Читать книгу Die Farbe der guten Geister - A. A. Kilgon - Страница 4
ОглавлениеKAPITEL 3
Pünktlich um 7.00 Uhr am nächsten Morgen traf Tilda in der Praxis von Dr. Umlauf ein. Die Schwester an der Rezeption begrüßte sie freundlich und nahm den Arztbrief entgegen, den Tilda aus der Onkologie mitgebracht hatte. Sie drehte ihn um und es war in diesem Moment offensichtlich, dass Tilda ihn bereits geöffnet hatte. Ein wenig vorwurfsvoll schaute die Schwester sie an, sagte aber nichts. Tilda fühlte sich wie ertappt. Sie errötete und ärgerte sich gleichzeitig darüber.
Ein wenig verlegen erklärte sie: „Ich wollte lesen, was darin steht. Es ist meine Krankheit. Und ich wollte mir eine Kopie machen für meine Unterlagen.“ Die Schwester zuckte ein wenig pikiert die Achseln, als wäre ihr das plötzlich alles egal und sagte nur spitz: „Es ist ja ihr gutes Recht den Brief einzusehen. Den Befund hat ihre Krankenkasse bezahlt. Trotzdem ist es eigentlich nicht üblich. Briefgeheimnis.“ Tilda merkte genau, dass die Schwester sich übergangen fühlte, und dass sie mit dem Öffnen des Briefes offenbar das Ego der gesamten Praxis misshandelt hatte. Es war offensichtlich, dass die Frage wie ein tonnenschwerer Meteorit im Raum schwebte, wo es wohl hinführen würde, wenn jeder x-beliebige Patient seine Unterlagen selbst einsehen würde. Der Krankenschwester hinter der Anmeldung stand dieser Vorwurf förmlich ins Gesicht geschrieben. Sie fragte sich wahrscheinlich im Stillen, was wohl dabei herauskommen würde, wenn sich die Patienten auch noch anmaßen würden, ihre Krankheiten selbst zu beurteilen.
Die erste Lektion hatte Tilda an diesem Morgen also schon gelernt: Eigenmächtigkeiten schienen in dieser Praxis äußerst unbeliebt zu sein. Das passte zu Ludwig. Schließlich war Dr. Umlauf eigentlich sein Arzt. Ludwig liebte klare Regeln und eindeutige Festlegungen. Er mochte Vorschriften, die verbindlich waren. Das war wohl eine Berufskrankheit.
Eigentlich hätte Tilda sich in diesem Moment ärgern wollen, aber sie fühlte sich nicht in der Lage dazu. In ihrem Innern war sie vollkommen ausgebrannt. Sie fühlte sich so schwach und so elend, dass sie noch nicht einmal mehr die Kraft für eine Auseinandersetzung mit dieser Krankenschwester gehabt hätte.
Deshalb drehte sie sich einfach um und nahm wortlos im Wartezimmer Platz. Sie drückte ihre schweißnassen Handflächen zwischen ihren Knien krampfhaft aneinander, während sie wartete. Klamm waren sie und eiskalt. Es fühlte sich für sie an, als ob ihr Körper ihr gar nicht mehr gehörte, als ob sich alles nur noch in ihrem Kopf abspielte. Es schien ein riesiger Kopf auf einem frostigen, winzigen Körper zu sein. Tilda hatte das Gefühl, als würde ihr Gehirn unablässig und auf Hochtouren arbeiten, jedoch dabei zu keinem Ergebnis kommen. Der Rest ihres Körpers war starr wie der einer Mumie.
Wenig später, gleich nach einem älteren Paar, das bis dahin in Illustrierten geblättert hatte und augenscheinlich zur Blutentnahme bestellt worden war, kam Tilda an der Reihe. Als sie ein wenig zögernd ins Behandlungszimmer trat, war Dr. Umlauf noch mit dem Lesen ihres Patientenbriefes beschäftigt. Eine gewisse Betroffenheit war ihm anzumerken. Er machte sich auch keine Mühe, sie zu verbergen. Auf seinem Schreibtisch lag eine ähnliche braune Akte, wie Tilda sie bereits bei Dr. Schnitzer in der Onkologie gesehen hatte. Der Aktendeckel war aufgeklappt. Darin lag ganz oben ein Schreiben des Krankenhauses. Tilda erkannte den Kopfbogen. Dr. Umlauf schaute es sich eine kurze Zeit lang aufmerksam an. Seine Augen folgten den Zeilen. Dann wandte er sich an Tilda, indem er sie über den Rand seiner Brille ansah. „Frau Johannsen, das sind leider keine guten Nachrichten für sie, die ich hier lese. Ihr Befund ist bedauerlicherweise gar nicht gut. Sie wissen das ja schon.“ Er hielt inne und blätterte in der Mappe auf seinem Schreibtisch umher.
„Ich habe hier auch schon den Behandlungsplan für ihre Chemotherapie. Den hat mir gestern Abend noch die Onkologie des Krankenhauses zugemailt.……. Sie sollen mit Gemcitabin behandelt werden.“ Er sah sie erneut prüfend an und schien auf ihre Antwort zu warten. Tilda war verblüfft darüber, dass der Arzt bereits ihren Behandlungsplan vor sich hatte. Immerhin war sie doch erst gestern im Krankenhaus gewesen. Da hieß es noch, dass ihr Fall in der kommenden Woche bei der Tumorkonferenz besprochen werden sollte. Tilda war irritiert. Was hatte das zu bedeuten? Ein Verdacht keimte in ihr auf. Dass der Plan jetzt schon vorlag, sprach in ihren Augen nicht dafür, dass sich jemand ernsthaft Gedanken über ihre Behandlung gemacht hatte.
Tilda war vielmehr überzeugt davon, dass die Onkologen sie nach einem Einheits-Plan behandeln wollten, den sie buchstäblich „aus der Schublade“ gezogen hatten. Ein entsetzlicher Gedanke keimte in ihr auf. Sie schauderte, während eine eisige Welle durch ihren Körper lief. Das schwer Vorstellbare traf sie wie eine Betonkugel am Kopf, der plötzlich schmerzte, als wollte er zerbersten. War es am Ende so, dass es sich bei ihr vielleicht gar nicht mehr lohnte, einen individuellen Plan zu erstellen? Sollte sie nicht ohnehin nur noch eine Palliativ-Therapie bekommen, die ihre Heilung gar nicht mehr zum Ziel hatte? Tilda schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Sie verspürte ein Prickeln in ihren Armen und Beinen. Vor ihren Augen wurde es für den Bruchteil einer Sekunde schwarz. Sie umklammerte mit beiden Händen die Armlehnen des Stuhles, auf dem sie saß so heftig, dass ihre Fingerknöchel ganz weiss aussahen. Nach zwei weiteren tiefen Atemzügen ging es ihr ein wenig besser. Der Arzt ihr gegenüber schaute sie beobachtend an.
Entmutigt wich Tilda seinem Blick aus. Tief in ihrem Innern hatte sich alles verkrampft, so als würde ein starker Druck ihren Körper zusammenpressen wie in einer Vakuumkammer. Sogar in ihren Ohren war dieser dumpfe Druck zu spüren. Ihr war, als säße sie in einem rasch sinkenden Flugzeug. Kam das etwa auch schon vom Krebs oder spielten nur ihre Nerven verrückt? Während Tilda darauf wartete, dass der Arzt wieder das Wort an sie richtete, fühlte sie, dass ihr Vertrauen in diese Art von Medizin noch mehr dahinschmolz. Das geplante Standard- Prozedere der Onkologie, das sich jetzt mit ihr in Gang setzen sollte, verstörte sie. Wollten die Onkologen ihren Fall einfach nur noch abarbeiten, damit sie und ihre Angehörigen das Gefühl hatten, es sei alles versucht worden? Nicht umsonst hieß es ja in Mediziner-Kreisen, heutzutage stünde hinter jedem Patienten möglicherweise ein Rechtsanwalt. Was ging da vor? Tilda war vollkommen verunsichert und am Ende ihrer Kräfte. War sie vielleicht schon so verrückt, dass sie sich das alles nur einbildete, dass sie all diese Dinge völlig überspitzt sah?
Nach all dem konnte sich Tilda nicht mehr vorstellen, dass das Krankenhaus auf ihrer Seite war. Alles, was sie wahrnahm vermittelte ihr nur noch mehr das Gefühl, als würde es von Beginn an keine Chance für sie geben. Es schien beschlossene Sache zu sein. Auch Dr. Umlauf gab ihr keinen fühlbaren Anlass zu der Hoffnung, dass sie sich irrte. Das passte mit ihrer kleinen, unvollständig gebliebenen Recherche über Bauchspeicheldrüsenkrebs zusammen, die sie in der Kürze der Zeit begonnen hatte. So gut wie keiner der Betroffenen schien diese Krankheit zu überleben. Insofern war Optimismus wohl wirklich fehl am Platze. Nach allem, was sie herausgefunden hatte, waren sämtliche Therapieversuche nur eine Verlangsamung des Sterbeprozesses, der sich lange vor der Diagnosestellung in Gang gesetzt hatte. Tilda drängten sich die grauenvollen Konsequenzen wie ein abscheulicher Film auf. Sie saß stocksteif da und starrte auf ihre weißen, eiskalten Hände unter dem Tisch.
Dr. Umlauf ahnte wohl, was in ihr vorging. Mit Sicherheit war sie nicht sein erster Fall dieser Art. Er schaute nachdenklich auf das Stück Papier vor sich, tippte mit dem Zeigefinger darauf und atmete geräuschvoll ein, bevor er sagte: „Das wir ihren Behandlungsplan schon haben, Frau Johannsen, hat möglicherweise damit zu tun, dass die Kollegen in der Klinik neue Erkenntnisse darüber haben, was am besten hilft. Dann erübrigt sich die Tumorkonferenz manchmal…... Wissen sie?“
Seine Worte klangen wenig überzeugend. Sie klangen vielmehr so, als würde er selbst nach einer plausiblen Erklärung suchen, damit seine ärztlichen Kollegen nicht in ganz so schlechtem Licht dastanden. Tilda versuchte währenddessen ein gequältes Lächeln. In Wahrheit war ihr zum Heulen zumute. Sie entgegnete, wobei sie sich eine ihrer blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht strich und sie hinter das Ohr schob: „Was am besten hilft? Soviel ich weiß gar nichts - bei Bauchspeicheldrüsenkrebs“. Sie machte mit den Händen eine hilflose Geste und fuhr dann bitter fort: „Zumindest nach allem, was ich bisher in Erfahrung bringen konnte.“ Einen Moment lang presste sie ihre Zähne ganz fest aufeinander, um ihre Fassung nicht zu verlieren. Dann fügte sie angstvoll hinzu: „Gibt es denn überhaupt eine Chance für mich, die Krankheit zu überleben?“ Der Arzt sah sie an, als wäre das die ungewöhnlichste Frage auf der Welt. So, als hätte er nie im Leben mit etwas Derartigem gerechnet. Zögerlich entgegnete er, wobei er es vermied, sie anzusehen und den Blick auf die Akte vor sich gerichtet hielt: „Eine Chance gibt es immer, Frau Johannsen. Ja, die gibt es immer. Aber ihre Chance ist klein. Sehr klein! …….. Leider.“ Sein Blick streifte sie etwas unsicher. „Wir müssen sehen, was die Zukunft bringt. Wunder können wir wohl leider kaum erwarten. Es sei denn, sie belehren mich eines besseren…. Dagegen hätte ich nichts einzuwenden.“
Er richtete seinen Blick auf Tildas Gesicht, ohne ihr dabei in die Augen zu sehen. Nachdenklich fügte er noch hinzu: „Ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas Anderes sagen! Es ist auf jeden Fall empfehlenswert, wenn sie sich noch ein paar schöne Tage mit ihrer Familie machen. Und wenn sie ihre persönlichen Angelegenheiten in Ordnung bringen. Nur sicherheitshalber, wenn sie verstehen was ich meine.“ Er ergriff seinen Kugelschreiber und drehte ihn einige Male nervös zwischen den Fingern hin und her. Dann gab er sich plötzlich einen Ruck und setzte seine Unterschrift entschlossen unter ihren Krankenschein. „Wenn sie die Chemotherapie nicht machen möchten, so kann sie niemand dazu zwingen, wissen sie? Aber es ist das einzige, was die Medizin Ihnen anbieten kann.“ Er machte eine kurze Pause und sagte dann, während er Tilda die Hand zum Abschied reichte: „Setzen sie mich bitte in Kenntnis, wie sie sich entschieden haben. Alles Gute für sie, Frau Johannsen!“
Tilda bedankte sich leise und ging hinaus. Irgendwie hatte sie das Gespräch noch mehr verunsichert. Sie hatte nun erst recht keine Ahnung mehr, was sie tun sollte. Tatsache war, dass sie eine Chemotherapie aus der Schublade bekommen sollte. Es war den Ärzten in der Onkologie offenbar klar, dass sie ein aussichtsloser Fall war. Ein Fall, für den sich der Aufwand einer individuellen Therapie nicht mehr lohnte. Bei diesem furchtbaren Gedanken erschrak sie über sich selbst. Es war ihr, als würde sich die Erde auftun und sie hinabziehen. Hinabziehen in ein riesiges, schwarzes Loch - unaufhaltsam, immer tiefer und tiefer. Welches grausame Schicksal war ihr beschieden, das sie schon mit dreißig Jahren sterben ließ? Niemanden der Mediziner schien sich wirklich dafür zu interessieren. Es kam Tilda so vor, als habe sie mit ihrer Diagnose eine medizinische Maschinerie in Bewegung gesetzt, die ihre Arbeit zwar verrichtete, der es aber vollkommen an Empathie und Optimismus fehlte und für die die Erfolglosigkeit ihrer Behandlung bereits unabänderlich feststand.
Als Ludwig von der Arbeit kam fand er Tilda in Tränen aufgelöst in der Ecke der Couch hockend vor. Sie hatte ihre nackten Füße unter der schottischen Wolldecke vergraben, die zusammengelegt neben ihr lag. Seit Stunden hatte Sie dort wie erstarrt gesessen. Sie wusste selbst nicht mehr wie lange. Ihre Augen waren gerötet und geschwollen vom Weinen. Ihre blaue Jacke lag noch immer achtlos hingeworfen auf dem Fußboden im Flur. Ihre Schuhe standen daneben, mitten im Weg. Draußen begann es bereits ein wenig zu dämmern. Im Raum war es fast dunkel. Tilda hatte das Licht nicht eingeschaltet. Alles, was sie noch zu fühlen imstande war, war die Unausweichlichkeit ihres nahenden Todes. Die Furcht davor ließ sie vor Angst erstarren. Sie hatte in den letzten Stunden jedes Zeitgefühl verloren, hatte nichts gegessen und nichts getrunken. Da war nur noch die Angst, bald zu sterben. Diese Angst vermischte sich mit Hilflosigkeit und Panik zu einer grollenden Lawine, die unabänderlich auf sie zuraste.
Ludwig schaltete die kleine Lampe mit dem bunten, gläsernen Schirm an, die auf dem Fensterbrett zwischen den Blumentöpfen stand. Sie war ein Geschenk ihrer Eltern zu ihrem letzten Geburtstag gewesen. Das Licht der kleinen Lampe war viel zu schwach, um den ganzen Raum zu erhellen, aber es war freundlich und warm und es half ein wenig gegen die zunehmende Dunkelheit des Raumes. Vorsichtig setzte er sich neben Tilda, als hätte er Angst davor, ihr näher zu kommen. Er streichelte ihr sanft übers Gesicht und ließ seine Hand tröstend auf ihrer Schulter liegen. Erst nach einer ganzen Weile, nachdem sie so stumm nebeneinander gesessen hatten, begann Tilda wieder zu weinen. Je länger sie weinte, desto stärker flossen ihre Tränen. Ludwig holte aus der Küche eine Packung Taschentücher, faltete eins davon auf und wischte ihr damit die Tränen aus dem Gesicht. Unvermittelt ging ein Ruck durch Tilda, die bis zu diesem Zeitpunkt nur apathisch dagesessen hatte. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und schluchzte: „Ich will nicht sterben, Luddi!“ Sie spürte, wie Ludwig nach Worten suchte. Alles, was ihm einfallen wollte, schien viel zu banal zu sein, um sie trösten zu können. Hilflos drückte er sie an sich und krümmte sich dabei selbst zusammen, als hätte er Schmerzen. So saßen sie eine ganze Weile stumm beieinander. Draußen war es mittlerweile vollständig dunkel geworden und auch der Rest der Wohnung lag in absoluter Dunkelheit. Nur die Glaslampe auf dem Fensterbrett warf ihr spärliches, buntes Licht in den Raum. Tildas Tränen versiegten irgendwann. Mit dem Wissen um ihre aussichtslose Lage war sie vollkommen überfordert. Später am Abend gelang es ihr, sich ein wenig zu beruhigen.
Ludwig war zu diesem Zeitpunkt bereits zur Normalität zurückgekehrt. Er hatte den Fernseher eingeschaltet und sah sich wie üblich die Sportsendung an. Tilda war irgendwann wortlos aufgestanden und hinausgegangen. Ein tiefer, spitzer Schmerz hatte sich in ihr Herz gebohrt und brannte dort unaufhörlich vor sich hin. Genau das war es, was sie an Ludwig so schrecklich fand. Es war diese Art von Selbstsucht. Die Sache mit der Sportsendung hatte ihr einmal mehr deutlich gemacht, dass er immer nur an sich selbst dachte. Es war eine kleine Enttäuschung mehr für sie an diesem trostlosen Tag. Natürlich konnte Ludwig ihr nicht helfen. Das wusste sie selbst. Aber allein seine Aufmerksamkeit und seinen Beistand hätte sie an diesem Abend als große Hilfe empfunden. Doch Ludwig war weit davon entfernt, sich das bewusst zu machen.
Nachdem ihre größte Enttäuschung langsam gewichen war, war es ihr eigentlich ganz recht, allein zu sein. So konnte sie wenigstens ungestört mit ihrer Schwester telefonieren. Wahrscheinlich hatten ihr die Eltern ohnehin schon alles erzählt. Je länger sie darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien ihr das. Mit der Zeitverschiebung von acht Stunden war bei Doro grade Mittagszeit. Möglicherweise war sie zu Hause während Greg und Gesi noch in der Schule waren und der Kleine Güssi in der Vorschule. Tilda wählte ihre Nummer. Es dauerte keine dreißig Sekunden und sie hörte die vertraute Stimme ihrer Schwester, die sofort rief: „Tildi! Was machst du nur für Sachen! Ich bin hier halb verrückt vor Angst! Du musst ganz schnell wieder gesund werden! Ganz schnell! Verstehst du mich?“ Sie machte eine ganz kurze Pause, ließ ihre Schwester aber nicht zu Wort kommen. „Bauchspeicheldrüsenkrebs! Bist du nicht recht bei Trost, Tildi? Ich hab da mal nachgeschaut…..“
Tilda schossen sofort wieder die Tränen in die Augen. Sie schniefte. Ihre Schwester fuhr währenddessen aufgelöst fort: „Die Eltern haben mir schon alles gesagt.“ Tilda schniefte erneut und konnte nichts antworten. So fuhr Doro fort: „Was machst du jetzt? Willst du Chemotherapie machen?“ Tilda flüsterte tonlos: „Ich weiß nicht. Ich glaub´ nicht.“ Ratlos hörte sie wieder die Stimme ihrer Schwester, die entsetzt rief: “Oh Gott, ich weiß auch nicht! Mach das lieber nicht! Hier in den Staaten bringt das keine guten Ergebnisse.“ Sie räusperte sich und weil Tilda nichts sagte, sprach sie mit belegter Stimme weiter: „Eine Nachbarin hier in Scottsdale hatte auch Bauchspeicheldrüsenkrebs. Die Dicke mit den kurzen, schwarzen Haaren und dem kleinen weißen Hund. Die Mexikanerin meine ich, aus dem Haus am Ende der Straße mit den vielen Kakteen im Vorgarten. Weißt du, welche ich meine?“ Sie wartete einen kleinen Moment ab, doch Tilda brachte keinen Ton mehr hervor. „Sie hat jedenfalls Chemo gemacht und acht Wochen später war sie trotzdem tot. Sie ist aus der Klinik gar nicht wieder nach Hause gekommen. Ich meine, das kann´s doch irgendwie auch nicht sein!“
Verstört hörte Tilda die Worte ihrer Schwester, die so weit entfernt war und doch so nah klang. Doro sprach ihr aus der Seele, als sie ihre Zweifel in Worte fasste, die sie gegenüber von Chemotherapie hatte. Tilda fühlte sich furchtbar elend, während sie ihrer Schwester stumm zuhörte. Sie sah ihre Befürchtungen bestätigt. „Die Nebenwirkungen von Chemotherapie sind grauenvoll, oft sogar tödlich!“, brachte Doro es auf den Punkt. „Da macht es auch keinen großen Unterschied, welches Präparat sie bei dir nehmen. Zumindest nicht bei diesem Krebs.“ Doro war, wie sich herausstellte, inzwischen gut informiert. Sie war der Meinung, dass im Grunde alle diese Mittel versuchten, sich gegenseitig an Giftigkeit zu übertreffen. Es waren Zellgifte. Die meisten von ihnen wirkten auf alle sich schnell teilenden Zellen tödlich, um so das Wachstum der Tumore zu verlangsamen. Leider vergifteten sie dabei auch den Rest des Körpers. Sie taten das selbst dann, wenn die eigentlich gewünschte Wirkung ausblieb. In diesen Fällen blieb dann nur die Vergiftung übrig. So würde der Krebs kaum verschwinden. Doro sprach davon, dass sie auch herausgefunden hatte, dass fast alle Patienten mit Bauchspeicheldrüsenkrebs trotz aller Behandlungen in kurzer Zeit starben. Hilflos unterbrach Tilda ihre Schwester und flüsterte entsetzt: „Schwester, erzähl´ mir das nicht! Ich will das gar nicht hören! Ich hab das doch auch schon alles gelesen. Wenn ich nur wüsste, was ich jetzt machen soll! Das geht alles viel zu schnell für mich.“ Sie schluchzte. „Manchmal fühlt es sich an, als wenn mich alle nur zu etwas überreden wollen, damit sie sich einbilden können, es wird alles für mich getan. Ludwig, die Eltern - und die Klinik sowieso.“ Sie stockte, bevor sie weitersprach: „Das mit der Chemotherapie ist ja für so eine Klinik Routine. Und der Tod von Patienten ist für die leider auch Routine.“ Sie schluchzte erneut auf und fuhr unter Tränen fort: „Aber ich hab doch nur das eine Leben, Doro! ........ Ich will doch nicht schon jetzt durch die Hintertür aus dem Krankenhauses rausgefahren werden und das war´s dann!“
Doro unterbrach ihre Schwester erregt: „Tildi, jetzt hör mir mal zu! Wenn Du keine Chemo machen willst, dann machst Du keine Chemo! Lass dich zu nichts überreden! Die meisten Patienten sterben früher oder später trotz oder wegen dieser Art von Therapie. Kein Mensch weiß das so genau. Moderne Medizin hin und moderne Medizin her. Selbst etwa 80% der Ärzte sagen, dass Chemotherapie umstritten ist und würden sie nicht bei sich machen lassen und auch nicht bei ihren Angehörigen. Das hört sich alles andere als überzeugend an.“
Sie machte eine kurze Pause und sagte dann nachdrücklich: „Wenn du nicht sterben willst, dann musst du dir jetzt gut überlegen, was du tust! Und wenn du nicht sicher bist was du jetzt machen sollst, dann komm einfach für ein paar Wochen zu uns. Hier in Scottsdale wird keiner auf dich einreden und dich zu etwas überreden wollen. Wir lassen dich in Ruhe! Du kannst hier in Ruhe nachdenken. Weißt du, Angst ist immer ein schlechter Ratgeber.“ Tilda schluchzte: „Du bist so lieb, Schwester. So lieb! “ Sie weinte und presste unter Schluchzen hervor: “Wenn ich dich nicht hätte – ich - wüsste - gar - nicht - was - ich - jetzt - machen - soll!“. Doro lachte am anderen Ende der Leitung ganz leise. Es war ihr kleines Lachen, das Tilda schon immer so vertraut war. Es ließ ihre innere Anspannung ein wenig kleiner werden. Doro fuhr fort: „Ich finde wirklich, das wär ´ne gute Idee! Mal alles aus der Distanz zu sehen ist nie verkehrt. Was meinst Du, Tildi? Komm einfach her, wenn´s dir einigermaßen gut geht, wenn du dir den Flug zutraust. Du musst ja nicht selbst fliegen.“ Sie lachte wieder leise. „Wir haben hier unseren Hausarzt Dr. Lackner. Nur für den Fall der Fälle. Der ist wirklich nett! Sam und er sind zusammen zur Schule gegangen. Ich glaube, du hast ihn auch schon mal gesehen.“ Tilda schluchzte einige Male ergriffen und schniefte dann in den Hörer: „Danke, Doro! Das ist so lieb von dir. Ich denk mal drüber nach.“
Mit einem Schlage kamen ihr jedoch Zweifel. Nur wiederstrebend und ein wenig ängstlich formulierte sie ihre Frage: „Und Sam? Meinst du, dass Sam nichts dagegen hat, wenn ich in meinem…… Zustand…..zu euch komme?“ Doro lachte nur: „Du kennst doch Sam! Sam will immer das, was ich will – und umgekehrt ist das auch so. Meinst Du, ich wäre sonst hier, so weit weg von zu Hause? So weit weg von dir? Ich wär´ sonst niemals zu ihm über den großen Teich gegangen, wenn er nicht so ein toller Mann wäre.“ Tilda nickte zustimmend vor sich hin.
Sie zwang sich, ihren Gedanken Struktur zu geben. In ihrem Kopf herrschte immer noch Chaos. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals in ihrem Leben so verwirrt gewesen zu sein. Vor allem nahm sie sich in diesem Augenblick eins ganz fest vor: Sie wollte sich nicht in ihren Entscheidungen beeinflussen lassen, von niemandem. Nicht von Ludwig, nicht von den Eltern und erst recht nicht von der Klinik, die mit diesen Behandlungen selbstverständlich auch viel Geld verdiente und deshalb ihrer Ansicht nach niemals objektiv beraten würde. Die Klinik war genauso objektiv wie ein Autoverkäufer in einem Autohaus, den man fragte, ob die Autos in der Ausstellung eine gute Wahl seien. Die Antwort wäre klar.
Vielleicht tat sie manchen Ärzten damit Unrecht. Ganz frei von Zweifeln war sie in dieser Hinsicht nicht. Vielleicht war es einfach nur so, dass die Klinik schnell zur Chemotherapie drängte, weil es in der Tat das Einzige war, was die Medizin anbieten konnte. Dass das ihr Leben aller Wahrscheinlichkeit nach nicht retten würde, und dass ihr das bei einer Palliativ-Therapie auch gar nicht erst in Aussicht gestellt wurde, war da schnell Nebensache. Ihr Tod interessierte niemanden von denen wirklich, die tagtäglich mit Krebs und seinen Folgen zu tun hatten. Vielleicht erwartete sie einfach zu viel.
Schon am übernächsten Morgen machte sich Tilda auf den Weg ins Krankenhaus. Sie hatte gleich morgens einen Termin in der Chirurgie. Die Ambulanz hatte sie angerufen und es dringend gemacht. Tilda sollte einen Portkatheter bekommen. Einen dauerhaften Zugang in ihr Adersystem, damit sie ihre Medikamente über einen Tropf bekommen konnte. Das zumindest hatte ihr der Arzt am Telefon gesagt. Tilda machte sich zu Fuß auf den Weg zum Krankenhaus. Sie wollte eine Zeitlang für sich sein, wollte sich nicht von Ludwig fahren lassen und auch nicht selbst fahren. Es hatte einen großen Streit zwischen ihnen gegeben. Streit wegen ihrer Reisepläne nach Amerika. Ludwig hatte sie für vollkommen verrückt erklärt, in ihrem Zustand nach Arizona fliegen zu wollen. Er hatte das auch nicht zurückgenommen und beharrte darauf. Es sei eine Schnapsidee und einfach unverantwortlich, hatte er gebrüllt. Sie hatte sich gegen ihn zur Wehr gesetzt und am Ende hatten sie sich beide angeschrien.
Ludwig hatte trotzdem darauf bestanden, dass sie ihn anrufen sollte, sobald sie fertig war und nach Hause gehen durfte. Dann wollte er sie abholen.
Tilda verließ gegen 6.30 Uhr die Wohnung. Auf den Straßen war trotz der frühen Stunde der Berufsverkehr schon in vollem Gange. Sie wählte einen kleinen Umweg durch das Viertel, um nicht an der vielbefahrenen Straße entlanggehen zu müssen. Sie brauchte frische Luft. Außerdem war noch genug Zeit, so dass sie sich diesen kleinen Luxus erlauben konnte. Über so einen Portkatheter hatte sie sich inzwischen belesen. Der Port war als Dauerzugang in erster Linie dafür notwendig, um durch ihn die Chemotherapie in die Blutbahn zu verabreichen. Tilda wusste immer noch nicht, ob sie das Ding überhaupt brauchen würde. Sie war nach wie vor unentschlossen. Der Port sollte ihr irgendwo rechts unterhalb ihres Schlüsselbeines implantiert werden. Tilda hatte ein mulmiges Gefühl, als sie pünktlich kurz vor sieben Uhr die chirurgische Abteilung des Krankenhauses betrat. Auf den Fluren war es noch verhältnismäßig leer. Sie musste nicht lange warten.
Der Arzt in der Chirurgie war offensichtlich Afrikaner. Sein Name, mit dem er sich Tilda vorstellte und der auf die Tasche seines weißen Kittels mit blauem Garn gestickt war, war fast unaussprechlich. Der Mann mochte wohl etwa 35 Jahre alt sein. Das war sehr schwer zu schätzen. Seine Haut war dunkelbraun, fast schwarz, genauso wie sein Haar. Es war sehr kurz geschnitten und vollkommen kraus. Seine Augen schienen in Öl zu schwimmen. Das Weiß wirkte gelblich und seine Iris war beinahe so dunkelbraun wie seine Haut. Er war auffallend groß und sehr schlank. Er hatte wunderschöne weiße Zähne und machte einen freundlichen Eindruck. Sein Händedruck war warm und verbindlich. Hinderlich war, dass er nicht gut Deutsch sprach und so verstand Tilda nicht alles von dem, was er ihr erklärte. Weiter erschwerend kam hinzu, dass er immer wieder lateinische Fachbegriffe benutzte, die sie nicht kannte. Tilda war so beunruhigt und aufgeregt, dass sie ohnehin schon Schwierigkeiten hatte, sich auf seine Worte zu konzentrieren. Sie fühlte sich wie ein in die Enge getriebenes Tier und das Behandlungszimmer, in dem die grelle Neon-Deckenbeleuchtung eingeschaltet war, wirkte kalt und sachlich und machte sie noch nervöser. Dieser afrikanische Arzt sollte offenbar mit ihr das Aufklärungsgespräch über die im Anschluss bevorstehende Operation führen. Die ambulante Operation, die für das Setzen des Portkatheters notwendig war. Tilda war eingeschüchtert und traute sich kaum noch einmal nachzufragen, wenn sie etwas nicht verstanden hatte. Offenbar wegen seiner eingeschränkten Kenntnisse der deutschen Sprache stand ihm eine zierliche, burschikos wirkende Schwester in grüner Kleidung zur Seite, die zwischen dreißig und vierzig Jahre alt war. Sie hatte die Ausstrahlung einer zähen, durchtrainierten Soldatin. Wegen ihrer geringen Größe wirkte sie wie ein Zwerg gegen ihn. Ihr ohnehin schon kurz geschnittenes, dunkelbraunes Haar war auf der linken Kopfseite fast vollständig abrasiert. Ihre dunkelbraunen Augen mit den starken Brauen darüber blickten unterkühlt und sachlich. Sie hielt ihre Hände ständig hinter ihrem Rücken verschränkt, so als habe sie etwas zu verbergen. Ihre Nasenflügel bebten, wenn sie atmete. Der afrikanische Arzt gestikulierte während seinen Erklärungen mit den Händen, wohl um das Gesagte verständlicher zu machen. Es war ihm offenbar bewusst, dass die Patienten Schwierigkeiten hatten, ihn zu verstehen. Während er sprach, versuchte Tilda den eingestickten Namen auf seinem weißen Kittel in Gedanken auszusprechen. „Dr. Abubakar Omntumbu“ stand da. Sie fragte sich, woher dieser Mann kam. Die kleine grüne Zwergen-Krankenschwester neben ihm wartete immer ab, bis er seine Ausführungen beendet hatte, und es eine kleine Pause gab. Dann begann sie, die Informationen für Tilda noch einmal zusammen zu fassen. Alles, was Tilda verstanden hatte war, dass ihr Portkatheter eine Kammer mit einer dicken Silikonmembran war, an die der Schlauch angeschlossen werden sollte, der mit dem Gemcitabin-Tropf, der chemischen Keule, verbunden wurde. Von dort aus würde also das Gift in ihre Blutbahn gelangen. Der Arzt erklärte ihr, dass dieser dauerhafte Zugang zu ihrem Blutsystem praktisch wäre, um ihr nicht jedes Mal erneut eine Kanüle in den Arm stechen zu müssen, wenn sie zur Chemotherapie kam. Er erwähnte dabei auch, dass es möglich sei, dass dieser Zugang verstopfen konnte. Der Arzt machte zur Erklärung eine Skizze mit einem silbernen Kugelschreiber aus dem eleganten, hölzernen Ständer auf seinem Schreibtisch. Er benutzte dazu den Schreibblock, der auf seinem Tisch dafür bereit lag und auf dem schon eine ähnliche Skizze zu sehen war. Er erklärte ihr, dass, wenn der Portkatheter nicht wieder frei zu bekommen war, ein neuer an einer anderen Stelle ihres Körpers eingesetzt werden musste. Das käme leider ab und zu vor, wie er beiläufig erwähnte. Tilda befürchtete im Stillen, dass das vermutlich davon abhing, wie lange der Patient mit seinem Krebs bei dieser aggressiven Therapie am Leben blieb.
Der schwarze Chirurg blendete den Aspekt des Sterbens bei seinen Schilderungen aber vollkommen aus. Wahrscheinlich war für das Sterben in diesem Krankenhaus eine andere Abteilung zuständig. Überhaupt schien er die Maßnahmen, über die er Tilda aufklärte, nicht weiter dramatisch zu finden. Irgendwann gegen Ende seiner Ausführungen erwähnte er wie nebenbei, dass auch bei Palliativbehandlungen praktischerweise früher oder später alle Medikamente durch diesen Portkatheter gegeben werden konnten. Das würde vieles vereinfachen. Auch die regelmäßige Gabe der Schmerzmittel, wie beispielsweise des Morphins. Vor allem Patienten würden davon profitieren, so sagte er, die gegen Ende ihrer Erkrankung zu schwach waren, um ihre Medikamente auf andere Art und Weise einzunehmen. Tilda erstarrte innerlich bei seinen Worten. So direkt hatte das bisher noch niemand zu ihr gesagt. In ihrem Innern sträubte sich alles gegen das Gehörte. Sie fühlte sich, als hätte sie eine Injektion bekommen, die dafür sorgte, dass ihr binnen Sekunden das Blut in den Adern gefror. In ihrem Kopf rauschte es. Sie schloss für einen kurzen Moment lang die Augen. Palliativ bedeutete ja in Wahrheit, dass es gar nicht mehr um den Versuch einer Heilung ging. Es ging nur noch um schmerzfreies Sterben. Sie wusste ja eigentlich selbst, dass das die bittere Wahrheit war. Alles in ihr bäumte sich bei diesem Gedanken auf. Tilda merkte, wie ihr übel wurde. Sie wollte nicht sterben.
Merkwürdig entschlossen zwang sie sich zur Ruhe und erkundigte sich nach den Nebenwirkungen ihrer Chemotherapie. Dr. Omntumbu lächelte freundlich, so dass sie seine schneeweißen Zähne erneut sehen konnte. „Haarausfall, Blutbildveränderungen, Übelkeit und verschiedenes mehr“, gab er vage zur Antwort. Dann aber schüttelte er den Kopf, als er zu sprechen fortfuhr. All das würden ihr seine Kollegen von der Onkologie später noch erklären, sagte er. Sie würden es rechtzeitig tun, bevor sie in der kommenden Woche ihre erste Chemotherapie bekäme. Er sei schließlich nur der Arzt, der den Port einsetzen sollte. Er sei Chirurg und kein Onkologe. Freundlich lächelnd gab er Tilda abschließend jedoch den guten Rat, sich über die Nebenwirkungen ihrer Chemotherapie keine Gedanken zu machen. Patienten, so sagte er, die sich zu viele Gedanken machten, würden die Chemotherapie erfahrungsgemäß schlechter vertragen. Vieles sei nämlich nur Kopfsache.
Tilda starrte ihn an. Von einem Moment zum anderen war sie voller Wut. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hatte sich nicht verhört. Sie sollte sich keine Gedanken machen, sollte stattdessen alles über sich ergehen lassen und sich nicht einbilden, das Gift nicht zu vertragen.
Tilda fragte sich entsetzt, was dieser Mann da eigentlich redete. In ihr brodelte es. Sie biss die Zähne zusammen, und versuchte, sich zu beruhigen. Alles in ihr war in Aufruhr. Ihr war, als hätten sich alle Härchen ihres Körpers wie zur Abwehr aufgestellt. Sie war schließlich nicht blöd und es gab keinen Zweifel daran, dass die eingesetzten Medikamente bei ihrer Chemotherapie hochgiftig waren. Sie würde doch nach dem Dafürhalten der Mediziner auf jeden Fall sterben, denn sie bekam eine Palliativbehandlung. Und dabei sollte sie sich keine Gedanken machen. Tilda fragte sich, was das für eine Art und Weise war. Patienten waren doch nicht automatisch dumm. Sie schien einen ausgesprochen debilen Eindruck auf den Arzt zu machen, weil sie auf diese Art beruhigt werden sollte. Das Kalenderblatt ihres Küchenkalenders fiel ihr ein, das sie kürzlich abgerissen hatte. Sollte die Weisheit darauf, dass es sich mit leerem Kopf besser nickt, eine mysteriöse Vorwarnung in Bezug auf ihre Therapie gewesen sein?
Tilda sah Dr. Omntumbu wütend an und sagte mit fester Stimme: „Ach so? Ich verstehe sie! Sie sind also auch der Meinung, dass es sich mit leerem Kopf leichter nickt.“ Betretenes Schweigen erfüllte einen Moment lang das Zimmer. Allerdings kam es weniger vom Arzt selbst, denn Dr. Omntumbu schaute sie nur verständnislos an. Er hatte offenbar wegen seiner mangelnden Sprachkenntnisse nicht wirklich verstanden, was sie damit meinte. Die kleine grüne Krankenschwester allerdings, die neben ihm stand, wurde plötzlich ganz blass und dann wieder rot und warf Tilda einen vernichtenden Blick zu. Sie wandte sich schnell einem Tischchen zu und ordnete dort mit fahrigen Bewegungen klappernd irgendwelche chirurgischen Instrumente. Es schien ihre Art zu sein, sich abzureagieren. Offenbar hatte sie in diesem Zweiergespann den Mund zu halten, weil es ihr nicht zustand, die Patienten in Anwesenheit des Arztes von sich aus anzusprechen oder gegebenenfalls zurechtzuweisen.
Das Vorgespräch für den Eingriff schien damit beendet zu sein. Dr. Omntumbu holte ein Formular aus seiner Schreibtischschublade. Es war eine Einverständniserklärung für das Einsetzen des Ports, die Tilda unterschreiben sollte. Unmittelbar darauf sollte offenbar dann schon der Eingriff stattfinden. Der Arzt schob ihr das Formular zusammen mit seinem Kugelschreiber über den Tisch und lächelte auffordernd, während er sagte: „Dann lesen sie bitte hier und unterschreiben!“
Einen kurzen Moment lang zögerte Tilda, dann schob sie ihm das Papier zusammen mit dem Kugelschreiber entschlossen über den Tisch zurück. Wenn sie sich bis jetzt noch im Unklaren gewesen war, so wusste sie mit einem Male, dass sie diesen Portkatheter nicht wollte. Sie brauchte ihn nicht, weil sie nicht im Entferntesten sicher war, ob sie überhaupt eine Chemotherapie machen wollte. Und falls sie sich doch noch dazu entschließen würde, dann schon gar nicht in der folgenden Woche.
Mit einem Schlage war ihr klar, dass sie, bevor sie überhaupt irgendeine Therapie anfangen würde, erste einmal in Ruhe über alles nachdenken musste. Sie fühlte sich überfahren. Wenn diese Chemotherapie ohnehin nur eine Palliativmaßnahme war, Heilung also nicht mehr zur Debatte stand, dann hatte sie alle Zeit der Welt. Was sollten dann die Toxine in ihrem Blut? Die würden zusätzlich noch ihr Immunsystem kaputt machen. Und ohne ein funktionierendes Immunsystem hatte sie erst recht keine Chance, vielleicht durch irgendeine andere Therapie gesund zu werden. Tilda hatte in diesem Moment zwar überhaupt keine Ahnung, wie ein anderer Weg aussehen konnte, aber sie sah keinen Grund dafür, sich selbst die Chance darauf voreilig zunichte zu machen.
Genau von diesem Moment an war ihr klar, dass sie erst einmal zu ihrer Schwester nach Arizona fliegen würde. Sie hatte sich entschieden. Dort wollte sie sich zunächst klar darüber werden, was sie tun sollte. Aber sie wollte das selbst entscheiden, wollte zu nichts gedrängt werden. Nicht von Dr. Omntumbu, nicht von der Klinik, nicht von Ludwig und nicht von ihren Eltern. Von niemandem. Es war ihr Leben und wenn es schlecht für sie lief, dann war es auch ihr Tod. Es war ihr gutes Recht, darüber frei zu entscheiden. Tilda war in diesem Moment gefasst und voller Ablehnung. Die anderen würden ihr den Tod schließlich nicht abnehmen, falls sich eine ihrer Entscheidungen als falsch herausstellen sollte. Das hier war ihre Möglichkeit, sich zu entscheiden. Tilda fühlte, dass sie jetzt reagieren musste.
Sie wollte nach Arizona zu ihrer Schwester. Mit Erleichterung stellte sie fest, dass sie das Problem für sich gelöst hatte. Das war ein großartiges, ein erhabenes Gefühl nach diesem Strudel der Hilflosigkeiten, der sie zermürbt hatte. Tilda war glücklich. Sie würde das schon schaffen. Noch fühlte sie sich nicht zu schwach für die Reise, auch wenn sie weit davon entfernt war, sich gut zu fühlen. In der vergangenen Woche hatte sie immerhin noch als Lehrerin vor ihren Schülern gestanden und gearbeitet. Da hatte sie von ihrem Krebs noch gar keine Ahnung gehabt. Was sollte dagegen sprechen, wenn sie jetzt für zwei oder drei Wochen in die Staaten flog?
Erst in diesem Moment realisierte sie, dass Dr. Omntumbu sie die ganze Zeit über von der anderen Seite seines Schreibtisches her irritiert angesehen hatte. Er schien eine Erklärung dafür zu erwarten, schien ihre Weigerung, zu unterschreiben, erst einmal für eine Art Missverständnis zu halten. Nur die kleine grüne Krankenschwester ließ mit ihrem missbilligenden Gesichtsausdruck keinen Zweifel daran, dass sie sehr gut verstanden hatte, wie sich die Patientin Tilda Johannsen entschieden hatte und was sie davon hielt.
Tilda erhob sich dann auch spontan mit den Worten: „Vielen Dank für ihr Angebot. Falls ich mich für eine Chemotherapie entscheiden sollte, werde ich mich bei Ihnen melden. Bis dahin brauche ich auch keinen Portkatheter.“ Sie schob den Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, ordentlich zurück unter den Schreibtisch. Draußen auf dem Flur waren Stimmen und Schritte zu hören. Eine Tür fiel mit dumpfem Schlag ins Schloss. Im Raum selbst aber war es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Dr. Omntumbu und die kleine, grüne Krankenschwester sahen Tilda verständnislos an. Die sah sich zu einer freundlichen Ergänzung ihrer Worte veranlasst. So nett wie möglich fügte sie hinzu: “In der nächsten Woche werde ich erst einmal in die USA fliegen. Da würde mich der Portkatheter nur stören. Das verstehen sie sicher!“ Abrupt wandte sie sich zum Gehen. Bevor sie durch die Tür hinaus auf den Flur trat, sagte sie: „Einen schönen Tag noch für sie! Auf Wiedersehen sage ich besser nicht!“ Mit einem gequälten, kleinen Lächeln schloss sie leise die Tür hinter sich und ging dann schnell den Flur entlang in Richtung Ausgang.
Hinter ihr blieb es ruhig. Wahrscheinlich mussten sich Dr. Omntumbu und der grüne Zwerg erst einmal sammeln.
Tilda fühlte sich mit einem Mal großartig. Ihre Übelkeit und auch die Schwäche waren plötzlich wie weggeblasen. Es war das erste Mal seit Wochen, dass sie sich richtig gut fühlte. So, wie sich früher immer gefühlt hatte, als sie noch gesund war.
Zielstrebig ging sie nach Hause. In ihrem Kopf ordnete sie währenddessen bereits alle Dinge, die sie vor ihrer Abreise noch klären musste. Ihr fehlte eine ESTA-Einreisegenehmigung für die Staaten. Zum Glück gab es dieses vereinfachte Visumverfahren für Reisen in die USA. Ein reguläres Visum hätte sie viel mehr Zeit gekostet. Zeit, die sie nicht hatte.
Tilda war in Eile. Je früher sie das alles klärte, desto ehr würde sie fliegen können. Zwischen der Beantragung der ESTA-Genehmigung und dem Abflug des Antragstellers mussten, wenn sie sich recht erinnerte, mindestens 72 Stunden liegen. Das würde ihren Abflug ohnehin verzögern. Sie konnte es sich also nicht leisten, noch mehr Zeit zu verlieren.
Ludwig kam ihr in den Sinn. Tilda hatte das Gefühl, dass sie ihn anrufen sollte, um ihm zu sagen, dass er sie nicht abzuholen brauchte. Er wartete vermutlich auf ein Zeichen von ihr. Und ihre Eltern würde sie auch anrufen müssen. Sie würden sich bestimmt aufregen, würden ihre Entscheidungen für Fehler halten.
Als Tilda Ludwig anrief, um ihm mitzuteilen, dass sie schon wieder zu Hause war, ohne Operation, dafür aber mit Reiseplänen für die Staaten, sagte der im ersten Moment erst einmal gar nichts. Er war offenbar geschockt. Vielleicht hatte ihm ihre Mitteilung auch einfach nur die Sprache verschlagen.
Tilda konnte seine Reaktion nicht nachvollziehen. Immerhin hatte sie ihm ihre Reisepläne tags zuvor schon angedeutet. Hatte er ihr nicht zugehört?
Jetzt, da er merkte, dass sie das alles ohne ihn entschieden hatte, begann er, Tilda Vorwürfe zu machen. Durch´s Telefon herrschte er sie barsch an: „Du spielst mit deinem Leben, Tilda! Das ist einfach unverantwortlich!“ Er schnappte nach Luft und fuhr heftig fort. „So viel Unverstand! Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Du kannst doch jetzt nicht verreisen, als wenn nichts wäre! Ich versteh´ dich nicht! Das ist doch irre, was du da machst! Bist du denn lebensmüde?“
Er bemerkte jedoch bald, dass seine Einschüchterungen nicht die gewünschte Wirkung erzielten. Tilda war offenbar nicht zu bewegen, ihre Meinung zu ändern. Wütend legte er auf.
Irritiert starrte sie auf ihr Telefon. Sie hatte von ihm keine Beifallsbekundungen erwartet, aber auf keinen Fall Anschuldigungen und Vorwürfe. Dennoch stand ihre Entscheidung fest. Als Ludwig am Nachmittag nach Hause kam, wirkte er beleidigt und wortkarg. Tilda erkannte das sofort an seinem Gesichtsausdruck, als er zur Tür hereinkam. Immer, wenn ihm etwas gegen den Strich ging, sprach er nicht mit ihr oder nur so wenig wie möglich. Kaum hatte er seine Jacke im Flur aufgehängt, hielt er Tilda an beiden Schultern fest und starrte sie mit einer Mischung aus Wut und Hilflosigkeit an. Während er ihr in die Augen sah, presste er aggressiv hervor: „Bist du denn verrückt geworden? Wenn Du jetzt fliegst, dann wirst du sterben!“ Er schluchzte merkwürdig auf. „Du wirst sterben, wenn du dich nicht behandeln lässt! Begreifst du das denn nicht? Geht das nicht in deinen Dickschädel?“
Ein wenig tat er Tilda sogar leid, weil er sich so aufregte. Beschwichtigend schlang sie ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn auf die Wange. „Aber Schatz, ich sterbe doch sowieso! Auch wenn ich Chemotherapie mache!“ Sie versuchte zu lächeln, aber das misslang. Kurze Zeit rang sie um ihre Fassung, bevor sie mit Tränen in den Augen fortfuhr: „Du! Du bist der, der nichts begreift! Es ist eine Palliativbehandlung, die ich bekommen soll! Palliativ – verstehst du, was das heißt? Sie rechnen nicht damit, dass ich es schaffen kann. Für die Onkologen bin ich tot! Tot! Toooooot!“ Ludwig ließ hilflos die Arme sinken. Er suchte nach Worten. „Aber…… vielleicht geschieht doch noch ein Wunder……und die Chemo hilft dir?!“, stammelte er. Er war vollkommen überfordert mit dem, was geschah. Tilda löste ihre Arme langsam von seinem Hals und sah ihm in seine angstgeweiteten, blauen Augen. So aufgelöst hatte sie ihn bisher noch nie gesehen. Mit fester Stimme erklärte sie dann entschlossen: „Nein, Ludwig. Auf ein Wunder werde ich nicht hoffen. Ich weiß, dass ich handeln muss. Ich hab keine Ahnung, was ich tun soll. Aber ich werde es herausfinden. Dafür brauche Abstand.“ Ein wenig leiser fügte sie hinzu: „Ich bin doch kein krebskranker Lemming, der sich mit den vielen anderen krebskranken Lemmingen in den Abgrund stürzt, bloß weil all die anderen das tun!“
Resigniert ließ Ludwig sich auf die Couch im Wohnzimmer fallen und griff sich an die Stirn. Dann flüsterte er mit brüchiger Stimme: „Schatz, ich kann dir nichts vorschreiben. Das ist klar. Aber ich bitte dich inständig: Bleib hier und mach die Chemotherapie! Vielleicht bist du eine von den Wenigen, die damit wieder gesund werden!“ Tilda setzte sich neben ihn und ergriff seine Hand. „Warum sollte gerade ich diejenige sein, die es damit schafft? Selbst wenn mir das helfen sollte, die Überlebenszeit bei Krebs über 5 Jahre hinaus ist so gering, dass du noch nicht einmal zuverlässige Statistiken darüber finden kannst! Und wenn man doch irgendetwas findet, dann ist das alles bloß geschönt und entspricht nicht der Realität. Wer kann das kontrollieren? Tatsache ist doch, dass jeder vierte Mensch in Deutschland an Krebs stirbt. Krebs ist damit die zweithäufigste Todesursache bei uns in Deutschland.“ Sie legte ihre Stirn in nachdenkliche Falten und fügte hinzu: „Das sind einfach verheerende Zahlen. Und weißt du, dass achtzig Prozent aller Ärzte selbst keine Chemo machen würden, wenn sie Krebs hätten? Mindestens achtzig Prozent! Das sind zumindest die, die das bei den Befragungen zugegeben haben. So sieht die Realität aus, Luddi!“ Herausfordernd blickte sie Ludwig an und strich sich das wirre Haar aus der Stirn. Ihre blauen Augen funkelten dunkel und angriffslustig, während sie weitersprach: „Ja, alle die ich kenne, sind tot! Davon lebt keiner mehr. Und die haben alle haben ihre Chemotherapie durchgezogen. Ich kenne nur zwei Frauen, die den Krebs überlebt haben. Und das ohne Chemo! Aber die beiden hatten Brustkrebs. Das ist sicher nicht vergleichbar. Bei Brustkrebs sind die Zahlen viel besser. Aber vielleicht haben sie auch überlebt, weil sie keine Chemo gemacht haben. Oder weil ihre Tumoren in Wahrheit gutartig waren. Wer weiß das schon.“
Tilda ging in die Küche und kam mit zwei Gläsern Orangensaft zurück. Sie stellte eins auf den Couchtisch vor Ludwig und trank selbst einen großen Schluck von ihrem Glas, bevor sie es neben das seine stellte. „Und was Margarete angeht, eine der Brustkrebs-Frauen“, griff sie erneut das Thema auf, „vielleicht war das wirklich gar kein Krebs bei ihr. Vielleicht waren es nur Zysten oder Verkalkungen oder was weiß ich. Jedenfalls das, was man vor wenigen Jahren noch als gutartig bezeichnet hätte. Das glaubt sie auch. Heute ist doch angeblich alles immer gleich Krebs! Die gutartigen Tumoren scheinen ausgestorben zu sein. Das ist mir schon länger aufgefallen. Findest du das nicht auch merkwürdig?“ Sie sah ihn fragend an und als er nicht antwortete, sprach sie weiter: „Aber wenn man alles zu Krebs erklärt, dann hat man statistisch gesehen natürlich bessere Überlebensraten. Klar!“ Da Ludwig immer noch nichts sagte, fuhr sie fort: „Vielleicht lebt Margarete deshalb noch, weil das in Wahrheit gutartige Tumore bei ihr waren. Oder sie lebt noch, weil sie keine Chemo gemacht hat.“ Sie schaute einen Moment lang still vor sich hin und sagte dann nachdenklich: „Ich glaube, sie war auch noch bei so einer Besprecherin. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass sie bei so einer Frau war!“
Ludwig hob theatralisch die Hände: „Bei einer Besprecherin war sie? Heiliger Strohsack! Und an so einen Unfug glaubst Du?“, fragte er wütend. „Meine Eltern kennen in München eine Menge guter Ärzte. Das ist wenigstens was Reelles und nicht so ein Hokuspokus. Kriminell ist das! Besprecherin! Das ich nicht lache! Ich werde meine Eltern bitten, einen guten Onkologen für Dich zu finden, bei dem du dich vorstellen kannst. In München!“ Er trank einen Schluck und stellte sein Glas mit einem Knall wütend wieder zurück auf den Tisch, während er weitersprach: „Das sind studierte Leute, von denen du dir helfen lassen kannst.“ Er schlug mit der flachen Hand aufgebracht auf die hölzerne Tischplatte des Couchtisches, der das mit einem Ächzen quittierte. Der Orangensaft in den Gläsern zitterte. Tilda erhob sich entschlossen von der Couch. „Egal, Ludwig. Das bringt doch nichts. Was meinst du, was die Ärzte in München mit mir machen werden? Chemotherapie! Und zwar palliativ! Mach dir doch nichts vor! Du bist doch sonst immer so ein realistischer Mensch, wie du sagst!“
Tilda ging zurück in die Küche. Von dort aus sah sie durch die geöffnete Wohnzimmertür, wie Ludwig immer noch zusammengesunken auf der Couch hockte. Einerseits tat er ihr leid. Andererseits war sie wütend auf ihn, weil er sie wie ein unverständiges, kleines Mädchen behandelte. Sie war zwar sechs Jahre jünger als er mit seinen sechsunddreißig, aber sie litt doch nicht plötzlich an Verblödung, weil sie Krebs hatte! Was bildete sich dieser Mann eigentlich ein? Was wusste er schon davon, wie sie sich fühlte und was das Beste für sie war? Wie konnte er nur so blind sein, ihr genau das vorzuschlagen, was all die anderen verzweifelten Krebskranken auch schon erfolglos versucht hatten? Genau das, was die meisten von ihnen mit ihrem Leben bezahlt hatten. Tilda kochte innerlich vor Wut.
Schlagartig spürte sie wieder dieses Unwohlsein in sich. Es war ihr, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. In ihrem Bauch baute sich erneut der dumpfe Druck auf, den sie seit Wochen kannte. Sie setzte sich erschöpft auf einen der Küchenstühle. Entmutigt starrte sie vor sich hin, konnte kaum einen Gedanken fassen. Sie fragte sich verzweifelt, ob diese Krankheit tatsächlich ihr Todesurteil sein sollte. Warum stritt Ludwig mit ihr über die Behandlung? War nicht der Grund dafür in Wahrheit der, dass er die Verantwortung für den weiteren Verlauf abgeben wollte, um besser damit zu Recht zu kommen? War es tatsächlich das? Natürlich wäre das vollständiger Unsinn, denn es gab doch gar keine Verantwortung für ihn in dieser Sache! Warum verstand er nicht, dass sie alles für besser hielt, als die übliche Therapie?
Sie war enttäuscht von ihm. Dass Ludwig ihr in den Rücken gefallen war ließ ihr keine Ruhe. Langsam ging sie wieder hinüber zu ihm ins Wohnzimmer. Sein Gesicht wirkte verquollen, seine Augen gerötet. Er sah so aus, als ob er geweint hätte. Seit sie ihn kannte hatte sie ihn noch nicht ein einziges Mal weinen sehen. Irgendwie tat er ihr leid, aber sie fühlte gleichzeitig auch ganz viel Wut in sich. Sie fragte sich, warum er plötzlich so sensibel sein sollte. Hatte er vielleicht nur aus reinem Selbstmitleid geweint, weil sie so unnachgiebig auf ihrem Standpunkt beharrte? Vorsichtig setzte sie sich wieder neben ihn, legte versöhnlich ihren Arm um ihn und versprach mit der freundlichsten Stimme, zu der sie sich unter diesen Umständen fähig war: „Jetzt hör´ mir doch zu, Luddi! Ich bleibe nur drei Wochen bei Doro. Dann komme ich zurück. Und wenn mir bis dahin kein anderer Weg eingefallen ist, dann werde ich die Chemotherapie machen. Ich versprech´s dir!“ Sie machte eine Pause und sah ihn bittend an, bevor sie fortfuhr: „Wenn ich zurück komme ohne eine bessere Idee, dann werde ich das machen. Wäre das okay für dich?! Sie sah ihn abwartend an.
Ludwig schüttelte störrisch den Kopf und starrte zum Fenster hinaus, als gäbe es da irgendetwas zu sehen, was seinen Blick auf sich zog. „Du bist doch verrückt!“ presste er erneut barsch hervor. „Wir sind hier doch nicht auf einem türkischen Basar! Willst du mit mir handeln? Vergiss es! Meinen Segen bekommst du für deinen Amerika-Quatsch nicht.“ Er blickte trotzig weiter aus dem Fenster hinaus wie ein störrisches Kind. Ein wenig freundlicher fügte er dann hinzu: „Schatz, es ist deine Entscheidung und niemand kann dich zwingen. Aber ich würde dich zwingen, wenn ich könnte. Das kannst du mir glauben! Es muss doch einen Weg geben, dass du Vernunft annimmst! Du machst den Fehler deines Lebens und ich muss hilflos zusehen. Für mich ist das ein unerträglicher Zustand. Anders kann ich das nicht bezeichnen, was du da vorhast!“ Er stand auf und ging sturen Blickes aus dem Zimmer.
Tilda war wütend auf ihn, sehr wütend. Er dachte nur an sich. Sie war überzeugt davon, dass es das war, was ihn zu seiner Einstellung gebracht hatte und auch jetzt daran festhalten ließ. Er hätte sie sonst verstanden. Ludwig wollte sich später einfach keine Vorwürfe anhören müssen, dass nicht „alles versucht worden war“. Tilda kannte ihn nach den Jahren einfach. Ein bitteres Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie war enttäuscht, wie wenig Rücksicht er darauf nahm, was sie selbst eigentlich wollte. Sie war schließlich die Betroffene.
Ludwig wollte sich keine Vorwürfe machen müssen, wenn sie tot war. Für Tilda war das ein unvorstellbarer Gedanke. Wie würde es sein, wenn sie tot war? Wenn sie starb? Wie würde sich das anfühlen? War dann alles zu Ende oder gab es tatsächlich ein Erwachen auf der sogenannten anderen Seite? Entsetzt über ihre eigenen Gedanken zwang sie sie weg von diesem Thema. Wenn sie ihre Energien in das Todes- Thema hineinfließen ließ, dann würde es am Ende noch größer werden, wachsen und gedeihen. Sie schüttelte sich. Es war, als hätte ihr jemand einen Krug voller Eiswürfel in den Kragen gegossen. Tilda wollte auf keinen Fall, dass sich das schreckliche Thema in ihrem Leben weiter manifestierte. Außerdem war es nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken was wäre wenn. Aus ihrer Sicht stellte sich die Frage nicht. Jetzt war sie ärgerlich und aufgewühlt. Sie musste sich um ihr ESTA-Formular kümmern. Das war viel wichtiger. Sie schaltete ihren Laptop ein und ging zum Schrank hinüber, um ihren Reisepass zu holen.
Ludwig war inzwischen ins Arbeitszimmer gegangen. Sie hörte, wie er telefonierte. Dann sollte er eben bockig sein. Sie konnte doch nicht nachgeben, bloß weil sie Streit mit ihm vermeiden wollte. Genau genommen war alles im Leben eine Prüfung. Sie sah es jetzt als ihre Prüfung an, durchzusetzen, was ihr wichtiger war: Diplomatisch zu sein und ihre Überzeugung damit zu verraten oder autark zu bleiben und ein Zerwürfnis mit allen zu riskieren, die es besser zu wissen glaubten. Nachdenklich hing sie an der Auseinandersetzung mit Ludwig fest. Schlussendlich ging es doch bei dem Streit zwischen ihnen auch nur darum, wie weit sie sich von der gängigen Meinung in dieser Gesellschaft entfernen durfte, ohne auf Entrüstung zu stoßen. Tilda versuchte es so zu sehen. Personen, die gar nicht betroffen waren, schienen generell immer alles am besten zu wissen. Das Phänomen war hinlänglich bekannt.
Die Tür vom Arbeitszimmer öffnete sich und Ludwig kam mit dem Telefon in der Hand heraus. Er sah sie an und reichte ihr das Telefon ohne erkennbare Emotionen, wenn auch ein gewisser triumphierender Unterton in seiner Stimme schwang, als er ihr zuflüsterte: „Schatz, für dich! Deine Eltern…….!“ Sein Gesicht hatte rote Flecken, wie immer, wenn er sich sehr aufgeregt hatte und die Ader in der Mitte seiner Stirn war angeschwollen. Tilda erstarrte. Ludwig war sich nicht zu schade gewesen, ihre Eltern anzurufen, um sie dort anzuschwärzen. Er hatte tatsächlich nichts Besseres zu tun gehabt, als sich direkt nach ihrer Auseinandersetzung im Arbeitszimmer ans Telefon zu begeben und sie zu verpetzen. Tilda war außer sich vor Wut, versuchte aber, sich zusammenzureißen. Für sie war das ein Beweis mehr für ihre Vermutung, dass sein Inneres in Wahrheit gar nicht von dem Konflikt betroffen war. Wenn er tatsächlich so zerknirscht gewesen wäre, wie er sich noch vor einer halben Stunde gegeben hatte, dann hätte er sie jetzt wohl kaum schnurstracks verraten. Die Wut stieg Tilda ins Gesicht und machte es feuerrot. Wie konnte er nur! Selbst in dieser Situation wollte er unbedingt jemanden finden, der ihm Recht gab. Und er wollte, dass sie tat, was er für das Beste hielt. In ihren Augen war das das Allerletzte, um was es jetzt ging.
Nun hatte Tilda aber keine andere Wahl mehr. Sie musste sich ihren Eltern erst einmal stellen. Sich so neutral wie möglich zu verhalten war eine große Herausforderung, als sie ihre Mutter so plötzlich am Telefon hatte. Tilda konnte hören, wie sie schluchzte und völlig aufgelöst war. Ihre Stimme hatte diesen anklagenden Unterton, den sie von solchen Gelegenheiten her kannte: „Kind, wieso willst du denn keine Chemotherapie machen? Ludwig sagt, du hast den Termin für den Port heute platzen lassen. Warum machst du dir bloß solche Schwierigkeiten?“ Sie schluchzte in den Hörer, bevor sie fortfuhr: „Ist denn nicht schon alles schlimm genug? Du hast doch gar keine andere Wahl, Mädchen!“ Sie schluchzte erneut auf. „Es ist doch das Einzige, was du tun kannst in dieser schrecklichen Lage! Dein Vater findet das auch!“ Tilda hörte ihren Vater im Hintergrund irgendetwas sagen, konnte ihn aber nicht verstehen. Offenbar hatten ihre Eltern den Lautsprecher eingeschaltet, so dass ihr Vater alles mithören konnte. Tilda hasste diese Angewohnheit ihrer Eltern. Sie war nicht bereit, jetzt mit ihnen die gleiche Diskussion zu führen, wie kurz zuvor mit Ludwig. Sie war einfach nur sauer, weil niemand sie verstehen wollte. Sauer, weil sich niemand die Mühe machen wollte, sich wirklich in ihre Lage zu versetzen. Noch nicht einmal ihre eigenen Eltern wollten das tun. Dabei waren sie intelligente Menschen, die stets hilfreich bemüht gewesen waren, ihr im bisherigen Leben zur Seite zu stehen. Doch sogar sie schienen ihr jetzt in den Rücken fallen zu wollen. Tilda hätte sich so sehr gewünscht, dass sie wenigstens neutral geblieben wären, dass sie sich jetzt mit ihrer Meinung zurückgehalten hätten. Sie wollte unter diesen Umständen ganz bestimmt keine Auseinandersetzung mit ihnen. Tilda liebte sie und wollte keine Eskalation.
Während ihre Mutter auf sie einredete, versuchte Tilda ruhig zu bleiben und nicht unfreundlich zu werden. Während sie sich in Begründungen und Lobpreisungen der mutmaßlichen Hilfe durch moderne Chemotherapie erging, fiel Tilda ihr genervt ins Wort: „Mam, ich habe mir das gut überlegt. Das kannst du mir glauben! Die Chemo wird mich nicht wieder gesund machen. Das ist nur eine Palliativtherapie!“ Ihre Mutter antwortete erregt: „Aber Kind, woher willst du denn das so genau wissen? Die Medizin ist doch heute schon so weit! Vielleicht hilft sie dir ja mehr, als du dir vorstellen kannst?“ Und nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Jetzt nach Amerika zu fliegen bringt dich doch erst recht nicht weiter! Doro kann dir dort auch nicht helfen. Und du verlierst so viel wertvolle Zeit!“ Sie schluchzte am anderen Ende der Leitung und putzte sich die Nase. Genau das Argument hatte Tilda schon erwartet. Prompt entgegnete sie ihr schnippisch: „Ich verliere wertvolle Zeit? Aber Mam, das ist doch alles Quatsch! Das wäre nur der Fall, wenn mir die Chemo helfen könnte. Aber ob palliativ oder nicht, die Chemo hilft doch fast niemandem wirklich! Die Leute sterben doch trotzdem alle. Mensch Mam! Überleg´ doch mal! Wenn Krebs die zweithäufigste Todesursache in Deutschland ist, dann sieht es doch echt trübe aus mit der Heilkraft der Chemotherapie. Und dass Doro mir nicht helfen kann, das weiß ich auch allein!“
Offensichtlich entsetzt über ihre harschen Worte fiel ihr nun ihre Mutter ins Wort, wobei sich ihre Stimme überschlug: „So, Kind! Jetzt mach es aber mal halblang! Glaubst du, dass du klüger bist, als die Ärzte?“ Tilda verdrehte die Augen und schnaufte wütend, während sie entgegnete: „Ja, Mam, genau darauf habe ich gewartet. Genau darauf! Natürlich bin ich NICHT klüger, als die Ärzte. Aber ihr beiden, du und Paps, ihr solltet mal genau darüber nachdenken, wie viele Krebskranke ihr kennt. Und dann denkt mal darüber nach, wer von denen wieder gesund geworden ist und wer davon am Ende ins Gras gebissen hat. Jawohl, ins Gras gebissen! Trotz aller Chemotherapie, Bestrahlungen und wissenschaftlichem Schnickschack!“ Tilda machte eine klitzekleine Pause, um dann empört fortzufahren: „Na, und? Wie viele davon sind wieder richtig gesund geworden, Mam? Wie viele fallen dir da ein? Hmmm? Ich hör´ dich gar nicht mehr! Vielleicht müsstet ihr erstmal darüber nachdenken, bevor ihr mir Empfehlungen gebt! Niemand ist mehr am Leben von denen. NIEMAND!!!“ Tildas Stimme überschlug sich. „Ich – mach – da – nicht – mit! Verstehst du mich, Mam? Ich – mach – da – nicht – mit!“
Am anderen Ende der Leitung hörte man ein kurzes rascheln und knacken. Dann war die Stimme ihres Vaters zu hören. Er sagte beschwichtigend: „Mädchen, jetzt reg dich doch nicht so auf. Du bist doch ein kluges Kind. Meine Tochter. Im Grunde genommen ist das ja alles nicht verkehrt, was du da sagst. Aber solange du keine bessere Idee hast, würden wir dir empfehlen, die herkömmliche Therapie zu machen. Wir leben ja, Gott sei Dank, hier in einem Land, wo das möglich ist. In vielen anderen Ländern scheitert das ja häufig schon an den Kosten.“ Tilda entgegnete ihm aufgebracht: „Ja, Paps. Das stimmt. Das kann ich nicht bestreiten. Aber es geht doch hier gar nicht um die Kosten! Es geht darum, dass man nicht alles machen muss, was einem von der modernen Medizin angeboten wird! Manches von diesen Angeboten sind keine Segnungen, an denen jeder teilhaben kann! Manche dieser Angebote können einen Patienten auch ins Verderben stürzen. Das sieht man häufig erst hinterher.“ Sie schniefte: „Ich will mich nicht mit euch streiten. Das führt doch zu nichts. Den Krebs habe nun mal ich. Und deshalb entscheide ich, was ich tun werde. Meine Chancen aus Sicht der Onkologie sind Null, ob mit oder ohne Chemo. Die kann ich übrigens immer noch machen, wenn ich zurückkomme. Die läuft mir nicht weg. In drei Wochen will das Krankenhaus auch noch Geld an mir verdienen, keine Sorge!“ Tilda lachte bitter. „Ihr beiden, wenn Ihr was für mich tun wollt, dann könnt Ihr am Dienstag zum Flughafen kommen und mir eine gute Reise wünschen. Würdet ihr das bitte tun?“ Ihr Vater seufzte nur und ihre Mutter rief von weiter hinten mit schriller Stimme: „Aber Kind, nun sei doch nicht so uneinsichtig…….!!!“ Während sie ihre Mutter im Hintergrund immer noch weiterreden hörte, sie sagte gerade irgendwas von Unvernunft, beendete Tilda mit ihrem Vater kurzentschlossen das Gespräch.
Später, nachdem sie im Internet ihr ESTA-Formular für ihre Einreise in die USA ausgefüllt hatte und bereits nach einigen Minuten eine Bestätigung der US-Behörden erhalten hatte, kam auch Ludwig wieder aus dem Arbeitszimmer heraus. Es war ganz offensichtlich, dass er den Raum als Deckung benutzt hatte, um sich dort zu verkriechen. Seine wasserblauen Augen musterte Tilda einen kurzen Moment lang, um herauszufinden, wie ihr Gemütszustand war. Anscheinend wollte er daraus Schlussfolgerungen ziehen, wie das Telefonat mit ihren Eltern verlaufen war. Tilda jedoch ging schnurstracks an ihm vorbei und würdigte ihn keines Blickes. Ehe sie die Badezimmertür hinter sich schloss, um zu duschen, konnte sie sich nicht verkneifen, ihm ein: „Vielen Dank, du Verräter!“ entgegen zu zischeln. Sie verriegelte geräuschvoll die Badezimmertür hinter sich und hörte Ludwig noch jenseits der Tür sagen: „Es war nur ein Versuch von mir! Versteh mich bitte, ich musste das tun!“ Tilda ignorierte seine Rechtfertigung. Sie fragte sich wütend, auf welcher Seite er eigentlich stand. Während sie den warmen Wasserstrahl auf ihrem Körper spürte und minutenlang ganz still darunter stand, kamen ihr die Begebenheiten des Tages noch einmal in den Sinn.
Und wenn sie nun tatsächlich nur noch vier Monate oder sogar weniger zu leben hatte, wie es die Prognose der Ärzte für sie aussagte? Dann würde es Mitte oder Ende September sein. Im September würde demnach alles, was noch von ihr übrig blieb, in eine kleine Urne passen. Sie stand da wie erstarrt. Sollte das etwa ihr Leben gewesen sein? Sollte das alles gewesen sein? Es war eine Vorstellung, die Tilda die Tränen in die Augen trieb. Unter dem Wasserregen der Dusche war das bedeutungslos. Und letzten Endes: Ein Menschenleben mehr oder weniger auf dieser Welt, wen kümmerte das schon wirklich. Das fiel doch gar nicht auf. Für ihre Eltern würde es sicher furchtbar sein. Natürlich! Aber immerhin hätten sie dann noch Doro. Und Doro war am Leben! Noch dazu hatten sie durch Doro auch drei Enkelkinder, die sie liebten. Wenn der Herbst kam, dann würde sie vielleicht tatsächlich gehen müssen. Vielleicht auch schon vorher. Wer konnte das sagen? Jetzt, wo Tilda diesen Umstand realistisch betrachtete, was ihr wirklich schwer fiel, war ihr eines klar: Ihre prognostizierte Lebenserwartung, die sie jetzt noch hatte, traf doch nur auf sie zu, wenn sie die empfohlene Therapie machte. Nur für diesen Fall konnten die Mediziner in der Klinik eine Prognose stellen. Fast alle Patienten mit ihrer Diagnose hatten die übliche Therapie gemacht. Manche aus Überzeugung, mache aus Angst und manche aus Verzweiflung. Aber immer war es dieselbe Voraussetzung, die da in die Statistik einfloss. Eine Therapie, die die Patienten von vornherein aller weiteren Chancen beraubte, weil sie das Immunsystem zerstörte oder zumindest so stark beschädigte, dass es selbst mit der Hilfe anderer, geeigneter Maßnahmen meist keine Heilung mehr gab. Es war eine Sackgasse in die alle sehenden Auges hineinrannten, bis sie dort unweigerlich zugrunde gingen. Es schien tatsächlich kaum jemanden zu geben, der sich wiedersetzte.
Tilda war bisher leider nichts wirklich Brauchbares als Alternative eingefallen. Zu wenige Menschen schienen sich dafür zu interessieren. Und wenn sie es doch taten, dann stellten sie ihre Erfahrungen der Allgemeinheit offenbar nicht zur Verfügung. Während immer noch das heiße Wasser aus der Dusche auf ihre Haut prasselte und Tilda versuchte, das zu genießen, starrte sie mit leeren Augen vor sich hin.
Beim Abtrocknen fühlte sie sich schwindelig und schwach. Der Tag hatte an ihren Nerven gezerrt. Sie setzte ich auf den Hocker aus hellem Holz, der im Badezimmer gleich neben dem großen Waschtisch stand. Die Anstrengungen forderten jetzt ihren Tribut. Tilda war trotzdem nicht unzufrieden. Auch wenn es einigen nicht passte, was sie tat. Sie hatte vieles erreicht und einiges entschieden an diesem Freitag. Das war alles in allem viel mehr, als sie in der Kürze der Zeit für möglich gehalten hatte. Jetzt war es Abend und sie hatte keinen Portkatheter, sie hatte mit Ludwig und mit ihren Eltern Klartext gesprochen und sie würde in Kürze zu Doro und ihrer Familie nach Arizona fliegen. Bei allem Schrecklichen, das in ihrem Leben gerade passierte, gab es auch Grund zur Freude. Tilda war zufrieden. Alles in allem war es doch ein guter Tag für sie gewesen.
Spät am Abend schrieb Tilda Conny noch eine Nachricht. „Hi Conny, habe mir keinen Port setzen lassen. Mache keine Chemo. Fliege nächste Woche nach Arizona zu meiner Schwester. Grüß alle in der Schule von mir. Melde mich! Alles wird gut. Tilda“ Die Antwort kam augenblicklich: „Hi meine Süße, Du machst alles richtig. Ich bin auf Deiner Seite, habe aber große Angst um Dich. Du machst das schon. Du bist ein großes Mädchen! Ja, alles wird gut. Liebe Grüße, Conny“. Tilda fühlte sich erleichtert. Zumindest eine Freundin hatte sie, die ihr nichts auszureden versuchte und die ihr keine Vorhaltungen machte, obwohl sie selbst auch Angst hatte. Sie zögerte einen Moment. Dann schrieb sie Conny: „Ich habe auch große Angst.“, und schickte die Nachricht ab. Die Antwort von Conny kam genauso schnell, wie beim ersten Mal: „Ich weiß.“ Tilda stiegen wieder die Tränen in die Augen. Sie wusste schon, was sie an Conny hatte. Aber dieses stille Einvernehmen erfüllte sie trotz der Umstände mit großer Freude und Erleichterung. Es gab zum Glück Menschen in ihrem Leben, mit denen sie nicht alle Dinge lang und breit diskutieren, sie hin und her wälzen und sich rechtfertigen musste. Trotzdem war alles klar. Conny war schon immer ein ganz besonderer Mensch für sie gewesen, nicht nur wegen ihrer schrillen Outfits. Sie kannte sie jetzt schon seit einer gefühlten Ewigkeit. Dabei war diese Ewigkeit realistisch betrachtet noch gar nicht so lang. Sie betrug nur ganze fünf Jahre.
Tilda erinnerte sich jetzt an Connys langes, braunes Haar. Das war ihr damals zu allererst aufgefallen, als sie sie zum ersten Mal im Lehrerzimmer gesehen hatte. Und an ihr fröhliches, entspanntes Lachen. Und daran, dass sie mit ihrer Größe alle anderen Kolleginnen überragte. Als sie sich zum ersten Mal die Hand gegeben hatten und Tilda wegen Connys Größe ein wenig zu ihr aufschauen musste, hatte Conny grinsend gesagt: „Jetzt fragen sie mich aber bloß nicht, wie die Luft hier oben ist! Der alte Witz ist öde.“ Tilda hatte gelacht und einfach nur: „Nö!“ gesagt. Das Eis war gebrochen und dank Conny hatte Tilda sich viel schneller in ihren Arbeitsalltag als Lehrerin hineingefunden. Conny hatte ihr damals einiges erspart und sie in aller Freundschaft auch vor dem einen oder anderen Kollegen gewarnt. Das, was sie selbst an Erfahrungen gemacht hatte, stellte sie Tilda einfach so zur Verfügung. Als Begründung für dieses Verhalten hatte sie damals nur kurz gesagt: „Ich denke, wenn einer damit angeeckt ist, dann reicht´s! Und ich bin schon.“
Conny war immer so lustig und unbeschwert, obwohl sie es in ihrem Leben bisher nicht leicht gehabt hatte. Eigentlich hatte sie eine ganz dramatische Geschichte hinter sich, von der sie sich glücklicherweise nicht hatte unterkriegen lassen. Der Mann, den sie geliebt hatte, war vor über fünf Jahren auf schreckliche Art und Weise bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Das war auf der Fahrt nach Hause passiert, in die gemeinsame Wohnung, die die beiden erst eine Woche zuvor bezogen hatten. Er war am späten Abend mit seinem Auto aus unerklärlicher Ursache frontal gegen einen Baum gefahren. Der Unfallhergang konnte nie abschließend geklärt werden. Er war auf der Stelle totgewesen. Seitdem hatte Conny keinen anderen Mann mehr angesehen. Sie sagte immer, dass ihr Herz noch nicht wieder frei sei für eine neue Liebe. So war Jahr um Jahr vergangen. Dabei gab es genug Männer, die sich für Conny interessierten. Sie hatte aber keinen Blick für die Bewerber. „Es dauert so lange wie es dauert. Und vielleicht geht es ja nie vorbei. Wer weiß.“, pflegte Conny ihren eigenwilligen Standpunkt dann immer klar zu machen.
Das war typisch für sie. Sie ließ sich nie unter Druck setzen. Es war diese Eigenschaft, die Tilda schon immer am meisten an ihr bewundert hatte. Das traf auch auf ihren Umgang mit Schülern und Kollegen zu und überhaupt auf alles, was in ihrem Leben so stattfand. Der Grundsatz, sich nicht erpressen zu lassen, machte ihr Leben auf eine gewisse Art und Weise viel leichter und unkomplizierter. Das war wohl auch der Hauptgrund dafür, warum sie im Gegensatz zu anderen Menschen viel entspannter durch ihr Leben schipperte. Sie sagte von sich immer, sie sei der Korken in der Mitte eines Flusses. Immer sicher, immer gemütlich, immer ohne die geringste Gefahr des Unterganges oder die Angst, vom rechten Wege abzukommen. Conny war der Ansicht, dass jeder Mensch in seinem Leben möglichst bald lernen sollte, „richtig gut nein“ zu sagen. Denn durch den Schlingerkurs, den viele Zeitgenossen fuhren und der daraus resultierte, dass sie ihre Meinung nicht von Anfang an ehrlich kundtaten, machten sie sich selbst nur Schwierigkeiten. Tilda hatte von ihr gelernt, dass es tatsächlich oft besser war, erst einmal „nein“ zu sagen. Zum Beispiel dann, wenn man nicht ganz sicher war. Später war es problemlos, eventuell doch noch einzulenken. Es war in der Tat kein Problem, dieses Nein später in ein Ja zu verwandeln. Das Gegenteil war viel komplizierter. Erst einmal zuzustimmen und dann später doch abzulehnen war fast unmöglich, ohne sich unbeliebt zu machen.
Conny nannte diesen Vorgang: „Für die anderen zum Arsch werden“. Sie benutzte diese Formulierung oft und gern und lachte jedes Mal darüber. Eine Freundin wie Conny zu haben war für Tilda ein beruhigendes Gefühl, zumal Doro, ihre Schwester so weit weg war.
Irgendwie hatte Conny das Bestmögliche aus dem schrecklichen Schicksalsschlag in ihrer Vergangenheit gemacht. Nach einem einsamen Jahr in der ursprünglich gemeinsamen Wohnung, war Conny zurück zu ihren Eltern nach Stellingen gezogen. Dort bewohnte die Familie schon seit Generationen eine große, alte Villa mit viel Platz und einem wunderschönen, romantischen Garten. Conny war dort aufgewachsen. In diesem Garten hatte sie gespielt und gelacht, als sie ein Kind war. Dort fühlte sie sich auch jetzt wieder wohl.
Sie bewohnte eine der beiden Einliegerwohnungen unter dem Dach ihres Elternhauses. Das hatte den Vorteil, dass sie sich mit ihren Eltern nicht in die Quere kam. Sich mit Connys Eltern in die Quere zu kommen war ohnehin kaum möglich. Zumindest Tilda sah das so. Connys Eltern waren erstaunlich jung gebliebene Leute, ein wenig durchgeknallt und sehr nett. Sie hatten die Ansichten und Einstellungen von Mittdreißigern, obwohl sie gut und gerne doppelt so alt sein mussten, denn sie waren beide schon längere Zeit im Ruhestand. Tilda hatte sie bereits vor Jahren kennengelernt. Es war tatsächlich sehr schwer, die beiden auf ihr wahres Alter zu schätzen. Sie entzogen sich durch ihre Art und durch ihre jugendliche Ausstrahlung allen Maßstäben.
Vielleicht lag ihr Anderssein auch daran, dass sie die langen Winter in Deutschland mieden und stattdessen seit geraumer Zeit die kalte Jahreszeit in Südfrankreich verbrachten. Dort lebten sie glücklich, bescheiden und ohne großen Luxus, so dass Conny immer lachend behauptete, sie würden sehr viel Geld sparen können, wenn sie für immer dort bleiben würden. Obwohl sie ihre Eltern liebte, war sie durchaus von Zeit zu Zeit glücklich darüber, sie eine Weile lang los zu sein. Noch glücklicher war sie dann allerdings, wenn die beiden im Frühjahr wieder aus dem Süden zurückkehrten. Conny hatte in Tildas Augen bewiesen, dass es möglich war, auch aus einem schlimmen Schicksal noch etwas Gutes zu machen. Es kam offenbar nur auf die innere Einstellung an. Lächelnd erinnerte sich Tilda jetzt daran, dass sie Conny einmal danach gefragt hatte, ob sie ihren Eltern für die Wohnung im Dachgeschoss auch Miete zahlen würde. Schließlich war es ja nicht selbstverständlich, dass ein erwachsenes Kind mit eigenem Leben und eigenem Einkommen wieder ins elterliche Haus zurückkehrte, um dort eine ganze Etage zu bewohnen. Auf die Frage hin hatte Conny sie verständnislos angeschaut und im Brustton der Überzeugung gefragt: „Ich??? Ich soll ihnen Miete zahlen??? Ich verstehe deine Frage nicht! DIE müssen MIR was zahlen. Schließich bin ich die Hälfte des Jahres die Haus-Sitterin von dem großen Kasten!“ Tilda hatte ein wenig irritiert geschwiegen und dann unsicher gemurmelt: „Naja, ich dachte ja bloß…..“ Conny hatte schallend darüber gelacht und konnte sich erst gar nicht wieder beruhigen. Natürlich zahlte sie Miete an ihre Eltern, wie sie später richtigstellte. Aber sie machte ihre Späße gern und bei jeder Gelegenheit. Und sie machte sie mit allen Menschen ihrer Umgebung gleichermaßen. Berührungsängste hatte sie in dieser Hinsicht nicht. Deshalb gab es in der Schule zur zwei Lager: Die, die Conny liebten und die, die Conny hassten. Letztere wahrscheinlich deshalb, weil sie nie so genau wussten, woran sie bei ihr und ihren Späßen waren.
Auch eine weitere Begebenheit hatte Tilda nie vergessen. Es war während einer Grippewelle. Die Hälfte der Lehrer (und zum Glück auch ein Teil der Schüler) war krank. Die übrigen Lehrer mussten eine Flut von Vertretungsstunden übernehmen, um den Schulbetrieb überhaupt aufrechterhalten zu können. Im Namen aller hatte sich Conny beim Direktor bereits den Mund verbrannt, als sie auf der Lehrerversammlung offiziell zur Kenntnis gegeben hatte, dass sie selbst und die übrig gebliebenen Kollegen mit der Situation vollkommen überfordert waren. Trotzdem hatte der Direktor sie alle zu immer neuen Vertretungsstunden verurteilt. Conny hatte das am nächsten Tag am Vertretungsplan gesehen. Sie war dermaßen wütend darüber gewesen, dass sie Tilda sofort angekündigt hatte, diese Stunden diesmal nicht zu halten. Erbost hatte sie gesagt, der Direx solle sie sich „in die Haare schmieren“ oder so ähnlich. Das sei keine Schule mehr, sondern ein Irrenhaus. Conny und sie hatten sich zum Trost nach dem regulären Unterricht auf eine Pizza verabredet. Als sie beide auf leisen Sohlen möglichst unauffällig über den Schulkorridor in Richtung Ausgang strebten, erwischte sie der Direktor sozusagen auf frischer Tat. Seine tiefe Bassstimme dröhnte durch den langen Korridor, als er ihnen hinterherrief: „Wann kann ich denn heute noch mit ihnen rechnen, liebe Kolleginnen?!“ Nach einer Schrecksekunde hatte sich Conny zu ihm umgedreht und geflötet: „Überhaupt nicht, lieber Herr Direktor! Überhaupt nicht!“ Dann hatte sie ihm noch einmal gewinnend zugelächelt und war dann ungerührt in Richtung Ausgang weitergegangen. An Tilda gewandt hatte sie leise gezischelt: „Komm schnell!“. Draußen auf der Straße hatte sich Conny dann über den gelungenen Spaß vor Lachen ausgeschüttet. Tilda hingegen war danach nicht so sehr zum Lachen zumute gewesen.
Sie konnte sich noch gut erinnern, dass auch einige andere von Connys Späßen für sie anfangs gewöhnungsbedürftig waren. Das mochte wohl auch daran gelegen haben, dass sie zu diesem Zeitpunkt den etwas merkwürdigen Sinn für Humor ihrer Freundin noch nicht verstanden hatte. Aber das änderte sich schnell. Mit Conny zusammen war es immer lustig gewesen. Welche Konsequenzen Conny und sie damals für den Aufritt mit dem Direktor ertragen mussten, überraschte sie. Keine. Offiziell wurde die Begebenheit nie wieder erwähnt. Conny hatte übrigens immer eine gute Erklärung dafür, warum man sich nicht alles gefallen lassen dürfe. Ein ungeschriebenes Gesetz, so sagte sie jedenfalls, beschrieb die Regel: Wenn einer immer gut zum anderen ist, dann muss der andere böse werden. Zunächst schien diese Sichtweise ein Widerspruch in sich zu sein. Im Laufe der Jahre aber hatte Tilda erkannt, dass der Satz voller Wahrheit steckte.
Noch am selben Wochenende begann Tilda, ihre Reisevorbereitungen zu treffen. Für sie stand außer Frage, dass sie für zwei bis drei Wochen in Arizona nicht allzu viel benötigen würde. Dort war im Juni heißes Sommerwetter. Die Sachen für kühle Tage konnten folglich zu Hause bleiben. Alles, was sie vergessen hatte, würde sie sicher von ihrer Schwester bekommen können. Sie flog schließlich zum Familienbesuch und nicht als Touristin in eine Bettenburg.
Noch mehrmals nahm Ludwig Anlauf, um sie doch noch umzustimmen. Er bat und bettelte, versuchte sie mit allerlei Argumenten zu einem Sinneswandel zu bringen. Tilda ließ sich auf keine Diskussion mit ihm ein. Ihr war klar, dass wenn sie jetzt nicht flog, womöglich nie wieder etwas daraus werden würde. Noch reichten ihre Kräfte für eine Reise, aber wie lange würde das noch so sein? Im Gegensatz zur Vorwoche hatte Tilda sogar das Gefühl, ihr ginge es etwas besser. Die Anfälle von Übelkeit hielten sich in Grenzen. Nur ihr Appetit, der wollte einfach nicht wiederkommen. Ihr Gewichtsverlust setzte sich immer weiter fort. Seit Beginn des Jahres vor fünf Monaten hatte sie schon 10 Kilo verloren. Dementsprechend war sie auch viel weniger belastbar als früher. Sie fühlte sich die meiste Zeit über schwach und ausgelaugt. Das war ein Grund mehr, nur leichtes Gepäck mitzunehmen. Ludwig´s Versuche, ihre Reise zu verhindern, empfand sie als bedrohlich. Sie war sich sicher, dass er ihr gegenüber nicht ehrlich war und mit ihren Eltern paktierte. Nicht nur er, sondern auch ihre Eltern blieben dabei, dass sie in ihrem Zustand auf gar keinen Fall so eine Reise antreten sollte. Ihr Vater Thomas war nicht davor zurückgeschreckt, ihr klipp und klar zu sagen, dass er ihr Handeln für unverantwortlich, unüberlegt und obendrein kindisch hielt. Das hatte Tilda sehr verletzt. Sie war sofort in Tränen ausgebrochen. Nicht so sehr wegen seines Standpunktes, sondern deshalb, weil sich offensichtlich noch nicht einmal ihre Eltern die Mühe gemacht hatten, sich wirklich einmal in ihre aussichtslose Lage zu versetzen. Stattdessen beharrten sie auf ihrem Standpunkt, dass sie sich in der Klinik „helfen lassen sollte“. Tilda war todtraurig darüber, dass ihre Eltern in ihrer eigenen Angst und in ihrem Stress vollkommen verdrängten, dass es überhaupt keine wirkliche Hilfe in der Klinik für sie gab. Noch dazu war ihr Vater früher doch immer selbst derjenige gewesen, der der Meinung war, dass Angst ein schlechter Ratgeber sei. Während Tilda diese Weisheit schon als Kind verinnerlicht hatte, schien er sie inzwischen vergessen zu haben.
Die traurige Realität war unumstößlich die, dass Tilda mit ihren Eltern in dieser Angelegenheit nicht auf einen gemeinsamen Nenner kommen konnte. Sie fand das sehr schlimm. Sie war nicht daran gewöhnt, Differenzen mit ihnen zu haben. Tilda wollte auf keinen Fall im Streit mit ihnen auseinandergehen. Normalerweise hätte sie ihre Reise unter solchen Umständen gar nicht erst angetreten. Es schmerzte sie, dass sie offenbar wirklich in dieser angespannten Situation abreisen musste. Zudem belastete sie der Gedanke, dass ihre Eltern auch Doro deswegen unter Druck setzen würden.
Weinend hatte Tildas Mutter zu ihr bei einem ihrer vielen Anrufe nach der Reiseentscheidung gesagt: „Kind, ich habe das schlimme Gefühl, dass wir uns nicht mehr wiedersehen, wenn du jetzt fliegst!“ Obwohl für Tilda allein der Gedanke daran schon Horror war und sie am liebsten augenblicklich losgeheult hätte wie ein Schlosshund, hatte sie doch mit fester Stimme dagegen gehalten: „Mam, jetzt hör auf damit! Ich fliege zu meiner Schwester und dort überlege ich mir, was ich weiter tun werde. Hier reden doch ohnehin nur alle auf mich ein! Ich kann gar keinen klaren Gedanken mehr fassen. Und ihr seid auch nicht gerade hilfreich für mich, Mam!“ Und nach einer kurzen Pause fügte sie anklagend hinzu: „Denkt ihr denn, ich bin blöd? Mir ist auch klar, dass ich sterben könnte. Und Mam, das will ich nicht! Aber ich brauche einen anderen Plan! Und überhaupt: vielleicht reicht für mich auch schon andere Luft. Ich ersticke hier!“
Etwas unsicher vernahm sie die Stimme ihrer Mutter durch´s Telefon: „Wie meinst du das denn, du brauchst andere Luft? Kind, ich kann dir nicht folgen! Andere Luft heilt doch keinen Krebs!“ Tilda versuchte, ihre Unsicherheit zu überspielen: „Naja, niemand weiß, warum ich diesen Krebs bekommen habe. Vielleicht ist hier irgendein Gift in meiner Umgebung. Was weiß ich denn? Sag du mir doch, woher ich diese Krankheit habe!“ Statt einer Antwort kam nur Schluchzen vom anderen Ende der Leitung. Tilda hatte genug von dieser Depression, die sich wie ein schwarzer Schleier über ihre gesamte Familie gelegt hatte. Schließlich war sie noch nicht tot und wenn sie noch nicht tot war, dann gab es noch Hoffnung.
Aber hin und wieder überkam sie selbst Panik beim Gedanken an den Ausnahmezustand, in dem sie sich befand. Alles in ihrem Leben stand mit einem Mal in Frage. Normalerweise war es so, dass die Eltern vor ihren Kindern starben. Jetzt würde es vielleicht umgekehrt sein. Seit sie an dieser schrecklichen Krankheit litt, die mit dem Fortbestand ihres Lebens unvereinbar war, schienen alle ihr diese Tatsache unablässig deutlich machen zu wollen. So, als ob sie das nicht selbst längst verstanden hätte. Diese Tatsache erzeugte ein unbeschreibliches Vakuum in ihr. Ein Vakuum, das sie immer mehr zusammendrückte und das ihr die Luft zum Atmen nahm. Unter Tränen wiederholte ihre Mutter noch einmal, sie möge doch in Hamburg bleiben, „da man doch schließlich nicht wisse, was kommen würde“.
Tilda spürte, wie ihre Angst sich immer mehr in Aggression verwandelte. Eigenartigerweise war das ein befreiendes Gefühl. Entschlossen stand sie von dem Stuhl im Arbeitszimmer auf, auf dem sie gesessen hatte. „Mam? Ich bin noch nicht tot. Hörst Du? Das kannst du auch Paps sagen. Ich bin noch nicht tot! Und wenn man noch nicht tot ist, dann kann man noch was machen. Mir wird schon irgendwas einfallen. Ich weiß nicht was, aber mir ist bisher immer was eingefallen. Was ich weiß ist, dass ich dringend raus muss aus Hamburg, sonst sterbe ich tatsächlich noch!“ Und mit fester Stimme fügte sie hinzu: „Und ihr beiden seid auch nicht gerade hilfreich für mich! Den Vorwurf müsst ihr euch schon gefallen lassen.“ Sie beendete wütend das Gespräch, indem sie das Telefon auf die Ladestation warf. Neugierig steckte Ludwig den Kopf zur Tür herein. Wahrscheinlich hoffte er insgeheim, Tilda hätte eine Kehrtwende vollzogen. Stattdessen giftete sie ihn an: „Und du? Du kannst auch verschwinden! Ihr seid alle so furchtbar selbstgerecht! Ihr wisst alles besser! Wer ist denn hier eigentlich krank? Nein, du wirst schon nicht sterben, Ludwig! Jetzt guck´ mich nicht so komisch an. Ich kann´s nicht mehr sehen und ich kann´s auch nicht mehr hören. Ich bin froh, wenn ich hier weg bin! Ihr seid doch alle irre! Ihr bringt mich wirklich noch um mit eurem Gerede!“
Voller Wut rauschte sie aus dem Zimmer, nahm eine ihrer Jacken von der Garderobe im Flur und schlug die Tür hinter sich zu, die daraufhin krachend ins Schloss flog. Sie hatte in diesem Moment keine Ahnung, wohin sie gehen sollte. Sie wollte nur weg von Ludwig, raus aus der gemeinsamen Wohnung, raus aus dem Stress. Ziellos lief sie durch die Stadt. Es war inzwischen dunkel geworden. Manche Geschäfte waren noch geöffnet und aus den Schaufenstern floss das Licht golden auf den Bürgersteig. Überall waren Menschen. Es tat Tilda gut, so ganz anonym unter ihnen zu sein. Niemand kannte sie, niemand wusste etwas von ihr. Sie war plötzlich wieder ein ganz normaler Mensch unter vielen anderen ganz normalen Menschen in dieser Stadt. Tilda fühlte sich wie befreit und atmete tief durch. Es war kühl geworden. Die frische Luft füllte ihre Lungen mit Sauerstoff und beruhigte ihre angespannten Nerven. Niemals hätte sie gedacht, wie glücklich sie frische Luft machen konnte.
Sie dachte darüber nach, dass jeder Mensch in seinem Leben immer etwas ganz Besonderes sein wollte. Bis vor kurzem wollte sie das auch. Aber nach allem, was ihr in den letzten Tagen passiert war, mochte sie noch nicht einmal mehr daran denken. Sie wollte einfach nur noch ganz normal sein, vollkommen unauffällig. Sie wollte normale Dinge tun, ein ganz normales Leben haben und vor allem eine ganz normale Gesundheit. War das denn unnormal? War das zu viel verlangt? Gedankenschwer lief sie die hell erleuchtete Straße entlang und unter all den Menschen hatte sie das Gefühl, einzutauchen in diese anonyme Gemeinschaft, von ihr getragen zu werden und einfach nur wie Conny der Korken in der Mitte auf dem reißenden Fluss zu schwimmen. Conny schien alles richtig gemacht zu haben. Conny war fidel, fröhlich, gesund und schlagfertig, obwohl sie so ein furchtbares Schicksal hinter sich hatte. Conny! Umständlich fischte Tilda ihr Handy aus der Jackentasche. Zwanzig Minuten später saßen die beiden Frauen in einem gemütlich erleuchteten Kaffee und tranken gemeinsam ein Glas Wein auf die Zukunft. „Kopf hoch!“ sagte Conny und lächelte ermutigend. „Die anderen in deiner Familie haben doch alle nur Angst. Sie wollen nichts falsch machen. Sie sind wie gelähmt. Versuch´ sie ein bisschen zu verstehen!“ Tilda wollte es ja versuchen. Aber wer verstand sie?
Am darauffolgenden Montag, nachdem sie gerade ihre Flüge gebucht hatte, klingelte das Telefon. Es war die onkologische Ambulanz des Krankenhauses. Dr. Schnitzer selbst, der Onkologe, wollte sie sprechen und scheute offensichtlich keine Mühen, ihr noch einmal zu erklären, dass eine Chemotherapie zwar nur ein Angebot an den Patienten sei, aber dass er ihr unter den gegebenen Umständen dringend dazu raten müsste. Tilda schwieg im ersten Moment irritiert. Sie war verwundert, dass die Fürsorge des Krankenhauses sogar so weit ging, den abtrünnigen Patienten per Telefon zu Hause ins Gewissen zu reden. Gleichzeitig wuchs ihr Misstrauen. Dr. Schnitzer empfahl ihr dringend, noch einmal über ihre Entscheidung nachzudenken? Wieso war ihre Entscheidung denen im Krankenhaus so wichtig? Tilda blieb einsilbig am Telefon. Ihr Blick glitt über die Flugtickets nach Phoenix/Arizona, die ausgedruckt auf dem Tisch vor ihr lagen. Die wahren Beweggründe von Dr. Schnitzer waren ihr eigentlich egal. Er machte lediglich seine Arbeit und er würde sie mit seinem Gift- Cocktail auch nicht vor dem Tode retten können. Er hatte die Mehrzahl der anderen vor ihr ja auch nicht retten können. Was also sollte sein Anruf bei ihr bewirken? Er hatte ihr nichts vorgeschlagen, was eine wirkliche Chance in sich trug. Tilda wollte keinen Streit mit ihm. Sie wollte nur, dass er sie in Ruhe ließ. Und sie wollte nicht sterben, sich nicht kampflos ergeben und sie wollte auch keine Morphium-Tröpfe. Sie beendete das Gespräch.
Nachdenklich beobachtete sie die blau-weiß gestreifte Markise, die draußen auf dem Balkon im Frühlingswind flatterte und die Sonne, die goldene Streifen auf die Scheiben der großen Terrassentür warf. Waren Krankenhäuser nicht auch nur Firmen, die Gewinne erwirtschafteten mussten, um sich selbst zu erhalten? Wie war es da eigentlich um die Ehrlichkeit bei den Behandlungs- Angeboten bestellt? Wie neutral konnte so eine Klinik beraten, wenn eine Therapie -zigtausend Euro kostete und ein Teil davon als Gewinn blieb? Wie viele Krebspatienten brauchte eine Klinik im Jahr, um ihren Status als Therapiezentrum aufrecht zu erhalten? Wenn der Arzt seinen Patienten hinterher telefonierte und ihn zu etwas überreden wollte, dann war das nach Tildas Empfinden schon sehr merkwürdig. Es war ihr unheimlich. Egal welche Beweggründe Dr. Schnitzer in Wahrheit hatte. Sie würde nichts tun, was sie später vielleicht bereuen würde.
In diesem Durcheinander von Ratlosigkeit und Hoffnung, zwischen Hilflosigkeit, Übelkeit, Schwäche und Einsamkeit war Tilda eines jedoch nach diesem Abend mit Conny ganz klar geworden: Sie wollte unter allen Umständen der Korken sein. Sie wollte auf dem reißenden Fluss des Lebens in der Mitte und an der Oberfläche bleiben. Sie wollte weiter schwimmen, weiter, immer weiter. Sie wollte nicht vor der Zeit zugrunde gehen.
Was sie wollte war ihre Reise nach Amerika. Sie wollte zu ihrer Schwester, zu ihrem Schwager Sam und zu den Kindern. Sie hatte zwar noch überhaupt keinen Plan, wie sie das anstellen sollte, aber sie würde dort schon etwas finden, was sie am Leben hielt. Irgendetwas würde ihr schon einfallen. Es war notwendig, also war es möglich. Tilda war sich sicher, dass sie nichts mehr brauchte, als innere Einkehr, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Obwohl sie sich in höchstem Maße verunsichert fühlte, war sie doch zum gleichen Zeitpunkt auch voller innerer Zuversicht, dass sie es schaffen würde. Sie würde nicht sterben! Genau das war es, was sie für sich entschieden hatte, was sie tief in sich fühlte.
Ein alles überlagerndes, großartiges Gefühl der Dankbarkeit, eine Mischung aus Zuversicht und innerem Frieden erhellte Tilda wie ein inneres Licht, als sie an diesem Abend ins Bett ging und ihre Decke über sich zog. Sie lag vollkommen still in der Geborgenheit des dunklen Raumes. Aus dem Wohnzimmer drangen die Geräusche des Fernsehers. Ludwig sah sich irgendeinen Krimi an. Er war ein Meister der Ablenkung und doch konnte Tilda ihn ein wenig verstehen. Während sie so im Dunkeln lag, lauschte sie still in sich hinein. Da war eine große Schwäche ich ihr, aber sie fühlte sich trotzdem nicht schlecht. Als ihre Augen sich nach ein paar Minuten an das Dunkel des Raumes gewöhnt hatten glitt ihr Blick über die Konturen der Möbel, deren Silhouetten sich würdevoll und stumm im Dunkel des Raumes abzeichneten. Ihre Augen wanderten weiter über das Glas der großen Fensterscheiben, die gen Westen hinausgingen. Draußen hatte es zu regnen begonnen. Der Himmel weinte. Am dunklen Glas sah sie, wie die Silberfäden des Regens hinabglitten, sich immer wieder erneuerten und weiterflossen. Tropfen wie Silberperlen bildeten sich und wurden abwärts gezogen wie von einer unsichtbaren Kraft. Sie stellte sich vor, dass sie wie ein Korken im brodelnden Fluss ihrer Krankheit davon schwamm. Weiter und weiter zog sie der Fluss, immer weiter weg aus der Gefahrenzone. Um sie herum gurgelte das vom Regen aufgepeitschte Wasser. Wer hatte sie eigentlich gefragt, was sie selbst wollte? Und war es nicht vollkommen egal, wie reißend der Fluss war? Korken gingen niemals unter, denn Korken schwammen. Es würde einen Weg geben. Es gab immer einen Weg. Es war notwendig, also war es möglich.