Читать книгу Die Farbe der guten Geister - A. A. Kilgon - Страница 3

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KAPITEL 2

Der Morgen kam unweigerlich und hüllte die Stadt in ein fahles Licht. Tilda hatte den Wecker ausgeschaltet, als sie weit vor der Zeit aufgestanden war. Sie konnte nicht länger im Bett bleiben. Ihr Körper schmerzte. Beim Frühstück mit Ludwig blieb sie einsilbig. Er bemerkte es entweder nicht oder er ignorierte es. Er verhielt sich an diesem Morgen genau wie immer. Tilda war sich nicht sicher, ob er sich wirklich keine Sorgen machte oder ob er nur so tat, als ob er sich keine machen würde. Vielleicht hatte er auch einfach nicht mehr daran gedacht, dass sie ihren Termin beim MRT hatte. Möglich war das auch. Ludwig war zwar sehr sensibel, allerdings gewöhnlich nur dann, wenn es um ihn selbst ging. Im täglichen Miteinander hatte Tilda sich im Laufe der Zeit schon fast daran gewöhnt. Es war ihr anfangs nicht leicht gefallen, aber nach den Jahren war sie bis zu diesem Zeitpunkt recht sicher gewesen, dass es ihr inzwischen nichts mehr ausmachte. Doch an Tagen wie diesem verletzte es sie viel mehr, als sie erwartet hatte. Sie fühlte sich hilflos und verlassen und ohne jeden Beistand. Mehrmals waren ihr an diesem Morgen schon die Tränen in die Augen geschossen, als sie sich dessen bewusst geworden war. Dann war sie schnell aus dem Zimmer gegangen. Sie hatte sich allein und ausgeliefert gefühlt. Aber sie wollte Ludwig keine Erklärungen geben müssen. Was hätte sie ihm auch sagen sollen? Was hätte sie ihm vorwerfen können? Hätte sie ihm sagen sollen, dass sie der Ansicht war, er wäre emotional unterbelichtet und würde keinen Anteil an ihren Ängsten nehmen? Er hätte sie ganz sicher nicht verstanden. Für ihn war seine Gefühlswelt vollkommen in Ordnung. Er kannte schließlich keine andere. Wenn er bestimmte Gefühle nicht hatte, dann war das eine Tatsache, an der nicht zu rütteln war. Wenn sich Tilda bei ihm darüber beschweren würde, dann würde er sich sicher so fühlen, als würde sie von ihm verlangen, chinesisch mit ihr zu sprechen. Ludwig sprach aber kein chinesisch.

Ziemlich wahrscheinlich war, dass er nicht an ihren Termin gedacht hatte. Tilda fühlte sich elend und kämpfte immer noch still mit den Tränen. Sie ging hinaus ins Badezimmer und wusch sich ihr Gesicht mit kaltem Wasser. Sie wollte nicht verheult aussehen. Das brachte ihr ein wenig Erleichterung, die aber leider nicht lange anhielt.

Kurze Zeit später stellte sich heraus, dass Ludwig ihren Termin keineswegs vergessen hatte. Er brachte sie sogar mit dem Auto hin. Auf dem Weg ins Stadtbauamt setzte er Tilda vor der Klinik ab. Inzwischen hatte es zu nieseln begonnen. Der Himmel war eingetrübt. Trotzdem roch es überall nach frischer Erde und nach Frühling. Unter anderen Umständen hätte Tilda diesen Geruch sicher großartig gefunden. Jetzt empfand sie ihn nur noch als unangenehm. Er wirkte auf sie schwer und bedrohlich wie den Geruch der Pflanzen und der Erde auf einem Friedhof. Tildas Stimmung war auf dem Tiefpunkt angekommen, als sie vor der Klinik aus dem Auto stieg. Sie hatte Angst.

Ludwig war hinter dem Steuer sitzengeblieben. Er hatte es eilig, wollte weiter zur Arbeit. Er gab ihr den vertrauten Kuss auf die linke Wange und sagte mit flachem Optimismus: „Viel Glück, Schatz! Wird schon nicht so schlimm sein!“ Tilda sah ihn an, ohne ein Wort hervor zu bringen. Sie hob nur hilflos ihre Schultern, bevor sie schließlich sagte: „Naja, Luddi, irgendwas wird schon sein. Sonst hätte ich nicht so schnell den Termin bekommen…. Befürchte ich zumindest…..“ Tildas Stimme klang unschlüssig und merkwürdig brüchig. So, als würde ein Fremdkörper in ihrem Hals stecken. Sie fühlte sich eingeschüchtert. Sie wollte noch irgendetwas Optimistisches sagen, aber es fiel ihr überhaupt nichts ein. Sie öffnete den Mund und schloss ihn gleich darauf wieder. Wortlos stieg sie aus dem Auto und nahm ihren roten Schirm mit den Sonnenblumen aus dem Kofferraum des Range Rovers. Sie zog die Hülle von ihm ab und spannte ihn auf. Einen kurzen Moment lang stand sie unschlüssig neben dem Auto und schwieg. Als Ludwig den Motor startete wandte Tilda sich zum Gehen. Unerwartet ließ er noch einmal die Scheibe neben ihr herunter und beugte sich ein wenig herab, so dass er ihr ins Gesicht sehen konnte, während er streng sagte: „Schatz, aber wenn´s was Schlimmes ist, dann versprich mir, dass du dir in der Klinik helfen lässt.“ Er zögerte einen Augenblick, bevor er fortfuhr: „Ich weiß, dass Du keine Tabletten magst. Aber versprich mir trotzdem, dass du dann das machst, was sie dir empfehlen!“ Er räusperte sich und seine strahlend blauen Augen schauten Tilda fordernd an: „Versprich es mir!“ Er räusperte sich noch einmal. Er roch nach Aftershave.

Zögernd nickte Tilda ein wenig und versuchte ein Lächeln. „Ja, vermutlich werde ich das dann machen.“ Und einen Moment später fügte etwas leiser hinzu, während plötzlich ein spitzbübisches Lächeln über ihr Gesicht huschte: „Aber verlass´ Dich nicht zu sehr darauf!“ Sie sah Ludwig an. Ihr Lächeln wurde größer, als sie sein verdutztes Gesicht sah. Einen kurzen Moment lang fühlte sie sich besser. Ihr wurde plötzlich ganz leicht zumute. Die Last war von ihren Schultern gewichen, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Wie lange hatte sie schon keine Späße mehr gemacht, zu denen sie früher ständig aufgelegt gewesen war? Tilda hatte plötzlich das Gefühl, wieder ein wenig zu sich zu kommen. Einen Wimpernschlag lang glaubte sie sogar, sie hätte etwas von ihrer lange vermissten Energie zurück. Doch das Gefühl war sofort wieder verschwunden, war wie ein Windhauch an ihr vorbeigegangen. Noch nie zuvor hatte sie sich so bedrückt und so elend gefühlt, wie an diesem Morgen.

Sie warf Ludwig einen flüchtigen Kuss zu, indem sie die Lippen spitzte und wandte sich dann unmittelbar dem Haupteingang der Klinik zu. Festen Schrittes ging sie in diese Richtung. Erst als sie am Portal angekommen war drehte sie sich noch einmal um. Ludwig war nicht mehr da.

Die große Eingangshalle des Krankenhauses war freundlich und hell. An den riesigen Fenstern zur linken und rechten Seite rann eine Flut von Regentropfen herab. Direkt vor sich sah Tilda die Türen mehrerer mattsilbern glänzender Aufzüge. Ganz vorn links saßen hinter der Anmeldung eine junge Frau und ein älterer Herr. Die schreiend grell blondierten und am Hinterkopf toupierten Zuckerwatte-Haare der jungen Frau hatten etwas von einem Hinterkopf-Geschwür. Ihre Gesichtszüge wurden von einer dicken Schicht Makeup überdeckt. Als Tilda sich ihr näherte telefonierte sie gerade, wobei man ihre langen, dunkelrot lackierten, künstlichen Fingernägel sah. Sie wirkten ein wenig skurril in dieser Krankenhaus-Umgebung. Graziös kritzelte sie mit der freien Hand etwas auf einen Notizzettel, wobei sie den Stift wegen der langen Nägel merkwürdig verkrampft hielt. Tilda war überrascht, dass sie mit diesen Fingernägeln überhaupt etwas schreiben konnte. In dem rosa Kittel, der sich über ihrer Brust spannte, erinnerte sie ein wenig an Miss Piggy von der Muppets Show. Irgendwie, fand Tilda, war sie zumindest rein optisch eine komplette Fehlbesetzung zwischen all den kranken Leuten. Selbst wenn sie möglicherweise nett war passte sie nicht in dieses Umfeld. Tilda hätte sich nicht an sie gewandt.

Der Mann neben ihr war ein älterer, grauhaariger Herr. Er war ein freundlicher, väterlicher Typ mit kurzem, glatten Haar und einer gepflegter Erscheinung. Er trug bereits einige Knitter in seinem gutmütigen Gesicht und mochte fast schon das Rentenalter erreicht haben. Er schaute Tilda freundlich an und nickte ihr zu. Sein weißer Kittel, den er nur wie eine Jacke übergeworfen hatte, hing locker und mit offener Knopfleiste über seinen Schultern. Darunter sah man eine dunkelgraue Hose und ein hellblaues, langärmliges Oberhemd, das tadellos gebügelt war. Auf seiner Nase klemmte eine Halbbrille mit schmalen Gläsern, die er in Richtung Nasenspitze vorgeschoben hatte und die ihm irgendwie das Aussehen einer Spitzmaus gab. Seine braunen Augen musterten Tilda über den Brillenrand hinweg mit einem Blick, der etwas von einer Mischung aus Profi-Portier und Oberarzt hatte. Ihrem ersten Impuls folgend ging Tilda sofort auf ihn zu und wandte sich nicht an seine rosa Kollegin, die inzwischen das Telefon beiseitegelegt hatte. „Zum MRT? Zweiter Stock links und dann am Ende des Flures“, antwortete der sympathische Herr Tilda freundlich auf ihre Frage, wohin sie sich wenden müsse. Nachdem sie sich kurz bedankt und zum Gehen gewandt hatte, fügte er leise hinzu, als wäre es ein Geheimnis: „Viel Glück für sie!“ Tilda nickte, versuchte ein kleines Lächeln und entfernte sich schnell. Die Tränen schossen ihr erneut in die Augen. Sie wollte nicht, dass er es sah. Sie wollte keinen verweichlichten, hysterischen Eindruck machen, wollte nicht wie ein aufgescheuchtes Hühnchen erscheinen und das schon gar nicht vor diesem unbekannten Mann hinter der Rezeption. „Zweiter Stock links und dann am Ende des Flures“, murmelte sie entschlossen vor sich hin, als müsste sie sich selbst Mut zusprechen. Sie stieg in einen der Aufzüge und fuhr hinauf.

Nachdem sie einen scheinbar endlos langen Flur mit glänzendem, grauem Kunststoff-Belag entlanggegangen war, betrat Tilda den Raum mit der Aufschrift „Wartezimmer MRT“. Ihr Herz hämmerte bis zum Hals. Sie war überrascht, wie viele Patienten an diesem Morgen bereits dort saßen. Manche schienen vollkommen gesund zu sein, andere wirkten bleich und krank und dem Tode näher, als dem Leben. Außer ihr selbst waren noch acht weitere Patienten im Wartezimmer. Sie setzte sich neben ein hageres Mädchen mit hervorspringender Nase und dünnen Ärmchen, das einen weißen Jogginganzug mit der Aufschrift „Los Angeles“ trug. Es war vermutlich nicht älter als fünfzehn oder sechzehn Jahre. Verstohlen musterte Tilda das junge Ding. Das Mädchen wirkte erstaunlich entspannt. Es hatte kupferrot gefärbtes, halblanges Haar, das dünn und ähnlich wie Spaghetti auf ihre Schultern herabhing. Es sah beinahe so aus, als wäre es gebügelt worden. Das Mädchen trug eine etwas überdimensionierte Brille mit einem dunklen Rand, die wohl besser zu einer Professorin gepasst hätte und viel zu groß für ihr schmales Gesicht war. Ihr blasser Nasenrücken war voll mit kleinen, hellbraunen Sommersprossen. Das Mädchen hieß Ana, wie sich bald herausstellte und schien ihrem Akzent nach osteuropäischer Abstammung zu sein. Ana erzählte ihr, dass sie in die 9. Klasse einer Realschule im Stadtzentrum ginge und sie lege besonderen Wert darauf, dass ihr Name nur mit einem „N“ geschrieben werde. Ana wusste bereits, dass sie einen Tumor im Gehirn hatte und tippte mit dem Zeigefinger vage in Richtung ihrer linken Schläfe, um Tilda die Stelle zu zeigen. Sie war nicht zum ersten Male hier und hatte gemäß ihrer Schilderung auch schon einige Chemo-Therapien und Bestrahlungen hinter sich, was den Tumor aber nicht beeindruckt hatte. Im Gegenteil. Er war während der Therapien einfach weiter gewachsen. Tilda hatte Mühe, ihr Entsetzen darüber zu verbergen. Ana winkte nur ab. Für sie schien das alles nicht so schlimm zu sein. Momentan war sie zu Hause und nur ambulant in der Klinik. Aber sie durfte trotzdem nicht zur Schule gehen. Darüber ärgerte sie sich. „Das Leben muss ja schließlich irgendwie weiter gehen, wissen sie?“, kommentierte sie ihre Situation lapidar. Tilda war außerordentlich überrascht, wie wenig Ana ihr Zustand zu beunruhigen schien. Es mochte wohl an ihrem jugendlichen Alter liegen, dass sie das wahre Ausmaß ihres Problems noch nicht erkennen konnte. Vielleicht nahm sie auch irgendwelche Psychopharmaka ein, die sie entspannt hielten. Später bekam Ana, wie einige andere der Wartenden und Tilda selbst auch, ein Kontrastmittel in Vorbereitung der Untersuchung in die Vene gespritzt. Tilda ließ die Prozedur widerstrebend über sich ergehen. Es brannte, als würde Zyankali durch ihre Adern rinnen. Die anderen schienen keine Probleme damit zu haben. Vielleicht lag das auch einfach nur daran, dass sie die falsche Einstellung hatte. Danach dauerte es noch einige Minuten, bevor Tilda endlich von einer forschen Schwester mit mindestens 130 kg Lebendgewicht und einem Stiernacken abgeholt wurde. Sie war riesig groß und steckte in einem überdimensionalen grünen OP- Kittel wie in einem Sack. Mit einem Ruck hatte die grüne Schwester eine Seitentür des Wartezimmers geöffnet, ihre Körperwalze mitten im Türrahmen positioniert und gedröhnt, als müsse sie in einem ganzen Saal für Ordnung sorgen: „Johannsen, Tilda?“ Tilda sprang erschrocken auf und folgte ihr dann. Ana nickte ihr zu. Sie war inzwischen mit ihrem Smartphone beschäftigt und blickte nur ganz kurz auf. Für sie war das hier schließlich Alltag. Kurz darauf fand sich Tilda allein im Untersuchungsraum wieder. Sie lag auf dem Rücken auf einer schmalen, weißen Liege und glitt in den Untersuchungstunnel. Die angebotenen Ohrstöpsel gegen den Lärm hatte sie dankbar angenommen. Es roch nach Desinfektionsmittel, Kunstleder und irgendwie merkwürdig nach Technik und Metall. Über eine Scheibe hatte sie anfangs noch in den Raum nebenan sehen können, wo offensichtlich ein Arzt und eine Krankenschwester das Geschehen überwachten. Tilda schloss ihre Augen und hoffte inbrünstig, ihr Aufenthalt im Tunnel möge schnell vorbei sein. Bereits einige Minuten später war die Untersuchung tatsächlich beendet. Sie kletterte erlöst von der Liege.

Irgendwie hatte sie sich das alles schlimmer vorgestellt. Jetzt fühlte sie sich erst einmal erleichtert. Während sie wieder in ihre Kleider schlüpfte, stellte sie sich vor, dass sie nun nach Hause gehen würde und sich die Angelegenheit damit für sie erledigt hatte. Doch da war auch eine innere Stimme in ihr, die ihr warnend klar machte, dass sie so einfach nicht davonkommen würde, wenn die Maschinerie Krankenhaus erst einmal angelaufen war. Tilda warf einen prüfenden Blick in den Spiegel an der Wand ihrer Umkleidekabine und zupfte sich hastig die Frisur mit den Fingern zurecht. Nach einem letzten prüfenden Blick wandte sie sich zum Gehen. Die riesige grüne Krankenschwester jedoch folgte ihr ungewöhnlich flink und drückte ihr mit tadelndem Blick ein gelbes Bestellkärtchen in die Hand, wobei sie posaunte: „Morgen neun Uhr dreißig, Zimmer 254. Auswertung. Pünktlich sein, bitteschön!“ Sie musterte Tilda durchdringend wie ein Feldwebel. Ihre dunkelbraune Pagenfrisur war derart mit Haarspray fixiert, dass sie aus Beton zu sein schien. Sie hatte einen leichten Oberlippenbart und ein Doppelkinn. Schnaufend verschwand sie in einer Seitentür, auf der „Kein Zutritt“ stand. Tilda starrte auf den kleinen gelben Bestellzettel in ihrer Hand, auf dem ihr Name stand. Er brannte wie Feuer zwischen ihren Fingern. Sie würde also morgen noch einmal hierher kommen müssen. Hatten die da drinnen etwa schon etwas Verdächtiges auf ihren Aufnahmen gesehen? Nervös ließ sie den Zettel in das Außenfach ihrer Handtasche gleiten und verließ hastig das Krankenhaus. Sie fühlte sich wie auf der Flucht.

Der nette, ältere Rezeptionist mit der Spitzmaus-Lesebrille auf der Nase war immer noch da. Er tippte unablässig irgendetwas in seine Computertastatur und sah nicht auf. Erst als Tilda vorbeihuschte, blickte er hoch und nickte ihr freundlich zu. Seine wasserstoffblonde Kollegin mit den spatenartigen Fingernägeln und den Haaren aus Zuckerwatte war indessen verschwunden. Wahrscheinlich saß sie schon beim Mittagessen oder toupierte sich in der Personal-Umkleide den Hinterkopf neu. Tilda beeilte sich, nach draußen zu kommen. Das Auftrittsgeräusch ihrer Schuhe vervielfältigte sich unter ihren hastigen Schritten in der Eingangshalle. Das Geräusch erinnerte an die Übungsstunde einer Stepptänzerin.

Sie verließ das Krankenhaus durch die große, gläserne Drehtür des Haupteinganges. Draußen wehte ihr eine kühle Hamburger Böe wie zur Begrüßung ins Gesicht. Der Nieselregen hatte aufgehört. Die freundliche Frühlingssonne hatte ihn verdrängt. Es war fast Mittag. Tilda kam es vor, als hätte sie einen ganzen Tag lang in diesem schrecklichen Gebäude gehockt. Gierig sog sie die frische Luft ein. Sie hatte nur noch das Bedürfnis, nach Hause zu kommen, fühlte sich getrieben, abgestoßen und voller Eile. Im Krankenhaus starben die Menschen. Sie wollte nur weg von diesem Ort.

Tilda lenkte ihre Schritte durch den nahegelegenen Park, dem kürzesten Weg nach Hause, den sie zu Fuß nehmen konnte. Einige ergraute Pensionäre hatten es sich um diese Zeit schon auf den Bänken bei den kahlen Rosen-Rabatten bequem gemacht und hielten ihre blasse, zerknitterte Winterhaut in die Frühlingssonne. Vom nahen Spielplatz her hörte Tilda eine Mischung aus Kindergeschrei und Lachen. Irgendwoher kam Straßenlärm. Sie hielt nicht inne. Sie wollte nur noch nach Hause, weg von diesem schrecklichen Krankenhauses. Tilda ging schnellen Schrittes. Je schneller sie ging, desto besser fühlte sie sich. Sie verspürte keinerlei Unwohlsein, nur ein wenig Schwäche. Sie erinnerte sich überrascht daran, dass sie überhaupt keine Beschwerden mehr gehabt hatte, seitdem sie das Krankenhaus am Morgen betreten hatte. War das der sogenannte „Vorführeffekt“? Sie kannte dieses Phänomen bereits von ihren Zahnarztbesuchen. Wenn sie lange genug im Wartezimmer gesessen hatte, dann waren ihre Zahnschmerzen weg gewesen.

Den Rest des Tages verbrachte Tilda damit, sich um ihre Wohnung zu kümmern. Sie verspürte das dringende Bedürfnis, irgendetwas Nützliches zu tun, auch um sich abzulenken. Sie putzte die Fenster und holte den Rest ihrer Sommersachen aus der großen, alten Seefahrer-Truhe im Schlafzimmer. Sorgfältig packte sie dann einen Teil ihrer Wintersachen hinein. Während sie das tat hoffte sie darauf, dass das Wetter gut genug bleiben möge, so dass sie nicht in Kürze wieder in der Truhe wühlen müsste, um die eben eingepackten, dicken Pullover wieder hervor zu holen. Schließlich konnte niemand in Hamburg so genau wissen, was das Wetter mit der Stadt vorhatte. Ganz zum Schluss schob Tilda den Metallriegel der Truhe mit einem Klicken zu und setzte sich einen Moment lang darauf, um sich auszuruhen. Sie fühlte sich nun doch erschöpft. Trotzdem war sie glücklich. Sie hatte dem Tag, der so unschön begonnen hatte, doch noch etwas Nützliches abgerungen. Wenn sie ihr aktuelles Befinden mit dem der letzten Tage und Wochen verglich, dann ging es ihr heute um Quantensprünge besser. Seit der Untersuchung am Vormittag fühlte sie sich irgendwie befreit. Zwar belastete es sie, dass sie bereits nächsten Tag wieder zur Auswertung erscheinen sollte, aber sie entschloss sich, nicht daran zu denken. Während sie mit angezogenen Beinen immer noch auf der großen Truhe im Schlafzimmer hockte, versuchte sie sich bildlich vorzustellen, wie der Arzt zuerst ihre Aufnahmen aus dem MRT betrachtete und sie dann verständnislos ansah. Sie stellte sich vor, wie er dann mit den Schultern zucken und sagen würde: „Frau Johannsen, wer hat sie eigentlich zu uns überwiesen? Es ist doch alles in bester Ordnung bei ihnen. Sie sind gesund. Das muss wohl ein Irrtum gewesen sein.“ Zumindest in ihrer Vorstellung klappte das ganz gut.

Tilda dachte an das Mädchen Ana, die mit ihrem Tumor im Kopf so gelassen umging, als wäre er ein aufgeschlagenes Knie. So einfach war das offenbar, wenn man sich keine Sorgen machte. Was würde wohl aus ihr und den anderen Patienten im Wartezimmer werden? Was würde aus ihr werden? Die anderen hatten alle viel entspannter gewirkt, als sie selbst. Vielleicht kannten sie sich schon besser mit dem emotionalen Druck aus, den solche Untersuchungen mit sich brachten. Oder die Ursache lag darin, dass es außerordentlich schwierig war, den Gemütszustand fremder Menschen einzuschätzen. Vielleicht hatte sie selbst auf die Mitwartenden auch gar nicht so aufgewühlt gewirkt.

Langsam rutschte Tilda von der Truhe. Sie schob die Ärmel ihres roten Hausanzuges hoch und betrachtete aufmerksam ihr Bild im Spiegel an der Tür des Kleiderschrankes. Eigentlich war das in der Tat ein nicht mehr ganz neuer Hausanzug. Oder anders ausgedrückt war er schon etwas in die Jahre gekommen. Ludwig hatte neulich nicht ganz Unrecht gehabt, als er ihn abschätzig betrachtet hatte. Aber er hatte in diesem Zusammenhang verletzende Dinge gesagt. Das war unfair gewesen. Tilda wusste nicht so genau, wie lange sie diesen Anzug schon besaß. Seine besten Tage hatte er möglicherweise tatsächlich hinter sich. Doch das war ihr vollkommen egal. Sie liebte ihn. Sie wollte ihn einfach nicht wegwerfen, solange sie ihn noch tragen konnte. Für sie war er wie ein Stück zu Hause. Er war weich und wirklich bequem und sie fand es überhaupt nicht schlimm, dass er bereits etwas die Form und die Farbe verloren hatte. Vor allem in Zeiten, in denen sie sich nicht wohlfühlte, und das war häufig gewesen in der letzten Monaten, hatte er ihr irgendwie immer sehr geholfen. Es mochte sein, dass sie sich das alles nur einbildete und der Anzug in Wahrheit wie ein Placebo wirkte. Ludwig jedenfalls war überzeugt davon. Doch Tilda war das vollkommen gleichgültig. Dass der Anzug hässlich sein sollte, weil er inzwischen nicht mehr neu war, lag allein im Auge des Betrachters. Ludwig hatte sie neulich darin gemustert und geringschätzig behauptet, sie hätte einen dicken Hintern darin. Tilda hatte sich durch seine Worte sehr verletzt gefühlt. Es hatte ihr wehgetan, dass Ludwig sie so wenig kannte, dass er nicht einmal wusste, dass ihr das „dicke-Hintern-Ding“, über das sich die meisten Frauen geärgert hätten, vollkommen am selbigen vorbeiging. Solange sie nicht in Wirklichkeit einen dicken Hintern hatte, sondern nur in diesem ausgebeulten Anzug, interessierte sie das überhaupt nicht. Ludwig hatte sogar ein Zitat von Karl Lagerfeld angeführt, dem Modezaren, von dem jeder halten konnte, was er wollte. Laut Ludwig sollte Lagerfeld angeblich gesagt haben: „Wer eine Jogginghose trägt hat die Kontrolle über sein Leben verloren.“ Tilda wusste nicht genau, ob sie sich über seine Worte ärgern sollte oder ob sie einfach nur enttäuscht von ihm war. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem. Wie konnte Ludwig behaupten, dass sie die Kontrolle über ihr Leben verloren hatte? Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr ärgerte sie sich über seine taktlose Art. Sie hatte sich wirklich oft genug entsetzlich gefühlt in den letzten Monaten. Sie hatte Bauchschmerzen, Übelkeit, Durchfall, Appetitlosigkeit und Schwäche klaglos ertragen. Sie war trotzdem ihrer Arbeit in der Schule nachgegangen, hatte den Haushalt in Schuss gehalten und war fast immer optimistisch gewesen. Sie hatte sich nie beklagt. War es tatsächlich so schlimm, wenn sie abends ab und zu das rote Ungetüm trug, so wie neulich? Hatte Ludwig überhaupt jemals versucht, sich in ihre Lage zu versetzen? Wahrscheinlich hatte er noch nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, wie sie sich wirklich fühlte. Er sah immer nur sich selbst, ging immer nur von sich aus. Und er bemerkte das noch nicht einmal.

Nachdenklich holte sich Tilda ein großes, frisches Handtuch aus dem Badezimmerschrank, hängte es über den Rand der Badewanne und stieg in die Dusche. Sie hatte das Bedürfnis, diesen schrecklichen Tag einfach von sich abzuspülen. Alle negativen Gedanken wollte sie von sich abwaschen und die Ängste vom MRT am Vormittag gleich mit. Das warme Wasser prickelte auf ihrer Haut und beruhigte ein wenig ihre angespannten Nerven. Minutenlang genoss sie einfach nur, unter dem warmen Wasserstrahl zu stehen und sich für einen Moment keine Sorgen machen zu müssen.

Das Telefon klingelte. Tilda lief mit dem Handtuch ins Wohnzimmer und nahm das Telefon von der Ladestation. Es war ihre Mutter Brigitte, die von ihren Gesundheits-Sorgen zum Glück noch so gut wie nichts wusste. Tilda hatte ihren Eltern kaum etwas über ihr mysteriöses Unwohlsein der letzten Monate erzählt. Das war nicht schwer gewesen. Sie hatten sich auch nicht so häufig gesehen in der letzten Zeit. Genauer gesagt hatte Tilda ihre merkwürdigen Symptome nur ein einziges Mal beiläufig erwähnt. Das war zu Ostern gewesen. Danach hatte sie sich vorgenommen, keine Energie mehr in dieses Thema zu schicken, damit es nicht wuchs und gedieh wie ein Pilz. Schließlich wollte sie das Problem loswerden und es nicht füttern. Ihre Eltern hielten ihre mysteriöse Krankheit sicher für längst auskuriert und das war gut so. Tilda kannte sie. Sie wusste, dass sie sich Sorgen machen würden und deshalb wollte sie sie auf gar keinen Fall beunruhigen. Und noch etwas war der Grund für ihr Schweigen. Sie wollte keine guten Ratschläge von ihnen hören, was sie nun am besten tun sollte. Und sie wollte außerdem nicht hören, welche Ärzte aus ihrem Freundeskreis wahrhafte Koryphäen waren, die sich des Problems jetzt am besten sofort annehmen sollten…..

Ganz davon abgesehen war Tilda bisher noch immer davon überzeugt, dass in ihrem Körper alles wieder von allein in Ordnung kommen würde. Seit ihrem Termin beim MRT am Vormittag war ihr Optimismus allerdings irgendwie kleiner geworden. Sie hatte ein ungutes Gefühl. Während sie versuchte, auf ihre Mutter am Telefon entspannt zu wirken, zog sie sich so gut es ging nebenbei ihre Jeans und das mausgraue T-Shirt mit einem bunten Blumenaufdruck an. Sie hatte nicht schon wieder Lust auf Karl Lagerfelds Spruch, wenn Ludwig nach Hause kam.

Während sich Tilda auf die nachtblaue Couch im Wohnzimmer fallen ließ und den Schilderungen ihrer Mutter zuhörte, die alles immer spannend wie einen Krimi zu erzählen wusste, war sie gar nicht recht bei der Sache. Da ihre Mam aber allerhand berichtete, machte es ihr Redeschwall nur ab und zu erforderlich, dass sie antworten musste. Parallel dazu formulierte ihr Gehirn währenddessen bereits einige Sätze, die sie ihr über ihren angeschlagenen Gesundheitszustand sagen wollte, die sie ihr inzwischen fairerweise sagen musste. Tilda wollte auf gar keinen Fall, dass sich ihre Eltern Sorgen machten. Falls sich jetzt tatsächlich herausstellen sollte, dass mit ihrer Gesundheit irgendetwas nicht stimmte, wollte sie nicht den Vorwurf zu hören bekommen, dass sie von nichts gewusst hätten und dass sie übergangen worden seien.

Tilda hatte immer ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern gehabt und das war ihr auch immer wichtig gewesen. Thomas und Brigitte Johannsen waren im letzten Jahr gemeinsam in den Ruhestand gewechselt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie bei der Hamburger Sparkasse gearbeitet, jeder in einer anderen Filiale in der Stadt. Dank ihres beruflichen Engagements hatten sie sich in den letzten zwanzig Jahren recht weit nach oben gearbeitet. Wenn man berücksichtigte, dass sie vom einfachen Schalterdienst an der Basis im tiefsten Mecklenburg gestartet waren und zum Schluss ihre eigenen Abteilungen in Hamburg geleitet hatten, so war Tilda voller Respekt für sie. Aber das war es nicht allein. Sie waren ihr und ihrer Schwester Doro immer gute, verständnisvolle Eltern gewesen. Sie hatten ihr Bestes gegeben, auch wenn das für zwei Berufstätige nicht leicht gewesen war und Tilda und ihre Schwester sich manchmal allein gefühlt hatten. Im Stillen hatte Tilda manchmal ihre Freundinnen beneidet, deren Mütter fast alle Hausfrauen gewesen waren und die mittags mit dem Essen auf sie gewartet hatten, wenn sie aus der Schule nach Hause kamen. Doro und Tilda hatten niemanden gehabt, der mittags auf sie wartete, wenn die Schule zu Ende war. Aber sie hatten das Beste daraus gemacht. Sie hatten gemeinsam kochen gelernt und das hatte sich bald als überaus nützlich für ihr gesamtes weiteres Leben erwiesen. Je älter Tilda wurde, desto mehr wurde ihr klar, dass ihre Mutter mit ihrer Berufstätigkeit genau das Richtige getan hatte. Während die Mütter ihrer Freundinnen irgendwann nach den vielen Jahren als Hausfrau damit begannen, als geringfügig Beschäftigte im Supermarkt Regale aufzufüllen, und froh darüber waren, überhaupt wieder einen Job gefunden zu haben, wurde ihre Mutter Abteilungsleiterin bei der Sparkasse. Auch das war es, wofür sie ihren Eltern im Nachhinein dankbar war. Für Tilda hatte schon immer die Frage im Raum gestanden, was vom Elternsein blieb, wenn die Kinder erwachsen waren. Sie frage sich, ob es sich überhaupt lohnte, wegen dieser wenigen Jahre als Mutter kleiner Kinder die gesamte berufliche Perspektive auf´s Spiel zu setzen. Und das nur, um später und meist für den Rest des Berufslebens, darunter zu leiden. Tilda dachte in diesem Moment an ihre Schwester Dorothea, die trotz ihrer drei Kinder immer gearbeitet hatte und die es als selbstverständlich ansah, dass ihr Mann das auch unterstützte. Tilda wusste, dass ihre Eltern oft genug die Zähne zusammenbeißen mussten, um ihren Weg weiterzugehen. Das war sicher nicht leicht für sie gewesen. Es war auch ein Grund dafür, dass Tilda jetzt nichts ferner lag, als ihnen mit ihren Beschwerden die Ohren voll zu heulen. Von ihnen hatte sie gelernt, dass es wichtig war, sich nicht gehen zu lassen und Haltung zu bewahren.

Auch jetzt, mehr als ein Jahr nach ihrem Eintritt in den Ruhestand, wirkten Brigitte und Thomas Johannsen noch immer so, als würden sie mitten im Berufsleben stehen. Sie ließen keine Nachlässigkeiten in ihrem Leben zu, weder bei Ihrer Kleidung, noch bei allen anderen Lebensgewohnheiten. Sie standen immer noch um sechs Uhr morgens auf. So, als müssten sie zur Arbeit in die Bank. Disziplin und die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen waren wichtige Dinge, die ihre Eltern ihr und ihrer Schwester von Beginn an mit auf den Weg gegeben hatten. Tilda und Doro hatten das wie selbstverständlich in ihre Lebensphilosophien aufgenommen. Dass es nicht selbstverständlich war, und dass viele andere Menschen damit Schwierigkeiten hatten, hatte Tilda erst viel später bemerkt. Da war sie bereits erwachsen gewesen.

Jetzt, wo sie darüber nachdachte, war ihr alles wieder vollständig gegenwärtig. Vor zwanzig Jahren, als ihre ältere Schwester Dorothea und sie selbst noch klein waren, waren ihre Eltern wegen der besseren beruflichen Perspektive aus Klein Trebbow in Mecklenburg nach Hamburg umgezogen. Das war ein großer Einschnitt für alle gewesen. Draußen auf dem Lande hatten sie ein komplett anderes Leben geführt, als später in der Stadt. Tilda erinnerte sich noch genau an ihre ersten Lebensjahre in Mecklenburg voll von unendlicher Freiheit inmitten von Wiesen, Wäldern, Feldern und dem Ufer des Sees. Sie erinnerte sich an das alte, gemütliche Häuschen, dass ihre Mutter von Omi geerbt hatte und an dem ihr Vater Thomas unentwegt gebaut und repariert hatte. Es war nie so richtig fertig geworden. Damals, als sie von Klein Trebbow weggezogen waren, war die Terrasse immer noch im Rohbau gewesen und die Holzverschalung am Giebel war noch immer nicht gestrichen. Im Flur fehlte noch die Tapete, genauso wie das Waschbecken in der Gästetoilette. Und dennoch war dieses Haus für sie und ihre Schwester das schönste Häuschen auf der ganzen Welt gewesen. Tilda erinnerte sich auch an die scheinbar endlosen Sommer und an den kleinen Kindergarten mit den fünfundzwanzig Kindern, die in zwei Gruppen aufgeteilt waren. In jeder Gruppe waren Kinder unterschiedlichen Alters gewesen. Sie waren zwischen einigen Monaten und sechs Jahren alt. Und sie erinnerte sich an die beiden Erzieherinnen, die Frau Brathering und Fräulein Mielke hießen. Jeden einzelnen Tag, den sie im Gedächtnis behalten hatte, hatten die beiden Frauen versucht, zum schönsten ihrer gesamten Kindheit zu machen. Wenn es auf dieser Welt ein Kinderparadies gab, dann war es sicher der Kindergarten von Klein Trebbow gewesen.

Frau Brathering war im letzten Jahr im Alter von nur 48 Jahren an Eierstock-Krebs gestorben. Alles war ganz schnell gegangen. Als Tilda die Nachricht darüber erhielt war alles schon vorbei gewesen. Sie hatte sich wie vor den Kopf gestoßen gefühlt. War ihr doch, als hätte sie gerade gestern noch als kleines Mädchen auf ihrem Schoß gesessen. In Tildas Erinnerung war Frau Brathering immer noch die junge Frau mit der Schafwoll-Strickjacke und der randlosen Brille, die sie meist nach oben ins Haar geschoben hatte. Sie hatte immer so gesund ausgesehen. Sie hatte die roten Wangen einer Landfrau und sprudelte nur so über vor guter Laune. Sie trug ihren dicken, brauen Zopf meist zu einem Dutt zusammengesteckt, damit er sie nicht störte. In Tildas Erinnerung war sie alterslos geblieben und noch genauso jung wie damals, als sie sie zum letzten Mal gesehen hatte. Tilda fragte sich, warum es ihrer Erzieherin nicht gelungen war, den Krebs abzuschütteln. Sie war gestorben, obwohl sie, wie Tilda später erfuhr, alle üblichen Therapien ausgeschöpft hatte.

Doro war es gewesen, die ihr die schreckliche Nachricht überbracht hatte. Ihre Schwester hatte immer noch gute Kontakte nach Klein Trebbow. Vielleicht kam das daher, dass sie, die seit über zwölf Jahren schon mit Mann und Kindern in den USA lebte und so weit weg von Deutschland war, die alten Freundschaften aus der Kinderzeit viel intensiver pflegte. Ihre Schwester hatte, so lange sich Tilda erinnern konnte, in Klein Trebbow immer mit ihrer Kinderfreundin Sandra Kontakt gehalten. Sandra war zu Doros Außenposten in der deutschen Pampa geworden. Mit ihr mailte oder telefonierte sie jede Woche. Auch Sandra hatte inzwischen, so wie Doro selbst, einen Ehemann und drei Kinder. Tilda hatte ein Foto von ihr gesehen und war erstaunt darüber gewesen, dass Sandra ihrer Mutter inzwischen zum Verwechseln ähnlich sah. Sie schien glücklich mit dem örtlichen Klempner verheiratet zu sein und wie es sich gehörte war sie bodenständig im Dorf geblieben. Jedenfalls war Sandra immer bestens über alles informiert. Es mochte sein, dass nicht ganz so wohlmeinende Stimmen aus dem Dorf ihr hinter vorgehaltener Hand den Spitznamen „Die Dorfzeitung“ gegeben hatten. Aber mit der Dorfzeitung befreundet zu sein, garantierte Doro selbst über eine Entfernung von mehreren tausend Kilometern hinweg, immer präzise auf dem letzten Stand der Dinge zu sein, die sich in Klein Trebbow und Umgebung ereigneten.

Tilda fand es wirklich erstaunlich, wie präsent das alles noch in ihrer Erinnerung war. Jetzt, wo sie daran dachte, hätte sie sogar die Namen aller Kinder, mit denen sie gemeinsam in den Kindergarten gegangen war, aufzählen können. Allerdings hatte sie im Gegensatz zu ihrer Schwester nach dem Umzug recht schnell den Kontakt verloren. Vielleicht hatte das daran gelegen, dass sie in der großen Stadt schnell neue Freundinnen gefunden hatte und auch daran, dass sie in Klein Trebbow nicht so eine Busenfreundin zurückgelassen hatte wie ihre Schwester. Tilda hatte überhaupt keine Ahnung davon, was aus den meisten anderen von damals geworden war. Trotzdem war die Erinnerung an diesen wundervollen Kindergarten und das Landleben in den Jahren danach kaum verblasst. Wie oft hatten sie als Kinder zusammen mit den Erzieherinnen Nudeln mit Tomatensoße in der winzigen Küche des Kindergartens gekocht? Wie oft hatten sie Gemüse für einen Salat klein geschnitten, das sie aus den elterlichen Gärten mitgebracht hatten? Wie oft hatten sie mit Fräulein Mielke die Vogelhäuschen auf dem Kindergartengelände mit Vogelfutter gefüllt, aus Perlen Ketten und Untersetzer gefädelt, Bäumchen gepflanzt und sogar einmal eine verletzte Amsel aufgepäppelt? Wie oft hatten sie gemeinsam aus Ästen, Zweigen und Moos Hütten im nahen Wald gebaut oder hatten dort herumgetobt und verstecken gespielt? Tilda war sich sicher, dass dieser wunderbare Land-Kindergarten mit seinen Freiheiten der Beste war, das einem Kind zu Beginn seines Erdenlebens passieren konnte. Inzwischen war er geschlossen. Es gab nicht mehr genug Kinder im Dorf.

Jetzt wo Tilda erwachsen war, in Hamburg lebte und selbst an einer Schule arbeitete, kannte sie auch den Erlebnishorizont der Stadtkinder. Bestimmt hatten die meisten von ihnen keine Ahnung davon, wie man am schnellsten auf einen Baum klettern konnte oder wie man in eine Schlammpfütze hüpfen musste, damit alle anderen in der Nähe voll Schlamm waren, man selbst aber sauber blieb. Bestimmt hatten sie im Herbst noch nie Säcke voller Eicheln und Kastanien für die Tiere des Waldes gesammelt. Und sie hatten sie anschließend auch nicht mit einem Handwagen zum Forsthaus im Wald gezogen, um anschließend gemeinsam mit dem alten Förster am Lagerfeuer Stockbrot zu backen.

Sicher, es gab Kinos in der Stadt, Spielplätze, Hüpfburgen und Einkaufszentren und die Stadtkinder kannten sich oft besser mit ihren Smartphones aus. Sie konnten schon frühzeitig ihre Fahrkarten für Bus und Bahn allein am Automaten lösen. Es war wirklich schwierig, das eine mit dem anderen zu vergleichen. Es fühlte sich für Tilda an, als würde sie Äpfel mit Birnen vergleichen wollen. Welches der Stadtkinder hatte schon gelernt, Frösche zu fangen, ohne sie zu verletzen und welches konnte die Vögel des Waldes an ihrem Ruf unterscheiden? Die Stadtkinder konnten Automarken voneinander unterscheiden. Tilda war irgendwann in der Stadt klar geworden, dass die Wenigsten von diesen Kindern jemals diese Art unendlicher Freiheit kennenlernen würden, deren Magie sie und ihre Schwester unauslöschlich mit hinüber in ihr Erwachsenenleben genommen hatten. Auch Doro, mit der sie später gemeinsam mit den anderen Dorfkindern in die 15 Busminuten entfernte kleine Schule in Lankow ging, war nach dem Umzug wochenlang tief erschüttert gewesen. Hatte sie doch alle ihre Freundinnen in Klein Trebbow zurücklassen müssen. Tilda hatte diesen Umstand ebenfalls als ein wahrhaftiges Drama in Erinnerung mit Sturzbächen von Tränen und mit Fieber, Bauchschmerzen und Schüttelfrost. Damals war ihnen beiden noch nicht klar gewesen, dass es in ihrem Leben nie wieder so werden würde, wie es gewesen war. Und doch war die Hoffnung auf ein Leben auf dem Lande auch später irgendwo immer tief in ihnen geblieben.

Das Häuschen ihrer Großmutter hatten ihre Eltern damals verkaufen müssen. Sie hätten sich von Hamburg aus nicht darum kümmern können. Das zumindest hatten sie ihren Töchtern erklärt. Dafür waren sie in eine schicke Wohnung mit Balkon in der Stadt gezogen. Die Mädchen hatten ihre eigenen Zimmer bekommen mit rosa Tapeten und neue Fahrräder und irgendwann verblasste auch die Erinnerung an Klein Trebbow ein wenig. Der neue Alltag hatte das Heimweh weggewischt. Das Häuschen von Omi gab es inzwischen nicht mehr. Es war abgerissen worden. Der Käufer von damals hatte es zugrunde renoviert. Es war nicht mehr zu retten gewesen. Ihre Eltern Thomas und Brigitte hatten nie darüber gesprochen. Jetzt, wo sie im Ruhestand waren, begannen sie wieder nach einer neuen Bleibe in Klein Trebbow Ausschau zu halten. Sie wollten zurück nach Hause, zurück auf´s Land, woher sie gekommen waren. Anfangs fand Tilda diesen Gedanken verrückt, aber je länger sie darüber nachdachte, desto mehr konnte sie ihre Eltern inzwischen verstehen.

Letztendlich hatte es die ganze Familie irgendwann mehr oder weniger geschafft, das Heimweh abzustreifen. Die Kinder mussten der Tatsache ins Auge sehen, dass die berufliche Karriere ihren Eltern wichtiger war, als ihre Freiheiten auf dem Lande. Es wurde in der Folgezeit nicht mehr viel darüber gesprochen. Wohl auch, um nicht ständig alte Wunden aufzureißen. Die Stadt Hamburg war voller Leben und Aktivitäten und entschädigte sie auf ihre Art für den Verlust der alten Heimat. Diese Stadt war kein Ort, um unglücklich zu sein. Doro und Tilda hatten schnell neue Freunde gefunden. Und ihre Eltern hatten sich nach Kräften bemüht, mit ihnen die neue Umgebung zu erkunden. Tilda erinnerte sich noch an ihre gemeinsamen Stadt-Erkundungstouren an den Wochenenden, die sie eine lange Zeit über regelmäßig unternommen hatten. Meist endeten diese Touren dann im Kino, im Zoo oder in einem Fastfood-Restaurant. Die Stadt wurde in ihren Augen bald zum großen, neuen Abenteuer. Obwohl Tilda und ihre Schwester immer noch Heimweh hatten und nach wie vor still ihrer verlorenen Mecklenburger Freiheit hinterhertrauerten, konnten sie sich bald nicht mehr wirklich vorstellen, je wieder so weit draußen auf dem Land zu wohnen. Dort, wo nur viermal am Tag ein Bus in die nächste Stadt fuhr und wo man ohne Auto vollkommen aufgeschmissen war. Aus zwei kleinen Landeiern waren zwei Stadtkinder geworden. Doch die Sehnsucht nach der alten Heimat war nie ganz weggegangen.

Jetzt, nach über zwanzig Jahren, verkündete Tildas Mutter am Telefon erneut, wie sehr sie das Landleben vermissen würde. Genau genommen war es noch nicht einmal einen Monat her, dass ihre Eltern sie und Ludwig beim gemeinsamen Kaffeetrinken in ihrem Wohnzimmer mit der Tatsache überrascht hatten, dass sie wieder zurück nach Klein Trebbow zu wollen. „Alles hat seine Zeit“, hatte ihr Vater Thomas an diesem Nachmittag gesagt und dabei merkwürdig vor sich hingelächelt. „Der Lebensabschnitt Hamburg nähert sich für uns dem Ende. Es ist einfach so.“ Für Tilda kam die Idee ihrer Eltern vollkommen überraschend. Natürlich konnte sie die beiden irgendwie verstehen. Inzwischen sah es tatsächlich so aus, als würden sie dort ein kleines Häuschen in einer neuen Wohnsiedlung kaufen können. Das Haus war noch im Bau und alles war noch in der Schwebe. Sandra, Doros Außenposten in Klein Trebbow, hatte ganze Arbeit geleistet und alles, soweit möglich, schon in die Wege geleitet. Wahrscheinlich war es nicht mehr als eine Kleinigkeit für sie gewesen. Sie hatte ihrem Mann, dem Klempner Bodo mit den Segelohren Bescheid gesagt, der hatte seinem Chef Bescheid gesagt, der wiederum hatte dem Investor Bescheid gesagt und schon war der Deal perfekt gewesen. Tilda fand noch immer nicht, dass es eine gute Idee war, ihre Eltern im Alter so weit entfernt zu wissen. Es gab keinen Arzt im Dorf, keine Apotheke und keinen Supermarkt in der Nähe, noch nicht einmal im Nachbardorf.

Aber verstehen konnte sie ihre Eltern. Selbstverständlich waren es keine rationalen Gründe, die sie wieder nach Klein Trebbow zurückzogen. Jetzt waren die beiden noch fit und gesund und jetzt würde es auch noch kein Problem geben. Doch wie würde das in zehn Jahren aussehen? Wie würde das in zwanzig Jahren aussehen? Während Tilda dem Monolog ihrer Mutter am Telefon zuhörte, sah sie nachdenklich aus dem Fenster. Ein bisschen bedrohlich wirkte die Perspektive ihres Umzuges schon auf sie. Aber vielleicht kam alles doch noch ganz anders. Vielleicht würden es sich die beiden doch noch überlegen. Tilda schob die Gedanken weg. Fest stand, dass ihre Schwester jetzt in Arizona lebte und ihr später in dieser Hinsicht keine Unterstützung geben konnte. Sie würde die Entscheidung ihrer Eltern voraussichtlich irgendwann allein tragen müssen.

Es war nicht das erste Mal, dass sie ihre um sechs Jahre ältere Schwester im Stillen beneidete. Doro hatte vor beinahe dreizehn Jahren Sam geheiratet und war zu ihm gezogen. Sam war Amerikaner und jetzt lebte sie mit ihm und ihren drei gemeinsamen Kindern Gregory, Gesine und Gustav in Scottsdale/ Arizona. Dort waren Sam und sie inzwischen die Inhaber der gutgehenden Eisdiele „Dicken´s Creamery“ geworden, die sie vor gut zwei Jahren von Sams Eltern übernommen hatten. „Dicken´s Creamery“ war als regionaler Geheimtipp inzwischen in vielen Reiseführern aufgeführt, was den beiden einen enormen Gästezustrom und viel Arbeit bescherte. Besonders an den Wochenenden war es im Geschäft voll, wenn sich zu den Touristen auch noch die einheimischen Gäste hinzugesellten. Trotzdem gab es zwischen Tilda und ihrer Schwester ein heiliges Ritual, das darin bestand, jeden Samstagnachmittag zur gleichen Zeit miteinander zu telefonierten. Das war bei Doro durch die acht Stunden Zeitverschiebung dann vormittags, so dass sie noch zu Hause war und nicht im Geschäft stand. Außerdem hatten sie sich beide geschworen, sich so oft wie möglich zu besuchen. Solange Tilda noch studiert hatte, war das auch kein Problem gewesen, wenn sie von der finanziellen Seite einmal absah. Manchmal hatte sie sich das Geld für die Flüge bei ihren Eltern borgen müssen. In Sottsdale hatte ihre Schwester es ihr dann jedes Mal zurückgegeben, auch wenn sie das nie gewollt hatte.

Jetzt, seitdem Tilda als Lehrerin arbeitete und mit Ludwig zusammenwohnte, waren Aufenthalte bei Doro und ihrer Familie in Scottsdale für sie viel schwerer zu organisieren. In den letzten 5 Jahren hatte es deshalb irgendwie nie geklappt, zumal Doro und Sam wegen der Übernahme des Geschäftes auch nicht nach Deutschland gekommen waren. Tilda fand das schlimm. Sie fand es auch schlimm, dass sie in ihrer Beziehung mit Ludwig ihre eigenen Interessen nach und nach immer weniger verfolgt hatte. Und er war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, als dass ihm das aufgefallen wäre. Vielleicht war es ihm auch aufgefallen, aber er hatte nichts gesagt, weil es ihm so viel besser gefiel. Gerade neulich hatte Tilda sich wieder einmal vorgenommen, sich von einigen Gewohnheiten ihrer Beziehung, die sie lähmten, zu befreien. Ludwig konnte schließlich auch einen Teil der Aufgaben übernehmen, die erledigt werden mussten. Er übernahm fast nichts und Tilda vermutete, dass er sich sträuben würde oder wenigstens versuchen würde zu diskutieren, wenn sie ihm ihre Pläne darlegen würde. Trotzdem hatte sie sich fest vorgenommen, nicht einzuknicken. Merkwürdigerweise schien er der Auffassung zu sein, dass für sie als Frau die Liebe zur Hausarbeit automatisch angeboren war.

Ludwig hatte in dieser Hinsicht eine sehr konservative Erziehung genossen. Seine Mutter war immer Hausfrau gewesen, hatte nie gearbeitet und sich um alle häuslichen Belange allein gekümmert, während sein Vater als Pharmavertreter das Geld für die Familie verdiente und viel unterwegs war. Nun verlangte Ludwig von Tilda unausgesprochener Weise das gleiche, obwohl sie beruflich genauso eingespannt war wie er. Er begründete das damit, dass er keine Zeit dafür hätte, sich um den Haushalt zu kümmern. Das Thema hatte sich zwischen ihnen bereits zu einem ständigen Streitpunkt entwickelt. Auch für Reisen in die USA wollte sich Ludwig nicht die Zeit nehmen, weil ihn das Land, wie er immer behauptete, nicht interessieren würde. Das war jedoch nur die halbe Wahrheit. Der Hauptgrund war wohl vielmehr der, wie Tilda inzwischen herausgefunden hatte, dass er unter Flugangst litt und sich den Stress eines Transatlantik-Fluges nicht zutraute. Natürlich war Flugangst „unmännlich“ und deshalb hatte er sie auch niemals zugegeben. Er verbarg seine Flugangst in letzter Zeit durchaus erfolgreich damit, dass er es inzwischen schaffte, die Kurzstreckenflüge von Hamburg nach München zu seinen Eltern mit äußerlicher Gelassenheit zu ertragen. Aber Tilda hatte ihn durchschaut. Vermutlich würde er sich niemals auf einen Langstreckenflug einlassen.

Ludwigs Eltern in München schienen ohnehin argwöhnisch darüber Buch zu führen, wie häufig ihr geliebter Sohn bei ihnen erschien. Tilda hatte sich wirklich nach Kräften bemüht, ein gutes Verhältnis zu ihnen aufzubauen, aber es war ihr nicht so ganz geglückt. Die Beziehung zu seinen Eltern blieb angespannt. Tilda konnte die beiden einfach nicht gern haben, obwohl sie es wirklich versucht hatte. Nach den sechs Jahren, in denen sie nun schon mit Ludwig zusammen war, empfand sie seine Eltern nach wie vor als Diktatoren, als vollkommen selbstbezogene Menschen, denen sie es niemals recht machen konnte. Wahrscheinlich war es das elterliche Vorbild gewesen, das Ludwig so egoistisch werden ließ. Er hatte dieses Familienerbe mit in sein Leben genommen. In letzter Zeit hatte Tilda immer öfter versucht, sich vor den Besuchen in München zu drücken. Leider war ihr das nur mit mäßigem Erfolg gelungen.

Während Tilda das dachte, war ihre Mutter gerade wortreich dabei, sich über den Autounfall ihrer neuen Nachbarin auszulassen, die dabei zum Glück nicht verletzt worden war. Tilda kannte die neue Nachbarin ihrer Eltern überhaupt nicht. Jetzt sah sie ihre Zeit gekommen. Sie holte tief Luft und räusperte sich vielsagend. „Mam!“ unterbrach sie ihre Mutter. „Ich muss dir auch noch was Wichtiges sagen. Ich war heute beim MRT.“ Ihre Mutter unterbrach sie sofort mit entsetzter Stimme: „Aber Kind……“ Tilda ließ sie jedoch nicht zu Wort kommen und fuhr stattdessen fort: „Mir war doch oft so schlecht in letzter Zeit. Weißt Du noch? Ostern hab ich´s euch erzählt.“ Es folgte eine kleine Pause und ein Knacken am anderen Ende der Leitung. Darauf ließ sich Tildas Mutter Brigitte vorwurfsvoll vernehmen: „Aber Kind! Das ist doch alles schon wieder gut gewesen! Du hast doch gar nichts mehr davon gesagt!“ Tilda erwiderte einlenkend: „Ja, Mam. Es ist nur eine reine Vorsichtsmaßnahme, weil die Ärzte nichts finden konnten. Ich wollte es euch bloß sagen, nichts weiter. Sie werden bestimmt nichts finden. Das hoffe ich zumindest. Jetzt mach dir bitte keine Sorgen deshalb!“ Tilda wollte ihre Mutter auf keinen Fall beunruhigen, aber sie fühlte, dass sie sie wenigstens von den Tatsachen in Kenntnis setzen musste. Sie kannte ihre Mutter. In dieser Hinsicht war sie überaus empfindlich.

So ganz und gar traute Brigitte ihrer Tochter offenbar nicht über den Weg. Vom anderen Ende der Leitung her kam ein strenges: „Aber Kind! Wir haben doch so viele Ärzte im Freundeskreis. Da geh doch erst einmal dahin!“ Es folgte die Aufzählung diverser Namen und Titel. Es war eine wirklich erstaunliche Anzahl von Menschen, die ihrer Mutter zufolge als Diagnostiker und Therapeuten schier übermenschliche Fähigkeiten und einen Röntgenblick haben mussten. Tilda hörte ihr geduldig zu und ließ sie ausreden. Dann sagte sie entschlossen: „Mam, du weißt ja, ich bin nicht so der Arztgänger. Kommt von alleine, geht von alleine. Wie Omi schon immer sagte. Und für Tabletten bin ich auch nicht. Das weißt du doch!“ Tildas Mutter Brigitte schnaufte aufgebracht am anderen Ende der Leitung und erwiderte scharf: „Manchmal sollte man aber trotzdem Tabletten nehmen! Manchmal geht es einfach nicht anders.“ Tilda merkte, wie sehr sie sich persönlich angegriffen fühlte, weil sie schon seit Jahren ihre diversen Rheuma-Mittelchen in sich hineinschluckte. Tilda bemühte sich sofort um eine Entschärfung der Situation. Sie wusste, dass ihre Mutter in dieser Hinsicht sehr empfindlich war.

Nach dem Telefonat fühlte sie sich einerseits erleichtert, aber andererseits auch beunruhigt bei dem Gedanken daran, was möglicherweise in ihrem Befund stehen könnte. Das Gespräch mit ihrer Mutter hatte alles wieder aufgewühlt. Als kurze Zeit später Ludwig nach Hause kam, verdrängte sie die dunklen Gedanken. Das Wichtigste war letztendlich, dass sie bei dem Termin am nächsten Tag keine schlimmen Nachrichten bekam. Sofort erfasste sie erneute Unruhe, die sie wie eine große Welle packte und mit sich fort zu reißen drohte. Tilda fühlte sich ruhelos und nervös. Sie war mit ihren Gedanken weit weg und gar nicht bei der Sache. Als sie für Ludwig und sich wenig später einen Kaffee aufbrühen wollte, goss sie die Milch aus dem Tetrapack direkt über das Kaffeepulver, das in der Kaffeepresse eigentlich auf kochendes Wasser wartete. Ludwig saß derweil im Wohnzimmer und merkte davon nichts. Sie war heilfroh darüber. Er hätte sie vermutlich die nächsten zwei Jahre damit aufgezogen. Nein, von Ludwig konnte sie keine wirkliche Unterstützung erhoffen. Er konnte sich kaum in andere Menschen hineinversetzen. Das hatte Tilda auch früher schon festgestellt. Außerdem war er ohnehin schon immer der Meinung gewesen, dass man sich um „ungelegte Eier“ keine Sorgen machen sollte. Und solange es keinen schlimmen Befund gab, brauchte in seinen Augen also niemand die Pferde scheu zu machen, brauchte man seiner Ansicht nach noch nicht einmal einen Gedanken daran verschwenden.

Spät am Abend rief Conny an. Während Tilda mit ihr telefonierte, hatte sie erneut Schwierigkeiten, ihre Fassung zu wahren. Im Grunde genommen war nichts anderes passiert, als dass Conny sich schockiert darüber geäußert hatte, dass Tilda wegen der Übelkeitsgeschichte und wegen ihrer gelben Augen sofort durch´s MRT geschoben worden war. Für sie war das überhaupt kein gutes Zeichen, sondern vielmehr ein deutliches Alarmsignal. Nachdem Conny anschließend auch noch bekundet hatte, dass sie es nicht normal fand, wenn ein Patient nach einer derartigen Untersuchung bereits am nächsten Tag zur Auswertung einbestellt wurde, war es mit Tildas Fassung endgültig vorbei gewesen. Sofort war der Gedanke wieder da, dass die Ärzte im Krankenhaus womöglich schon auf den ersten Blick etwas Furchtbares bei ihr gesehen hatten. Sie war mit einem Male wieder erfüllt von schlimmen Befürchtungen, die sie doch schon im Griff zu haben glaubte. Entschlossen wischte sie sich die Tränen weg, die sie zu unterdrücken versuchte, während sie mit Conny sprach. Sie zitterte und versuchte vergeblich, sich zu beruhigen. Ihr Hals war wie zugeschnürt. Conny am anderen Ende der Leitung beschwor sie, sich sofort nach der Auswertung am nächsten Tag bei ihr zu melden. Ihre Stimme klang außerordentlich besorgt. So hatte Tilda ihre Freundin noch nie gehört.

Tilda musste anschließend hilflos zur Kenntnis nehmen, wie sie immer ängstlicher wurde. Je länger sie mit der aufgeregten Conny sprach, desto mehr kam Panik in ihr auf. Unter einem fadenscheinigen Vorwand beendete sie schließlich das Gespräch. Stumm legte sie das Telefon zur Seite und setzte sich mit leerem Blick auf ihr Bett im Schlafzimmer, um sich einen Moment lang zu sammeln. Im Badezimmer duschte Ludwig. Sie konnte das Wasser leise in der Wand rauschen hören. Ihr blieb nicht lange Zeit, um zu grübeln. Auf keinen Fall wollte sie, dass er sah, dass sie geweint hatte. Wegen ungelegten Eiern weinte man nicht. Sie kannte seine Meinung. Es war wirklich zum Haare-Raufen. Je mehr Tilda sich darum bemühte, sich zu beruhigen, desto weniger wollte es ihr gelingen.

Minuten später stand Ludwig im Schlafzimmer. Vorwurfsvoll sah er sie an, während er sagte: „Ach hier bist du! Hast du geweint?“ Er schüttelte verständnislos den Kopf, während er fortfuhr: „Schatz, mach dir doch bloß keine Sorgen um ungelegte Eier! Du wirst doch sehen, was morgen dabei herauskommt. Ich würde mir doch nicht schon vorher das Leben schwer machen. Du kannst doch dann immer noch entscheiden, was du machen willst. Und vor allem kannst du nix ändern. Ich versteh´ dich nicht!“ Als seine Worte Tildas Zustand nicht augenblicklich besserten, fügte er beschwichtigend hinzu: „Guck mal, die moderne Medizin kann heutzutage doch schon so viel. Es gibt doch inzwischen gegen alles was. Warte doch einfach erstmal ab was sie dir sagen!“ Und einen Moment später fügte er hinzu: „Dass ihr Frauen immer gleich alles so furchtbar dramatisieren müsst!“ Er berührte sie leicht an der Schulter und tätschelte ihre linke Wange. Dann ging er hinaus. Er schaltete das Licht in der Küche ein und rief ungeduldig: „Was ist mit Abendbrot? Willst du auch was essen, Schatz?“

Tilda zuckte zusammen. Es gab nichts, was sie jetzt weniger wollte, als essen. Ludwig schien ihr Kummer jedenfalls nicht den Appetit verschlagen zu haben. Sie hörte, wie er mit Tellern und Besteck klapperte und die Kühlschranktür öffnete und wieder schloss. Tilda ließ sich im halbdunklen Zimmer, in das nur ein schmaler, kleiner Lichtkegel durch die angelehnte Tür aus dem Flur hereinfiel, rücklings auf ihr Bett fallen und schloss die brennenden Augen. Sie hatte einfach nur noch Angst vor dem, was da auf sie zukam. Gleich morgen, wenn sie die Auswertung hinter sich hatte, würde sie endlich mit ihrer Schwester telefonieren. Die wollte sie auf keinen Fall schon vorher verrückt machen. Ihr sagte sie lieber jetzt noch gar nichts. Doro würde im Südwesten der USA hocken und sich am Ende unnötig Sorgen machen. Tilda wusste, dass ihre Schwester verstehen würde, wie sie sich jetzt fühlte. Allein schon dieses Wissen war Grund genug, sie jetzt nicht anzurufen.

Bisher hatte Tilda sich sehnlichst gewünscht, der Tag der Auswertung würde niemals kommen. Jetzt war ihr plötzlich klar, dass sie möglichst bald Gewissheit brauchte. Irgendwie schien ihre Angst von Stunde zu Stunde größer zu werden. Das zu fühlen war unerträglich. Sie wollte nicht mehr warten. Sie brauchte endlich Antworten. Es war falsch, die Auswertung in weite Ferne zu wünschen, den Kopf in den Sand zu stecken. Tilda fühlte, dass sie diesen Zustand der inneren Anspannung kaum noch ertragen konnte.

Ein Gedanke durchzuckte sie plötzlich wie ein Blitz. Sie erinnerte sich wieder an das Gespräch mit einer Kollegin aus der Nachbarschule, das schon Wochen zurücklag. Die andere Frau hatte auch eine Untersuchung im MRT über sich ergehen lassen müssen, war aber zur Auswertung etliche Tage später zu ihrem Hausarzt einbestellt worden, dem der Befund zugeschickt worden war. Eine Feuerwalze schien in diesem Moment über Tildas Körper zu rollen. Sie lag wie erstarrt da und hatte das Gefühl, als würde ihr Herz vor Schreck stehenbleiben, während ihr Gehirn auf Hochtouren arbeitete. Der Kollegin wurde definitiv von ihrem Hausarzt erst Tage später das Ergebnis ihrer Untersuchung mitgeteilt. Sie konnte sich genau erinnern. Und sie selbst sollte am nächsten Tag ins Krankenhaus kommen? Tilda konnte es drehen und wenden, wie sie wollte. Auf ein gutes Ergebnis deutete das leider überhaupt nicht hin.

Augenblicklich verspürte sie den Drang aufspringen, um mit Ludwig darüber zu sprechen. Doch stattdessen blieb sie regungslos liegen. Sie war unfähig, aufzustehen. Sie empfand ihren Körper schwer wie einen Stein und fühlte nur noch Watte in ihrem Kopf. Ludwig dagegen saß in der Küche und aß in aller Seelenruhe zu Abend.

Vielleicht war es nicht gut, ihn überhaupt damit zu behelligen. Tilda wusste im Grunde gut genug, dass er kein Verständnis für ihre „irrationalen“ Ängste haben würde. Vermutlich würde er einfach wieder irgendetwas Beschwichtigendes zu ihr sagen. Solche Worte halfen ihr nicht weiter. In ihr verstärkte sich die Wut darüber, dass Ludwig so ein Holzklotz war. Während sie vor Angst fast verging, hatte er nichts Tröstlicheres für sie, als ihr zu sagen, dass sie sich nicht aufregen solle, um sich dann seelenruhig etwas zu Essen zu machen. Wenn es ihn selbst betroffen hätte, dann wäre seine Einstellung sicher eine komplett andere gewesen. Tilda war überzeugt davon. In dieser Hinsicht maß er schon immer mit zweierlei Maß.

Je länger Tilda so dalag, desto größer wurde ihre Enttäuschung über Ludwigs Verhalten. Sie konnte nur schwer mit dem Gefühl umgehen, dass sie ihm in Wahrheit gar nicht so wichtig war. Das war eine traurige und gleichzeitig erschreckende Erkenntnis. Natürlich würde Ludwig eine derartige Anschuldigung weit von sich weisen. Er würde sich unschuldig an den Pranger gestellt fühlen, sich mit Händen und Füßen dagegen wehren. Natürlich war er sensibel! Natürlich, aber leider nur, wenn es um ihn selbst ging.

In dieser Schärfe konnte Tilda das bisher nur noch nie sehen. Möglicherweise wollte sie das auch gar nicht. Sie war sich sicher, dass sie es ihrem inneren Ausnahmezustand zu verdanken hatte, dass ihr ihre Situation jetzt so deutlich sichtbar wurde. Das erklärte auch, warum sie sich so hilflos und allein fühlte. Tilda setzte sich mühsam auf. Sie war innerlich aufgewühlt und tief verletzt. Es war eine Mischung von Erkenntnis, Enttäuschung und Angst, die ihr das Gefühl gab, dass Elektrizität durch ihren Körper fließen würde. Sie spürte ein merkwürdiges, unheilvolles Vibrieren in sich. Es summte und brummte in ihren Zellen wie in einem Bienenstock. Erstaunlicherweise war es ein Gefühl, das sie nur körperlich wahrnehmen konnte. Zu hören war nichts. Tilda ließ sich kraftlos zurück auf ihr Bett fallen, drehte sich zur Wand und schluchzte in ihr Kopfkissen.

Am Morgen des nächsten Tages war sie wieder viel zu früh wach. Sie hatte einmal mehr das Gefühl, überhaupt nicht geschlafen zu haben. Die ganze Nacht lang hatte sie sich von einer Seite auf die andere gewälzt. Mal war ihr zu warm, mal zu kalt gewesen und währenddessen rannten ihre Gedanken wild durcheinander. Sie war unfähig gewesen, dieses Chaos zu stoppen. Und was tat Ludwig? Er schlief und schnarchte neben ihr und ließ sich überhaupt dabei nicht stören. Ironisch schlussfolgerte Tilda daraus, dass er vermutlich so gut schlafen konnte, weil er so „einfühlsam“ war. Bei diesem Gedanken hätte sie auf der Stelle erneut losheulen können. Doch diesmal schaffte sie es, sich zu beherrschen.

Voller Befürchtungen sah sie den Tag auf sich zurollen. Sie hatte ein schreckliches Gefühl dabei. Wenn sie darüber nachdachte, dass ihre Welt um diese Uhrzeit am Tage zuvor noch weitgehend in Ordnung gewesen war, dann konnte sie sich das jetzt kaum noch vorstellen. Es schien ihr eine Ewigkeit lang her zu sein. Nichts war für sie mehr so, wie es gewesen war. Es war der Tag, an dem sich herausstellen würde, wie ihr Leben vermutlich weiterging. Unkonzentriert bereitete sie wenig später das Frühstück für Ludwig und für sich vor. Sie riss das Kalenderblatt vom Vortag ab. „Mit leerem Kopf nickt es sich leichter“, stand dort für diesen neuen Tag, den zwölften Mai, geschrieben.

Mit leerem Kopf nickt es sich leichter. Nur kurz trat dieser Kalenderspruch wieder in ihr Bewusstsein, als sie später im Wartezimmer des Krankenhauses saß und nervös versuchte, an nichts Schlimmes zu denken. Sie hatte das Zimmer Nr. 254 im Seitenflügel schnell gefunden. Es lag in unmittelbarer Nähe zu den MRT-Räumen. Auch die riesige grüne Krankenschwester mit dem Doppelkinn und der dunkelbraunen Betonfrisur von gestern hatte Tilda schon gesehen. Also war sie richtig dort. Sie war eine halbe Stunde zu früh gekommen. Sie war viel zu nervös gewesen, um zu Hause zu warten. Der Druck in ihrem Oberbauch war an diesem Morgen wieder besonders heftig gewesen und auch die Übelkeit quälte sie. Tilda versuchte, das mit ihrer großen Nervosität zu begründen. Tapfer hatte sie sich trotzdem zu Hause ein kleines Frühstück heruntergequält. Zum Glück verschonte sie der Durchfall sie an diesem Morgen.

Außer ihr war niemand im Raum. Sie war ganz allein im Wartezimmer. Das Durcheinander der Zeitschriften auf dem Tischchen in der Ecke und die Position der Stühle deuteten allerdings darauf hin, dass schon Patienten vor ihr dagewesen sein mussten.

Nachdem Ludwig zur Arbeit gefahren war, hatte sie es nicht mehr lange zu Hause ausgehalten. Es war zwar noch viel zu früh gewesen, aber sie war trotzdem schon aufgebrochen. Nun saß sie im Wartezimmer und hat das Gefühl, sich auf dem Weg zum Schafott zu befinden. Ihre Hände hatte sie unter ihre Oberschenkel geschoben, um sie etwas aufzuwärmen. Sie fühlten sich eiskalt an, wie erfroren. Dasselbe traf auch auf ihre Füße zu, obwohl sie extra ihre Halbstiefel angezogen hatte. Sie wurde einfach nicht warm. Normalerweise trug sie Mitte Mai keine Stiefel mehr. Aber seit dem Vortag fror sie unablässig. Es war keine Kälte, die von außen kam. Es war eine Kälte, die sich irgendwie aus ihrem Innern heraus Bahn brach. Sie war so intensiv und so anhaltend, dass sie ein Gefühl in Tilda verursachte, als wäre alles Leben in ihr zum Erliegen gekommen. Unbeweglich saß Tilda auf ihrem Wartezimmerstuhl direkt neben der Tür. Sie hatte sich ein großes buntes Seidentuch um den Hals geschlungen, das in deutlichem Kontrast zu ihrer schlichten weißen Bluse und zu ihrem fast ebenso weißen Gesicht stand. Damit fühlte sie sich wohler und war froh, es mitgenommen zu haben. Nervös drehte sie unablässig eine blonde Haarsträhne unterhalb ihres rechten Ohres um ihren Zeigefinger. Die Wartezeit wurde ihr zur Ewigkeit. Die große Uhr an der Wand, die so aussah, als gehörte sie eigentlich in einen Bahnhof, tickte unermüdlich vor sich hin und nur der rote Sekundenzeiger schien sich wirklich zu bewegen. Tilda fühlte sich wie in einer Art Zeit-Vakuum, seitdem sie sich im Schwesternzimmer gegenüber angemeldet hatte. Eine freundliche, dunkelhaarige Schwester mit osteuropäischem Akzent und hohen Wangenknochen hatte sie in Empfang genommen und sie in das Wartezimmer gegenüber geschickt. Vielleicht hatten alle schon vergessen, dass sie hier saß? Vielleicht war ihr Eintreffen irgendwie untergegangen und nun hockte sie hier und wartete und wartete? Die große Bahnhofsuhr an der Wand gegenüber tickte weiter mit stoischer Gelassenheit und zeigte erst 9.15 Uhr. Das war immer noch eine Viertelstunde zu früh. Tilda zwang sich, realistisch zu bleiben. Es gab überhaupt keinen Grund dazu anzunehmen, dass sie vergessen worden war.

Nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit, die wie die Uhr gegenüber zeigte nur zehn Minuten lang war, kam die riesige grüne Schwester hereingepoltert, indem sie die Tür aufriss und erneut den gesamten Türrahmen ausfüllte. Tilda fühlte sich gegen sie wie ein winziger, farbloser Zwerg. „Frau Johannsen? Kommen sie!“ polterte sie los wie ein Feldwebel. Tilda nickte nur stumm und erhob sich. Die Schwester stampfte vor ihr her in das Behandlungszimmer gegenüber.

Ein eisgrauer, sehr schlanker Arzt um die Fünfzig mit Knittern im Gesicht und einem weinroten Stethoskop um den Hals, betrat genau in diesem Moment ebenfalls das Behandlungszimmer von einer Seitentür aus. Er trug weiße Hosen und weiße Schuhe, dazu eine grüne OP-Jacke. Er streckte Tilda die Hand entgegen und stellte sich mit „Dr. Schnitzer, Onkologe. Guten Tag!“ vor. Dann wies er wortlos auf einen von zwei Stühlen, der dem seinen am Schreibtisch gegenüberstand. Er setzte sich ebenfalls und die grüne Riesenschwester legte eine Mappe vor ihn auf den Schreibtisch. Eine andere Krankenschwester mit ganz kurz geschnittenem, rotblondem Haar, rosafarbenem Kittel und einem bildhübschen Mädchengesicht schwebte herein, griff nach einer Mappe vom Seitenbord, warf einen Blick darauf und verschwand genauso lautlos mit ihr, wie sie gekommen war. Tilda fröstelte immer noch. Es war kalt im Zimmer. Die grüne Riesenschwester schien das auch so zu sehen. Bevor sie hinausging, schloss sie das angekippte Fenster mit einem so lauten Ruck, als wollte sie den Griff vom Beschlag abreißen. Danach schoss sich die Tür hinter ihr und sie war verschwunden. Dr. Schnitzer begann aufmerksam in der Akte vor sich zu blättern. An der Seite des Raumes befand sich eine Reihe großer, beleuchteter Milchglasscheiben, die offensichtlich zur Betrachtung von Patienten-Aufnahmen vorgesehen waren. Einen Augenblick lang dachte Tilda, sie würde ohnmächtig werden und vom Stuhl fallen. Sie konnte ihre Arme und Beine nicht mehr fühlen, hatte das Gefühl, nur noch aus einem riesigen Kopf zu bestehen. Der Arzt ihr gegenüber roch ein wenig nach Zigarettenrauch. Sie konnte es deutlich wahrnehmen. Ein Arzt, der rauchte. Tilda fand das merkwürdig. Dieser Mann dachte also auch, dass Rauchen keine Konsequenzen für ihn haben würde, so wie alle Raucher das taten. Dabei hätte er es an diesem Arbeitsplatz besser wissen müssen.

Tilda starrte auf sein Gesicht. Sie versuchte nervös, irgendetwas aus seiner Miene schlussfolgern zu können. Der Arzt schaute ernst, aber auch vollkommen unbeteiligt. Tilda wurde nicht schlau aus seinem Gesichtsausdruck. Sie schob die eiskalten Hände langsam wieder unter ihre Oberschenkel. Zum Glück konnte das unter dem Schreibtisch niemand sehen. Ganz plötzlich schien Dr. Schnitzer mit seinem Akten-Studium fertig zu sein und schaute sie durchdringend an. Seine Stimme klang freundlich, als er sagte: „Frau Johannsen, sie waren gestern bei uns zum MRT. Ich habe hier ihre Aufnahmen und die Auswertung des Befundes von meinen Kollegen. Da ist einiges im Argen bei Ihnen. Es besteht schneller Handlungsbedarf.“

Tilda erstarrte. Das waren genau die Worte, vor denen sie sich gefürchtet hatte. Ihr Alptraum schien wahr zu werden. Sie kämpfte einen Augenblick lang um ihre Fassung. Immer noch saß sie wie versteinert dem Arzt gegenüber und starrte ihn wortlos an. Der vertiefte sich nochmals in die Akte mit dem braunen Pappdeckel, blätterte vor und zurück und schloss dann den Aktendeckel. Er ließ seine Hände nebeneinander darauf liegen, so als wolle er den Inhalt damit schützen. Dann räusperte er sich und sagte: „Frau Johannsen, wir haben bei Ihnen ein Gewächs in der Bauchspeicheldrüse festgestellt. Genauer gesagt, einen großen Tumor und noch mehrere kleine, verdächtige Bereiche. Das könnten auch noch welche sein, die gerade heranwachsen. Das muss noch genauer untersucht werden. Aber das ist nicht alles. Wir haben außerdem Metastasen in ihrem Bauchfell gefunden. Das sind schlechte Nachrichten.“ Er schaute sie an, fischte aus der linken Brusttasche seiner grünen OP-Jacke eine Brille heraus und setzte sie sich auf. Er sah damit ganz anders aus. Dann fuhr er fort: „Wir müssen davon ausgehen, dass der Haupttumor in ihrer Bauchspeicheldrüse sitzt, und dass die anderen Tumore Metastasen davon sind. Herr Dr. Umlauf ist ihr Hausarzt?“ Er sah sie fragend an. Tilda nickte stumm. Der Arzt fuhr fort: „Dr. Umlauf hatte sie zu uns überwiesen wegen unklarer Bauchbeschwerden, Übelkeit, Durchfällen und Gewichtsabnahme. Richtig?“ Er sah sie wartend an. Außer einem stummen Nicken brachte Tilda nichts zustande. Sie öffnete und schloss ihren Mund wieder, ohne einen Ton gesagt zu haben. Der Arzt sah sie unbeteiligt an, obwohl seine Stimme ein wenig weicher zu klingen schien. „Haben sie Fragen zu ihrem Befund?“ Er wartete einen Moment lang. Als Tilda nichts sagte und nur hilflos den Kopf schüttelte, fuhr er fort: „Wir werden ihren Fall auf der nächsten Tumorkonferenz am kommenden Montag mit auf die Tagesordnung setzen. Eine Operation kommt in ihrem Falle nicht mehr in Frage. Wir werden voraussichtlich eine palliative Chemotherapie mit Gemcitabin machen, gegebenenfalls auch eine Radiotherapie. Das heißt Bestrahlung. Mehr können wir bei diesem Befund nicht mehr für sie tun. Ist das in Ihrem Sinne, Frau Johannsen?“ Er sah sie groß an und erwartete offensichtlich eine Antwort. „Ja.“ Presste Tilda leise hervor. Ihre Stimme klang fremd. Sie wollte noch etwas hinzufügen, ließ es dann aber. Erst jetzt realisierte sie, dass sie am ganzen Körper zitterte. Dr. Schnitzer machte einige Notizen in die Akte und erklärte Tilda noch irgendetwas über die nun angedachte Chemotherapie. Durch ihre innerliche Panik verstand sie kaum ein Wort von dem, was er sagte. Mit dem Satz: „Sonst noch Fragen?“ beendete er seinen Monolog. Tilda schüttelte stumm den Kopf. Der Arzt stand auf und wandte sich zum Gehen. Wie auf ein geheimes Signal hin erschien eine andere rosa Krankenschwester im Raum, die Tilda bis dahin noch nicht gesehen hatte. Sie begleitete sie hinaus. Dabei drückte sie ihr einen Brief in die Hand, der verschlossen war und sagte so freundlich, als wollte sie eine Pizza bestellen: „Ich bin Schwester Jennifer. Hier ist ihr Befund. Bitte melden sie sich in den nächsten Tagen bei ihrem Hausarzt und geben sie dort auch den Brief ab. Ab Besten gleich morgen oder übermorgen. Wir regeln dann alles über ihn. Auch, wann sie ihren Port für die Chemotherapie bekommen. Auf Wiedersehen! Wir sehen uns dann in einigen Tagen bei der Chemotherapie.“ Sie gab Tilda nicht die Hand, sondern eilte stattdessen nahezu geräuschlos den hellgrauen, wie nass glänzenden Krankenhausflur entlang. Das einzige, was noch von ihr zu vernehmen war, war ein leises Quietschen der Gummisohlen unter ihren Schuhen, das sich immer weiter entfernte.

Tilda steckte den Brief in ihre Handasche. In ihrem Kopf war vollkommene Leere. Da war nichts, an das sie gerade dachte, was sie gerade beschäftigte. Nichts, einfach gar nichts. Am liebsten wäre sie den Flur hinunter nach draußen ins Freie gerannt, um endlich wieder atmen zu können. Bauchspeicheldrüsen-Krebs. Das war es also! Sie kannte sich zwar nicht besonders gut aus, aber es war ihr klar, dass das eine der schlimmsten Krebsarten war. Ludwig hatte einen Kollegen gehabt, der daran erkrankt war. Er war innerhalb von wenigen Wochen gestorben. Er hatte Chemotherapie bekommen und Bestrahlungen. Tilda war vollkommen verängstigt. Wieviel Zeit blieb ihr noch? Sie hatte ganz vergessen, danach zu fragen. Dr. Schnitzer hatte auch nichts darüber gesagt. Oder hatte er doch? Draußen, im Freien, fühlte sie sich besser. Sie atmete einige Male ganz tief durch, um sich etwas zu beruhigen. Bauchspeicheldrüsenkrebs! Wieso hatte sie das bekommen? Was hatte sie falsch gemacht oder was war die Ursache dafür? Wie konnte sie, die doch immer so gesund lebte, überhaupt Krebs bekommen? Sie rauchte nicht, sie trank so gut wie nie Alkohol. Sie aß ihrer Ansicht nach hauptsächlich gesunde Sachen, achtete auf ihren Zuckerkonsum. Warum also? Tilda war wie vor den Kopf geschlagen.

Das war also der Grund dafür gewesen, dass sie sich seit Monaten so schlecht fühlte. Und je länger die Sache gedauert hatte, desto größer waren ihre Befürchtungen geworden. Ihre Befürchtungen, dass etwas Schlimmes dahinter steckte. Sie hatte zwar versucht, positiv zu denken, aber ihr Bauchgefühl hatte im Grunde schon seit Wochen Alarm geschlagen. Spätestens nach den fünf Kilo unfreiwilliger Gewichtsabnahme war ihr klar, dass vermutlich etwas Schlimmes dahinter steckte. Wieviel Zeit blieb ihr jetzt noch?

Sie nahm die Abkürzung durch den Park. Die Frühlingssonne schien vom blassen Himmel herab und wärmte schon ein wenig. Es war Tildas Lieblings-Jahreszeit, wenn die Natur nach dem langen norddeutschen Winter ganz allmählich wieder zum Leben erwachte. Sie fand, dass der Frühling das Allerbeste vom Jahr war.

Einige Bänke im Park waren jetzt, um die Mittagszeit, leer. Tilda setzte sich auf eine von ihnen. Sie fühlte ihr Herz bis zum Hals schlagen. Verzweifelt versuchte sie, ruhig zu bleiben. Ihr Blick glitt über die rot gepflasterten Wege zu den ersten, kleinen Blüten in den Rabatten, hinüber zu den Sträuchern in hellem Grün und den großen Eichen weiter hinten. War das ihr letzter Frühling? Würde es ihr letzter Sommer sein? Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Es war zweifellos die schlimmste Nachricht, die Tilda in ihrem bisherigen Leben je erhalten hatte. Wie sollte es jetzt nur weiter gehen? Wie eine riesige Flutwelle brach die Furcht vor dem, was jetzt auf sie wartete, über sie herein und riss sie erbarmungslos mit ins Bodenlose. Tilda lockerte den bunten Schal um ihren Hals, weil sie das Gefühl hatte, zu ersticken. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Ihr war kalt und heiß gleichzeitig. Als eine leichte Windböe kam, schloss sie die Augen. Ihr gesamter Körper bebte. Sie wollte nicht sterben.

Das Bewusstsein bestimmt das Sein. Dieser Satz tauchte plötzlich wie aus dem Nichts in ihrem Kopf auf. Es war diese Theorie, die sie für sehr überzeugend hielt, seit sie die Bücher von Rupert Sheldrake und seine Darstellungen zum morphogenetischen Feld gelesen hatte. Das hieß in letzter Konsequenz aber auch, dass ihr Bewusstsein und ihr Unterbewusstsein darüber entscheiden würden, ob ihr Körper die Krankheit besiegen konnte oder ob er daran zugrunde gehen würde. Es war zweifellos schwer, das eigene Bewusstsein wirklich dahin gehend zu programmieren, dass der Körper den Krebs überwinden konnte. Wenn sie doch nur eine Ahnung davon gehabt hätte, warum sie diesen Krebs bekommen hatte! Vielleicht hätte sie dann auch eine Idee gehabt, wie sie ihn wieder loswerden konnte. Tildas Kopf war bis zum Bersten angefüllt mit Zweifeln und Befürchtungen.

Eine junge Mutter spazierte mit ihrem Kinderwagen vorbei. Die fremde junge Frau lächelte ihr freundlich zu. Augenblicklich schossen Tilda erneut die Tränen in die Augen. Sie wollte auch immer eine Familie haben! Dafür war es jetzt wohl zu spät. Der Arzt hatte nicht gerade viel Hoffnung ausgestrahlt. Und wenn sie nun die Chemotherapie machen würde, die das Krankenhaus ihr anbot? Was würde das Gift in ihrem Körper dann anrichten? Nein, Chemotherapie war überhaupt nicht das, was Tilda sich vorgestellt hatte. Doch welche Alternativen hatte sie? Im Park war es nun ganz still. Nur weiter hinten fuhren zwei kleine Jungen beaufsichtigt von ihrem Vater mit kleinen Kinderrädern die Wege entlang. Ein Hund bellte. Niemand war in ihrer Nähe. Nur die Bäume rauschten leise und einige brummende Insekten machten sich neben der Bank an den ersten Blüten im Beet zu schaffen. Alles wirkte so entspannt, aber Tilda hatte überhaupt keinen Blick mehr dafür.

Um diese Zeit war sie normalerweise in der Schule und würde vermutlich jetzt, zur Mittagszeit, im Lehrerzimmer wie immer einen Tee mit den Kollegen trinken. Verwundert stellte sie fest, dass es ihr so vorkam, als sei sie schon ewig nicht mehr dort gewesen. Als sei die Schule bereits aus ihrem Leben ausradiert. Dabei hatte sie vor zwei Tagen noch ganz normal unterrichtet. Es war, als habe ihr Unterbewusstsein schon damit abgeschlossen, Lehrerin zu sein. Merkwürdigerweise interessierte es sie diesmal gar nicht, wer von den Kollegen es war, der ihre Vertretungsstunden übernehmen musste oder wie es überhaupt beruflich für sie weitergehen würde. Nur ihre Großmutter, die hatte immer gesagt, dass im Leben letzten Endes alles einen Sinn machen würde. Tilda fragte sich jetzt natürlich, was für einen Sinn es machen würde, wenn sie im Alter von dreißig Jahren sterben würde. Sie konnte nicht einen einzigen Grund finden, wozu das gut sein sollte. Mit dieser Weisheit hatte Omi wohl nicht Recht gehabt. Aber vielleicht war es noch zu früh. Vielleicht würde sie den Sinn ihrer Krankheit noch herausfinden. Vielleicht brauchte sie einfach Zeit, um hinter das Geheimnis ihres Lebens zu kommen. In diesem Augenblick hoffte sie ganz stark, dass ihr die Zeit zur Erkenntnis noch bleiben würde.

Verunsichert dachte Tilda darüber nach, ob die Frage vielleicht gar nicht die war, wie sie mit der Botschaft des Krebses in ihrem Körper umgehen sollte, sondern vielmehr zunächst eine andere: Wie sollte sie es anstellen zu überleben? War es am Ende eine Schicksalsfrage, die den Sinn ihrer Krankheit ausmachte? Es wäre das einzige gewesen, was in Tildas Augen überhaupt einen Sinn gemacht hätte. Jetzt zu sterben machte für sie jedenfalls keinen Sinn.

Schließlich blieb also immer noch die Frage, wie sie es schaffen sollte, den Krebs zu überleben, während fast alle anderen daran starben. Tilda versuchte sich an alle Freunde und Bekannten zu erinnern, die irgendwann einmal in ihrem Leben Krebs gehabt hatten. Es dauerte eine ganze Weile und es waren nicht wenige die ihr einfielen. Letzten Endes waren sie aber alle gestorben oder es ging ihnen mittlerweile so schlecht, dass das Schlimmste für sie zu befürchten war. Manche waren schon kurz nach ihrer Diagnose gestorben und manche erst nach einigen Jahren, als sie sich schon geheilt wähnten. Doch irgendwann dann war der Krebs zu ihnen zurückgekehrt wie ein Flächenbrand in einen trockenen Wald und dann hatte es keine Rettung mehr für sie gegeben. Sie alle hatten Chemotherapie bekommen. Die meisten von ihnen hatten zusätzlich Bestrahlungen erhalten. Es war eine beängstigende Statistik, die sich da in Tildas Kopf zusammenfügte. Da gab es nur die beiden Kolleginnen, die ihren Brustkrebs schon mehr als 10 Jahre überlebt hatten. Vielleicht waren sie tatsächlich geheilt. Eine von ihnen war Margarete, die an ihrer Schule Mathematik unterrichtete und die andere, Marion, war inzwischen bereits im Ruhestand. Soviel Tilda wusste, ging es ihr immer noch gut. Wenn Margarete und Marion die einzigen Personen waren, die überlebt hatten, was bedeutete dann der Tod all der anderen für sie? Und was bedeutete es überhaupt, wenn die moderne Medizin sagte, Krebs sei heutzutage „gut behandelbar“? Heilbar war damit jedenfalls offenbar nicht gemeint.

Ein Paar im Alter ihrer Eltern lief gemächlich an der Bank vorbei, auf der Tilda immer noch saß. Sie sah den beiden nach, bis sie hinter der hohen Ligusterhecke verschwunden waren, die den neuen vom alten Teil des Parks trennte. Irgendwann in dieses Alter zu kommen würde ihr also verwehrt bleiben. Der Gedanke bereitete ihr Schmerzen, die sich wie ein Stich ins Herz anfühlten. In diesem Moment war sie an einem absoluten Tiefpunkt angekommen.

Unerwartet klingelte ihr Telefon. Widerwillig stellte Tilda sich ihre Handtasche auf den Schoß und kramte darin herum. Irgendwann hatte sie das Telefon gefunden, doch im selben Moment verstummte das Klingeln. Ludwig hatte sie angerufen. Sie konnte es auf dem Display sehen. Entschlossen stellte sie ihr Telefon auf stumm und verbannte es zurück in die Abgründe ihrer Handtasche. Sie wollte nicht mit Ludwig sprechen. Jetzt nicht. Vielleicht später. Tildas Blick ging über die Rabatten hinweg auf die große Rasenfläche, wo ein Herr mittleren Alters mit einem Hund Stöckchen-Holen übte. Das musste wohl der Hund gewesen, dessen Gebell sie vorhin gehört hatte. Es war ein kleiner Jack Russel, der vollkommen außer Rand und Band zu sein schien. Eigentlich wollte sie später auch immer einen Hund haben. Dazu würde es nun wohl nicht mehr kommen. Die Vorstellung schnitt wie ein Messer in ihr Fleisch. Plötzlich war der noch nicht zu Ende gedachte Gedanke von vorhin wieder in ihrem Kopf. Wenn also alle Menschen oder fast alle Menschen, die Krebs hatten, früher oder später daran starben, obwohl sie alle angebotenen Therapien gemacht hatten, dann würde das sicher nicht der richtige Weg für sie sein. Möglicherweise gab es mehr Menschen, die ihren Krebs überlebt hatten. Vielleicht. Nur sie kannte außer Margarete und Marion eben keinen von ihnen. Sie kannte dafür allerdings sechs Menschen, die gestorben waren. Zwei zu sechs, das war keinesfalls das, was man eine einigermaßen gute Prognose nennen konnte. Tilda holte tief Luft. Die angenehme Frische des Frühlingstages strömte in ihre Lungen. Zwei zu Sechs. Diese Vorstellung machte sie verzagt. Eine Gänsehaut breitete sich in Sekundenschnelle über ihren gesamten Körper aus.

Zwei junge Mädchen liefen kichernd auf dünnen Beinen vorbei, tuschelten und neckten sich. Tilda beneidete sie um ihre Unbeschwertheit. Als sie in diesem Alter gewesen war, dachte sie auch noch an nichts Böses und war gesund. In diesem Alter machte man sich keine Gedanken um Krankheit oder Tod. Tilda lauschte in sich hinein. Wie lange würde sie noch leben? Wie lange würde sie noch atmen können? Wie lange reichte ihre Kraft noch? Bauchspeicheldrüsenkrebs hatte eine sehr hohe Sterblichkeitsrate. Sogar ohne nachlesen zu müssen, wusste sie das. Noch deutlicher machte ihr das bewusst, wie schlecht ihre Aussichten waren. Verzweifelt richtete sie ihren Blick in die Ferne und fragte sich, was sie jetzt wohl tun sollte. Niemand würde ihr die Entscheidung abnehmen, wie es für sie weiterging. Das jetzt selbst festlegen zu müssen war für Tilda eine unerträgliche Vorstellung. Sie beschloss erst einmal, sich auf keinen Fall zu etwas drängen zu lassen. Wenn sie ihren gesunden Menschenverstand zu Rate zog, so stand sie der angebotenen Therapie mehr als skeptisch gegenüber.

Und doch musste sie für sich einen Weg aus dem Dilemma finden. Es würde ihr nichts anderes übrig bleiben. Sie selbst würde die Konsequenzen für all das tragen müssen, was sie bezüglich ihrer Krankheit entschied. Auch dann, wenn sie sich für die Chemotherapie entschied. Die Klink würde keine Verantwortung für ihre Therapie übernehmen, weder für den Erfolg, noch für den Misserfolg und auch nicht für die körperlichen Folgeschäden, die sie möglicherweise davontrug. Vorausgesetzt natürlich immer der Fall, dass sie überleben würde. Das alles war ein einziger Alptraum. Tilda wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich daraus zu erwachen.

Was sie verwunderte war, dass sie das alles plötzlich so klar und realistisch betrachten konnte. Es war wohl einfach ein Instinkt des Menschen, der dafür verantwortlich war. Ein Instinkt, der den Menschen zwang, realistisch zu werden, wenn er seinen Tod so unmittelbar vor Augen hatte. Tilda fischte den Patientenbrief für Dr. Umlauf aus ihrer Handtasche. Er war zugeklebt. Vorsichtig öffnete sie ihn auf der Rückseite, faltete dann die drei Bögen Papier auseinander und versuchte, sich durch den Text mit den medizinischen Fachausdrücken zu arbeiten. Eine Böe erfasste das Papier und riss es ihr fast aus den Händen. Tilda las das Schriftstück dreimal von Anfang bis zum Ende durch. Da stand zweifellos genau das, was ihr der Onkologe vorhin schon erklärt hatte. Ein Tumor in der Bauchspeicheldrüse und verdächtige Areale, dazu ein infiltriertes Bauchfell. Was das bedeutete, konnte Tilda nur erahnen. Therapieempfehlung: da inoperabel Empfehlung zu mehrerer Zyklen Chemotherapie mit „Gemcitabin“ als Palliativtherapie, außerdem Radiotherapie nach weiterer Entwicklung. Beginn: umgehend, nach Festlegung der genauen Dosierung durch die Tumorkonferenz in der nächsten Woche. Gezeichnet, Unterschrift, Anhänge…. Tilda war schweißgebadet. Ihre Bluse klebte ihr unter der Jacke am Körper. Schweißperlen waren auf ihre Stirn getreten. Sie bemerkte, wie ein knoblauchartiger Geruch sich um sie herum ausbreitete. Selbst durch all ihre Sachen hindurch nahm sie ihn deutlich wahr. Ihr Schweiß stank ekelerregend, einfach krank. Es war nicht ihr erster Schweißausbruch an diesem Tage, aber es war der Schlimmste. Selbst als sie vorhin im Krankenhaus gefroren hatte, hatte sie gleichzeitig geschwitzt. Aber da hatte sie noch nicht so gestunken.

Der Inhalt des Arztbriefes war entsetzlich. Sie starrte auf das Papier, das von der Windböe einen Knick quer über das ganze Blatt bekommen hatte. Im Klartext las sie aus diesem Brief heraus: Die Patientin hat eine aggressive Form von Krebs und wir werden die übliche Therapie machen, um ihren Tod eventuell noch etwas aufzuhalten. Wieviel Chemie sie deshalb bekommt legen wir später noch fest. Tilda starrte auf das Schreiben. Wieso hatte Dr. Schnitzer bei so einer Prognose so gelassen bleiben können? Er hatte nicht ein einziges tröstendes Wort für sie gehabt. Er hatte es noch nicht einmal versucht. War er durch seine Arbeit schon so abgebrüht? Kein Wort davon, dass es eine Chance auf Heilung für sie gab, wenn sie vielleicht auch noch so klein war. Sie hatte aber auch nicht danach gefragt. Irgendetwas hatte sie davon abgehalten. Es war wohl die Antwort gewesen, die sie nicht hören wollte. Tilda hatte Angst vor dieser Antwort gehabt. Wer wollte schon hören, dass es keine Chance gab, seine Krankheit zu überleben? Palliativ, das war für Tilda ein entsetzliches Wort. Sie hatte es früher schon nicht gemocht. Es bedeutete nichts anderes, als dass es nicht mehr um die Heilung der Krankheit ging, sondern nur noch darum, die Symptome zu lindern bis es dann vorbei war.

Mit ihren Gedanken beschäftigt saß Tilda noch immer auf der Bank im Park. Seit mehr als einer Stunde saß sie nun schon dort und konnte sich nicht zum Weitergehen aufraffen. Ihr Herz trommelte gegen ihre Brust. Es fühlte sich so an, als hätte sich ein ungeheurer Druck in ihrem Kopf aufgebaut, der alle Gedanken daraus verdrängte. Es war mit einem Schlage plötzlich kein Platz mehr für Klarheit. Das einzige, was sie verspürte, war Übelkeit und ein nagendes Hungergefühl. Sie erhob sich langsam. Ohne irgendetwas wahrzunehmen, was um sie herum geschah, machte sie sich wie hypnotisiert auf den Heimweg.

An jenem Abend saßen Tilda, Ludwig und ihre Eltern Thomas und Brigitte zusammen. Es war alles andere, als eine lustige Runde. Der Schock lähmte sie. Tildas Mutter Brigitte begann immer wieder von neuem wie aus dem Nichts heraus hemmungslos zu schluchzen. Auch ihr Vater Thomas hatte ganz rote Augen, kämpfte aber eisern um seine Fassung. Ludwig hatte zu Hause, nachdem er den Befund von Tilda gelesen hatte, welchen sie ihm wortlos gegeben hatte, sofort ihre Eltern angerufen. Tilda hatte das zu diesem Zeitpunkt noch nicht getan. Sie wollte eigentlich mit niemandem darüber sprechen. Der einzige, der in dieser angespannten Situation wirklich die Ruhe bewahrt hatte, war Ludwig. Vielleicht war er mental so stark, vielleicht hatte er die wahre Botschaft des Befundes auch noch gar nicht vollständig verinnerlicht. Oder es war das, was Tilda längst wusste: Ludwig war nicht sensibel, außer bei sich selbst. Hier ging es aber nicht um ihn. Das ließ ihn bemerkenswert entspannt bleiben.

An diesem Abend waren sich alle Beteiligten außer Tilda einig, dass sie das Wenige, das man aus Sicht der Medizin für sie tun konnte, auch in Anspruch nehmen sollte. Wenn die angebotene Chemotherapie das Einzige war, was Tilda zur Verfügung stand, dann war es besser, wenigstens die zu machen, als gar nichts. Tilda selbst war sich keineswegs sicher, ob sie diese Chemotherapie wollte. Jedoch fühlte sie sich in diesem Moment außerstande, sich dem Druck ihrer Familie zu widersetzen. Vielleicht gab es tatsächlich eine Chance, durch Chemotherapie wieder gesund zu werden.

Die Geschehnisse der letzten vierundzwanzig Stunden war bei Weitem das größte Desaster, das Tilda in ihrem ganzen bisherigen Leben erlebt hatte. Immer wieder kreiste die Frage in ihrem Kopf, warum sie diesen Krebs überhaupt bekommen hatte. Sie war sich keiner Schuld bewusst. Ganz im Gegenteil: War sie nicht immer um eine gesunde Lebensführung bemüht gewesen? Waren vielleicht die Impfungen gegen Hepatitis an ihrer Misere schuld, die sie sich auf Empfehlung ihres Arbeitgebers, der Schule, hatte geben lassen? Sie hatte von Anfang an kein gutes Gefühl dabei gehabt. Hatte ihr Immunsystem sie nicht verkraftet und sich daraufhin selbst angegriffen, so wie sie es schon oft gelesen hatte? Hatte sie also einen der gefürchteten Impfschäden erlitten, deren Existenz von der Medizin und von den Medien gern totgeschwiegen, ja regelrecht bestritten wurden? Produzierte ihr Körper deshalb diese Tumore? Niemand wusste eine Antwort darauf. Und selbst wenn es eine gab, so wurde sie sicher vor der Öffentlichkeit verborgen gehalten.

Als ihre Eltern gegangen waren schrieb Tilda eine sms an Conny:

„Komme morgen nicht, bin krankgeschrieben. Sieht schlecht aus. Es ist Krebs. Suche nach einem Ausweg. Schlaf gut! Tilda.“

Es dauerte keine zwei Minuten und sie konnte Connys Antwort lesen:

„Mist! Wenn Du meine Hilfe brauchst, dann kannst Du zu jederzeit auf mich zählen. Du findest einen Weg. Ich weiß es einfach. Conny.“

Mit starrem Blick hatte Tilda die Nachricht ihrer Freundin gelesen. Auch wenn sie sich erst vor fünf Jahren kennengelernt hatten, als sie in Bergedorf angefangen hatte zu arbeiten, so war ihr Verhältnis doch so eng, als ob sie sich schon seit ihrer Kindheit kannten. Dabei war es ganz und gar nicht so, dass sie ständig zusammenklebten und alle Dinge gemeinsam tun mussten. Es war mehr wie eine stille Übereinkunft zwischen ihnen, eine Art Gleichklang der Seelen. Diese Freundschaft hätte sogar unterschiedliche Meinungen zu entscheidenden Dingen des Lebens verkraftet.

Als Tilda irgendwann an diesem Abend ins Bett ging, war sie vollkommen erschöpft. Dabei hatte sie nichts anderes getan, als sich letztlich darüber klar zu werden, dass sie auf gar keinen Fall sterben wollte. Der nächste Tag stand schon in den Startlöchern. Die Kette ihrer Arztbesuche war erst am Beginn. Zuerst würde ihr Hausarzt Dr. Umlauf an die Reihe kommen, der eigentlich Ludwigs Hausarzt war. Und dann ging es weiter. Ihre Krankschreibung musste verlängert werden. Und vielleicht hatte dieser Dr. Umlauf noch eine Idee, was sie sonst noch gegen den Krebs unternehmen konnte. Vielleicht gab es noch etwas ganz anderes, das sie tun konnte.

Am Vormittag im Krankenhaus war Tilda deutlich geworden, dass sie dort natürlich nur die Arten von Therapien verordnet bekommen würde, die dort auch zur Ausführung kamen. Krankenhäuser waren keine Wohlfahrtsinstitute. Das hatte sie begriffen. Krankenhäuser mussten und wollten Geld verdienen. Es waren Fabriken. Jeder Patient, der sich für eine alternative Therapie interessierte, war dort gewöhnlich einer zu viel. Ihr war klargeworden, dass sie vom Krankenhaus aller Wahrscheinlichkeit nach nichts Rettendes zu erwarten hatte. Dort war das, was ihr als Patientin zustand, ganz klar umrissen. Das Krankenhaus würden ihr die üblichen Chemotherapie-Zyklen verabreichen, vielleicht auch noch eine Reihe von Bestrahlungen für notwendig halten und sie dann in ihren letzten Stunden auf der Intensivstation mit Morphium ruhig stellen oder sie für die letzten Tage in ein Hospiz überweisen. Egal wie die Dinge auch standen. Tilda war sich ganz sicher, dass sie nicht so enden wollte wie die anderen Krebspatienten, die diesen Weg in den Abgrund brav mitgegangen waren.

Das Übliche mit sich machen zu lassen kam in ihren Augen einer Art Selbstaufgabe gleich. Warum sollten die üblichen Maßnahmen bei ihr andere Resultate hervorbringen, als bei denen, die sie bereits hinter sich hatten? Was war mit den kritischen Stimmen, auch unter den Ärzten, die meinten, dass Chemotherapie überhaupt nicht gegen Krebs half, sondern nur zusätzlich das Immunsystem der Patienten zerstörte und den Körper vergiftete? Sie hatte darüber gelesen.

In der Dunkelheit des Schlafzimmers ballte sie ihre Hände unter der Decke entschlossen zu Fäusten. Es war ihr zu wenig, nur zu versuchen, ihren Tod um ein paar Wochen hinauszuschieben, um dann mit Palliativ-Maßnahmen schmerzfrei zugrunde zu gehen. Sie wollte gesund werden, ganz und gar wieder gesund! Sie wollte leben und nicht nur für ein paar Wochen länger.

Fragen über Fragen, die unbeantwortet waren, beschäftigten sie. Was nützten ihr ein paar Wochen mehr, wenn sie danach ohnehin gehen musste? Was war, wenn es stimmte, dass Patienten nie wieder völlig gesund werden konnten, wenn sie erst einmal Chemotherapie hinter sich hatten? War das die Wahrheit? Was war mit den Spätfolgen dieser Art von Behandlung? Und woran starben die Krebspatienten nun tatsächlich? Starben sie am Krebs oder starben sie an den Folgen der Chemotherapie? Starben sie vielleicht auch an den Folgen der Bestrahlungen? Tilda war hilflos. Wäre ihre Zustimmung zu einer solchen Behandlung nicht so gesehen die Wahl zwischen Pest oder Cholera, eine Art Verschlimmbesserung ihres momentanen Zustandes?

Es war dunkel im Zimmer. Ludwig schnarchte noch nicht. Das bedeutete, dass er noch wach war. Sie drehte sich zu ihm um. Seine Augen waren geöffnet. Sie glitzerten ein wenig in der Dunkelheit des Zimmers. Er nahm ihre Hand und hielt sie ganz fest. „Wir schaffen das!“ flüsterte er. „Wir schaffen das, Schatz!“ Tilda nickte zögernd. Zwei Tränen rannen in der Dunkelheit über ihre Wangen. Eine glühend heiße Welle bewegte sich von ihrem Kopf abwärts durch ihren Körper bis zu ihren Zehenspitzen. Ein sehr unangenehmes Gefühl war das. Tilda streckte ihre Füße unter der Bettdecke hervor, um sie ein wenig zu kühlen. In dieser Nacht war sie hier in ihrer Wohnung und bei Ludwig in Sicherheit. Morgen war ein neuer Tag. Morgen wollte sie mit ihrer Schwester telefonieren, wollte sie um Rat fragen. Die arme Doro! Die wusste noch nichts von der Katastrophe, mit der sie sich in Hamburg herumplagte. Oder wusste sie es doch schon? Hatten ihr die Eltern schon alles berichtet, nachdem sie vorhin von der Krisensitzung nach Hause gefahren waren? Tilda war sich nicht sicher, aber das würde sich morgen herausstellen. Was feststand war, dass sie am nächsten Tag zu Dr. Umlauf gehen musste. Gleich ganz früh würde sie hingehen, damit sie nicht so lange in seinem Wartezimmer sitzen musste. Vielleicht hatte er doch noch einen Rat für sie. Mit diesem Gedanken fiel Tilda in einen leichten Schlaf, aus dem sie immer wieder erwachte. Sie war aufgewühlt. Leise drehte sie sich auf die andere Seite, weg von Ludwig. Er schnarchte. Er hatte es gut.

Die Farbe der guten Geister

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