sie durch ihre Arbeit an der Tablettenmaschine auch privat schneller zu Medikamenten greifen würde, hatte die fremde Frau ihre Augen entsetzt aufgerissen. Sie hatte ihre Hände abwehrend ausgestreckt und gesagt: „Wie bitte? Ich? Um Gottes willen! Nein! Ich nehme doch nie Tabletten. Niemals! Ich weiß doch, was da drin ist!“ Tilda hatte die Worte und das entsetzte Gesicht der Frau nie vergessen. Für sie und ihre ältere Schwester Doro hatte die Aussage der Fremden gravierenden Folgen, wie sie beide unabhängig voneinander später feststellten. Die Reaktion und der Satz dieser Frau hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Die Schwestern hatten sich lange Zeit gefragt, welches Gift es wohl sein mochte, das in den Tabletten steckte. Diese Frau musste es schließlich wissen. Wie das Medikament hieß, erfuhren sie nie. Doch als Kinder glaubten sie, dass es sich bei den Tabletten um ein furchtbares Gift handeln musste.

Die Anzahl der Medikamente, die Tilda seit der Begegnung von damals eingenommen hatte, ließ sich vermutlich an einer Hand abzählen. Bei ihrer Schwester Doro war es ähnlich. Nur ihre Mutter schien das Gespräch mit der Frau schon bald vergessen zu haben. Sie war nicht so kleinlich, wenn es darum ging, ihre Beschwerden mit Chemie zu bekämpfen. Momentan schien es so, als würde ihr Körper die chemischen Mittel auch noch tolerieren. Aber das konnte sich schnell ändern. Irgendwann würde das Fass möglicherweise überlaufen. Tilda war in Sorge um ihre Mutter und auch um ihren Vater, der ähnlich entspannt mit dem Thema umging.

Sie selbst jedenfalls hielt verbissen an ihrem Entschluss von damals fest. Sie wollte keine Tabletten einnehmen. Irgendwann würde diese lästige Übelkeit schon vergehen, auch ohne Medikamente. Doch Tilda musste zugeben, dass sie das Warten auf eine harte Probe stellte, das es sie zermürbte. Trotzdem war sie nicht bereit, ihren Grundsatz von damals zu opfern. Sie hatte sich entschlossen, die Beschwerden lieber aushalten, auch wenn sie überaus lästig waren. Sie wollte die Krankheit, was auch immer es war, lieber aussitzen, als sich mit Chemie vollzustopfen und alles damit vielleicht noch schlimmer zu machen. Wer wusste denn schon, welche anderen Folgen die Tabletteneinnahme möglicherweise für sie haben würde? Trotz ihrer Entschlossenheit war Tilda sehr gereizt. Auf die Dauer zerrte der schwer erträgliche Zustand an ihren Nerven. Und nun kam auch noch das scheinbar immer drastischer werdende Geschnarche von Ludwig hinzu. Früher hatte sie versucht, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Jetzt hatte sie einfach keine Kraft mehr dafür und war wütend.

Tilda fühlte sich schwindelig an diesem Morgen. Sie saß noch immer im Badezimmer auf dem kleinen Hocker. Sie musste sich dazu zwingen, sich zu erheben. Matt schlich sie sich noch einmal zurück ins Schlafzimmer. Zehn Minuten wollte sie sich noch gönnen. Nach dieser Nacht fühlte sie sich vollkommen ausgelaugt. Jetzt, nachdem sie aufgestanden war, machte sich das noch viel stärker bemerkbar. Einen Moment lang zweifelte sie daran, ob sie in der Lage sein würde, arbeiten zu gehen. Beinahe geräuschlos legte sich dann noch einmal auf ihr Bett. Neben ihr schnarchte Ludwig noch immer. Tilda war sauer auf ihn.

Sie nahm sich vor, ihm ein Ultimatum zu stellen. Er würde die Wahl haben zwischen einem Termin beim Hals-Nasen-Ohrenarzt oder ab sofort allein schlafen. So einfach war das. Wenn er sich nicht zu Maßnahmen durchringen konnte, dann musste sie das tun. Es musste auf jeden Fall etwas geschehen. Möglicherweise war sein Schnarchen krankhaft und hatte Ursachen, die gefährlich waren. Leider war Ludwig das ziemlich egal. Tilda konnte das nicht verstehen. Sie versuchte immer alles, um sich Krankheiten vom Leib zu halten. Bisher hatte das auch gut funktioniert. Nur jetzt, bei dieser merkwürdigen Übelkeit, die kam und ging wann sie wollte, hatte sie mit keinem ihrer vielen Hausmittel Erfolg gehabt. Es war frustrierend. Und gerade sie, die immer so auf ihre Gesundheit und ihre gesunde Ernährung bedacht war, musste sich jetzt mit so etwas herumplagen. Ludwig hatte nur gegrinst. Er aß im Gegensatz zu ihr tonnenweise Fast Food und trank dazu Cola in atemberaubenden Mengen. Ungerechterweise war er, bis auf die Sache mit dem Schnarchen, offenbar auch noch gesund dabei. Sie hingegen hielt sich an alle Gesundheitsregeln und war krank. Das war einfach nur ungerecht. Es war ungerecht und frustrierend.

Tilda erinnerte sich daran, dass ihre Großmutter früher immer gesagt hatte: „Wenn man zu viel über Krankheiten nachdenkt, dann zieht man sie herbei.“ Genau davon war Tilda auch überzeugt. Ihre Großmutter war mit ihren Gesundheitsregeln ziemlich alt geworden. Die meiste Zeit über war sie dabei gesund gewesen. So falsch konnten ihre Ansichten also nicht gewesen sein. Sie war auch immer zutiefst davon überzeugt gewesen, dass das, was von allein kam, auch wieder von allein ging. Bei ihr selbst hatte diese Theorie fast immer funktioniert, bis auf den Schlaganfall, der ihr schließlich ganz plötzlich den Tod gebracht hatte.

Verunsichert war Tilda inzwischen trotzdem. Trotz ihrer optimistischen Einstellung wollten sich ihre lästigen Beschwerden durch nichts vertreiben lassen. Noch nicht einmal durch ihre zuversichtliche Einstellung, die sonst immer geholfen hatte. Diesmal funktionierte einfach gar nichts. Immer, wenn es ihr ein wenig besser ging und sie sich darüber freute, ging es ihr am nächsten Tag wieder schlechter. Es war wie verhext. Fünf Kilo hatte sie deshalb schon abgenommen. Ganz allein wegen dieser blöden Sache. Sie trauerte den Kilos zwar nicht hinterher, denn es waren an den Hüften und Oberschenkeln durchaus noch einige übrig, von denen sie sich gern getrennt hätte. Aber Tilda fand, dass es einen großen Unterschied machte, ob sie den Gewichtsverlust gewollt herbeigeführt hatte oder ob sich ihr Körpergewicht von allein immer weiter verringerte. So, wie es momentan war, machte es ihr Angst.

War möglicherweise tatsächlich etwas Schwerwiegendes mit ihr nicht in Ordnung? Dr. Pfeifer hatte zwar Entwarnung gegeben, aber was wäre, wenn er sich geirrt hätte? Bei diesem Gedanken fühlte sie sich sehr unwohl. Ein Anflug von Panik kam in ihr auf. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals. In ihrem Kopf entstand ein Druck, der ihr die Schweißperlen auf die Stirn trieb. Ganz so entspannt, wie noch vor einigen Wochen, konnte sie das alles inzwischen nicht mehr sehen.

Aus dem nahen Fliederbaum kam plötzlich lautes, hektisches Vogelgeschrei. Eine Art von unartikuliertem Gekreische war zu hören, das sich langsam entfernte. Draußen wurde es grün. Der Mai war tatsächlich gekommen. Tilda freute sich. Sie erhob sich erneut und blickte einen Moment lang aus dem Fenster in den bereits grünen Innenhof. Alles war noch so hell, so neu und so sauber. Der lange, graue Winter schien endgültig vorbei zu sein. Und auch das nasskalte Frühjahr, das in diesem Jahr überhaupt nicht einladend gewesen war, lag hinter ihr. Tilda mochte den Sommer mehr. Das war wahrlich kein Wunder. Schließlich mochten fast alle Menschen den Sommer mehr. Doch in diesem Jahr war ihre Freude gedämpft. Sie war bedrückt. Irgendetwas war mit ihr geschehen. Es war ein schreckliches Gefühl, das zu spüren und nicht zu wissen, was der Grund dafür war. Schon wieder machte sich Angst in ihr breit. Diese Angst machte alles nur noch schlimmer. Tilda wollte das nicht. Alles in ihr sträubte sich dagegen. Sie wollte diese Angst nicht mehr, die in ihr ständig neue Spannungen produzierte, die sie verunsicherte und die sie nachts nicht schlafen ließ. Sie wollte endlich wieder unbeschwert leben. Sie wollte einfach wieder ohne diese Übelkeit sein, ohne den drückenden Schmerz in ihrem Oberbauch und ohne diese Durchfälle, die ihr neuerdings immer öfter zu schaffen machten. Das Unheil schien sich schleichend auszubreiten und jeden Morgen biss es wieder einen Teil von ihrem Urvertrauen ab. Tildas Verunsicherung wuchs von Tag zu Tag. Was wäre, wenn Dr. Pfeifer sich geirrt hatte? Wenn es in Wahrheit etwas Schwerwiegendes war, das sie seit Monaten mit sich herumschleppte?

Müde betrachtete sich Tilda nach dieser unruhigen Nacht im Spiegel des Badezimmers. Ihr blondes, kurzes Haar stand eigensinnig kreuz und quer nach allen Seiten von ihrem Kopf ab. Ihre blauen Augen waren ein wenig verquollen. Es war noch nicht lange her, da hatte sie sich morgens um so vieles frischer gefühlt, nachdem sie aufgewacht war und sie hatte auch so ausgesehen. Jetzt war sie nur noch schwach. Sie fühlte sich überhaupt nicht so, als wenn sie gerade ein entspanntes Wochenende hinter sich hatte. War es denn normal, dass man mit dreißig Jahren schon so ein Wrack war? War es am Ende vielleicht ihr Alter, das Schuld an allem war? Hatte sie mit ihrem dreißigsten Geburtstag vielleicht eine Art magische Schwelle überschritten? Aber wenn das so war, wie kamen dann all die anderen Leute damit zurecht und wieso wusste sie nichts davon?

Ihre Gedanken gingen noch einmal zurück zu ihrem letzten Besuch bei Dr. Pfeifer. Ihr alter Hausarzt hatte sie erneut beruhigt. Es sei nichts. Allerdings hatte er auch keine Anstrengungen unternommen, um etwas zu finden. Bisher hatte Tilda ihm immer vertraut. Jetzt, wo sie an ihn dachte, stieg ihr unwillkürlich wieder der strenge Geruch nach Desinfektionsmittel in die Nase, der immer durch die Räume seiner Praxis waberte und der von allen Gegenständen dort auszugehen schien.

Sie konnte sich genau erinnern. Der alte Arzt hatte sie durchdringend durch seine Brille mit den dicken Gläsern angesehen. Er hatte ein paarmal auf ihrem Bauch herumgedrückt und dann den Kopf geschüttelt. Sonst nichts. „Es ist nichts, Frau Johannsen“, hatte er gebrummt. „Das kommt vor. Wahrscheinlich ein Reizdarm. Sie sind doch Lehrerin.“ Er machte eine Pause und schaute sie vielsagend an. Tilda nickte. „Das ist ein anstrengender Beruf, nicht wahr?“, fuhr er fort. Eine weitere Diagnose hatte er nicht gestellt. Vielleicht hatte er am Ende sogar Recht. Vielleicht aber hatte er ihre Beschwerden auch gar nicht ernst genommen, weil sie bisher nie krank gewesen war.

Tilda versuchte sich zu erinnern. Sie war am Anfang des Jahres bei ihm gewesen und vor kurzem, im April, ein weiteres Mal. Genau wegen der Probleme, die sie immer noch plagten und die immer schlimmer zu werden schienen. Dr. Pfeifer hatte auch beim letzten Mal keine weiteren Untersuchungen veranlasst. Er hatte ihr nur den Blutdruck gemessen, hatte Lunge und Herz abgehört, kurz auf ihrem Bauch herum gedrückt, die Lymphknoten am Hals befühlt - und nichts gefunden. Er hatte sie nach Fieber gefragt. Fieber hatte sie nicht. Das war alles. Aus seiner Sicht war damit alles mit ihr in bester Ordnung. Noch nicht einmal ihr Blut hatte er untersuchen lassen. Natürlich war sie nicht übermäßig traurig darüber gewesen, als sie die Praxis verlassen hatte.

Sie erinnerte sich auch noch daran, dass Dr. Pfeifer sie für zwei Wochen krankschreiben wollte. Er war der Meinung gewesen, sie solle sich einfach mal ein paar Tage lang ausspannen. „So als Lehrerin hat man es doch schwer“, hatte er vage gesagt. Das war nichts Neues. Sie kannte seine Einstellung zu ihrem Beruf. Offenbar neigte er dazu, vieles damit in Verbindung zu bringen. Aber Tilda wollte sich nicht krankschreiben lassen. Sie fühlte sich auch nicht von ihrem Beruf gestresst. Wozu also vom Unterricht ausruhen? Sie wollte ihren Kollegen nicht die Arbeit mit ihren Schülern aufzwingen, während sie sich zu Hause auf die Couch legte und deshalb ein schlechtes Gewissen hatte. Vielleicht hätten sie sich am Ende noch das Maul über sie zerrissen, weil sie ja sooo krank gar nicht ausgesehen hatte…. Nein, so krank fühlte sie sich nun auch wieder nicht.

Und doch: In der größten Verunsicherung beruhigte sie dann Dr. Pfeifers Urteil schon irgendwie. Wenn er ihre merkwürdige Krankheit so entspannt sah, warum sollte sie sich dann so große Sorgen machen? Er war schließlich Arzt und er hatte ein ganzes Berufsleben lang nichts anderes getan, als in diesem Beruf zu arbeiten. Und solange es ihr phasenweise auch immer wieder gut ging, konnte es wirklich nicht so schlimm sein. Fieber hatte sie schließlich auch keins. Fieber bekam sie ohnehin sehr selten.

Tildas Blick fiel auf die in schwarz-weiß gehaltene Uhr an der Badezimmerwand. Ludwig hatte sie im letzten Winter dort angebracht, weil er wusste, dass er morgens im Bad immer viel zu lange brauchte. Die schwarzen, klobigen Zeiger der Uhr standen bereits auf 6.15 Uhr und der rote, schlanke Sekundenzeiger rannte unaufhörlich im Kreis. Die Uhr tickte leise und ungerührt vor sich hin, als wollte sie sagen: „Zu spät! Zu spät! Zu spät!….“

Tilda hasste Unpünktlichkeit. Sie konnte es drehen und wenden, wie sie wollte: heute war sie einfach zu spät dran. Sie kam einfach nicht in Schwung an diesem Morgen. Ihr fehlte auch jeder Appetit. Fünf Kilo weniger in nur drei Monaten ohne das geringste Zutun. Langsam wurde ihr das unheimlich.

Eine halbe Stunde später kam Ludwig zu ihr in die Küche. Er sah zwar auch noch ein wenig verschlafen aus, aber man konnte selbst in diesem Zustand sehen, dass er ein schöner Mann war. Er war groß, breitschultrig und athletisch. Letzteres war nicht verwunderlich, denn er ging dreimal wöchentlich in sein Fitness-Studio. Es war ein Fitness-Studio, in dem hauptsächlich Männer trainierten, die sich an diversen Kraftmaschinen austobten. Tilda fand, dass es dort nach Männerschweiß und nach Käsefüßen roch. Einmal war sie dorthin mitgegangen, hatte sich aber dann gar nicht erst umgezogen. Ludwig allerdings schien es in seiner Muckibude gut zu gefallen. Es war noch nicht lange her, da war Tilda noch richtig stolz darauf gewesen, so einen gut aussehenden Mann an ihrer Seite zu haben. Sein dunkelbraunes Haar war perfekt geschnitten, was auch für seinen kurz gestylten Bart galt. Seine blauen Augen strahlten. Sie hatten dieses helle, fast schon eisige Blau, das in dieser Klarheit selten zu finden war und in auffallendem Kontrast zu seinem dunklen Haar stand. Wenn er Tilda mit diesen Augen ansah, dann fühlte sie sich jedes Mal sofort durchschaut wie ein kleines Mädchen. Ludwig wusste das und von Zeit zu Zeit nutzte er das natürlich für sich aus. Jetzt drückte er ihr einen leichten Guten-Morgen- Kuss auf die Wange und lächelte: „Alles gut, Schatz?“

Tilda sah ihn einen kurzen Moment lang an und lächelte gequält: „Mmmm, naja. Geht so!“

Ludwig ließ sich auf einen der vier Küchenstühle mit den schreiend bunt gemusterten Stuhlkissen in pink und orange fallen, die ein Geschenk seiner Eltern waren und murmelte halblaut: „Geh halt nochmal zum Arzt, wenn das immer noch nicht besser ist bei dir. Das ist doch nicht mehr normal!“ Ohne eine Antwort abzuwarten schaltete er das Radio ein und begann seine Cornflakes zu essen, über die er sich einen halben Liter Milch gegossen hatte. Tilda schob ihm eine Banane hin. Er griff quer über den Tisch nach der Zeitung und vertiefte sich in den Artikel von der ersten Seite. Tilda schaute ihm dabei zu und schwieg. Ihr war übel. Sie quälte sich damit, ihre Banane zu essen. Außerdem musste sie sich beeilen, wenn sie nicht zu spät in die Schule kommen wollte.

Kurz vor 8.00 Uhr stieß sie mit beiden Händen und eiligen Schrittes die doppelflügelige Eingangstür der Stadtteilschule in Bergedorf auf und schlüpfte hindurch, noch bevor sie sich richtig öffnete. Unzählige Male schon hatte sie sich bei dieser Form des schnellen Zutritts bereits einen Ellenbogen gestoßen oder ein Knie. Dann hatte sie die Lippen fest aufeinander gepresst und den Schmerz lautlos ertragen. Heute war aber glücklicherweise alles gut gegangen. Sie befand sich im großen Hauptkorridor. Einige ihrer Kollegen eilten an ihr vorbei, ihren Unterrichtsräumen entgegen. Sie grüßten je nach morgendlicher Verfassung an diesem Montag mehr oder weniger deutlich. Brigitte, die Sportlehrerin, marschierte elastischen Schrittes und in einem grellroten Trainingsanzug an ihr vorbei. Die silberne Trillerpfeife hing wie eine Trophäe an ihrem Hals und schwang rhythmisch bald nach links und bald nach rechts. Brigitte nickte freundlich und militärisch knapp. „Moin moin! Na, alles fit bei dir?“, tönte sie laut durch den Flur. Tilda nickte pflichtschuldig. Sie hatte noch nie verstanden, wie Brigitte es machte, dass sie mit Ende fünfzig immer so erschreckend fit und sportlich war. Wenn Tilda ihr begegnete, dann hatte sie jedes Mal sofort ein schlechtes Gewissen, weil sie sich eigentlich schon längst entschlossen hatte, sich mehr zu bewegen. Leider setzte sie diesen Vorsatz nur sehr schleppend in die Tat um. Das war umso bedauerlicher, da Ludwig ihr zu diesem Zweck eigens einen Crosstrainer zum Geburtstag geschenkt hatte. Selbstverständlich war dieser das Produkt einer bekannten Markenfirma, deren Logo unübersehbar in riesigen Lettern darauf prangte. Ludwig kaufte nie billig und das sollte auch jeder sehen. Er hatte seine Grundsätze. Nun stand das sperrige Teil im Arbeitszimmer und verstaubte vor sich hin. Leider hockte bei Tildas Rückkehr aus der Schule meist schon einer von ihren inneren Schweinehunden darauf und rief in sehr überzeugendem Ton: “Ach was, Tilda! Heute brauchst Du nicht. Hast Dich doch in der Schule genug bewegt! Mach dir keine Sorgen und entspann dich erstmal.“ Meistens widersprach sie dem Schweinehund dann nicht und tat, was er ihr empfohlen hatte.

Natürlich wäre etwas mehr Bewegung für sie von Vorteil gewesen. Umso mehr, als ihr wie zur Bestätigung ihrer Gedanken auch noch die dicke Christel aus dem Sekretariat entgegenkam. Sie schien seit letzter Woche schon wieder dicker geworden zu sein und schnaufte beim Gehen vor sich hin. Es hörte sich fast so an, als sei das nicht der Schulkorridor, sondern der Mount Everest. Nebenbei kaute sie auch schon wieder auf etwas Undefinierbarem herum, hörte aber geflissentlich damit auf, als sie sich Tilda näherte. Zielstrebig stampfte sie in Eile vorbei. Sie grüßte freundlich und lächelte. Augenblicklich hatte Tilda ein furchtbar schlechtes Gewissen wegen ihrer hässlichen Gedanken. Tilda nickte überfreundlich zurück und als sie sich noch einmal nach ihr umdrehte, sah sie Christels riesiges Hinterteil im Takt ihrer Schritte unter dem Stoff ihres dunkelblauen Rockes wippen. Sie fragte sich unwillkürlich, wie sie mit diesem Hinterteil eigentlich immer noch die Balance halten konnte. Dennoch: selbst die Sekretärin Christel mit ihren Massen schien gesund zu sein. Nur sie war krank. Tilda fand das ungerecht.

Unmittelbar darauf kam ihr ihre Freundin und Kollegin Conny lachend und mit schnellem Schritt auf furchterregend grünen Pumps entgegengeeilt. Kermit der Frosch hatte die gleiche Farbe. Conny lachte nur. Sie schien Tildas Gedanken erraten zu haben. Doch Conny konnte solche Schuhe tragen. Ihr standen sogar diese auffällig grünen Füße. Und wahrscheinlich hätte sie auch in einem Froschkostüm noch zauberhaft ausgesehen. Conny hatte schon immer einen Hang zum Schrillen und sie machte sich nichts daraus, wenn die Kollegen deshalb stichelten. Sie war immun gegen Kritik an ihrem Äußeren. Für Tilda war das ein Grund mehr, mit ihr befreundet zu sein. Und außerdem war sie eine tolle Lehrerin, von der sie noch einiges lernen konnte. Auch die Schüler liebten sie. Vielleicht auch deshalb, weil sie immer ein bisschen zu schrill und zu unangepasst war. Und vielleicht auch, weil ihr Rock immer ein wenig zu kurz war. Aber bei der guten Laune, die Conny verbreitete, sah man ihr letztendlich in der Schule einiges nach. Conny war zwei Jahre älter als Tilda und eine der besten Freundinnen, die sie haben konnte. Es gab keinen Tag, an dem sie nicht voller Optimismus und Fröhlichkeit gewesen wäre. Was Tilda besonders an ihr schätzte war auch ihre Eigenschaft, niemals nachtragend zu sein. Conny war im Grunde wie ein großer Teenager: für jeden Spaß zu haben und immer gut gelaunt. Dabei durfte man das Wort „groß“ bei ihr tatsächlich wörtlich nehmen. Conny war mit ihren 1,85 m mindestens einen halben Kopf größer als Tilda. Und sie hatte die Gabe, sich sogar schwierige Schüler zu Freunden zu machen. Von Conny ließen die sich so manches sagen, was sie von anderen Lehrern niemals hingenommen hätten.

Jetzt blieb Conny mit einer Vollbremsung direkt von ihr stehen und lachte: „Na, Schätzchen, alles schick bei Dir?“ Tilda lächelte ein wenig müde. „Jaaaa. Nööö. Ich weiß nicht. Aber geht so.“ Conny hielt einen kurzen Moment lang inne. Ihr langes braunes Haar fiel dicht und glänzend auf ihre Schultern herab. Zwei lange Ohrringe baumelten glitzernd an ihren Ohrläppchen, wenn sie sich bewegte. Irgendwie erinnerten sie Tilda an Weihnachtsbaum-Schmuck. Conny legte den Kopf schief und musterte Tilda aufmerksam mit ihren rehbraunen Augen. Dann runzelte sie nachdenklich die Stirn und das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. Wie in Sekundenschnelle war es fortgewischt. „Du hast irgendwie ganz gelbe Augen, Schätzchen. Genau! Gelbe Augen hast du! Hat dir das heute schon jemand gesagt?“ Conny starrte der Freundin unverwandt in die Augen. „Zeig mal!“ Während sie das sagte beugte sie sich vor und zog mit ihrem Zeigefinger eins von Tildas Unterlidern etwas nach unten. Erschrocken rief sie: „Meine Güte, Tilda, ich glaub Du hast echt Gelbsucht!“ Horst Söter, der dickliche Chemielehrer kurz vor dem wohlverdienten Ruhestand, der in der Schule praktisch schon zum Inventar gehörte, kam behäbig in einem längs-gestreiften Hemd von undefinierbarer Farbe den Korridor entlang. Seine Uralt-Aktentasche, die er wahrscheinlich schon während seines Studiums besessen hatte und von der niemand so genau wusste, was sie enthielt, hing wie immer festgewachsen an seiner rechten Hand. Die Knopfleiste seines Hemdes spannte über seinem Bauch, der einer großen Birne ähnelte. Jetzt, als er auf ihrer Höhe war, schnaufte er ein verwaschenes „Guten Morgen!“. Als er gerade vorbei gehen wollte, rief Conny ihn zu sich heran.

„Horst, jetzt guck mal hier! Tilda hat ganz gelbe Augen. Hast du nicht irgendwann mal so einen Sanitäter-Schein gemacht?“ Horst nickte wichtig und schnaufte näher heran. Conny fuhr aufgeregt fort: „Was sagst Du denn dazu? Gelb? Oder bild´ ich mir das bloß ein?“ Horst murmelte etwas Undefinierbares in seinen stoppeligen, grauen Bart und beäugte kritisch die Farbe von Tildas Augenweiß in dem heruntergezogenen Unterlid. Dann schnaufte er erneut ratlos und brummte freundlich: „Bissel gelb is das schon! Aber das is doch nix. Man darf auch nicht alles überbewerten!“ Conny nickte reflexartig und bedankte sich artig für seinen fachmännisch geschnauften Rat. Horst und sein Wohlstandsbäuchlein entfernten sich gemächlich in Richtung Lehrerzimmer. Die Aktentasche baumelte noch immer festgewachsen an seiner rechten Hand.

Die beiden Frauen blieben allein zurück und Conny flüsterte leise: „Horst Söter – halb Mensch, halb Kö…..!“ Sie grinste. Sogar Tilda verzog ihr Gesicht zu einem Lächeln. Doch kurz darauf erstarb es schon wieder. Sie sah Conny erneut ratlos an, fühlte sich furchtbar unwohl in dieser bedrohlichen Ungewissheit. Jetzt wusste sie gar nicht mehr, woran sie eigentlich war. Ein kalter Schauer kroch ihr ins Genick und blieb dort sitzen. Jetzt war sie noch viel mehr verunsichert, als vorher. Eine eiserne Hand schien derweil wieder ihren Magen zusammen zu pressen. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als ihr altes Leben zurück zu bekommen. Sie wünschte sich ihre Unbefangenheit, ihre Sorglosigkeit, ihre Freude auf den nächsten Tag, das Vertrauen in das Leben und all das zurück. Plötzlich war alles so bedrohlich. Diese Veränderung war beängstigend. Ein ungutes Gefühl hockte schwer auf Tildas Schultern. Sie biss die Zähne zusammen und schwieg.

Noch einen Moment lang standen Tilda und Conny sich schweigend gegenüber. Ratlos suchte Conny nach Worten, um etwas zu sagen, vielleicht auch um ihre Freundin etwas zu beruhigen. Im selben Moment ertönte der durchdringende Gong der Schulglocke. Die verstreut stehenden Schüler in den Gängen verschwanden schwatzend, lärmend und schubsend in ihre Klassenräume. Die Flure leerten sich eilig. Ein paar Nachzügler rannten wie aufgescheuchte Hühner an ihnen vorbei. Nur einige ältere Schüler standen noch wie angewurzelt da und starrten demonstrativ auf die Displays ihrer Smartphones, wohl um damit kund zu tun, wie wenig sie der Unterricht interessierte.

Ein wenig hilflos berührte Conny Tildas Schulter mit der Hand. Sie lächelte aufmunternd. Tilda´ s Blick glitt ratlos über das Gesicht der Freundin. Sie brachte es nicht fertig, auch nur eine Miene zu verziehen. Sie war noch eine Spur blasser geworden, als vordem. Nach einer schnellen Verabschiedung eilten die beiden Frauen in entgegengesetzte Richtungen davon. Tilda war bedrückt. Kurz bevor sie um die Ecke bog, sah sie noch einmal zurück, den langen, leeren Flur entlang. Conny war nicht mehr zu sehen. Ein lähmendes Gefühl von Hilflosigkeit überkam sie. Während alle um sie herum weiter ihr ganz normales Leben lebten, war bei ihr plötzlich nichts mehr, wie vorher. Tilda fühlte sich wie in einer Parallelwelt. Sie spürte, dass irgendetwas Schreckliches auf sie zukam. Sie konnte es förmlich mit Händen greifen. Es fühlte sich so an, als stünde sie mutterseelenallein in einem Tal und hörte von Ferne das Grollen einer Lawine immer näher auf sich zukommen, ohne zu wissen, aus welcher Richtung das Unheil sich näherte, geschweige denn, wohin sie fliehen konnte. Sie war überwältigt von diesem Gefühl innerer Hilflosigkeit und Leere. Es fiel ihr ungeheuer schwer, die Gedanken daran abzuschütteln, während sie langsam auf das Klassenzimmer am Ende des Flures zuging.

In diesem Moment war Tilda klar, dass es so nicht bleiben konnte. Sie würde noch einmal zum Arzt gehen müssen. Am besten zu einem anderen, der gar nichts über sie und ihre Vorgeschichte wusste. Allein bei dem Gedanken daran wurde ihr flau im Magen. Sie hatte Angst davor. Was, um Himmels Willen, würde dabei wohl herauskommen? Doch es musste sein. Aussitzen war keine Lösung mehr. Sie musste jetzt irgendwie reagieren, ob sie wollte oder nicht. Aber da war auch diese andere Stimme in ihr, die sich weigerte, sich überhaupt mit irgendeiner Krankheit auseinanderzusetzen. Tilda versuchte, über sie hinweg zu hören oder sie zum Schweigen zu bringen. Wie auch immer ihre Situation sein mochte und was auch immer sie erfahren würde. Es gab jetzt wirklich keinen anderen Weg mehr. Sie musste sich stellen. Sie würde diesmal einfach zu Ludwigs Hausarzt gehen. Ludwig hatte ihr das schon mehrmals vorgeschlagen. Bisher hatte sie die Idee immer wieder verworfen. In der Tat war sie aber doch nicht so übel.

Ludwigs Hausarzt war ebenfalls ein älterer Herr, dessen Name Dr. Hubertus Umlauf war. In der Vergangenheit war Ludwig immer voll des Lobes über ihn gewesen. Er kannte ihn bereits seit damals, als er noch Student war. Natürlich war klar, dass Ludwig in der ganzen Zeit kaum mehr als Grippe gehabt hatte. Und selbst das war selten gewesen. Insofern sagte sein Lob über die Fähigkeiten seines Hausarztes nicht allzu viel aus. Tilda hoffte trotzdem inständig, dass er herausfinden möge, unter welcher merkwürdigen Krankheit sie litt.

Aber im Grunde genommen war es ihr inzwischen ziemlich egal, wohin sie sich wenden würde. Irgendwie hatte sie nach Connys spontaner Feststellung im Schulkorridor das Gefühl, jetzt sofort handeln zu müssen. Sie spürte plötzlich eine ungeheure Unruhe in sich. Angst beschlich sie. Es kam ihr plötzlich so vor, als liefe ihr die Zeit davon. Es stimmte schon. Sie brauchte dringend die unabhängige Diagnose eines fremden Arztes. Eines Arztes, der nichts über sie wusste. Es mochte schon sein, dass die Krankheiten der Pädagogen oft psychische Ursachen hatten. Sie war sich aber ziemlich sicher, dass das bei ihr nicht der Fall war.

Einerseits war Tilda bei dem Gedanken an eine Diagnose für sich voller Hoffnung. Andererseits wiederum war da auch ganz viel Angst. Sie hatte keine Ahnung, wie es für sie weitergehen sollte. Nur eines stand fest: Der Alptraum mit ihrer merkwürdigen Krankheit musste endlich ein Ende haben. Die Ungewissheit war das Allerschlimmste für sie. In diesem Moment entschloss sich Tilda dazu, sofort nach ihrem Unterricht in die Sprechstunde zu diesem Dr. Umlauf zu fahren. Alle anderen Termine waren nicht so wichtig.

Mit diesem Entschluss schlüpfte sie in die Klasse und schloss die Tür geräuschvoll hinter sich. Ihre Schüler trotteten langsam auf ihre Plätze und die Geräuschkulisse ebbte ab. Der Physik-Unterricht in der 8. Klasse erforderte ihre ganze Aufmerksamkeit und lenkte sie ab. Tilda empfand diese andere Art von Anspannung, die sie erfasste, wenn sie unterrichtete, jetzt als wohltuend. Sollte ihre Krankheit am Ende tatsächlich psychisch sein?

Bereits am frühen Nachmittag saß sie weder in der anberaumten Lehrerkonferenz, noch korrigierte sie Hefte, so wie sie es eigentlich vorgehabt hatte. Stattdessen saß sie im Wartezimmer der Hausarztpraxis von Dr. Umlauf. Mehrere weinerliche, kreischende und hustende Kleinkinder turnten um sie herum. Deren Mütter waren zwar anwesend, taten aber mehrheitlich so, als würde es sich keineswegs um ihren eigenen, quengelnden Nachwuchs handeln. Sie unterhielten sich vollkommen entspannt miteinander. Die Wartezeit schien Tilda zur Ewigkeit zu werden. Ihr Blick ging hinüber zu den Frauen, die fast alle deutlich jünger zu sein schienen, als sie selbst es war. Je länger sie sie beobachtete, desto mehr fiel ihr deren Mangel an Intelligenz auf, der unübersehbar war. Tilda war ein wenig entsetzt über ihre eigenen Gedanken, wusste aber gleichzeitig auch, dass sie ihrer Wahrnehmung vertrauen konnte.

Unkonzentriert blätterte sie in einer Illustrierten herum, die sie sich von dem kleinen Tischchen in der Ecke des Wartezimmers geholt hatte. Sie dachte darüber nach, warum gerade solche Mädchen so früh Kinder bekommen mussten. Unauffällig sah sie von einer zur anderen. Eine von ihnen, die ihr genau gegenüber saß, war eine wohl knapp Zwanzigjährige, mit pechschwarz gefärbtem Haar und auffällig ungesundem Teint. Sie präsentierte ungeniert einen unter ihrem T-Shirt hervorquellenden Bauch, bunt tätowierte Unterarme und krude Umgangsformen. Gerade in diesem Moment bat sie die neben ihr sitzende darum, mal kurz auf ihren „Timossi“ aufzupassen. Sie wollte offenbar rauchen gehen. Bei der Ansage seiner Mutter plärrte „Timossi“ augenblicklich los, was die junge Mutter aber ignorierte. Sie verließ trotzdem ungerührt das Wartezimmer. Ihr zweites Kind, einen Säugling in einer Babytrage vor ihrer Brust, nahm sie zum Rauchen mit nach draußen. Tilda war entsetzt. Der Mikrokosmos Wartezimmer schockierte sie. Sah so die Realität an der Basis der Gesellschaft aus? Bei Dr. Pfeifer hatte sie nie lange warten müssen. Jetzt fragte sie sich, ob das hier die Errungenschaften der modernen Wohlstandsgesellschaft waren, die keinen fallen ließ. Waren diese jungen Mütter nicht die Kinder von gestern, über die sie selbst gemeinsam mit ihren Pädagogen-Kollegen immer gesagt hatten, man müsste ihnen noch mehr Angebote machen? War sie nicht selbst auch immer eine derjenigen gewesen, die diese Strategie für die Beste gehalten hatte? Das Ergebnis dieser vielen Angebote machte einen ernüchternden Eindruck. Es sah so aus, als hätten diese Mädels schon viel zu viele Angebote bekommen. Angebote, die offensichtlich zu nichts geführt hatten. Vermutlich wäre es besser gewesen, stattdessen etwas von ihnen zu fordern.

Tilda schauderte bei dem Gedanken daran, dass diese Kinder mit ihren Müttern in einigen Jahren auch an ihrer Schule erscheinen würden. Obwohl sie sich schwach und elend fühlte, stieg bei diesem Gedanken so etwas wie Ärger in ihr auf. Die deutsche Solidargemeinschaft fing alle auf und auch diese jungen Mütter fühlten sich sicher überaus wohl bei dem Gedanken daran, dass sie möglicherweise bei einem cleveren Management ihrer Schwangerschaften fast lebenslang ohne zu arbeiten in der sozialen Hängematte dieses Landes liegen konnten. Trotzdem würde unweigerlich der Tag kommen, an dem sie sich über ihre Situation beschweren würden. Tilda kannte dieses Phänomen bereits. Wer würde ihnen dann die Angebote machen, an die sie sich so gewöhnt hatten?

Die tätowierte Raucherin mit dem Baby vor der Brust war inzwischen zu ihrem Sohn „Timossi“ zurückgekehrt. Während der unsanft mit einem Holzbaustein auf den Kopf eines kleinen, plärrenden Mädchens schlug, waren die vier jungen Mütter schon wieder eifrig in ihr Gespräch vertieft. Ein schaler Geruch von dünnem Tabakqualm verteilte sich im Wartezimmer. Der freundliche, ältere Herr, der neben Tilda saß, und dem sie bisher kaum Beachtung geschenkt hatte, versuchte sie in ein Gespräch über sein Rheuma zu verwickeln. Tilda blieb einsilbig. Sie wollte sich nicht unterhalten. Sie war bis aufs Äußerste angespannt in Erwartung der Dinge, die sie auf sich zukommen sah. Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete sich plötzlich die Tür zum Sprechzimmer und eine ältere, freundlich um sich blickende Schwester im hellblauen Kittel und mit weißen Schuhen schwebte herein. Sie rief Tilda ins Sprechzimmer.

Dr. Umlauf hatte das sechzigste Lebensjahr sicher schon längst hinter sich gelassen. Er hatte eisgraues Haar und wirkte etwas angespannt, aber wohlwollend. Er war ein sympathischer Mann, auf den die Beschreibung „Hausarzt“ allein von der Optik her schon perfekt passte. Der Arzt war untersetzt und nicht sehr groß. Seine dunkelbraunen Augen blickten gütig unter den buschigen Augenbrauen hervor durch seine randlose Brille. Die schien recht stark zu sein und vergrößerte seine Augen auffallend. Tilda hatte sofort das Gefühl, ihm vertrauen zu können. Irgendwann, wie auf ein geheimes Signal hin, trippelte später eine junge, blonde Krankenschwester im rosa Kittel lautlos herein und nahm ihr Blut ab. Es war eine ganze Menge Blut, das sie auf verschiedene Röhrchen verteilte.

Etwa eine halbe Stunde später verließ Tilda mit einem Dringlichkeitstermin für die Magnetresonanztomographie am nächsten Tag die Praxis. Sie fühlte sich unsicher, war aber trotz allem irgendwie glücklich, die erste Hürde genommen zu haben. Dr. Umlauf hatte sich mit seiner Diagnose zurückgehalten. Es war nicht viel, was er zu ihren Symptomen gesagt hatte.

Tilda atmete auf, als die Praxistür hinter ihr ins Schloss fiel. Sie ging die drei Treppenstufen zur Straße hinunter. Dort, in der ruhigen Nebenstraße, hatte ebenfalls der Frühling Einzug gehalten. In den Vorgärten waren schon überall hellgrüne Blätter an Sträuchern und Bäumen und eine weiß blühende Hecke verströmte einen leichten, angenehm süßen Duft. Die großen Fliederbüsche im Garten gegenüber trugen bereits kleine Knospen. So etwas wie eine Art Entspannung überkam Tilda. Sie versuchte sich damit zu trösten, dass keine Diagnose besser war, als eine schlechte. Und doch war da ihr ungutes Bauchgefühl, das trotzdem alles überlagerte. Es gelang ihr nicht, es abzuschütteln, so sehr sie sich auch bemühte und sich zwang, an etwas anderes zu denken. Je länger sie es versuchte, desto unsicherer wurde sie. In ihrem Kopf dachte und dachte es. Ihr Gehirn fühlte sich wie ein Fremdkörper an, auf den sie keinen Zugriff mehr hatte. Die wenigen klaren Gedanken, die sie festhalten konnte, zerplatzten nach kurzer Zeit wie Seifenblasen. Sie fühlte sich, als hätte sie die Orientierung in ihrem eigenen Leben verloren. Ihr Körper war schwer, als würde er durch einen riesigen Magneten nach unten gezogen. Hinab in die Tiefe, in die Dunkelheit, irgendwohin. Es war eine kalte, unbarmherzige Mischung aus Ungewissheit und Angst. Je länger dieser Zustand andauerte, desto furchtbarer fühlte sie sich. Was, wenn das ihr letzter Sommer wäre? Dr. Umlauf hatte sie so merkwürdig angesehen. Hatte sie am Ende vielleicht Krebs? Oder war sie inzwischen überängstlich und bildete sich das alles nur ein?

Ihr war so übel, dass sie sich zusammenreißen musste, um sich nicht augenblicklich zu übergeben. Sie blieb stehen und hielt sich an dem weiß gestrichenen Gartenzaun des Nachbarhauses fest. Irgendwo bellte ein Hund. Sie atmete tief durch. Passanten gingen an ihr vorbei und sahen sie neugierig an, musterten sie von Kopf bis Fuß. Niemand sagte etwas. Manche von ihnen drehten sich noch einmal um. Tilda musste all ihre Kräfte zusammen nehmen, um nicht ohnmächtig zu werden. Sie rang um ihre Fassung. Vor dem Zaun des Nachbarhauses mit der sonnengelben Fassade stand eine Bank aus Holz. Tilda ging langsam und konzentriert darauf zu. Zögernd setzte sie sich. Sie wollte unbedingt vermeiden, einen hilflosen Eindruck zu machen.

Einen Moment lang schloss sie die Augen. Die warme Frühlingssonne wärmte ihr Gesicht. Hinter ihren geschlossenen Lidern wurde es hell, als sie ihr Gesicht der Sonne entgegen streckte. Was wäre wenn? Was wäre, wenn sie richtig schlimm krank wäre? Was wäre, wenn ihre Krankheit vielleicht unheilbar wäre? Wenn sie daran sterben würde? Jetzt? Bald? Schreckliche Gedanken rasten nur so an ihr vorbei. Tilda nahm einige tiefe Atemzüge und versuchte mit aller Kraft, diese schlimmen Gedanken aus ihrem Gehirn zu verbannen. Verzweifelt bemühte sie sich, positiv zu denken. Vielleicht war ja doch alles gar nicht so schlimm? Vielleicht war alles vollkommen harmlos? Blinder Alarm sozusagen? Vielleicht würde sich ihre Krankheit auch einfach im Nichts verlieren? Dann wären alle ihre Sorgen umsonst gewesen. Vermutlich würde sie sich dann darüber ärgern, sich so aufgeregt zu haben. Sie fragte sich, was sie jetzt tun sollte. Gab es überhaupt etwas, das sie in ihrem Zustand tun konnte? Tilda versuchte, ihre flatternden Gedanken zusammen zu sammeln wie ein Schäfer seine verstreute Herde auf einer großen Wiese. Es war sehr beschwerlich für sie.

Sie hatte das Gefühl, als habe ein riesiger Krake, der seine Fangarme um ihren Körper und ihren Kopf geschlungen hatte, ihr die Luft zum Atmen genommen. Je länger sie allein auf der Bank saß, desto schlimmer wurde das beängstigende Gefühl. Tilda begann zu frösteln. Ihre Zähne schlugen unkontrolliert aufeinander. Sie bemühte sich, das Geräusch zu unterdrücken, aber das war schwer. Die Angst hockte trotzig auf ihrer Brust. Tilda gab sich alle Mühe, gleichmäßiger zu atmen und sich nur noch darauf zu konzentrieren. Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis sie sich einigermaßen beruhigt hatte. Es war eine sehr lange halbe Stunde, bis sie sich zutraute, sich endlich auf den Weg nach Hause zu machen.

Während sie auf dem Heimweg war, überlegte sie, ob sie das Rezept von Dr. Umlauf überhaupt in der Apotheke einlösen sollte. Es wäre ein Medikament gegen Übelkeit, das er ihr verschrieben hatte. Wahrscheinlich würde sie es wenig später, spätestens nach dem Lesen des Beipackzettels, im Badezimmerschrank verschwinden lassen. Sie kannte sich. Sie wollte keine Pillen. Sie wollte eine Diagnose. Solange ihr niemand genau sagen konnte, warum ihr ständig übel war und woher das Druckgefühl in ihrem Bauch kam, wollte sie auf keinen Fall irgendetwas einnehmen. Tilda war sich sicher, dass es eine Ursache für ihre Probleme gab. Es gab für alles eine Ursache, die man finden konnte, wenn man nur ausdauernd danach suchte. Sie seufzte. Wenn es ihr besser gegangen wäre, hätte sie keine einzige Sekunde lang auch nur in Erwägung gezogen, jetzt in die Apotheke zu gehen. Doch ihre Angst war inzwischen gewachsen. Instinktiv spürte sie, dass sie jetzt Kompromisse mit sich selbst machen musste.

Also betrat sie kurzentschlossen die nächste Apotheke. Die Apothekerin war eine reserviert wirkende Dame in mittleren Jahren. Sie hatte ihr dunkles Haar kunstvoll zu einem Dutt aufgedreht, der elegant mit einer kupferfarbenen Haarspange festgesteckt war. Ihre Haut war bleich und ihre grauen Augen musterten Tilda kurz, nachdem sie das Rezept gelesen hatte. Wortlos verschwand sie mit dem Stück Papier nach hinten. Tilda blickte um sich. Die große Uhr an der Wand ihr gegenüber tickte leise. Ansonsten war es vollkommen still im Raum. Sie war die einzige Kundin. Ihr Blick glitt über die Auslagen. Der gesamte Verkaufsraum war vollgestopft mit Regalen, Schränken, Ständern, Postern und Werbeaufstellern. Alles war bunt und fröhlich. Fast schon hatte sie das Gefühl, inmitten eines normalen Supermarktes zu stehen.

Ihr Blick fiel auf ihr eigenes Abbild in dem riesigen Spiegel an der gegenüberliegenden Wand zwischen den beiden großen Fenstern, durch die man die Passanten draußen vorbeieilen sehen konnte. Ein Dreiklang-Gong ertönte. Zwei ältere Damen betraten miteinander tuschelnd die Apotheke. Tildas Blick verfing sich wieder im Spiegel.

Sie musterte sich. Auf den ersten Blick schien es, als wäre das ihr vertrautes Spiegelbild. Eine junge Frau, schlank, mit blondem Haar, blauen Augen und einer sportlichen Kurzhaarfrisur in dunkelblauer Wetterjacke und hellen Jeans. Tildas Haar war links gescheitelt und ein nach rechts gekämmter Pony gab ihr ein mädchenhaftes Aussehen. Die Sonnenstrahlen, die durch die großen Fenster hereinfielen, ließen es goldfarbenen schimmern. Einige Haarsträhnen hatte der Frühlingswind zerzaust. Mit einem verstohlenen Blick auf die beiden alten Damen strich sie mit der Hand unauffällig darüber. Tilda sah sich im Spiegel an, als sähe sie sich zum ersten Mal. Ihre sonst so klaren Augen schauten ihr ungewohnt trüb und tiefliegend entgegen. Darunter zeichneten sich dunkle Ränder ab. Ihre Lidränder wirkten gerötet. Ihre Haut war fahl. Die Helligkeit im Raum unterstrich diesen Eindruck nur noch mehr. Tilda empfand ihre Nase als noch spitzer und noch vorstehender, als gewöhnlich. Sie machte ein bisschen den Eindruck, als wäre sie aus Holz geschnitzt und gehörte gar nicht zu ihrem Gesicht. Ihre sonst vollen Lippen wirkten schmaler als sonst und sehr blass. Sie schienen blutleer und standen kaum noch in einen Kontrast zu ihrer Haut. Die dunkelblaue, winddichte Jacke, die Tilda eigentlich gern mochte, machte im Spiegel den Eindruck, als wäre sie mit ihrem kräftigen Farbton viel zu schwer und viel zu groß für ihren zerbrechlichen Körper. In diesem Moment wirkte sie so massiv an ihr wie eine Rüstung. Tildas Augen wanderten abwärts über die hellen Bluejeans zu ihren in grau-weißen Turnschuhen steckenden Füßen. Sie hatte den Eindruck, als wäre sie insgesamt kleiner geworden, als stünde sie auf eine merkwürdig fremde Art gebeugt. Es war ihr, als trüge sie auf dem Rücken eine unsichtbare Last. Hager sah sie aus, ausgemergelt und übernächtigt. Sie richtete sich unwillkürlich ein wenig auf, bemühte sich, ganz gerade zu stehen. Ihr Spiegelbild veränderte sich dadurch kaum. Sie sah an ihren Oberschenkeln herab, die sichtlich dünner unter ihrer Jacke hervorschauten, als früher. Ihr Blick streifte noch einmal ihre blassen, eingefallenen Wangen. Das blühende Leben sah wahrlich anders aus. Noch fühlte sie sich nicht krankhaft abgemagert. Aber was würde auf sie zukommen, wenn das so weiter ginge? Dieser Gedanke ließ sie nicht los.

In diesem Moment erschien die Apothekerin in dem Durchgang hinter dem Verkaufstresen zurück, der sich in der Wand voller Regale und Schubladen aus dunklem Holz befand. Die Regalreihen über dem Durchgang waren mit alten, dekorativen Salbentöpfen und mit antik anmutenden Aufbewahrungsbehältern aus Porzellan und Glas vollgestopft. Sie trugen verschnörkelte Aufschriften. Links und rechts über der Tür thronten zwei fast identische Mörser aus kupferfarbenem Metall, in denen jeweils ein Pistill steckte wie ein stummer Wachsoldat.

Die Apothekerin notierte schweigend etwas auf dem Rezept und schob Tilda die Packung mit den Tabletten über den gläsernen Ladentisch. „Kennen sie sich damit aus? Dreimal eine Tablette, nicht mehr als maximal fünf am Tag.“, sagte sie eindringlich und ein wenig lispelnd. Tilda nickte stumm, griff nach der Schachtel, zahlte und verabschiedete sich. Die beiden älteren Damen, von denen eine ein fliederfarbenes Filzhütchen keck auf dem weiß gelockten Haar trug, schwatzten derweil munter weiter miteinander und ließen sich gar nicht stören.

Draußen auf der Straße erfasste Tilda eine Art von Erleichterung. Der kühle Frühlingswind fuhr ihr mit seinen kleinen Böen durchs Haar und kühlte ihr Gesicht. Nur ganz langsam fiel die Anspannung des Tages von ihr ab. Eine große Müdigkeit kam. Sie wollte nur noch nach Hause. Morgen Nachmittag würde sie zur MRT gehen. Es war gut, dass der Termin schon so bald war. Sie brauchte endlich Gewissheit darüber, was es war, das ihr die Lebenskräfte raubte. Eigentlich war alles besser, als dieser momentane Zustand der Ungewissheit. Tilda beschleunigte ihre Schritte so gut es ihr möglich war. Sie richtete ihren Blick in die Ferne. Was immer es auch mit ihr nicht stimmte, sie würde es in Kürze wissen. Sie nahm wieder diesen unsichtbaren Sog wahr, der sie scheinbar nach unten, in die Erde zog. Er machte ihre Schritte schwer und drückte ihre Brust zusammen wie ein eisernes Band.

Zwei Tränen liefen ihr übers Gesicht. Dabei hatte sie sich vorgenommen, nicht zu weinen. Sie wusste, dass Weinen vollkommen nutzlos war. Es würde sie kein Stück weiter bringen. Nichts wurde besser durch weinen. Noch dazu fürchtete sie sich vor den neugierigen Blicken der Leute. Sich gehen zu lassen würde sie nur schwächer und hilfloser machen. Noch schwächer und noch hilfloser, als sie sich ohnehin schon fühlte. Es gab niemanden, der ihr die schwere Last von den Schultern nehmen konnte.

Entschlossen wischte Tilda sich die Tränen mit dem Handrücken fort. Sie blieb einen kleinen Moment lang stehen, um sich zu beruhigen. Währenddessen kramte sie in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch und rief sich ins Gedächtnis, dass sie sich fest vorgenommen hatte, positiv zu bleiben. Ein kleiner, kalter Schauer durchströmte ihre Brust und der Druck im Innern nahm einen Augenblick lang ab, während sie ausatmete. Solange nichts fest stand hatte sie, genau betrachtet, kein Problem. Was sie dachte und was sie befürchtete tat nichts zur Sache. Es war nichts erwiesen, also gab es keinen Grund, sich jetzt verrückt zu machen.

Die Menschen gingen an ihr vorbei und ab und zu spürte Tilda, wie ein neugieriger Blick sie streifte. Sie schämte sich dafür und gleichzeitig war es ihr auch irgendwie egal. Sie kannte die Leute schließlich nicht. Tilda blickte sich um. Die Stadt um sie herum war eigentlich wunderschön. Warum war ihr das seit Monaten überhaupt nicht mehr aufgefallen? Hier, in ihrem Viertel, war sie mitten in Hamburg und gleichzeitig auch irgendwie auf dem Dorf. Jeder kannte hier jeden. Hier gab es kleine Vorgärten und mehrgeschossige Wohnblocks mit Kinderspielplätzen, den kleinen Kiosk um die Ecke und den großen Supermarkt am Ende der Straße. Da waren postmoderne Häuser aus Glas und Beton neben alten Gemäuern, die liebevoll restauriert und saniert waren. Hier gab es Wasser und Wind, Bäume und Beete, Kultur und Unkultur, Intelligenz und Dummheit, Reichtum und Armut, breite Straßen und verträumte, schmale Wege. Alles war hier vorhanden.

Es war später Nachmittag geworden. Tilda blickte nach oben in den blassblauen Himmel, der sich schon auf den Abend vorzubereiten schien. Einige Federwolken zogen schnell vorbei, so als wären sie auf der Durchreise und hätten es eilig. Wolken waren immer auf der Durchreise. Sie richtete ihren Blick wieder nach vorn und gab sich einen Ruck, steckte das Taschentuch zurück in ihre Handtasche und zog den Reißverschluss zu. Wie auch immer es kommen würde, sie musste jetzt da durch. Es gab keine andere Möglichkeit für sie.

Mit beschleunigtem Schritt bog sie um die Ecke. Drei kleine, etwa sechsjährige Mädchen mit fliegenden Röcken und ein etwa ebenso alter Junge in einer blauen Latzhose und einem orangefarbenen T-Shirt hüpften lachend über die mit bunter Kreide bemalten Platten des Gehweges. Tilda machte einen großen Bogen um sie, um das Kreidekunstwerk nicht zu beschädigen. Eines der Mädchen mit weizenblonden, langen Zöpfchen kicherte halblaut ein „Dankeschön!“ hinter ihr her. Ein Hund kläffte in der Nähe. Sie erkannte ihn sofort. Es war der Hund aus dem Nachbarhaus. Ein rostbrauner, halbhoher Mischling mit weißen und schwarzen Flecken, der ganz offensichtlich aus ungezählten Hunderassen hervorgegangen war. Es war ein Hund mit dickem Körper, kurzen Stummelbeinchen und zwei überdimensionalen Schlappohren. Zwei freundliche, schwarze Knopfaugen und eine schwarze Nase rundeten seine ungewöhnliche Erscheinung ab. Dieser Hund hörte auf den Namen „Struppi“. Der Name stimmte insofern, weil Struppi die meiste Zeit des Jahres unter irgendeiner Hautkrankheit litt. Während dieser Zeit machte Struppi seinem Namen alle Ehre. Am anderen Ende der Leine ging „Struppis Herrchen, Günter Schröder. Tilda kannte den Mann aus dem Nachbarhaus nur vom Sehen. Er war undefinierbaren Alters und hatte eine erstaunliche Ähnlichkeit mit seinem Hund, was den dicken Bauch und die kurzen Stummelbeine anging. Bei den Ohren gab es allerdings einige Abweichungen und auch seine Nase hatte eine andere Farbe. Es war kein Wunder, dass alle in der Umgebung Struppis Herrchen hinter vorgehaltener Hand nicht „Herr Schröder“ nannten, sondern „Herr Struppi“. Tilda war sich ziemlich sicher, dass er nichts davon wusste. Sogar ein kleines Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, jetzt, wo sie daran dachte.

Einen Augenblick später war sie vor dem Haus mit der Nummer 125 in der Wentorfer Straße angekommen, in dem sie gemeinsam mit Ludwig eine Dreizimmerwohnung im vierten Stock bewohnte. Sie blieb einen Moment lang vor der Haustür stehen und suchte in den Abgründen ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. An dieser Stelle stand sie mindestens einmal täglich und wühlte in ihrer Handtasche. Es war schon fast ein Ritual, das zwar nie geplant war, aber trotzdem jeden Tag wieder stattfand.

Während sie den Haustürschlüssel bereits im Schloss drehte, streifte ein kurzer Blick die Fassade des Hauses. Es sah ehrwürdig und gediegen aus mit seiner liebevoll sanierten, roten Backsteinfassade und den gemauerten Zierverbänden darin. Es war ein Schmuckstück aus einem anderen Jahrhundert, das nichts von seinem Glanz verloren hatte. Sie schloss die weiße, hölzerne Tür auf. Im Treppenahaus roch es nach frisch aufgebrühtem Kaffee und einem Putzmittel mit Blütenduft. Tilda nahm den Lift in den vierten Stock. Normalerweise nahm sie immer die Treppe, aber jetzt fühlte sie sich zu schwach dafür.

Ludwig war schon zu Hause, als sie die Tür zur Wohnung aufschloss. Er war gerade damit beschäftigt, seine Sporttasche zu packen und kam ihr sofort entgegen.

Während er seine Arme ausbreitete, um sie zu begrüßen, sagte er vorwurfsvoll: „Na endlich, da bist du ja! Wo warst du denn nur so lange? Warst Du schon bei Dr. Umlauf? Was sagt er?“ Tilda befreite sich aus seiner Umarmung und zuckte mit den Schultern. „Ja, ich war da. Was er sagt? Nichts!“ Tilda hob erneut ihre Schultern. „Er hat nichts gesagt. Aber er hat mich für morgen zum MRT überwiesen.“ Ludwig nahm sie noch einmal in die Arme und drückte sie fester an sich. Er roch nach frischem Kaffee und irgendwie auch nach Schokolade und nach Erdnüssen. Er strich ihr eine blonde Haarsträhne aus der Stirn und sah sie fragend an. Seine wasserblauen Augen blickten besorgt auf sie herab. „Was soll das heißen, er hat nichts gesagt? Also weißt Du noch gar nichts?“ Er sah sie aufmerksam an. Sofort schossen ihr wieder die Tränen in die Augen, so wie vorhin auf der Straße. Ludwig hielt sie an beiden Schultern fest, verstummte und runzelte besorgt die Stirn, während er weitersprach: „Das sind aber irgendwie keine guten Nachrichten. Leg´ dich erstmal hin. Du siehst müde aus!“ Er ging wortlos ins Schlafzimmer und holte die neue Wolldecke mit dem rot/blau/weißen Schottenkaromuster aus dem großen Kleiderschrank, die seine Eltern ihnen von ihrer Schottlandreise im letzten Herbst mitgebracht hatten. Tilda fröstelte. Die Decke kratzte zwar ein wenig, aber sie wärmte ganz ausgezeichnet. Es war eine großartige Decke, auch wenn Tilda die Eltern von Ludwig wegen ihrer Spießigkeit und wegen ihrer aufgeblasenen Art nicht besonders gern mochte. Jetzt zog sie ihre dunkelblaue Jacke aus. Während Ludwig sie an die Garderobe hängte sagte er: „Ich muss zwar gleich los, bin eigentlich schon weg. Aber soll ich dir noch einen Tee machen bevor ich gehe?“, Tilda nickte langsam, während sie sich wie ein Stein auf die hellgraue Couch im Wohnzimmer fallen ließ. Im Grunde war es ihr ganz recht, dass er jetzt zum Sport gehen wollte, obwohl sie auch irgendwie auf seinen Beistand gehofft hatte und ein wenig enttäuscht war. Bevor Ludwig in die Küche ging, um Tee zu machen, breitete er die Schottenkaro-Decke über ihr aus. Tilda schloss die Augen. Sie war innerlich so unruhig, dass sie unmöglich schlafen konnte. Kalte Schweißperlen traten auf ihre Stirn. Sie lag ganz still und wartete, bis ihr Atem und ihr Geist sich beruhigt hatten. Sie lag einfach nur so da und öffnete wieder die Augen. Irgendwann begannen die in dem gemütlichen Wohnzimmer umher zu wandern. Ein kleines Lächeln trat auf ihr Gesicht. Das Lächeln war winzig klein, aber es fühlte sich gut an und sah noch besser aus. Leider war da niemand, der es sehen konnte. Es war das erste Lächeln nach den vielen Stunden der Anspannung an diesem Montag.

Tilda war einfach nur glücklich, wieder zu Hause zu sein. Sie liebte ihre gemütliche Wohnung über alle Maßen. Ludwig und sie hatten hier so viel Liebe, Zeit und ihre gesamten Ersparnisse investiert. Das konnte man sehen und auch fühlen. Tilda liebte ihr großes Wohnzimmer. Diesen hellen, sonnendurchfluteten, freundlichen Raum mit den vielen Büchern, dem Holzdielen-Fußboden, den weißen Möbeln und dem Sammelsurium aus bunten Blumentöpfen vor der riesigen Fensterfront, die hinaus auf die Dachterrasse führte. Dort sah sie, wie sich die blau-weiß gestreifte Markise im Wind der frühen Dämmerung wiegte. Offenbar hatte Ludwig sie geöffnet, als er nach Hause gekommen war und die Nachmittagssonne mit Kraft gegen die großen Glasscheiben geschienen hatte. Schnell konnte es auf diese Art unerträglich warm im Raum werden. In Gedanken ging Tilda jetzt weiter durch ihre Wohnung. Sie schloss die Augen und ging hinaus aus der Wohnzimmertür, durch den Flur, hinein in die kleine Küche mit den schicken Einbaumöbeln, den vielen Gewürzen, dem Chaos der vielen Kochutensilien und den großen Dachfenstern, dem gemütlichen Essplatz in der Ecke mit den Familienfotos und dem Gummibaum, der mittlerweile schon bis zur Decke reichte. Nachdem sie in Gedanken einmal den Gummibaum umrundet hatte, spazierte sie wieder durch den Flur zurück, huschte an den eingebauten Schränken aus Lärchenholz vorbei und stand wenig später mitten im Schlafzimmer. Sie konnte in Gedanken alles haargenau vor ihrem geistigen Auge sehen. Hier standen die gediegenen, alten Möbel, die sie gemeinsam mit Ludwig in München auf einem Flohmarkt gekauft hatte und die ein Schulfreund von ihr mit viel Sachkenntnis und Liebe zu einem zweiten Leben erweckt hatte. Den großen Schrank mit den vier Türen und den Verzierungen, das Doppelbett mit dem würdevoll geschwungenen Giebel, die Kommode mit den Schmuckelementen aus Perlmutt und die alte Seefahrertruhe, in der sie ihre Wintersachen aufbewahrte. Einen Moment lang sinnierte Tilda darüber, ob es tatsächlich stimmte, dass an alten Möbeln immer noch die Energien der Vorbesitzer hingen und so Unglück ins Haus gebracht werden konnte. Tatsache war allerdings, dass es wohl in ihrem Falle nette und freundliche Leute gewesen sein mussten, denen die Möbel in ihrem ersten Leben gehört hatten. Von Negativität hatte Tilda noch nie etwas gespürt. Und doch: War sie am Ende vielleicht deshalb krank? Die Frage kam ihr in den Sinn, ob es vielleicht böse Flüche gab.

Nach kurzem, nachdenklichem Innehalten wandten sich ihre Gedanken erneut dem Flur zu und gelangten so ins Badezimmer. Das Badezimmer war der einzige Ort, der Tilda in ihrer Wohnung nicht gefiel. Der Fußboden war mit glänzenden schwarzen und weißen Fliesen ausgestattet, die einem Schachbrett ähnelten. Das wirkte kalt und ungemütlich und schaffte die Atmosphäre einer Bahnhofs-Wartehalle. Der übrige Raum war glänzend weiß gefliest. In Augenhöhe führte eine schwarz-weiße Fliesen-Bordüre mit geometrischen Mustern einmal um den gesamten Raum herum. Das Badezimmer hatte in Tildas Augen den spröden Charme eines Vorstadtkrankenhauses. Es war vermutlich dem entgleisten Geschmack eines jungen Architekten entsprungen, der alles besser, alles schöner, und vor allem alles ganz anders machen wollte. Tilda hatte zwar versucht, die kalte Ausstrahlung des Badezimmers mit ein wenig Dekoration abzumildern, aber bei so viel schwarz und weiß hatte sie nur wenig Erfolg damit gehabt. Es blieb einfach schwarz und weiß und dieser scharfe Kontrast erschlug sie förmlich jedes Mal neu, wenn sie die Tür des Raumes öffnete.

Tilda hörte ganz entfernt an dem Klappern, das aus der Küche drang, dass Ludwig sich offenbar immer noch mit der Zubereitung ihres Tees beschäftigte. Merkwürdigerweise fühlte sie sich plötzlich besser. Genau genommen fühlte sich mit einem Male viel besser. Sie unterdrückte aber das Verlangen, sofort aufzuspringen und wartete auf den Tee. Sie war beinahe eingeschlafen, als er kurz darauf mit einer großen Tasse zur Tür hereinkam. Tilda pustete über das dampfende Getränk und nahm einen kleinen Schluck davon. Es war Kamillentee. Er schmeckte ein bisschen wie eingeschlafene Füße, aber Ludwig hatte es gut gemeint.

Etwa zwei Minuten später fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Tilda hatte ihn nicht zurückgehalten. Vielleicht wäre er geblieben, wenn sie ihn darum gebeten hätte. Durch das leicht geöffnete Fenster hörte sie, wie Ludwig unten vor dem Haus den Range Rover startete und davonbrauste. Ein Range Rover war schon lange sein Traum gewesen. Er hatte sich so sehr gefreut, als er ihn sich nach langem Hin und Her schließlich doch vor kurzem gekauft hatte. Tilda war richtig ein wenig eifersüchtig gewesen, obwohl es schon verrückt war, auf ein Auto eifersüchtig zu sein. Am liebsten hätte Ludwig sein Auto vermutlich mit nach oben in die Wohnung genommen und hätte es mitten im Wohnzimmer geparkt. Tilda war allerdings von Beginn an gegen den Range Rover gewesen. Sie war auch jetzt noch der Meinung, dass er keine so große Kiste brauchte. Natürlich war das ein schönes Auto. Aber darum ging es nicht.

Was sollten Ludwig und sie in Hamburg mit so einem überdimensionierten Schlitten anfangen? Die meiste Zeit über stand der Kasten auf einem Parkplatz vor dem Haus im Freien, denn Ludwig und sie fuhren normalerweise mit Bus und Bahn zur Arbeit. Nur selten nahm Ludwig das Auto. Und wenn sie seine Eltern in München besuchen wollten, dann waren sie bisher immer geflogen. Das war sogar oft noch billiger und ging schneller. Im Grunde war Tilda überzeugt davon, dass man in einer Stadt wie Hamburg eigentlich überhaupt kein Auto brauchte. Selbstverständlich war es zum Einkaufen nützlich. Aber es war den Dingen wie Wasserflaschen, Waschpulver, Kartoffeln, Äpfeln und Brot vollkommen egal, in welchem Auto sie nach Hause gekarrt wurden. Irgendein Kleinwagen, so wie ihr in die Jahre gekommener, roter Nissan, hätte es auch getan.

Sich wie Ludwig regelrecht in ein Auto zu verlieben, das konnte wahrscheinlich nur ein Mann. Tilda wusste, dass sie sich in dieser Hinsicht mit ihrer Freundin Conny einig war. Männer und ihre Autos, das war immer so eine Sache. Dabei hatte sie vor dem Kauf noch rechtzeitig interveniert. Genau dieses Modell war es, das in letzter Zeit in Deutschland am häufigsten gestohlen wurde. Jede neue Polizeistatistik sagte das aus. Und Ludwigs Wagen stand Tag und Nacht draußen auf der Straße, mitten im Stadtgebiet. Wenn das keine Einladung für Diebe war! Zweifellos tat es der deutschen Wirtschaft gut, wenn es immer wieder Menschen gab wie Ludwig, die die neuesten, teuersten, größten oder schicksten Autos mit allem Schnickschnack haben wollten. Aber musste Ludwig auch zu denen gehören, die ihr Geld auf diese Art und Weise vernichteten? Er, der ansonsten extrem sparsam war, zumindest was die Ausgaben für den gemeinsamen Haushalt anbelangte. Da war er oft regelrecht geizig. Tilda hatte sich schon so manches Mal darüber geärgert. Sie fand Geiz schrecklich unattraktiv. Für sie war das beinahe die schlimmste Eigenschaft, die ein Mensch haben konnte. Das Merkwürdige aber war, dass sich Ludwig im Gegensatz zu seiner sonstigen Sparsamkeit bei Ausgaben für sich selbst wesentlich großzügiger zeigte. Er war im Grunde genommen ein Geizhals, der sich mit einem Range Rover belohnt hatte. Das war schon skurril.

Langsam erhob sich Tilda. Inzwischen fühlte sie sich besser. Sorgfältig legte sie die schottische Wolldecke zusammen. Mit einem kleinen Schwung warf sie das Bündel auf die Lehne der Couch. Sie fühlte sich wieder gut, eigentlich vollkommen beschwerdefrei. Früher, noch vor Wochen, hatte sie jedes Mal in so einer Situation gehofft, sie hätte ihre Krankheit überwunden. Leider hatte das nie gestimmt. Ihre Anfälle von Schwäche und Übelkeit, zu denen sich zuletzt auch noch Durchfall eingestellt hatte, kamen im Laufe der Zeit in immer kürzeren Abständen. Es war keine Besserung in Sicht.

Nachdenklich ging sie in die Küche und brachte ihre leere Tasse zurück. Sie stellte sie in den Geschirrspüler. Wider Erwarten hatte sie es tatsächlich geschafft, den Kamillentee auszutrinken. Er hatte ziemlich fade geschmeckt, doch sie hatte ihn zügig und mit voller Verachtung hinuntergeschluckt. Als er nur noch lauwarm war, gelang ihr das besser. Jetzt hinterließ die Kamille einen merkwürdigen, trockenen Nachgeschmack in ihrem Mund.

Vielleicht war es der Tee, vielleicht war es auch ihr zu Hause, die Geborgenheit in ihren eigenen vier Wänden, die die Besserung herbeigeführt hatten. Tilda wusste es nicht.

Wie ein Blitz durchzuckte sie plötzlich die Erinnerung an ihr letztes Telefonat mit Ludwigs Mutter. Ludwigs Eltern hatten sie beide neulich erst wieder nach München eingeladen. Ein ungutes Gefühl machte sich in Tilda breit. Sie würde mit Ludwig nach München fliegen müssen. Aber würde sie das in ihrem momentanen Zustand überhaupt schaffen? Von Hamburg nach München dauerte die Reise alles in allem gut dreieinhalb Stunden. Tilda spürte eine innere Abwehr in sich, die sich ausbreitete wie gärende Hefe. Ludwigs Eltern waren eigentlich nett, aber sie waren auch sehr konservativ und festgefahren in ihren Gewohnheiten. Sie legten jedes Wort, das gesagt wurde, auf die Goldwaage. Und sie mussten immer sticheln, weil sie es nicht ertragen konnten, dass ihr Sohn so weit entfernt von ihnen in Hamburg lebte. Das gehörte sich in ihren Augen einfach nicht. Am liebsten hätten sie es gesehen, wenn ihr lieber Goldjunge Ludwig direkt in ihre Nähe gezogen wäre. Es wäre ihnen sicher auch egal gewesen, wenn er sich dafür von ihr hätte trennen müssen. Für Tilda war es vollkommen undenkbar, nach München zu ziehen. Sie liebte den Norden und Ludwig wusste, dass ein Umzug für sie nicht in Frage kam.

Bisher wussten seine Eltern nichts von ihrer mysteriösen Krankheit. Und das war auch gut so. Tilda hatte Ludwig von Anfang an darum gebeten, ihnen nichts darüber zu erzählen. Seine Eltern hatten in München einen recht großen Freundeskreis, dem auch diverse Ärzte angehörten. Ludwigs Eltern umgaben sich gern mit Ärzten. Wahrscheinlich fühlten sie sich dadurch aufgewertet. Sein Vater war vor seinem Ruhestand Pharmavertreter gewesen und er hatte augenscheinlich richtig gut dabei verdient. So viel, dass Ludwigs Mutter nie arbeiten gehen musste. Tilda konnte sich schon vorstellen, wie sie schlimmstenfalls in München von einem der befreundeten Ärzte zum nächsten weitergereicht werden würde, sobald Ludwigs Eltern von ihrer Krankheit erfahren hatten. Das durfte auf keinen Fall geschehen. Sie wollte nicht nach München. Nicht jetzt und nicht später und noch nicht einmal zu Besuch. Ganz davon abgesehen konnte sie sich auch nicht vorstellen, in ihrem derzeitigen Zustand zu verreisen. Aber wie sollte sie das Ludwig beibringen? Und wie brachte er das wiederum seinen Eltern bei?

Nachdenklich ging sie zum Fenster und sah hinunter auf die hellgrünen Baumkronen, die sie entlang der Wentorfer Straße von oben sehen konnte. Sie blickte auf die Dächer der vorbeifahrenden Autos, von denen einige bereits das Licht eingeschaltet hatten. Sie sah auf die Köpfe der dahineilenden Passanten. Weiter vorn, die Straße hinunter, wurde gerade ein LKW polternd mit Bauschutt beladen. Eine zementgraue Staubwolke erhob sich und zog die Straße entlang. Tilda schloss schnell das Fenster. Sie war schwermütig, fühlte sich unsicher. Obwohl es ihr in diesem Moment gut ging, war es doch möglich, dass sich ihre Krankheit in Kürze wieder verschlimmerte. Ihr Urvertrauen, dass irgendwie im Leben alles wieder gut werden würde, war inzwischen angeschlagen. Sie konnte sich nicht erinnern, sich jemals zuvor so hilflos gefühlt zu haben. Sie nahm sich einen Schokoladenriegel aus der Packung, die Ludwig auf dem Tisch im Wohnzimmer liegen lassen hatte. Einen Moment lang hielt sie ihn zwischen den Fingern und legte ihn dann doch zurück. Die Übelkeit überkam sie erneut und plötzlich hatte sie keinen Appetit mehr.

An diesem Abend ging sie früh zu Bett, konnte jedoch lange keinen Schlaf finden. Die Gedanken an den nächsten Tag belasteten sie. Es würde vermutlich der Tag der Wahrheit werden. Ihr Termin zum MRT stand fest. Sie hatte ihn bestimmt nur deshalb so schnell bekommen, weil Dr. Umlauf vermutlich einen schlimmen Verdacht hatte. Zumindest lag das nahe. Der Arzt hatte sich auf dem Überweisungsschein in handschriftlichen Hieroglyphen wohl auch dazu ausgelassen. Leider war seine Schrift für Tilda unlesbar und sie scheute sich davor, Ludwig zu fragen, ob er die undeutlich hin gekritzelten Worte entziffern konnte. Es würde sich schon zeigen, was mit ihrer Gesundheit nicht stimmte. Tilda fühlte, wie sich alles in ihr zusammenzog und erneut diese merkwürdige Kälte durch sie hindurchströmte. Sie drehte sich zur Seite und schloss fest die Augen. Sie wünschte sich nichts mehr, als sofort fest einzuschlafen und einfach am nächsten Morgen zu erwachen und zu erkennen, dass alles nur einen bösen Traum gewesen war.

Irgendwann hörte sie im Halbschlaf, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte und Ludwig nach Hause kam. Dann schlief sie wieder fest ein. Im Laufe der Nacht erwachte sie mehrmals durch eine schreckliche innere Unruhe. Es war bereits nach Mitternacht, als wie wieder einmal auf das Zifferblatt ihres Weckers schaute. Der Tag der Untersuchung war also schon angebrochen. Tilda lag auf dem Rücken und starrte in die Dunkelheit des Zimmers. Sie hatte keine Chance, auch nur für einen Moment wieder einzuschlafen. Die Angst hockte auf ihrer Decke. Ihr blondes Haar klebte ihr schweißnass am Kopf. Sie war durchgeschwitzt, als wäre sie einen Marathon gelaufen. Sie hoffte, dass das nur Symptome ihrer Angst waren und keine Zeichen ihrer Krankheit. Sie war in jedem Falle tief beunruhigt. Stumm fragte sie sich, wo eigentlich ihr Leben geblieben war. Ihr schönes, friedliches, entspanntes Leben, das sie bisher immer so selbstverständlich hingenommen hatte. Ihre Augen brannten im Dunkeln. Ihre Lippen und ihr Hals waren trocken. Das Schlucken fiel ihr schwer. Es war, als wenn ein Stöpsel in ihrer Kehle steckte. Auf ihrer Zunge lag ein bitterer Geschmack. Sie fühlte etwas Schreckliches auf sich zukommen, ohne beschreiben zu können, was es war. Ihre Hände lagen zu beiden Seiten ihres Körpers und hielten krampfhaft das Laken fest. Tilda hätte schreien können vor Angst. Sie versuchte, kontrolliert zu atmen, um die Panik zu überwinden, die sich an sie geheftet hatte wie ein schwerer Stein an einen Ertrinkenden. Am Schlimmsten war die Angst vor der Ungewissheit, die sie Stunde für Stunde aus riesigen schwarzen Augen anstarrte und sie nicht wieder einschlafen ließ. Diese Ungewissheit war schlimmer, als alles, was sie bisher kannte. Sie war absolut unerträglich. Möglicherweise war das ihr Instinkt, der eine schlimme Krankheit anzeigte. Oder hatte sie sich da bloß in etwas hineingesteigert?

Eine endlos lang erscheinende Zeit rang Tilda so um ihre Fassung. Irgendwann stand sie auf und ging ins Wohnzimmer, ins Bad, ins Wohnzimmer zurück und wieder ins Bad. Sie wusch sich ihr Gesicht und die Unterarme mit kaltem Wasser. Das half ihr ein wenig, sich abzulenken und für kurze Zeit an etwas anderes zu denken. Nach einer knappen Stunde fühlte sie sich ein wenig ruhiger. Sie schlich ins Schlafzimmer zurück und legte sich leise wieder neben Ludwig. Sie wollte ihn nicht stören. Was hätte er auch für sie tun können? Sie hätte ihm ihre Angst nicht erklären können. Es gab bisher auch gar keinen vernünftigen Grund dafür. Ludwig hätte das nicht verstanden. Sie kannte ihn lange genug, um das zu wissen. „Wegen ungelegter Eier braucht man sich nicht fertig zu machen.“, pflegte er bei solchen Gelegenheiten immer zu sagen. Tilda kannte seine Sprüche. Sie wollte sie nicht hören.

Nach wie vor waberte in ihrem Kopf ein Gedankenknäuel umher, von dem sie sich bis zum Morgengrauen nicht frei machen konnte. Alle Menschen um sie herum schienen zu atmen und zu leben, gingen zur Arbeit und wieder nach Hause. Sie hatten ihre Familien, ihre Sorgen und Nöte und natürlich auch ihre Freuden. Alle um sie herum schienen gesund zu sein. Die ganze Welt schien voller gesunder Menschen zu sein. Nur bei ihr stimmte etwas nicht. Während Hamburg pulsierte und voller Leben war, lag sie von Panik gequält in der Dunkelheit. Sie wollte doch eigentlich überhaupt nichts mit dem Krankenhaus zu tun haben! Sie wollte noch nie etwas mit Krankenhäusern zu tun haben! Sie wollte die Menschen dort nicht treffen. Am liebsten hätte sie sich unsichtbar gemacht. In diesem Moment wünschte sie sich weit weg in ein anderes Leben. Doch all das brachte sie nicht weiter. Sie würde in ein paar Stunden genau dort hingehen müssen, wo sie nicht hin wollte: ins Krankenhaus. Tilda erschien das wie der Weg zum Schafott.

Immer noch lag sie mit weit geöffneten Augen in der Dunkelheit und starrte vor sich hin, ohne etwas Genaues dabei sehen zu können. Nur der mitleidlose Wecker neben ihr tickte leise. Tilda sah erneut auf sein Zifferblatt. Es war erst 4.00 Uhr morgens. Viel zu früh, um aufzustehen. Die Zeit tropfte so langsam wie zäher Honig von einem Löffel herab. Erst in zwei Stunden wollte sie aufstehen. Tilda presste die Lider zusammen. Sie nahm sich ganz fest vor, bis dahin über nichts Schreckliches mehr nachzudenken. Ganz still lag sie so und fühlte sich wie erstarrt. Es war ein Gefühl, für das es keine Worte gab.

Unten auf der Straße fuhren zwei Autos vorbei. Autotüren wurden zugeschlagen. Für manche Anwohner der Straße begann offenbar schon der Tag. Tilda drehte sich um. An Schlaf war an diesem frühen Morgen nicht mehr zu denken.

Die Farbe der guten Geister

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