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Wir hatten das Handy angepeilt, das Doretta Tomlin unserer Kollegin Josy O'Leary entwendet hatte. So konnten wir nicht nur Dorettas Aufenthaltsort lokalisieren, sondern auch ein Telefongespräch abhören, dass sie sie mit einem gewissen George Kang geführt hatte.

Mister Kang, wie der Hongkong-Chinese respektvoll genannt wurde, war kein unbeschriebenes Blatt. Er war einer der aufstrebenden Bosse in Chinatown und hatte im Drogenhandel ein Vermögen gemacht.

Aus dem Telefongespräch, dass Doretta mit Kang geführt hatte, wussten wir jetzt, warum die schöne Stripperin uns gegenüber so zugeknöpft gewesen war.

Sie wollte sich ihr Wissen versilbern lassen.

Und Kang war offensichtlich Tief in die Geschehnisse am Yachthafen von Laurence Harbour verwickelt.

Unauffällig waren gut zwei Dutzend unserer Agenten als Touristen getarnt an Bord der LIBERTY gegangen, die als Treffpunkt abgemacht war.

Jay und Leslie waren ebenso dabei wie Orry, Clive und Fred.

Auch Josy O'Leary hatte es sich nicht nehmen lassen, an der Operation teilzunehmen - allerdings genau wie Milo und ich gut getarnt. Josy trug eine Perücke, die ihr rotes Haar verdeckte. Außerdem eine Sonnenbrille.

Milo und ich hatten ebenfalls unser Äußeres geändert.

Mein Partner war von unserem Maskenbildner Windermere auf alt getrimmt worden, hatte graues Haar und wirkte jetzt wie ein gesetzter Mittfünfziger. Der graue dreiteilige Anzug tat ein Übriges dazu.

Ich durfte mich praktischer anziehen und trug einen Blouson, unter dem ich meine Dienstwaffe gut verbergen konnte. Der Großteil meines Gesichts war von einem künstlichen Vollbart bedeckt. Mir graute schon vor dem Moment, da Frozzel das Ding wieder herunterziehen würde...

Ich hatte die SIG in der einen Faust, die FBI-ID-Card in der anderen.

"FBI! Waffe fallen lassen!"

Soeben hatte die Geldübergabe zwischen Doretta und Mister Kang stattgefunden.

Unsere Kollegen hatten alles auf Video.

Bei einem späteren Prozess würden diese Aufnahmen als Beweismittel dienen.

Einer von Kangs Leuten kam mir entgegen, wollte offenbar vom Oberdeck flüchten.

Mitten in der Bewegung hielt mein Gegner inne.

Mit der rechten Faust umfasste er eine Automatik.

Er feuerte sofort.

Die Kugel traf mich mitten in die Brust, riss meinen Blouson auf und wurde von der Kevlar-Weste aufgefangen, die ich darunter trug.

Es war wie ein Hieb mit einem Baseballschläger.

Ich wurde die Treppe hinuntergeschleudert.

Landete hart auf dem Rücken.

Mein Gegner feuerte eine zweite Kugel in meine Richtung. Zentimeter neben mir schlug sie in den Boden ein.

Touristen liefen schreiend davon.

Der Chinese setzte zu einem blindwütigen Sturmlauf an, aber Milo ließ nicht zu, dass er noch mal zum Schuss kam.

Mein Kollege zog den Stecher der SIG durch.

Die Kugel erwischte den Kerl an der Schulter, riss ihn seitwärts. Er gab nicht auf, ließ Milo keine Wahl. Tödlich getroffen sank der Mann zu Boden.

Unbeteiligte Touristen versuchten Panik vom Oberdeck herunter zu kommen.

Orry setzte gleichzeitig einen der anderen Mobster mit einem Karate-Tritt vor den Solar Plexus außer Gefecht.

Ächzend sank er zu Boden.

Eher er die Pistole hochzureißen vermochte, war Clive bei ihm, kickte dem Kerl die Waffe aus der Hand. Der Chinese erstarrte, als er in den Lauf von Milos SIG blickte.

Ich rappelte mich hoch, rang nach Luft.

"Alles in Ordnung?", fragte Milo.

Ich nickte.

"Ich protestiere gegen Ihr Vorgehen!", ereiferte sich Mister Kang.

Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn.

Clive dirigierte ihn mit der SIG in der Hand zurück auf den Sitzplatz gegenüber von Doretta. Dann kettete der stellvertretende Special Agent in Charge den Mann aus Chinatown mit den Handschellen an das Metallgestell des Sitzes.

Wir hatten den Zeitpunkt unseres Eingreifens mit Bedacht gewählt.

Die meisten Touristen waren ohnehin in Richtung des Landungsstegs unterwegs.

Wir hatten aktiv werden müssen, bevor es Kang und seinen Leuten gelang, sich in diesen Strom einzureihen und die Fähre zu verlassen. In dem Fall hätten die Gangster Hunderte von lebenden Schutzschilden um sich herum gehabt. An einen Zugriff war unter solchen Bedingungen nicht zu denken.

Einige Kollegen sorgten dafür, dass von den an Land wartenden Touristen niemand an Bord kam. Sie würden das nächste Schiff zurück zum Battery Park nehmen müssen.

Einige Minuten später befand sich die LIBERTY auf dem Rückweg.

Ich ging auf Doretta zu.

"So sieht man sich wieder", sagte ich.

Sie schluckte.

"Wie konnten Sie so schnell..."

Ich erklärte es ihr in knappen Worten und setzte hinzu: "Es war ein Fehler von Ihnen, uns nicht reinen Wein einzuschenken, Doretta."

Sie atmete tief durch, nickte dann.

Ich streckte die Hand aus. "Sie haben etwas in Ihrem Besitz, was meiner Kollegin Josy gehört!"

Sie zog die Waffe aus ihrer Jackentasche und reichte sie mir. "Ich dachte... zur Sicherheit", flüsterte sie tonlos.

Ich sah mir die Waffe genau an, reichte sie Josy weiter.

"Die Kanone war nicht einmal entsichert. Sie hätten gar nicht schießen können!"

Der Koffer lag noch immer auf Dorettas Knien.

Ich bemerkte, dass Kang ihn wie entgeistert anstarrte.

Er riss an den Handschellen.

"Bringen Sie mich hier weg, verdammt!"

"Aber warum denn?", fragte ich. "Genießen Sie die Aussicht, Mister Kang! Wir werden gleich den Battery Park erreichen, wo ein Gefangenentransporter auf Sie und Ihre Leute wartet!"

Kang schluckte.

"Ich muss hier weg!", keuchte er.

"Wir haben Zeit genug, um Ihnen erst mal in aller Ruhe Ihre Rechte zu erklären!", mischte sich Milo ein.

Mister Kang schien buchstäblich Todesangst zu haben.

Der große Boss keuchte.

Ich zog mir Latexhandschuhe aus den Taschen, streifte sie über.

Anschließend nahm ich den Koffer, legte ihn auf den freien Platz neben Doretta und öffnete ihn.

Bündel mit Geldscheinen waren zu sehen.

Ich nahm eines der Bündel.

Die zweite Lage bestand nur aus Papier. Der Koffer enthielt keine Million. Wahrscheinlich nicht einmal 10 000 Dollar. Und es war noch nicht einmal klar, ob es sich nicht um Falschgeld handelte.

"Aus dem neuen Leben wäre nicht viel geworden, Doretta", stellte ich fest. "Erstens hat Kang Sie betrogen und zweitens hätte er sie gejagt wie ein Tier, sobald diese Sache über die Bühne gegangen wäre!"

"Sie meinen also, ich sollte Ihnen dankbar sein, Jesse?"

In dieser Sekunde entdeckte ich den kleinen Draht.

Das Ticken war praktisch nicht zu hören.

Der Wind blies zu stark vom Atlantik her über die Bucht vor New York.

Aber ich sah Kangs aschfahles Gesicht.

"Werfen Sie den Koffer ins Meer! Schnell!", schrie er im nächsten Moment wie von Sinnen.

Kurz entschlossen schleuderte ich das wichtigste Beweisstück in diesem Fall über die Reling.

"Bist du..."

...verrückt geworden!", hatte Milo seinen Satz wohl beenden wollen.

Aber er die gewaltige Detonation, die in der nächsten Sekunde folgte, ließ ihn verstummen. Der Koffer explodierte kurz bevor er die Wasseroberfläche erreichte.

Immerhin hatte ich die Bombe weit genug weggeschleudert, sodass die Schiffswandung nicht beschädigt wurde.

Doretta war leichenblass geworden.

Sie starrte Mister Kang fassungslos an.

"Dieses Schwein", murmelte sie nur. Ich nehme an, dass in diesem Augenblick endgültig begriff, dass das üble Spiel, auf das sie sich eingelassen hatte, einfach eine Nummer zu groß für sie gewesen war. Sie konnte verdammt froh sein, mit heiler Haut daraus hervorgegangen zu sein.

Thriller-Paket 11 Krimis Juni 2020 Sammelband 11002

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