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Kapitel 1

„Jetzt guck nicht so traurig, sonst muss ich auch gleich weinen“, bat Miaka ihre beste Freundin, die wie ein ausgesetzter Welpe wirkte. „Es ist nur für die Sommerferien – vielleicht wird es sogar spaßig. Du wirst sehen, die Ferien werden im Nu zu Ende sein und dann kommst du wieder zurück.“

Sey schüttelte traurig den Kopf. Das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Am liebsten würde sie auf der Stelle ein tiefes Loch buddeln und sich vergraben. Miaka sah sie mitfühlend an und nahm sie nochmals in den Arm.

„Trotzdem ist es Kacke. Du hättest deinem Dad und seiner Tussi was pfeifen sollen!“, empörte sich Anja gereizt und erntete von Leetha einen ermahnenden Stoß.

„Was denn? Ausgerechnet die Sommerferien. Das sind die besten in einem Schuljahr! Das weiß doch jeder.“

Sey schluckte die aufkommenden Tränen herunter. Sie wollte nicht weinen, wollte nicht schwach sein. Nicht jetzt und nicht vor ihren Freundinnen. Deshalb lächelte sie – ein verzagtes und einsames Lächeln – und umarmte zum Abschied noch Leetha und danach Anja.

„Pass auf dich auf und melde dich, wenn du angekommen bist. Egal wie, per Handy, Mail, von mir aus per Brief, aber Hauptsache du meldest dich. Ich denke an dich“, verabschiedete sich Leetha von ihr und drückte sie abermals fest.

„Lass dich bloß nicht unterkriegen“, meinte Anja und zwinkerte Sey aufmunternd zu.

Sey nickte, allerdings fühlte sie sich alles andere als stark.

Missmutig schleppte sie ihren großen Koffer in den Zug und suchte sich einen freien Platz, von wo sie aus dem Fenster nach draußen starrte. Ihre Freundinnen blieben vor dem Wagen stehen, um zu winken. Wie gerne würde sie auch auf der anderen Seite der Glasscheibe sein. Sie mochte zwar Anjas temperamentvolle Art nicht, doch sie hatte Recht: sie hätte ihrem Vater die Meinung entgegenschleudern sollen. Doch das konnte sie nicht und nun musste sie sich fügen und zu ihrer Großmutter fahren, die sie eine Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte. Bei dem Gedanken wurde ihr übel. Als das Pfeifen für den Lokführer erklang und der Zug sich ratternd in Bewegung setzte, fühlte sie die Furcht vor dem Unbekannten und der bevorstehenden Reise aufsteigen. Wie vom Blitz getroffen sprang sie auf und öffnete das Fenster des Zuges, der immer schneller wurde. Miaka rannte noch winkend nebenher, aber sie konnte die Worte ihrer Freundin nicht mehr verstehen. Der Wind verschluckte sie unbarmherzig.

„Also das war ja fast wie in einer Liebesschnulze. Möchtest du uns etwas sagen?“, kommentierte Anja die Szene und streckte Miaka neckisch die Zunge heraus als die Bahn nur noch als kleiner Punkt zu erkennen war, der sich schließlich in Luft aufzulösen schien.

„Ha ha, ich finde das gar nicht witzig. Hast du nicht bemerkt wie fertig sie war?“

„Sie schien doch recht gefasst. Außerdem selber schuld, wenn sie ihren Mund gegenüber ihrem Alten nicht aufmachen kann! Ich würde mir das nicht gefallen lassen.“

Miaka verdrehte genervt die Augen und versuchte, sich in Geduld zu üben.

„Du weißt, dass sie das nicht kann.“

„Tja, das ist dann wohl ihr Pech. Da muss sie jetzt eben durch. Nicht mein Problem, wenn sie die besten Ferien des Jahres verpasst.“

„Hey, ihr zwei. Bitte, es reicht“, schaltete sich Leetha ein, die keine Lust auf Streitereien hatte. Zu ihrem Unglück schienen ihre Freundinnen sie zu überhören, denn sie fingen jetzt erst an, sich so richtig in Rage zu reden.

„Du könntest ruhig ein bisschen Mitleid zeigen!“

„Wieso? Sey ist doch nicht mehr da!“

„Oh Menno“, flüsterte Leetha bedrückt, sah sich kurz um und ließ die Streithähne dann stehen. Sollten sie ohne sie diskutieren. Sie hatte andere Angelegenheiten, die sie genug beschäftigten. Ihre Gedanken kreisten ständig um den Vorfall im Wald und im Freibad. Es gab eine Verbindung zwischen den Ereignissen und die hieß Gesa. Wieso hatte sie einen Einblick in ihr Familienverhältnis erhalten? Handelte es sich hierbei um die Vergangenheit des Mädchens? Wohin war das Haus verschwunden, nachdem Lexington und John sie gefunden hatten? Wieso war sie ungeschoren davongekommen? Was oder wer genau hatte sie gerettet?

Gedankenverloren blieb sie auf der Stelle stehen und starrte auf den gefundenen Ring, den sie noch immer an ihrer Hand trug. Er hatte sich verändert, das Auge war verschwunden. Nun sah er wie ein ganz gewöhnliches Schmuckstück aus, bei dem ein Stein oder Ähnliches fehlte. Sie hatte es bisher nicht über sich gebracht, ihn auszuziehen, wo sie doch vermutete, dass er etwas mit ihrer plötzlichen Rettung zu tun hatte. Der Kampf mit den Spinnen hatte unschöne Spuren auf ihrem Körper hinterlassen, die langsam anfingen zu verblassen. Sie konnte es sich unmöglich eingebildet haben. John und Lexington hatte sie vorgelogen, sich die Wunden bei dem Sturz geholt zu haben.

Leetha seufzte. Sie hasste es, ihren Bruder anzulügen. Am liebsten würde sie ihm alles erzählen, aber es war einfach zu verrückt. Das würde er ihr nie glauben.

„Der Ring wird dir aber nicht gerecht, du hast was Schöneres verdient.“

Leetha zuckte erschrocken zusammen, als dicht hinter ihr die bekannte Stimme erklang. Überrascht drehte sie sich um und blickte in Lexingtons amüsiert grinsendes Gesicht.

„Was machst du denn hier? Ich meine – hi.“

Er lachte amüsiert auf und nahm sie zur Begrüßung kurz in seine Arme, um ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken.

„Hi, wie geht‘s dir? Wieder besser?“, fragte er und sah sie noch immer mit einem verschmitzten Lächeln an. Leetha spürte ein leichtes Kribbeln, als sein eindringlicher Blick sie fesselte.

„Ja, auf jeden Fall besser. Danke dir, und selbst?“

„Bei mir ist alles klar. Was machst du hier?“

„Ich habe eine Freundin verabschiedet, die dazu verdammt ist, ihre gesamten Ferien bei ihrer Oma zu verbringen.“

Lexington zog im gespielten Entsetzen die Augenbrauen in die Höhe und vergrub die Hände in den Hosentaschen seiner Jeans.

„Bei ihrer Oma? Die gesamten Ferien? Dann ist sie wohl des Todes.“

„Na ja, kommt wohl leider fast hin“, gab Leetha lächelnd zur Antwort. „Und was machst du hier?“

„Ha, nun versprich mir nicht zu lachen, ich bin auf dem Weg in den Blumenladen, der hier am Bahnhof ist. Ich brauche einen schönen Strauß … für meine Mutter, versteht sich.“

Leetha nickte und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Lexington fing an, auf seinen Füßen hin und her zu wippen.

„Ähm, also … ich könnte dabei Hilfe gebrauchen. Wenn du nichts vor hast …?“

Sie spürte, wie Wärme in ihre Wangen schoss und überlegte eilig, bevor sie antwortete.

„Ein, zwei Stunden kann ich wohl für dich entbehren.“

„Habt Dank, gnädiges Fräulein, ihr seid meine Rettung“, scherzte er und zwinkerte ihr gut gelaunt zu. „Wenn ihr mir folgen würdet?“

Er reichte ihr seinen Arm. Sie deutete fröhlich einen Knicks an und hakte sich bei ihm ein. Miteinander schäkernd schlenderten sie zum Blumenladen.

Sey starrte durch das Fenster, auch dann noch, als der Hauptbahnhof längst nicht mehr zu sehen war. Wie gerne würde sie aus dem Zug springen und elegant wie eine Feder zurück in ihre Heimatstadt fliegen! Sehnsucht verwandelte sich schleichend in Traurigkeit und dann in Wut. Wut auf die Geliebte ihres Vaters, die sie nicht ausstehen konnte und auch nie würde. Wut auf ihn und vor allen Dingen auf sich selbst, weil sie einfach nicht imstande war, ihre Meinung zu äußern und selbstsicher zu vertreten. Sie bekam diese verfluchte Unsicherheit nicht los. Seufzend ließ sie sich auf das abgenutzte Sitzpolster fallen und kramte in ihrem blauen Rucksack nach ihrem Taschenbuch „Geheimnis Schiva“. Jedoch konnte sie sich nicht konzentrieren, so sehr sie es auch versuchte. Als sie dieselbe Seite ein fünftes Mal las und danach den Inhalt noch immer nicht wiedergeben konnte, klappte sie die Lektüre zu und holte stattdessen ihren MP3 Player hervor. Ihre Gedanken machten sich selbstständig und nicht einmal Bon Jovi vermochte sie mit seinen einfühlsamen Liedern zu trösten. Sey sah zu, wie die Landschaft viel zu schnell an ihr vorüberzog und schloss dann traurig die Augen. In einer Stunde würde sie das erste Mal umsteigen müssen.

„Was hältst du von diesen hier?“

Lexington zeigte begeistert auf einen Topf mit etlichen Blumen, die in frohen Orange-Rottönen blühten.

„Ernsthaft?“

Leetha blickte ihn zweifelnd an und war sich nicht sicher, ob er sich wieder einen Scherz mit ihr erlaubte oder ob er tatsächlich nicht wusste, was er da kaufen wollte.

„Die sind doch schön knallig und farbenfroh, findest du nicht?“

„Du weißt wirklich nicht, was das für Blumen sind?“

„Nun .. Schnittblumen?“, antwortete er mit einem schulbübischen Lächeln und zuckte ahnungslos mit den Schultern.

„Schnittblumen ist nicht mal schlecht“, meinte Leetha lächelnd und schüttelte dann leicht ihren Kopf. „Allerdings glaube ich nicht, dass die hier die richtigen für deine Mutter sind.“

„Wieso? Klär mich bitte auf. Du weißt, ich habe absolut keinen Schimmer.“

„Okay, das ist Klatschmohn.“

Lexington wartete vergeblich auf eine ausführliche Erklärung und starrte sie verständnislos und unbeholfen zugleich an.

„Kann sein, und?“

Leetha musste unwillkürlich grinsen und zog ihn lachend von den Pflanzen weg.

„Ich kenne Klatschmohn nur als Grabblumen. Falls deine Mutter sich mit Blumen etwas auskennt könnte sie dir das krumm nehmen.“

Lexingtons Augen weiteten sich vor Überraschung, dann fing er bei der Vorstellung herzhaft zu lachen an.

„Oh, verdammt. Du siehst, ich bin ohne weibliche Hilfe total aufgeschmissen.“

„Das kann man wohl sagen“, gluckste Leetha und zog ihn sanft hinter sich her zu der Floristin des Ladens. „Ich bin leider auch keine Expertin, aber dafür gibt es Angestellte.“

Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu, worauf er ihr neckisch die Zunge herausstreckte.

„Ha ha, aber mal Scherz beiseite. Welche Blumen bekommst du denn normalerweise geschenkt? Von deinen Freundinnen und von deinem … Freund?“

„Keine“, lautete Leethas knappe, aber bestimmte Antwort, während sie sich die verschiedenen Pflanzen betrachtete.

„Wie keine? Keine wie ‚mein Freund ist ein Arsch und schenkt mir keine Blumen‘ oder keine wie ‚ich habe keinen Freund‘?“

Sie schaute auf und ein amüsiertes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.

„Eins muss man dir lassen – du bist wirklich direkt.“

„Ich weiß, danke. Und die Antwort?“

„Ich habe keinen Freund.“

„Also besteht die Chance dich heute Abend auf ein Date einzuladen?“

„Gerne, was möchtest du machen beziehungsweise wo möchtest du hin?“, meinte Leetha und bewunderte abermals seine dunkelbraunen Augen mit dem faszinierenden Violettstich.

„Das darfst du dir gerne aussuchen. Du hast die Wahl zwischen Kino, Disco oder Irish Pub. Falls dir nichts davon gefällt, bin ich auch gerne für weitere Vorschläge offen.“

„Mmh, nein. Das passt. Das Irish Pub hört sich gut an.“

Lexington grinste erfreut und vereinbarte mit Leetha eine Uhrzeit. Als sie sich dann verabschiedete, sah er ihr schmunzelnd hinterher.

„Ach herrje, John. Warum hast du mir nicht verraten, wie süß deine kleine Schwester inzwischen geworden ist?“

„Auch das noch! Wieso läuft momentan alles schief?!“, fluchte Sey entmutigt vor sich hin, wetzte über den unübersichtlichen Bahnhof und durch das Labyrinth der vielen Menschen. Ihr Zug hatte eine ganze viertel Stunde Verspätung, da er auf einen anderen Zug gewartet hatte und nun konnte sie nur hoffen, ihren eigenen Anschluss nicht zu verpassen. Sie hatte keine Lust, sich eine neue Verbindung heraussuchen zu müssen und hier länger als nötig zu warten. Gehetzt rannte sie die Treppen zu dem ersehnten Gleis nach oben und rumpelte ungeschickt gegen andere Leute. Böse Blicke kreuzten ihren Weg und sie versuchte, die verächtlichen Bemerkungen zu überhören, die ihr hinterhergerufen wurden. Sey murmelte etliche Entschuldigungen vor sich hin und atmete erleichtert auf, als sie den gewünschten Anschlusszug erspähte. Schnell sprang sie mit ihrem vollen Koffer in die Bahn und rang erschöpft nach Atem. Als ihr Herz und ihr rauschender Puls sich etwas beruhigt hatten, betrat sie das erste Abteil und suchte sich durch den engen Flur einen Sitzplatz in dem kleinen, stickigen Waggon. Es war viel zu heiß und ihre Kleider klebten ihr durch den unfreiwilligen Spurt schweißgetränkt am Leib. Sie rümpfte die Nase als sie die abgestandene Luft, die nach einer Mischung aus Salami und ungewaschenen Körpern roch, einatmete. Dennoch nahm sie den ersten freien Platz, den sie kriegen konnte. Eilig kramte sie abermals ihren MP3 Player hervor und drehte ihn laut auf, sodass sie die Schreie unerzogener Kinder und das Schnattern anderer Fahrgäste nicht mehr hören musste. Sey sah sich gar nicht erst um, sondern ließ ihren Blick gleich aus dem Fenster gleiten, wo sich die vorbeiziehenden Städte mit der Zeit nach und nach lichteten und immer kleiner wurden, sodass sie bald nur noch winzige Dörfer und etliche Ackerfelder passierten.

„Sag mal, findest du das eigentlich lustig? Du hast wohl denn Schuss nicht mehr gehört!“

Anja baute sich empört vor ihrer besten Freundin auf, die sie erschrocken und überrascht zugleich anstarrte.

„Anja, wo kommst du denn her?“

„Na von da, wo du mich mit Miaka hast stehen lassen!“

Leetha schluckte und zuckte verlegen mit den Schultern. Hilfesuchend blickte sie zu Miaka, die neben Anja stand, doch genauso beleidigt dreinsah.

„Sorry, Leute, aber ich hatte keinen Bock auf Stress …“

„Und da verschwindest du einfach? Wir haben uns Sorgen gemacht, verdammt!“

Anja stampfte wütend mit dem Fuß auf und Leetha schloss kurz die Augen, damit ihr die Ruhe nicht entglitt. Bevor sie allerdings zu einer erneuten Erklärung ansetzen konnte, schaltete sich Miaka ein.

„Wie dem auch sei. Verabschiede dich das nächste Mal wenigstens. Was machst du eigentlich vor dem Blumenladen?“

„Wen interessiert denn schon Grünzeug? Sag lieber, was für einen hässlichen Ring du da die ganze Zeit mit dir herumträgst“, polterte Anja und zeigte mit einem verächtlichen Blick auf das Fundstück an Leethas Hand.

„Ich habe mich von euch verabschiedet und den Ring habe ich … im Wald gefunden“, stotterte Leetha, die von den unschönen Erinnerungen geschüttelt wurde, unentschlossen.

„Ich habe das Gefühl, du hast uns einiges zu erzählen, oder?“

Fragend musterte Miaka ihre Freundin und die nickte zustimmend. Sie holten sich schnell einen Kaffee und setzten sich in den nahe gelegenen Park, abseits einer Gruppe von Fußball spielenden Kindern, die energisch dem Ball hinterher hetzten. Leetha wartete nicht lange und berichtete ihnen ohne Umschweife von dem Haus im Wald, den Illusionen und von ihrem Überlebenskampf. Nachdem sie geendet hatte, starrten ihre Freundinnen sie mit großen Augen an. Allerdings hegten sie keine Zweifel daran, dass ihre Geschichte real war. Für einige Minuten herrschte eine schwer lastende Stille, die nur von dem heiteren Kinderlachen im Hintergrund untermalt wurde.

„Das ist echt irre. Was geht hier nur vor?“, murmelte Anja geschockt und fasziniert zugleich, während sie den Ring staunend musterte.

„Kannst du dich noch an den Weg zu dem Haus erinnern?“, hakte Miaka nach, doch Leetha schüttelte verneinend den Kopf.

„Nein, leider nicht.“

„Mmh … das ist blöd. Oder vielleicht weißt du noch, wie der Familienname lautete?“

Als Leetha nach längerem Nachdenken erneut den Kopf schüttelte, seufzte Miaka resigniert auf und stützte grübelnd ihren Kopf in die Hände.

„Mist, so hätten wir womöglich etwas über das kleine Monster und deren Herkunft herausfinden können.“

„Absolut, wir stehen vor dem Nichts – die bildliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen“, stimmte Anja geistesabwesend zu. „Wir wissen jetzt nur ihren Namen, doch ob sie allein ist oder ob sie menschlich ist, wissen wir nicht.“

Irritiert sahen Miaka und Leetha ihre Freundin an, die sich an ihren Blicken nicht zu stören schien.

„Hier geht etwas nicht mit rechten Dingen zu. Sie kann kein normales Mädchen sein. Wer oder was auch immer sie ist – es muss irgendwie aufgehalten werden!“

Kapitel 2

„Ich hab’s gewusst!“

Fluchend trat Sey gegen ihren Koffer und blickte verdrossen auf das leere Gleis. Natürlich hatte sie einen ihrer Anschüsse verpassen müssen, doch dass es ausgerechnet der letzte Zug war, den sie hätte wechseln müssen, war ärgerlich. Sie war mitten im Nirgendwo. Der Bahnhof war fast menschenleer, was nicht wirklich verwunderlich war, denn in der näheren Umgebung befanden sich nur vereinzelte Dörfer. Zwei ganze Stunden würde sie in diesem Kaff festsitzen. Resigniert und den Tränen nahe ließ sich Sey auf eine der zerkratzten Holzbänke nieder. Sie wollte sich ablenken, an nichts mehr denken. Meistens gelang ihr das mit Musik. Doch leider schien heute nicht ihr Tag zu sein, wie sie fluchend feststellen musste. Die Batterien von ihrem MP3 Player waren aufgebraucht und so sehr sie auch in ihrer Tasche suchte, sie hatte keine zum Wechseln eingepackt.

„Was für ein beschissener Tag! Was für ein beschissener, scheiß Tag!“

Sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten, warf die leeren Batterien wütend in Richtung Mülleimer, zog ihre Knie an und vergrub den Kopf in ihrem Schoß. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als bei ihren Freundinnen und Zuhause zu sein.

„Also, jetzt haben wir genug die Köpfe angestrengt und uns halb zu Tode gegrübelt. Themawechsel: ist dein Bruder noch solo?“

Anja wandte sich abrupt Leetha zu, die einige Sekunden brauchte, um ihre trüben Gedanken neu zu ordnen und ihr zu folgen.

„Wie, was, wieso?“

„Na warum wohl. Beantworte mir einfach meine Frage!“

Miaka schüttelte leicht den Kopf. Anja konnte es mal wieder nicht lassen.

„Oh, verstehe. Ähm, nach meinem aktuellen Wissensstand ist er das. Hey, wenn du magst, kann ich euch verkuppeln“, rief Leetha begeistert. „Hatten wir es letztens nicht schon davon?“

„Wie auch immer. Sehe ich aus, als hätte ich es nötig, verkuppelt zu werden? Das mache ich gefälligst selbst“, empörte sich Anja und Leetha murmelte eine leise Entschuldigung mit einen Seitenblick auf ihre Armbanduhr. Entschlossen und erleichtert, der Situation zu entkommen, stand sie auf.

„Sorry Leute, ich muss mich spurten, um den nächsten Bus zu bekommen.“

„Wieso das denn? Du willst dich doch nur verdünnisieren, weil du mich beleidigt hast“, konterte Anja und hielt sie am Handgelenk fest.

„Übertreib es nicht, okay? Ich habe heute Abend ein Date und möchte mich in aller Ruhe frisch machen. Zufrieden?“

„Ein Date?“, wiederholte Miaka überrascht und richtete sich neugierig auf. Auch Anja war sofort Feuer und Flamme.

„Natürlich nicht! Mehr Details gefälligst,“ forderte Anja hartnäckig.

„Morgen, ich muss wirklich los“, entgegnete Leetha wahrheitsgemäß, jedoch ließ sie Miaka nicht gehen.

„Dann verrat uns wenigstens, wer der Glückliche ist. Vorher kommst du hier nicht weg.“

„Recht hat sie!“, stimmte Anja zu und starrte ihre Freundin erwartungsvoll an.

„Oh Leute“, beschwerte sich Leetha mit einem gequälten Grinsen und entwand sich Anjas Griff. „Er heißt Lexington.“

„Lexington? Etwa der Kumpel von John?“, fragte Miaka erstaunt und konnte ihr Missfallen nicht verbergen. Anja stieß einen anerkennenden Pfiff aus, doch Miaka versetzte ihr dafür einen leichten Stoß in die Seite.

„Ja, der Lexington. Oder kennst du noch einen mit solch einem merkwürdigen Namen? Ich nicht“, gab Leetha etwas gereizt zurück und warf nochmals einen flüchtigen Blick auf ihre Uhr.

„Wow, das solltest du dir aber gut überlegen. Ich habe nicht gewusst, dass du auf solche Typen stehst“, entgegnete Miaka mit ruhigem Tonfall.

„Was soll das jetzt wieder bedeuten?“, fauchte Leetha und verdrehte die Augen.

„Ich meine ja nur, dass du aufpassen solltest. Jeder weiß, dass der Typ nichts anbrennen lässt.“

„Für wie bescheuert hältst du mich eigentlich? Meine Güte, es ist nur ein harmloses Date! Ich will ihn nicht gleich heiraten. Wir reden morgen weiter, ich muss jetzt wirklich los!“

Leetha wirbelte aufgebracht herum und eilte dann aus dem Park in Richtung Hauptbahnhof. Miaka und Anja warfen sich kurze Blicke zu, dann meinte Anja, bevor auch sie aufstand:

„Behaupte du noch einmal, dass ich unsensibel wäre. Das war nicht gerade eine deiner Glanzleistungen.“

Sey starrte alle fünf Minuten auf die Uhr, doch die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Ihr war noch immer viel zu heiß und sie fühlte sich ekelhaft klebrig und völlig ausgelaugt. Sie hoffte auf ein Wunder oder eine Zeitmaschine, als sich plötzlich ein Schatten vor ihr auf dem Boden formte. Überrascht und trotzdem langsam hob sie ihren Kopf wie ein halb ausgetrocknetes Tier in der Wüste.

„Hi!“

Vor ihr stand ein ungefähr gleichaltriges Mädchen mit dem schrillsten Outfit, das Sey je gesehen hatte. So viele Farben konnte ein Mensch doch gar nicht tragen. Sie blinzelte ein paar Mal, aber die Unbekannte blieb bestehen.

„Hey, jetzt guck nicht drein, als hättest du einen Geist gesehen. Sprichst du meine Sprache? Du mich verstehen?“, fragte das flippige Mädchen und rückte sich ihre mächtige Hornbrille zurecht, wobei sie an den schillernden Sternohrringen aus Plastik hängen blieb.

„J… ja“, stotterte Sey. Das selbstsichere und freche Auftreten verunsicherte sie.

„Gut, sehr gut! Ich heiße übrigens Nicole und du bist?“

„Sey, ich heiße Sey.“

Sie gaben sich kurz die Hände und musterten sich gegenseitig.

„Sind deine Haare gefärbt?“, fragte Sey schüchtern und traute sich nicht, Nicole in die Augen zu blicken. Diese fing an, laut zu lachen. Ein unechtes, gekünsteltes Lachen. Sey mochte es nicht.

„Ja, hast du sonst schon mal rotgrün gesträhnte Haare in Natur gesehen? Ich nicht. Deine sind aber auch gefärbt.“

„Nicht ganz. Ich töne sie regelmäßig“, gab Sey zur Antwort und starrte noch immer auf die Seite.

Nicole verzog ihr Gesicht zu einem Grinsen, von dem Sey nicht sagen konnte, ob es hämisch oder freundlich sein sollte.

„Wusstest du eigentlich, dass Lila die Farbe der unbefriedigten Frau ist?“

„Was? Wieso sagst du sowas?“

„Ach, das trifft bestimmt nicht auf die Haarfarbe zu – war nur ein Gedanke. Vergiss es einfach. Wie sieht es eigentlich aus? Du hast doch auch länger Aufenthalt hier, oder?“

„Ja, das stimmt“, gab Sey irritiert zurück und überlegte noch, ob sie auf Nicole sauer sein oder ihre fiese Anspielung ignorieren sollte.

„Na wunderbar! Das passt prima. Ich muss hier auch noch ein paar Stunden herumgammeln. Dann lass uns zusammen was machen, um die Zeit totzuschlagen!“, forderte Nicole sie auf und zog sie auf die Beine.

„Und was möchtest du machen?“, fragte Sey etwas widerwillig und blickte sich auf dem leeren Bahnhof um.

„Puh …. Keine Ahnung. Wir könnten zum Beispiel etwas rumlaufen.“

„Ich weiß nicht …“

„Hast du denn einen besseren Vorschlag? Dann lass hören!“, gab Nicole patzig zurück und fuhr sich durch ihr struppiges Haar, bevor sie die Hände in ihre Hüften stemmte. Egal wie sehr Sey auch überlegte, ihr fiel nichts Besseres ein. Resigniert schüttelte sie ihren Kopf.

„Ha, na also! Dann lass uns gehen.“

„Warte, was ist mit meinemGepäck? Ich mag es nicht mit mir herumschleppen …“

„Oh, in Ordnung. Vorne gibt es Schließfächer.“

Sey nickte, schnappte ihre Koffer und eilte dann Nicole hinterher. Sie hatte nicht unbedingt viel Lust, doch immerhin würde nun die Wartezeit schneller vergehen.

Der gesamte Bahnhof war wie ausgestorben. Nicole und Sey schienen die einzigen Reisenden zu sein. Es war gespenstisch still und die brennende Sonne stach unbarmherzig auf sie herab. Die Luft flimmerte vor ihren Augen und ihre Kehlen waren staubtrocken. Sey hatte Mühe mit Nicole Schritt zu halten, die ein beachtliches Tempo vorlegte und ununterbrochen vor sich hin brabbelte. Gelangweilt sah sich Sey um, den Redefluss von Nicole nervend im Ohr. Plötzlich kam ihr eine Frage in den Sinn und sie sah die Möglichkeit, den Monolog der anderen zu unterbrechen. Vorsichtig hielt sie Nicole an der schillernd bunten Bluse fest.

„Hey, was ist?“

Nicole fuhr auf der Stelle herum und funkelte sie etwas erbost an. Anscheinend hatte sie es nicht gern, wenn man sie unterbrach. Sey zuckte unwohl zusammen und stammelte eine Entschuldigung, bevor sie endlich ihre Frage stellte.

„Findest du den Bahnhof für die Anzahl an Besucher nicht viel zu groß? Ich meine, er hat die Größe eines Hauptbahnhofes in einer Stadt und wir sind in einem Dorf, das gerade mal aus ein paar Häusern besteht, oder?“

„Ja, er ist groß, na und? Vielleicht hatte er mal mehr Besucher. Was weiß ich. Ich kenne die Geschichte des Landstriches nicht und sie interessiert mich auch nicht“, antwortete Nicole genervt und kickte mit ihrem Fuß eine leere Bierdose aus dem Weg, die ratternd auf die Gleise kullerte.

„Aber wunderst du dich nicht …“

„Ne, wieso sollte ich? Es ist ein Bahnhof, verdammt, und nicht irgendein Vergnügungspark.“

Sey blieb verunsichert stehen und starrte auf die Bahnhofsuhr. Die Zeiger schlichen sich mühevoll dahin. Vielleicht war es doch besser, die Zeit allein abzusitzen? Sie legte sich gerade die Worte zurecht, als sich Nicoles Miene wieder erhellte.

„Ich hab’s! Ich habdie Idee. Komm mit!“

Nicole zog Sey entschlossen hinter sich her. Willenlos wie eine Puppe ließ Sey es geschehen, nur ihre Augen verdrehte sie unbemerkt. Sie dankte den höheren Mächten, als sie ihren Marsch endlich vor einer Absperrung beendeten und Nicole sich mit ausgebreiteten Armen zu ihr umdrehte. Auffordernd blickte sie Sey an, doch diese wusste nicht, was sie sagen sollte. Was wollte sie von ihr hören? Sie schien auf jeden Fall zu lange für Nicoles dünnen Geduldsfaden zu überlegen.

„Uuuuuund?“

Ungeduldig sprang sie von einem Bein auf das andere und starrte Sey auffordernd an. Die zuckte nur zaghaft mit den Schultern.

„Und was?“

„Na das!“, antwortete Nicole ungeduldig und machte eine ausschweifende Gestik zu dem mit gelben Band blockierten Weg, der sich unmittelbar vor ihnen befand. Irritiert blickte Sey auf die einfache Sperre. Es war ihr ein Rätsel.

„Ich verstehe nicht ganz …“

„Hallo, bist du blind? Die Absperrung!“

„Schon klar, doch was willst du damit?“

Nicole stöhnte genervt auf und schlug sich eine Hand auf die Stirn.

„Sie fragen, ob sie einen von uns heiraten möchte... Drüber steigen natürlich!“

Das flippige Mädchen drehte sich auf dem Absatz ihrer grünen High Heels um und schritt auf das gelbe Band zu, hinter der sich eine breite Treppe nach unten befand. Für einen flüchtigen Moment blieb Sey verdutzt stehen, dann schnellte sie ihr nach und hielt sie am Handgelenk fest.

„Was … was machst du? Das geht nicht!“

„Oh Mann, natürlich geht das. Interessiert es dich denn nicht?“

„‘ne Baustelle hinter ‘ner Absperrung?“

Sey starrte sie ungläubig an. Sie schien durchgeknallter zu sein, als sie anfangs angenommen hatte. Nicoles Augen weiteten sich vor Erstaunen und sie schüttelte eifrig ihren Kopf und brachte ihre billigen Plastikohrringe zum Wackeln.

„Aber nein, du Dummerchen, dahinter ist keine Baustelle.“

„Ja, okay. Da ist eine Treppe, die nach unten führt“, antwortete Sey so ruhig, wie es ihr möglich war. „Und die endet an einer Wegegabelung von vermutlich zugeschütteten Unterführungen.“

„Du hast wirklich nicht die geringste Ahnung, oder?“

Sey runzelte die Stirn und konnte ihren Missmut nicht länger verbergen. Müde fächelte sie sich die viel zu warme Luft zu.

„Eine Ahnung von was denn?“

„Von der Legende des Vandik!“

Kapitel 3

Quietschend kam der Bus zum Stehen und Leetha stieg freudig aus. Das Irish Pub lag genau um die Ecke und sie hatte noch über fünf Minuten bis zum Date mit Lexington. Zeit genug, um nochmal ihr Make-up zu überprüfen. Flink holte sie ihren kleinen Handspiegel aus der schwarzen Handtasche und warf einen abwägenden Blick hinein. Sie hatte nicht viel aufgelegt, nur etwas unauffälligen Lidschatten und Lipgloss, denn sie wollte nicht zu billig wirken. Die Warnungen ihrer Freundinnen hallten ihr unangenehm im Kopf. Sie konnte nicht leugnen, dass ihr Lexington sympathisch war, jedoch war sie sich auch bewusst, dass er Johns bester Kumpel war und sehr wohl den Ruf eines Aufreißers hatte. Leetha schüttelte leicht den Kopf. Es war nur ein harmloses Date, mehr nicht. Zumindest versuchte sie, sich das einzureden, während ihr Herz aufgeregte Freudensprünge vollführte. Schnell verstaute sie den Spiegel wieder in der Handtasche und verdrängte ihre Nervosität.

Als sie um die Ecke trat grinste ihr Lexington vom Eingang des Pubs entgegen und schlenderte auf sie zu. Leetha schluckte und musste sich eingestehen, dass er in seinen lässigen Jeans und dem türkisfarbenen Hemd wirklich gut aussah.

„Die Legende des Vandik? Was ist das?“

„Du kennst sie wirklich nicht. Jetzt hat das Kaff schon etwas zu bieten und du hast keine Ahnung. Na schön, lass mich dich aufklären.“

Nicole holte tief Luft und hielt inne, um eine Pause zu machen. Sey konnte sehen und regelrecht spüren, wie sie ihre Überlegenheit genoss, und wartete geduldig, wenngleich auch völlig genervt. Nach gefühlten Jahrhunderten rückte sie endlich mit der Sprache heraus.

„Nun gut … die Erzählungen besagen, dass seit hunderten von Jahren ein böses Wesen in den Unterführungen des Bahnhofs sein Unwesen treibt: der Vandik. Viele Leute gingen hinunter, um die Legende zu widerlegen, doch kein einziger von ihnen kam je wieder herauf.“

Nicole hatte ihre Stimme gesenkt und starrte bedächtig auf die abgesperrte Treppe. Sey folgte ihrem Blick, allerdings fand sie Legenden grundsätzlich albern und glaubte nicht an solche Mythen. Bestimmt hatte Nicole sich die Geschichte ausgedacht, um sie an der Nase herumzuführen. Sie zuckte leicht mit den Schultern und wandte sich ihr wieder zu.

„Das glaube ich dir nicht. Die Absperrung sieht nicht uralt aus, sondern als wäre sie erst vor ein paar Tagen aufgestellt worden.“

„Du Dummerchen, die ist auch neu. Glaubst du tatsächlich, du würdest hier eine Jahrhunderte alte Absperrung finden?“

Sey schaute sich schweigend um. Der Ton der anderen passte ihr überhaupt nicht. Ihr Tag war schon miserabel genug und Nicole machte es nicht gerade besser.

„Meine Güte, hast du schlechte Laune. Egal: Für einige Zeit hat sich niemand mehr nach unten getraut. Eine Absperrung war somit lange nicht mehr nötig, aber vor ein paar Monaten fing es erneut an. Erst vor drei Tagen istein Mädchen die Treppen hinunter gegangen. Sie war nicht von hier und hatte, so wie du, nichts von der Legende gewusst. Sie ist nicht wieder aufgetaucht …“

Der ernste Tonfall in ihrer Stimme ließ Sey kurz erschauern. Unsicherheit machte sich in ihr breit. War an der Geschichte tatsächlich was dran? Nicole schien ihre Zerrissenheit zu bemerken. Ihre Augen formten sich zu zwei schmalen Schlitzen, während sie Sey musterte wie ein Offizier seinen Untergebenen.

„Man sagt, man könne nachts die Schreie der Toten und des Ungeheuers hören.“

„Des Ungeheuers? Du meinst …?“

„Ja“, antwortete Nicole und nickte bestätigend, „des mordenden und blutrünstigen Monsters – des Vandik.“

Sey schluckte. Ob wahr oder erfunden, die Sache behagte ihr nicht.

„Wer sagt, dass es ein Ungeheuer oder Monster ist? Was ist der Vandik für ein Wesen?“

Unbehaglich blickte Sey von Nicole zu der Absperrung, die ihr mit einem Mal unglaublich bedrohlich vorkam. Nicoles Miene verfinsterte sich und sie ließ ihren Blick die Treppen hinunter in das geheimnisvolle Dunkel wandern.

„Augenzeugen von vergangenen Jahren berichteten von einem vorbei huschenden Schatten, gleich einem Fuchs, nur viel größer. Kein Zweifel, der Vandik ist nicht menschlich und kein normales Tier.“

„Hey, du siehst bezaubernd aus“, begrüßte Lexington sie strahlend und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

„Danke dir. Wartest du schon lange?“

„Nein, ich war nur gegen meine Gewohnheit mal etwas früher da“, antwortete er und zwinkerte ihr schelmisch zu, worauf sie grinsen musste. Einen Moment lang standen sie sich schweigend gegenüber. Er strich sich kurz durch die gestylten Haare und brachte etwas Unruhe in seine Frisur, bevor er sie fragte, ob sie reingehen sollten. Sie nickte und folgte ihm in das Irish Pub, in dem außer ihnen noch neun weitere Gäste waren. Zu Leethas Überraschung grüßte Lexington jeden einzelnen davon und unterhielt sich flüchtig mit dem Barkeeper, ehe sie es sich an einem gemütlichen Eckplatz bequem machten.

„Du bist öfter hier?“, fragte Leetha schmunzelnd, während sie sich setzte.

„Ach, einige Male … okay, sagen wir so drei bis viermal im Monat.Früher war ich öfter hier, Es war sozusagen mein zweites Zuhause“, gab Lexington lächelnd zu und setzte sich ihr gegenüber, wobei er ihr tief in die Augen sah. Leetha spürte ein leichtes Kribbeln auf der Haut. Sie war froh und zugleich enttäuscht, als Lexington sie nach ihrem Getränkewunsch fragte und die prickelnde Situation damit auflöste, indem er erst einmal die Drinks besorgte. Wieder erinnerte sie sich an Miakas Warnungen und verfluchte den kleinen Teil in sich, der dagegen rebellierte.

„Es ist nur ein unverbindliches Date, wie ein Treffen mit einem guten Freund. Mehr nicht“, murmelte sie beschwichtigend zu sich selbst, doch konnte sich nicht von den Gedankenabwenden. Als Lex lächelnd zurückkam, wurden die warnenden Stimmen in ihrem Hinterkopf immer leiser und ein Blick in seine faszinierenden Augen reichte, um sie schließlich ganz auszuschalten. Leetha wollte niemanden vorschnell anhand von Gerüchten verurteilen, sondern sich ihre eigene Meinung bilden und deshalb ließ sie sich entspannt in das Polster der Eckbank sinken und beschloss, ihr Date einfach in vollen Zügen zu genießen.

„Das ist gruselig“, gestand Sey und sie fröstelte trotz der stechenden Sommerhitze.

„Ja, nicht wahr? Und gleichzeitig doch so aufregend. Wir sollten nach unten gehen.“

„Wie bitte?“, entfuhr es Sey und sie starrte Nicole entsetzt an, die es allerdings ernst zu meinen schien. Ihre Miene war voller Tatendrang.

„Ja, lass uns den Vandik suchen gehen und die Gänge erkunden!“

Begeistert über ihre eigene Idee klatschte Nicole in die Hände und strahlte Sey regelrecht an. Die erstarrte bei dem Gedanke.

„Ich … also ich halte das für keine besonders gute Idee.“

„Jetzt sei kein Frosch! Du hast bloß Schiss vor dem Vandik.“

„Nein, ich glaube nicht an den Vandik. Du sagtest selbst, er sei eine Legende und Legenden existieren nicht. Sie sind erfunden“, rechtfertigte sich Sey und versuchte, ihrer zaghaften Stimme einen entschlossenen und furchtlosen Klang zu verleihen. Ob ihr das gelang, konnte sie nicht wirklich einschätzen. Nicole schien ihr jedenfalls nicht zu glauben. Argwöhnisch zog sie eine Augenbraue in die Höhe und verschränkte provozierend die Arme vor ihrer Brust.

„Wenn du nicht daran glaubst, dann gibt es ja kein Argument, das gegen eine Erkundungstour spricht.“

Sey zuckte erschrocken zusammen und sah in Nicoles herausfordernd funkelnde Augen.

„Die Absperrung und das Warnschild – die sprechen dagegen.“

„Oh bitte, Regeln sind dafür da, um gebrochen zu werden!“ Nicole machte einen Schritt auf die gelbe Absperrung zu. Sey hielt sie schnell am Handgelenk fest.

„Der Meinung bin ich nicht. Wir sollten da nicht hinunter gehen.“

„Jetzt stell dich mal nicht so an. Wenn du nicht an den Vandik glaubst, können wir ruhig die Gänge erkunden. Wir gehen da runter, sehen uns um und kehren wieder zurück. Ist doch nichts dabei.“

„Du hast selbst gesagt, dass das schon Leute versucht haben und gescheitert sind.“

„Und du hast gesagt, dass du nicht an die Legende glaubst“, konterte Nicole schlagfertig und blickte Sey triumphierend an.

„Ja, nein … glaube ich auch nicht. Trotzdem sind die Gänge vielleicht Einsturz gefährdet. Es wird schon einen plausiblen Grund für die Absperrung geben.“

„Ja und zwar den Vandik!“

„Das ist doch Unsinn.“

„Du hast bloß Schiss! Wieso gibst du nicht endlich zu, dass du dir vor Angst fast in die Hosen oder in den Rock machst?!“

„Weil … weil es nicht wahr ist. Ich muss mich nicht auf jeden unvernünftigen und kindischen Vorschlag einlassen“, entgegnete Sey und ballte die Hände zu Fäusten, um ein Zittern zu unterdrücken. Sie wusste in ihrem Innern, dass die Buntgestreifte Recht hatte, aber sie würde das ihr gegenüber bestimmt nicht zugeben. Nicole fühlte sich ohnehin überlegen und Sey wollte sie in ihrer Arroganz nicht noch bestätigen.

„Kindisch? Du findest mich kindisch?! Du elender Feigling!“

Nicole entriss sich ihrem Griff und kletterte etwas tollpatschigunter dem Absperrband hindurch. Sie drehte sich auf ihren grünen Absätzen um und blickte Sey auffordernd ins Gesicht.

„Ich frage dich jetzt zum letzten Mal: kommst du mit oder nicht? Ich für meinen Teil werde nämlich jetzt nach unten gehen.“

Sey schluckte und sah sich kurz um. Warum waren sie die einzigen auf dem verdammten Bahnhof? Wieso hielt sie niemand auf?

„Was ist jetzt, Angstschisser?“

Nicoles ungeduldige Stimme riss sie aus ihren Gedanken und sie schüttelte verneinend ihren Kopf.

„N-nein. Ich gehe nicht mit und du solltest …“

„Blabla! Dann halt nicht. Versauer doch hier oben in der Hitze und vor Langeweile!“

Nicole drehte sich schwungvoll um, dann rannte sie eilig die breiten Treppenstufen nach unten. Gebannt und bewegungslos starrte Sey ihr mit gemischten Gefühlen hinterher. Sie blieb auch dann noch wie angewurzelt stehen, als die andere unten angekommen war, sich ihr nochmals zuwandte und ihr provokant die Zunge herausstreckte. Sie konnte sich ebenfalls nicht rühren, als Nicole sich für den rechten Gang entschied und in die Dunkelheit, die ihr wie ein ausgehungertes Tier vorkam, eintauchte. Sey fühlte sich einsamer, verlorener und feiger denn je.

Kapitel 4

Hatte sie es sich doch gleich gedacht: mit der war einfach nichts anzufangen! Wieso stieß sie eigentlich immer auf solche Leute? Hätte sie nur auf ihre innere Stimme gehört, aber nein, sie musste diesem asiatischen Mädchen ja eine Chance geben. Sie hätte schon anhand ihres Kleidungsstils auf eine Spießerin und auf einen Feigling schließen sollen! Na ja, die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt. Dennoch, nun war sie allein unten in den dunklen Gängen und obwohl die Luft zu stehen schien war ihr kalt. Ihr Herz klopfte viel zu schnell und ihr Blut rauschte in den Ohren. Am liebsten würde sie umkehren und die Treppen wieder nach oben steigen, aber diese Blöße wollte sie sich vor Sey nicht geben. Immerhin war das alles ihre Schuld! Wäre sie nicht dermaßen feige, dann wären sie zu zweit hier und die ganze Sache wäre nicht halb so unheimlich.

Nicole atmete tief ein und versuchte, sich zu beruhigen und auf andere Gedanken zu kommen. Es war nur eine Legende, nichts weiter. Es gab keinen Grund, Angst zu haben. Sie war nicht wie dieses ängstliche Kind da oben. Sie war anders – sie war besser! Sie würde die Erkundungstour hinter sich bringen und dann vor ihr prahlen. Genau, sie würde sie fertig machen für ihre Feigheit. Auf Nicoles Gesicht breitete sich ein böses und schadenfrohes Grinsen aus. Entschlossen setzte sie ihren Weg fort.

Sie schätzte den Gang auf ungefähr einen Meter Breite, da sie nichts sehen, sondern nur fühlen konnte. Es war derart dunkel, dass sie nicht einmal ihre eigene Hand vor den Augen wahrnahm. Nicole sah das Bild ihres Sieges vor sich und wie Sey vor Scham in den Boden versank. Amüsiert grienend und an dem Gedanken festhaltend, schritt sie unaufhaltsam weiter in die dichte Finsternis, die sie gierig umfing.

Ungeduldig und voller Verzweiflung blickte Sey die Treppen hinab in die Dunkelheit. Sie musste etwas tun, irgendetwas, aber so sehr sie sich Hilfe herbei sehnte, es war keine da. Zögernd ging sie auf die gelbe Absperrung zu, die ihr in dem Moment vorkam wie ein unüberwindbares Hindernis. Sie neigte ihren Kopf etwas zur Seite, doch natürlich konnte sie nicht um die Ecke sehen und selbst wenn sie es gekonnt hätte – ihre Augen hätten nie und nimmer die Finsternis durchdringen können.

„Nicole? Ist alles okay? Bist du da? Kannst du mich hören? Nicole?“

Es folgte keine Antwort, egal wie lange sie auch wartete. Unruhig wiegte sie von einem Bein auf das andere und starrte in das dichte Schwarz.

„Nicole? Sag was, bitte?“

Es herrschte fast unerträgliche Stille und Sey fühlte sich erbärmlicher denn je. Hätte sie mit nach unten gehen sollen? Aber wie hätte sie ahnen können, dass Nicole ihre Worte tatsächlich in die Tat umsetzte?

Sie trat noch einen Schritt näher auf das Band zu und berührte es mit den Fingerspitzen, doch zog sie ihre Hand sogleich wieder zurück, als hätte sie einen elektrischen Schlag erhalten. Alles in ihrem Innern schrie auf. Sie wollte Nicole hinterher eilen, sie zurückholen, aber sie konnte es nicht. Eine unsichtbare Macht namens Angst hielt sie an Ort und Stelle gefangen, voller Panik und Sorge. Deswegen blieb Sey nichts anderes übrig, als auf Nicole zu warten.

Die Zeit verflog wie im Nu und Leetha war froh, Lexington eine Chance gegeben zu haben. Er war wirklich nett und sie waren auf einer Wellenlänge. Aus anfänglichen Scherzen und Geplänkel hatte sich ein interessantes Gespräch entwickelt.

„Du machst also eine Ausbildung zum Automechaniker? Im wievielten Jahr bist du jetzt?“

„Das ist das letzte Jahr. Dann hab ich’s gepackt. Ich habe sogar Aussicht auf eine Festanstellung.“

„Und macht dir die Arbeit Spaß?“

„Ja, tatsächlich macht es mir Spaß. Ich gebe zu, dass es zu Anfang nur ein Mittel zum Zweck war und die erste Stelle, die ich bekommen habe, doch ich bereue nichts. Im Gegenteil.“

Er lächelte ihr zu und sie genoss die Vertrautheit, die in diesem Moment zwischen ihnen herrschte. Er hatte durchaus eine ernste Seite und sie glaubte, dass er ein sehr tiefgründiger Mensch mit vielen Geheimnissen war. Hinter seiner stets gutgelaunten und lustigen Fassade steckte ein verantwortungsbewusster und zielstrebiger Mann. Sie musterte ihn so unauffällig wie möglich und zwirbelte nachdenklich an ihrer Haarsträhne.

„Was ist mit dir? Weißt du schon, was du nach der Schule machen möchtest?“

„Mmh … gute Frage. Ganz einig bin ich mir noch nicht.“

„Du hast ja auch noch Zeit. Vielleicht kannst du …“

Weiter kam Lexington nicht, denn eine zarte Frauenhand klatschte laut auf den Tisch und ließ sie zusammenzucken. Erschrocken blickten sie auf und in das wütende Gesicht einer jungen Frau, die Leetha auf circa zwanzig Jahre schätzte. Selbst ihr zu viel aufgetragenes Rouge konnte ihre Zornesröte nicht verdecken. Leetha beschlich ein ungutes Gefühl, das sich sogleich bestätigte.

„Kannst du mir sagen, was das hier soll?!“, herrschte die unbekannte Schwarzhaarige ihn an, die wie Schneewittchen in aufgebrachter Version wirkte.

„Jenny …“, murmelte Lexington wenig erfreut und schielte genervt zu ihr hoch.

„Ja, Jenny. Wer denn sonst?! Was suchst du hier? Ich habe dich X-Mal versucht anzurufen und du gehst einfach nicht dran!“

„Ich trinke etwas und habe mich amüsiert, bevor du kamst. Es ist doch alles geklärt, wieso klingelst du dann ständig bei mir durch?“

„Geklärt? Nichts ist geklärt! Außerdem schuldest du mir mehr als nur eine Erklärung!“

Leetha rutschte unwohl auf der Sitzgarnitur hin und her. Die Stimmung war schlagartig gekippt. Statt der entspannten Atmosphäre herrschte nun eine explosive, als wäre Schießpulver in der Luft. Jenny schnellte ruckartig zu ihr herum und musterte sie mit einem tödlichen Blick, der sie in die Weiten des Weltalls zu schleudern drohte.

„Und wer ist das bitte? Soll das heißen, dass du mich durch diese billige Kuh ersetzen möchtest?“

„Jenny, bitte …“, begann Lexington, doch er kam nicht weiter.

„Wie bitte? Wer ist hier billig?!“, empörte sich Leetha und zog die Augen zu zwei schmalen Schlitzen zusammen. Sie fixierte die Schneewittchenkopie und durchbohrte sie mit ihren Blicken.

„Schau in den Spiegel, dann hast du deine Antwort“, gab Jenny bissig zurück und Leetha spürte, wie die Wut sie übermannte. Das musste sie sich nun wirklich nicht gefallen lassen.

„Ähm, Mädels …“

„Tu das mal lieber selbst, Schneeflittchen!“

„Du willst es wohl wirklich wissen, was?“

Jenny wandte sich von Leetha ab und Lexington zu, dem die Situation mehr als nur unangenehm war. Er sah Leetha entschuldigend und reumütig an, doch sie konnte sich nicht beruhigen.

„Seit wann stehst du aufsolche Mannsweiber?“

„Sie ist kein Mannsweib. Wenn du sauer auf mich bist, okay, aber lass sie da raus. Kannst du jetzt bitte aufhören unseren Abend zu ruinieren und einfach gehen?“

„Wie bitte? Ich gehe nirgendwohin! Du hörst mir jetzt gefälligst zu!“

„Es gibt nichts zu klären!“, antwortete Lexington nun auch etwas energischer.

„Oh doch, das gibt es. So einfach serviert man mich nicht ab!“

Leetha griff entschlossen nach ihrer Handtasche und stand auf. Jenny würde in den nächsten Minuten definitiv nicht verschwinden und außerdem war der Abend ohnehin durch ihren Auftritt ruiniert. Mit einem Mal waren sie wieder da, die Warnungen von Miaka und die Gerüchte über Lexington. Leider schien tatsächlich etwas an ihnen dran zu sein. Sie seufzte auf und schob sich ruppig an der Widersacherin vorbei.

„Hey, pass doch auf, du kleines Miststück!“

„Leetha, warte, bitte.“

„Ne, du bleibst hier. Wir sind noch nicht fertig!“

Jenny stellte sich Lexington mit in den Hüften gestemmten Armen in den Weg, sodass er Leetha nur einen schuld bewussten Blick hinterherwerfen konnte. Aus ihren Augenwinkeln nahm Leetha die Szene wahr und schüttelte nur leicht ihren Kopf. Den Abend hatte sie sich wirklich anders vorgestellt. Eilig verließ sie das Irish Pub und ließ Lexington mit seiner Exfreundin allein.

Die Dunkelheit schien allgegenwärtig und übermächtig zu sein. Sie verschlang einfach alles: die Sicht, die Orientierung und die Zeit. Nicole hatte schon längst jegliches Zeitgefühl verloren. Planlos tastete sie sich in der Finsternis vorwärts. Ob Sey bereits sehnsüchtig auf sie wartete? Bestimmt, denn die Kleine war ein Nichts. Nicole grinste in das tiefschwarze Dunkel, während ihre Finger sich an der kühlen Wand entlang tasteten. Die staubige Luft ließ sie unweigerlich husten. Nur noch ein Stück, dann würde sie umkehren, um vor Sey zu prahlen. Trotz der Dunkelheit schien die Luft zu stehen und der Schweiß drang der Jugendlichen aus allen Poren.

„Nur noch ein bisschen, Nicole, dann hast du es geschafft“, redete Nicole sich selbst gut zu und wischte sich mit der rechten Hand den Schweiß vom Gesicht, wobei sie hoffte, nicht allzu viel Dreck und Staub dabei zu verteilen. Gerade als sie beschloss, so langsam umzudrehen, glitten ihre Finger ins Leere und sie stolperte nach vorne. Verwundert hielt sie inne und suchte die Wand. Sie schien einen Raum gefunden zu haben. Vorsichtig, die Hände noch immer an den Wänden verharrend, bog sie ein. Nur wenige Sekunden später ertastete Nicole einen Lichtschalter. Ihre Freude über den gefundenen Schalter hielt allerdings nicht lange, denn das erhoffte Licht blieb aus.

„Nun mach schon, Nicole. Komm endlich zurück.“

Ungeduldig trat Sey von einem Bein auf das andere und schaute auf ihre Armbanduhr. Nicole war nun über sieben Minuten dort unten und hatte nichts von sich verlauten lassen. Vielleicht stand sie ja direkt hinter der Abbiegung und wartete die Zeit nur ab um sie zu ärgern und zu prahlen. Dennoch konnte sie sich genauso gut verlaufen haben. Sey hatte keine Ahnung, wie groß die abgesperrte Unterführung war. Sie wusste, dass sie etwas machen musste. Hilfe holen zum Beispiel, doch dann wäre Nicole nur noch wütender auf sie. Eventuell sollte sie ihr nachgehen, aber das traute sie sich nicht. Jedes Mal, wenn sie sich überwinden wollte, dann war es, als wäre sie mit dem Boden verwachsen. Sie konnte einfach keinen weiteren Schritt nach vorne setzen. Was sollte sie nur tun, wenn Nicole nicht mehr auftauchte, bevor ihr Zug kam? Konnte sie einfach davon fahren, als sei nichts gewesen?

Ein schriller Pfeifton ließ Sey zusammenfahren und sie sah sich verstört um. Kurz darauf erklang die Durchsage des Bahnhofsprechers:

„Meine Damen und Herren, ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit. Die Bahn auf Gleis drei hat eine viertel Stunde Verspätung. Ich wiederhole: Die Regionalbahn auf Gleis drei trifft eine viertel Stunde später ein.“

Sey blickte sich auf dem menschenleeren Bahnhof um und lachte leise. Ein trauriges und kaltes Lachen. Dann wandte sie sich wieder der Absperrung und der dahinter liegenden Treppe zu. Sie ballte die Hände zu Fäusten und ihre Fingernägel bohrten sich fest in ihre Haut.

„Nicole, bitte. Komm endlich zurück.“

„Verdammt, was ist das denn?! Wieso geht das denn nicht?“, fluchte Leetha entnervt vor sich hin und versuchte, ungeduldig das Schlüsselloch zu treffen. Ihr war viel zu warm und sie wünschte sich nichts sehnlicher als eine kalte Dusche, doch der verschlossene Hauseingang schien ihr wie ein unüberwindbarer Gegner, der einfach nicht weichen wollte. Was für ein beschissener Tag! Erst die Verabschiedung von Sey am Bahnhof, dann die scheinbar gute Wendung mit dem Date mit Lexington und dann der Absturz wegen seiner Exfreundin und nun bekam sie die blöde Tür nicht auf. Wenn jetzt der Schlüssel noch abbrechen würde, wäre das Unglück perfekt.

Gerade als sie den nächsten Versuch wagen wollte, wurde die Haustür von innen hastig geöffnet und sie sah in das Gesicht ihres überraschten Bruders.

„Hey Leetha, willst du das Schloss knacken oder was machst du da?“

„Ich … äh … nein, sie ging einfach nicht auf.“

„Hast du es mit dem Schlüssel probiert?“

Er schenkte ihr ein neckisches Grinsen, trat aber sofort auf die Seite und ließ sie herein. Sie nickte ihm dankbar zu und stahl sich ins Haus, wo sie aus ihren Schuhen schlüpfte.

„Du bist früh, ich habe dich noch nicht erwartet … warst du nicht verabredet?“

„Doch, das war ich. Allerdings war es nicht so der Hit. Ist das Badezimmer frei?“

„Ja, ist frei“, antwortete er und betrachtete seine Schwester nachdenklich. Sehr glücklich sah sie nicht aus. „Was hast du noch vor?“

„Ich? Duschen erst einmal. Dann nichts weiter, wieso?“

„Dann wäre doch ein DVD Abend ganz nett, oder? Bei der Hitze mag man sich ohnehin nicht viel bewegen. Und wenn du Bock hast, kannst du dich ja bei mir auskotzen“, schlug er schulterzuckend vor und ließ den Blick nicht von ihr ab.

„Das mit dem Auskotzen … da gibt es nichts, doch das mit dem DVD Abend hört sich wirklich gut an. Wenn du solange warten kannst, bis ich aus dem Bad komme? Aber solltest du nicht mit deinen Kumpels um die Häuser ziehen? Es ist immerhin Wochenende und da hast du doch bestimmt Besseres zu tun, als mit deiner kleinen Schwester auf der Couch herumzulungern.“

„Ich sagte bereits, dass ich nichts anderes vor habe und es mir viel zu heiß ist, als dass ich um die Häuser ziehen wollte“, gab er schelmisch grinsend zurück. „Ich habe also tatsächlich etwas Zeit für dich übrig.“

„Ja, ja. Schon klar.“

„Was hältst du davon, dass ich alles vorbereite, während du dir so viel Zeit im Bad lässt wie du möchtest und brauchst?“

Sie schaute ihn dankbar an und nickte. Obwohl es egoistisch war, war sie froh, dass ihr Bruder momentan keine Freundin und für sie selbst Zeit hatte.

„Alles klar, dann bis gleich.“

Uneinsichtig drückte Nicole auf dem kaputten Lichtschalter herum.

„Nun geh schon an, du verfluchtes Scheißding!“

Doch so sehr sie auch darauf herum hämmerte, sie blieb weiterhin im Dunkeln. Frustriert trat sie mit dem Schuh gegen die Wand und jaulte im nächsten Moment schmerzerfüllt auf. Heute schien nicht ihr Tag zu sein, doch sie würde ihn noch zu ihrem machen. Entschlossen wandte sich Nicole um und tastete ihren Weg zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Sie wollte zum Ausgangspunkt zurückkehren, jedoch noch nicht nach oben gehen, sondern vor Sey protzen und dann die entgegengesetzte Richtung erkunden. Sie war ihr um Vielfaches überlegen und das würde Sey bitter einsehen müssen. Nicole war besser als alle anderen und nie wieder sollte jemand über sie lachen. In Zukunft würde sie über andere lachen, denn niemand war so originell, flippig und hipp wie sie. Von ihrem Mut ganz zu schweigen. Die Feiglinge da draußen konnten sie mal.

„Nicole, bist du noch da unten? Geht es dir gut? Wieso antwortest du nicht?“

Seys sorgenvolle Stimme rang sich rau aus ihrer ausgetrockneten Kehle und hallte in dem menschenleeren Bahnhof wider. Nervös biss sie auf ihren spröden Lippen herum, sodass sie anfingen zu bluten. Obwohl es so heiß war, dass sie sich am liebsten die Kleider von ihrem verschwitzten Körper reißen würde, zitterte sie ununterbrochen. Ihre Finger bohrten sich krampfhaft in ihren Oberarm. Nicole war jetzt schon über zwanzig Minuten in der Unterführung, deren Dunkelheit hämisch zu grinsen schien.

„Nicole? Hallo? Sag doch bitte was.“

Wieder erhielt Sey keine Antwort und sie begann sich panisch nach Hilfe umzusehen. Die Angst fing an, sie von Innen heraus aufzufressen. Wieso war nicht einmal ein Bahnhofsvorsteher zu sehen? Es konnte doch nicht möglich sein, dass sie die einzigen hier waren. In dem Moment hallte ein langgezogener Schrei durch den grauen Beton und ließ sie erstarren. Das war Nicoles Stimme gewesen. Mit vor Furcht geweiteten Augen starrte sie die breite Treppe hinunter.

„Nicole …?“, japste sie ängstlich und kaum hörbar.

Ein hämisches Lachen erfolgte und Nicole sprang amüsiert hinter der Ecke hervor. Mit ausgestrecktem Zeigefinger deutete sie auf Sey.

„Du solltest mal dein Gesicht sehen, du Hosenscheißer! Du pinkelst dich ja gleich ein! Ha ha, du bist echt witzig!“

Erleichterung wechselte sich ab mit Wut, doch Sey war viel zu verdattert, als dass sie hätte reagieren können. Reglos stand sie am Fleck und sah auf Nicole hinab, die sich vor Lachen fast kugelte. In ihren Gedanken zeichnete sich das Bild einer keifenden Hyäne ab.

„Du bist echt panne! Wie kann man nur dermaßen viel Schiss haben? Echt jetzt!“

„Das ist nicht lustig …“

„Ich finde schon! Du kannst ja auch nicht in dein Gesicht sehen, du Mauerblümchen!“

„Nicole, bitte. Du hattest deinen Spaß. Nun komm wieder hoch“, bat Sey so ruhig wie möglich. Ihr Zorn wurde von ihrer Besorgnis und Unruhe verdrängt. Sie wollte einfach nur, dass Nicole endlich wieder die Treppenstufen erklomm und der Albtraum ein Ende hatte. Doch die dachte nicht einmal daran.

„Hochkommen? Hast du sie noch alle? Du solltest runterkommen, du Zitterbacke! Ich habe erst die Hälfte durch. Nun kommt die andere dran“, meinte Nicole und deutete in die entgegengesetzte Richtung, aus der sie gekommen war.

„Bitte, sei vernünftig …“

„Vernünftig? Du bist immerhin diejenige, die sich wegen Märchen in die Hosen macht. Echt jetzt, dann versauer doch da oben.“

Sie streckte ihr provozierend ihre Zunge heraus und zeigte ihr beide Mittelfinger, dann verschwand sie mit einem Satz wieder in der Dunkelheit. Sey war abermals allein.

Kapitel 5

Gedankenversunken sortierte John die DVDs aus. Er konnte sich vorstellen, dass Leetha gerne einen Tanzfilm oder eine Komödie sehen wollte. Ersteres war zwar nicht wirklich seins, doch für sie würde er eine Ausnahme machen. Er wusste nicht, ob er erleichtert darüber sein sollte, dass ihr Date anscheinend ein Reinfall gewesen war, oder ob er etwas mehr Mitgefühl zeigen sollte. Nur allzu gerne würde er wissen, mit wem sie ausgegangen war, aber mehr als fragen konnte er nicht. Wenn Leetha es ihm nicht sagen wollte, dann musste er es hinnehmen, auch wenn ihn die Ungewissheit zu zerreißen drohte.

Innerlichstöhnend stand er auf und blickte auf die Wohnzimmeruhr. Seine Schwester würde wohl noch einige Zeit im Badezimmer brauchen. Vorsichtshalber stieg er die Treppen nach oben und blieb vor der Tür stehen.

„Hast du Hunger oder hast du schon was gegessen?“

„Ich hab noch nichts gegessen.“

„Auf was hast du Lust? Pizza oder Sushi?“

„Sushi hört sich toll an.Du bist ein Schatz.“

„Okay, dann bestell ich Sushi. So wie immer?“

„Au ja, danke dir.“

„Noch ist sie nicht da. Vielleicht esse ich dir ja alles weg“, scherzte John und begab sich gleich auf den Weg nach unten, um per Telefon die Bestellung aufzugeben. Vielleicht sollte er lieber doch nicht nach Einzelheiten über das Date fragen. Es stand ihm nicht zu, denn er war nur ihr Bruder. Seufzend wählte er die Nummer des asiatischen Imbisses.

Sie wartete einige Minuten hinter der Ecke und gab Sey nochmals die Möglichkeit, ihr zu folgen. Jedoch erfüllte sich ihre Erwartung und die Halbkoreanerin verharrte auf der Stelle. Wie berechenbar die meisten Menschen waren. So primitiv, so einfältig. Sie grinste, als sich die Erinnerung an Seys dämliches Gesicht in ihre Gedanken schob und drehte sich um.

„Zeit weiterzugehen, Nicole“, sprach sie zu sich selbst und setzte ihren Weg in die Tiefen der Dunkelheit fort. Kaum zu glauben, dass sie einmal ebenso ängstlich gewesen war. Naiv, schüchtern und unsicher … einfach schwach und widerwärtig.

Nicole schüttelte sich kurz und spuckte auf den Boden, als könne sie damit die bösen Erinnerungen vertreiben und die frustrierende Vergangenheit ausmerzen. Vorbei war vorbei. Nun war sie hier – vollkommen anders und einfach besser. Sie war nicht mehr das graue und trübsinnige Mäuschen von früher, auf dem alle herumtrampelten. Nein! Nun war sie abenteuerlustig, einzigartig und mutig. Zufriedenheit breitete sich in ihrem Körper aus und ließ sie vor Glück springen. Selbstsicher tastete sie sich weiter voran in das unbekannte Schwarz der Unterführung.

Verärgert stürmte Lexington aus dem Pub. Natürlich war Leetha weg. Er hatte auch nicht wirklich erwartet, dass sie eine ganze Stunde auf ihn warten würde.

„So ein verdammter Mist!“

Erbost trat er gegen eine volle Mülltonne, die durch die Erschütterung überfloss, wie ein Wassereimer. Warum hatte seine Exfreundin ausgerechnet jetzt auftauchen müssen? Wieso mussten Frauen überhaupt immer eine Szene machen? Dabei hatte er ihr vor ungefähr einer Woche gesagt, dass es mit ihnen nichts wird und Schluss gemacht. Okay, auf dem Anrufbeantworter eine Beziehung zu beenden war auch nicht die feine Art, aber er konnte doch nichts dafür, dass sie nicht ans Telefon gegangen war. Er seufzte resigniert. Nun war es ohnehin zu spät und sie hatte bekommen, was sie wollte: eine ausführliche Diskussion, warum ihre Beziehung beendet war. Lexington hoffte nur, dass sie es endlich begriffen hatte und ihn wirklich in Ruhe ließ. In der nächsten Zeit würde er sich in dem Irish Pub wohl nicht mehr blicken lassen. Jennys Auftritt war mehr als peinlich gewesen. Noch schlimmer war allerdings, dass er bei Leetha seine Chance wohl vollkommen vertan hatte. Was musste sie jetzt von ihm denken?

„Oh Mann, voll verkackt“, fluchte Lexington und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, dann trat er den Rückzug zur Seitenstraße an, in der er sein Motorrad abgestellt hatte. Eilig stieg er auf und konnte nicht leugnen, dass ihm die Fahrt nahezu befreiend vorkam. Die Investition in das Motorrad hatte sich wahrlich gelohnt. Dieses Gefühl der Freiheit konnte ihm niemand anderes geben. Er genoss den Fahrtwind, der ihm erfrischend entgegenschlug und ihn den Ärger der letzten Stunden vergessen ließ. Als er daheim ankam, bereute er fast, dass die Fahrt so kurz gewesen war und er keine Extrarunde eingelegt hatte. Allerdings spürte er die Müdigkeit, die ihn in ein warmes Fell zu wickeln schien. Er streckte sich gähnend und schlenderte die Straße zu seiner Wohnung entlang. Plötzlich übermannte ihn ein ungutes Gefühl und er blieb ruckartig stehen. Sein ganzer Körper begann schmerzlich zu kribbeln und ließ ihn fast erstarren. Ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken. Langsam, wie in Zeitlupe, drehte Lexington sich um und für einen Moment legte sich ein schwarzer Schleier vor seine Augen.

Immer wieder schob sie sich ihre Fassade zurecht, die einfach nicht standhalten wollte. Sie versuchte es, aber ihr Mut bröselte wie alter Gips und ließ die Angst an die Oberfläche zurückkehren. Nicole schluckte. Das durfte nicht sein. Sie war nun schon so weit gekommen und es war nichts passiert – es würde auch nichts mehr passieren. Dessen war sie sich ganz sicher. Doch wenn sie sich sicher war, wieso zitterte sie dann am ganzen Körper?

Ein fauliger Geruch bohrte sich beißend in ihre Nase und ließ sie von ihren Gedanken aufschrecken. Angewidert blieb sie stehen und wedelte mit ihrer Hand vor ihrem Gesicht hin und her, um den Gestank zu vertreiben, jedoch vergebens. Der Mief von faulen Eiern und Urin hing wie eine dichte Wolke über ihr und Nicole würgte. Trotzdem kehrte sie nicht um, sondern bahnte sich ihren Weg weiter durch die Dunkelheit in einen unbekannten Raum hinein. Bestimmt gab es hier auch einen Lichtschalter und den wollte sie finden. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass der gesamte Trakt ohne Elektrizität sein sollte. Die Hitze und der Gestank brachten sie fast um den Verstand.

Die kalte Dusche war erfrischend gewesen und genau das, was sie gebraucht hatte. Leetha freute sich auf einen gemütlichen Abend mit ihrem Bruder und sprang fröhlich die Treppe hinunter. Ihre Augen begannen zu strahlen als sie den gedeckten Tisch und die vorgerichteten DVDs sah.

„Wann hast du die Sushi denn geholt? Das ging ja wahnsinnig schnell.“

„Manchmal geht’s auch schneller“, antwortete John und zwinkerte ihr zu. Freudig sprang sie auf ihn zu und nahm ihn kurz in den Arm.

„Super, echt, vielen Dank.“

„Kein Ding. Ich hab übrigens Tanzfilme und Komödien herausgesucht. Was ist dir lieber?“

„Mmh … wenn ich dich ärgern möchte, dann sollte ich wohl einen Tanzfilm nehmen. Aber in Angesicht dessen, dass du alles so schön vorbereitet hast entscheide ich mich für die Komödien.“

„Wie gnädig“, meinte John lachend und begann, die ausgesuchten DVDs abermals zu trennen.

„Ab und an bin ich das auch“, scherzte Leetha, setzte sich auf die Polstercouch und betrachtete sich ihren Bruder nachdenklich. Er war sportlich, nicht auf den Kopf gefallen, sah gut aus und charakterlich war er sehr aufmerksam und charmant – die beste Partie überhaupt. Wieso hatte er keine Freundin?

„So eine blöde Kuh! Was denkt die sich nur dabei? Lustig ist anders!“, fluchte Sey entnervt und verzweifelt vor sich hin. Sie verstand Nicoles Verhalten wirklich nicht. Was sollte das Ganze? Hatte sie ihren Spaß nicht zur Genüge gehabt? Wieso kam sie nicht endlich aus der Unterführung heraus und beendete ihr kindisches Spielchen? Ja, sie selbst war feige und ängstlich. Sey war bereit, es zuzugeben, wenn Nicole doch nur endlich wieder zurückkäme und diesen ganzen Unsinn abbrach. Sie warf einen missmutigen Blick auf ihre Armbanduhr. Weitere zwanzig Minuten waren inzwischen vergangen und von Nicole keine Spur. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis ihr Zug endlich kommen würde. Vielleicht war es besser, wenn sie einfach ging. Schnell ihre Koffer holen und zu ihrem Gleis trotten ... Sollte Nicole doch da unten vergammeln. Entschlossen ballte sie ihre Hände zu Fäusten, aber ihre Beine weigerten sich auch nur die geringste Bewegung zu tätigen. Sey fühlte sich wie verhext. Sie konnte sich einfach nicht von der Absperrung abwenden. Ein mulmiges Gefühl durchzog ihren Körper und jagte hunderte von Nadeln durch sie hindurch. Sie wusste nicht warum, doch sie fühlte sich in dem Moment wie eine graue Maus, kurz bevor sie in dem großen Rachen einer hungrigen Katze verschwindet.

Kapitel 6

Lexington stand wie versteinert auf der Stelle. Ungläubig blinzelte er, doch das Bild blieb dasselbe. Er kniff sich grob in den Arm, sodass es schmerzte, aber er befand sich tatsächlich vor ihm.

„Du … du kannst unmöglich hier sein“, flüsterte Lexington und seine Kehle war staubtrocken. Die Antwort war lediglich ein breites Grinsen. Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Die Farbe wich aus seinem Gesicht.

„Ri …Richie?“, stotterte Lexington, wobei seine Frage mehr ein Krächzen war.

„Klaro, wer denn sonst? Hast du mich vermisst?“

Lexington war nicht zu einer Antwort fähig. Perplex und fassungslos stand er am Fleck und starrte auf Richie, der nun lässig auf ihn zu geschlendert kam.

„Aaaaaaaaaahhhhhhh!“

Panisch schüttelte Nicole ihren Arm und warf die kleine Spinne ab, die sie zwar nicht sehen konnte, aber deutlich spürte. Tränen schossen ihr in die Augen und sie hatte eine Gänsehaut. Sie hasste Achtbeiner! Im nächsten Moment verspürte sie den aufsteigenden Zorn auf sich selbst. Zum Glück hatte niemand ihre peinliche Reaktion sehen können. Nicht auszudenken, wenn Sey sie dabei gesehen hätte. Jedoch hatte sie bestimmt ihren Schrei gehört und machte sich wohl aus Angst in die Hosen. Nicoles Wut verschwand sofort wieder. Eigentlich war dieser Zufall sogar förderlich für ihr Vorhaben. Sie könnte sich irgendeine gruselige Story einfallen lassen, wo sie ihren Schrei miteinbauen konnte. Zum Beispiel könnte sie behaupten, etwas Furchteinflößendes vorbeieilen gesehen zu haben – zum Greifen nah …

Nicole begann unkontrolliert zu husten und zu würgen. Nur mit Mühe konnte sie den Nachmittagssnack im Magen behalten. Der Gestank hatte neue Ausmaße angenommen und wurde bei jedem Schritt unerträglicher.

Der erste Film war zu Ende und Leetha hatte die Pleite des Dates für die neunzig Minuten erfolgreich verdrängt, als John vorsichtig nachhakte.

„Und, magst du über dein Date reden?“

Sie verzog leicht ihr Gesicht, doch machte sie ihm keine Vorwürfe, da sie wusste, dass er es nur gut meinte.

„Nein, lieber nicht.“

John erkannte den Fehler und bereute sofort seine Frage. Unwohl richtete er sich auf und schob ihr auf dem Tisch drei weitere DVD’s entgegen.

„Sorry, ich wollte dich jetzt nicht wieder darauf stoßen …“

„Ich weiß. Kein Problem.“

„Magst du noch eine ansehen?“

„Klar, der Abend ist noch jung“, gab sie verschmitzt lächelnd zurück, jedoch machte sie keine Anstalten, sich für den nächsten Film zu entscheiden. Stattdessen beschloss sie, ihrem Bruder etwas auf den Zahn zu fühlen. Einen besseren Moment gab es dafür nicht.

„Sag mal, auf welche Mädchen stehst du eigentlich?“

Verdattert blickte er sie an und fuhr sich durch die Haare.

„Was? Wieso frägst du?“

„Ach, nur so. Ich bin eben neugierig.“

Er musterte sie misstrauisch von oben bis unten.

„Ich habe keinen bestimmten Typ Frau auf den ich stehe.“

„Und du hast kein bestimmtes Mädchen momentan im Visier?“

John verzog etwas missmutig sein Gesicht und spürte wie Ungeduld und Unbehagen sich in seinem Innern zu regen begangen.

„Nein, Leetha, worauf willst du hinaus?“

„Nun ja, wie findest du denn Anja?“

„Was soll ich denn mit Anja?!“, entgegnete John gereizter als beabsichtig und starrte finster auf die DVDs.

„Na ich dachte, dass ihr beide ganz gut zusammenpassen würdet und Anja ist ziemlich hübsch, findest du nicht?“, probierte Leetha ihr Glück weiter, obwohl die Stimmung deutlich kippte.

John schnaubte und gab ihr keine Antwort. Was sollte das auf einmal? Wieso versuchte sie, ihn mit ihrer besten Freundin zu verkuppeln?

„John?“

„Was? Was möchtest du denn von mir hören? Nein, Anja ist nichts für mich!“, fuhr John sie ungehalten an. Als er jedoch in das erschrockene Gesicht von Leetha sah, tat es ihm leid. „Entschuldige Leetha, ich wollte nicht … ich wollte dich nicht anschreien.“

„Mmh … okay.“

„Was hast du davon, wenn du mich mit deiner Freundin verkuppelst? Du ständest immer zwischen den Fronten, wenn wir uns zoffen.“

„Ja, da hast du wohl recht. Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht“, gab Leetha leicht eingeschüchtert nach. „Aber ich denke, Anja täte dir vielleicht ganz gut.“

„Leetha, bitte. Ich möchte nicht über mein Liebesleben sprechen und schon gar nicht möchte ich verkuppelt werden. Okay?“

Sie nickte seufzend und sah John nach, als er das Geschirr in die Küche trug. Noch nie in ihrem Leben hatte sie ihren Bruder dermaßen wütend gesehen. Der plötzliche tieftraurige Ausdruck in seinen Augen verunsicherte sie.

„Und, was ist los, Lexi-boy? Hast du ein schlechtes Gewissen? Gut!“

Richie trat gefährlich nahe an ihn heran und flüsterte ihm bedrohlich ins Ohr.

„Seine Brüder verrät man nicht!“

„Ich habe euch nicht verraten“, zischte Lexington entschieden und ballte die Hände zu Fäusten.

„So? Das habe ich aber anders in Erinnerung.“

„Richie, du weißt, ich hätte euch nie verraten.“

„Du bist ausgestiegen. Ausgestiegen aus unserer Familie.“

„Ja, weil euer Weg falsch war!“

„Ach ja? Wer entscheidet schon über richtig und falsch? Seit wann bist du ein Spießer geworden, Lexi?“

„Ich bin kein Spießer, das weißt du besser als jeder andere.“

Richie holte eine Zigarettenschachtel aus der Hosentasche seiner Jeans und fischte sich eine heraus.

„Früher, da kannte ich dich, doch nun … du hast dich verändert, Lexi.“

„Wir alle verändern uns“, gab Lexington leise zurück und schluckte. Sein Verstand kämpfte noch immer mit der Szene, die sich gerade abspielte. Richie konnte unmöglich hier sein.

„Das ist wohl war, aber du bist dennoch wie ein Bruder für mich und ich verzeihe dir.“

„Was … was willst du von mir?“

„Oh, das tut mir jetzt weh. Aber du hastRecht, ich möchte tatsächlich etwas von dir“, antwortete Richie und schnippte seine angefangene Zigarette auf die Straße.

Sie blickten sich in die Augen und Lexington meinte, die Luft knistern zu hören. Sein Körper schmerzte vor Anspannung.

„Ich möchte, dass du dich von John, Leetha und ihren Freundinnen fernhältst. Brich den Kontakt ab zu deinem bisherigen Umfeld und verschwinde von hier.“

Erstaunt blickte Lexington Richie an, bevor sich seine Augen zu zwei schmalen Schlitzen formten.

„Woher kennst du John? Und wieso soll ich mich von ihm und den anderen fernhalten?“

„Hör zu, Lexi. Dir steht es nicht zu, Fragen zu stellen. Ich meine es nur gut, hör auf meinen Rat und verschwinde schnellstens von hier, wenn du keine Probleme bekommen willst!“

Lexington spürte, wie der Boden unter seinen Füßen zu glühen begann wie heiße Kohlen. Hektisch sah er hinab, doch er konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Als er wieder aufschaute, war Richie verschwunden.

Der Gestank war fast nicht auszuhalten. Nicole hielt die Luft an. Das konnte sie nicht aufhalten. Sie hatte schon schlimmere Sachen durchgestanden. Da würde sie sich von etwas Mief nicht ihre Tour vermiesen lassen. Außerdem wollte sie nur noch den Raum erkunden und dann zu Sey zurückkehren. Der Gedanke an Seys Ausdruck in den Augen und dem dämlichen Gesicht gaben ihr Kraft. Sie würde mutig zu ihr kommen und Sey ihre Feigheit deutlich spüren lassen. Motiviert schritt sie weiter, ihre eigene Angst erfolgreich verdrängend. Doch sie wurde jäh in die Gegenwart zurückgeholt, als sie über etwas Großes stolperte, den Halt verlor und ungeschickt aufschlug.

„Aua, so ein Mist!“

Sie hielt sich ihre schmerzenden Ellenbogen und war sich sicher, dass sie diese aufgeschlagen hatte. Jedoch vergönnte ihr die Dunkelheit einen Blick darauf zu werfen. Nicole atmete unweigerlich den beißenden Geruch ein und musste abermals würgen. Sie spürte den sauren Geschmack von Erbrochenem in sich aufsteigen und schluckte ihn hastig herunter. Verärgert holte sie aus und wollte empört gegen die Wand schlagen, ihre Hand traf jedoch auf etwas Weiches. Verwundert hielt sie inne, dann begann sie, an der lockeren Oberfläche herumzutasten.

„Ich verstehe nicht … was ist das? Schaumstoff?“, murmelte sie grübelnd vor sich hin, noch immer die Luft anhaltend. Für Gummi war die Oberfläche definitiv zu weich, doch hatte sie nicht das Gefühl, dass es sich um Schaumstoff handelte. Sie kannte es, konnte es jedoch nicht benennen. Der Gestank machte es ihr schier unmöglich einen klaren Gedanken zu fassen. Dann trafen ihre Hände auf etwas Sperriges und Hartes, in dessen Mitte ein großes Loch klaffte. Wie gern hätte sie Licht, aber das blieb ein unerfüllter Wunsch. Neugierig fuhren ihre Fingerspitzen weiter über das undefinierbare Material. Sie ging davon aus, dass es sich um ein Loch in der Wand handelte. Sie war dermaßen vertieft, dass sie nicht bemerkte, wie die Luft sich unheilverkündend änderte. Und da sie von Finsternisumgeben war, sah sie nicht, dass sie im offenen Brustkorb eines toten Mädchens wühlte. Ebenso wenig bemerkte sie, wie zwei blutrote Augen sie aus der Dunkelheit hungrig beobachteten.

Kapitel 7

„Meine Damen und Herren, ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit. Der Zug auf Gleis drei hat weitere zehn Minuten Verspätung. Ich wiederhole: Der Zug auf Gleis drei hat weitere zehn Minuten Verspätung.“

Nervös blickte Sey auf ihre Armbanduhr. Egal ob Nicole auftauchen würde oder nicht, sie würde in zehn Minuten die Koffer vom Schließfach holen. In fünfzehn Minuten würde ihre Bahn eintreffen und die wollte sie auf keinen Fall verpassen. Zwar hoffte sie inständig, dass Nicole noch vorher auftauchte, doch so recht dran glauben konnte sie nicht. Als sie erneut zur Absperrung schaute, bekam sie eine Gänsehaut. Die Dunkelheit schien ihr zuzulächeln und sie schauderte.

„Nicole, bitte, komm doch endlich wieder raus und zwar schnell!“

„Okay, dann danke ich dem Herrn für den amüsanten und relaxten Abend.“

„Die Freude ist ganz meinerseits. Habe nicht ich zu danken?“, erwiderte John und zwinkerte ihr müde zu.

„Du wirst alt.“

„Erzähl mir was Neues.“

„Okay, ich wünsche dir eine gute Nacht. Schlaf gut – wir sehen uns morgen“, verabschiedete sich Leetha und hauchte ihrem Bruder einen Kuss auf die Wange. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Auch er gab seiner Schwester einen Kuss auf die Backe. Eine Angewohnheit, die sie seit ihrer Kindheit hatten. Leetha überlegte, ob sie nicht langsam aus dem Alter für einen Gute-Nacht-Kuss unter Geschwistern heraus waren. Damals mochte das Ganze noch niedlich gewirkt haben, doch nun? Würde ein Dritter die Szene beobachten, würde er es wohl missverstehen.

„Ebenso. Träum was Schönes. Bis morgen.“

Sie nickte ihm noch einmal zu, dann betrat sie ihr Zimmer. Gedankenverloren starrte sie an die Decke. Sie hatte ihm nicht beichten können, dass sie mit Lexington ein Date gehabt hatte und je mehr sie darüber nachdachte, desto falscher kam es ihr vor. Was hatte sie sich nur dabei gedacht mit dem besten Freund ihres Bruders auszugehen? War das verwerflich? Sie wusste es nicht. Auf jeden Fall würde sie es nicht wieder tun. Leetha ging zu ihrer Kommode und sah zerstreut in den Spiegel.

Sie hätte nicht gedacht, dass ihr Verkupplungsversuch dermaßen fehlschlagen würde. Warum war John wütend geworden? Und dann der traurige Blick als würde etwas in ihm zerbrechen. Sie wollte ihn nie wieder so leiden sehen. Doch wieso …

„Oh Gott, natürlich, das ist es! Warum bin ich nicht schon früher darauf gekommen?“, flüsterte Leetha überzeugt vor sich hin. Ihr Spiegelbild blickte ihr bejahend entgegen und die plötzliche Idee löschte jeden Zweifel aus. „Mein Bruder steht auf Männer.“

Fassungslos stand Lexington da, noch lange nachdem Richie verschwunden war, und stierte auf die leere Stelle. Er musste geträumt, phantasiert oder es sich eingebildet haben. Unmöglich konnte das gerade passiert sein – niemals konnte er auf Richie gestoßen sein. Langsam gelang es ihm, die Starre von seinem Körper abzuschütteln, die sich wie eine schwere, nasse Decke auf ihn gelegt hatte. Vorsichtig und mit wackeligen Beinen wankte er auf die Straße, wo noch immer Richies Zigarettenkippe lag.

„Das kann doch nicht wahr sein. Wieso?“

Irritiert und entsetzt zugleich fixierte er den Zigarettenstummel. Ein stummer Zeuge auf kaltem Stein.

„Wie kann das sein? Warum? Richie, du bist … du bist vor fast einem Jahr gestorben …“

Nicole zog angeekelt ihre Hände zurück. In was sie auch immer gerade hinein gefasst hatte, es war widerlich glitschig, machte beim Berühren Schmatzgeräusche und stank tödlich. Und das Schlimmste war: Es klebte an den Händen. Länger hielt sie es hier wirklich nicht mehr aus. Schwerfällig rappelte sie sich auf und taumelte an der Wand entlang. Sie wollte schnell aus dem finsteren Verlies heraus. Jedoch raubte ihr die Finsternis die Orientierung. Die Luft schien ihr auf einmal viel zu schwer, als würde der Gestank sie vertilgen wie ein großes, gefräßiges Ungeziefer. Sie verfluchte die Dunkelheit und die Hitze, die sie quälte. Dennoch: Die Mühe und Plackerei waren es wert. Sie zwang sich ein breites Grinsen auf das Gesicht und lief weiter. Plötzlich stolperte sie über etwas und verlor den Halt. Ungeschickt schlug sie auf den dreckigen Boden auf und der Schmerz lähmte für einige Sekunden ihre Glieder.

„Au, verdammter Mist! Nicht schon wieder! Ich will … was ist das?“

Nicoles Finger tasteten an dem Objekt entlang, über das sie gestolpert war. Als sie eine Nase und danach einen Büschel Haare ertastete, erkannte sie, dass es sich um eine Leiche handelte. Entsetzt schrie sie und sprang auf. Sie wirbelte herum und rannte orientierungslos durch den Raum. Die Panik hatte von ihr Besitz ergriffen und ließ keinen Platz für einen vernünftigen Gedanken. Sie zitterte am ganzen Körper und ihre Knie bestanden nur noch aus Wackelpudding, dennoch hielt sie sich tapfer auf den Beinen. Alles in ihr schrie vor Angst und Abscheu. Die Übelkeit und der Gestank waren übermächtig und schwächten sie zusätzlich. Der Ausgang – wo war nur der verfluchte Ausgang?!

Plötzlich leuchteten in der Dunkelheit zwei rote Lichter auf und Nicole rannte verzweifelt darauf zu. Abrupt blieb sie drei Meter davor stehen, als sie ein gefährliches Knurren hörte, das von dem Licht ausging. Erst jetzt erkannte sie ein Augenpaar, das sie bedrohlich anfunkelte. Ein Meer von Blitzen durchschoss ihren Körper und ließ sie vollständig erstarren.

„Der Vandik … es ist tatsächlich wahr“, flüsterte sie atemlos. Dann schoss das Wesen im Schutz der Dunkelheit auf sie zu. Nicole begann zu schreien – sie schrie um ihr Leben, doch schon bald verwandelten sich die Angstschreie in Schmerzensschreie als sich die scharfen Zähne und Krallen des Monsters unbarmherzig in ihr Fleisch bohrten und ihr Opfer gierig zerfetzten.

Das Blut in Seys Adern gefror, als sie die fürchterlichen Schreie aus der Dunkelheit hörte. Das war definitiv Nicole. Sie wurde kreidebleich und ihr war mit einem Mal kalt. Ein Jux, es war bestimmt einer ihrer dummen Scherze. Es musste einfach einer sein. Sie hatte sie schon einmal reingelegt. Sey atmete tief ein und ein klein wenig Farbe wagte sich wieder auf ihr Gesicht. Zaghaft trat sie einen Schritt auf die Absperrung zu und starrte unsicher hinunter.

„Nicole, das ist nicht witzig! Hörst du? Du hattest deinen Spaß und ja, du hast mich reingelegt, aberes reicht jetzt! Genug ist genug, “ rief sie mit fester Stimme und wartete auf eine Antwort. Als keine erfolgte versuchte sie es noch einmal. „Es reicht jetzt! Du hattest deinen Spaß und konntest lachen. Ha ha und nun komm endlich da raus! Mein Zug kommt gleich – ich gehe jetzt! Hörst du? Ich gehe!“

Sey wartete vergeblich darauf, dass Nicole wieder um die Ecke springen würde, um über sie zu lachen, doch nichts geschah. Stattdessen herrschte eine drückende Stille und zerrte an ihrem dünnen Nervenkonstrukt. Sie biss sich nervös auf die Zunge, bis sie den Schmerz spürte, dann umklammerte sie das Band mit ihren zitternden Fingern.

„Nicole, ich gehe!“

Unsicher wanderten ihre Augen zwischen ihrer Armbanduhr und der Absperrung hin und her. In dem Moment hallte die Durchsage für das Eintreffen ihres Zuges durch den menschenleeren Bahnhof. Sey wollte umdrehen, um ihre Koffer zu holen, doch sie konnte sich einfach nicht vom Fleck bewegen. Ein unsichtbarer Bann hielt sie fest gefangen. Keine zwei Minuten später hallten die quietschenden Bremsen des anhaltenden Zuges auf Gleis eins wider. Etliche Menschen stiegen aus wie emsige Ameisen und bahnten sich ihre Wege nach draußen und zu den Anschlusszügen, doch kein einziger stieg in den Zug ein. Die Ungewissheit zerriss Sey von innen, als sei sie ein Fetzen Papier. Ungeduldig starrte sie nach unten.

„Nicole, mein Zug ist da. Komm raus, ich muss jetzt wirklich los. Ich habe keine Zeit mehr! Nicole …“

Sie stockte als sie leise, aber deutliche Geräusche von unten vernahm. Sey war sich nicht sicher, ob es sich um ein Schlurfen handelte, doch wie normale Schritte klang es nicht. Ihr Herz begann schneller zu schlagen und sie hörte in den Ohren ihr Blut rauschen. Langsam öffnete sie ihre spröden Lippen, um vorsichtig nach Nicole zu rufen, aber bevor sie das tun konnte, flog etwas aus dem Dunkeln und raubte ihr schlagartig den Atem. Ihre Augen wurden groß und sie vernahm nichts anderes mehr als das Rauschen ihres Blutes, das ihr den Kopf zu zerplatzen drohte. Ihr bebender Mund öffnete sich, doch es kam kein Laut heraus. Fassungslos starrte sie auf den blutverschmierten Schuh von Nicole und den abgerissenen Teil einer Wade. Sey wurde übel und schwindelig zugleich. Das durfte nicht passieren. Sie spürte, wie sich ein Schrei aus ihrer Kehle bahnte – gewaltvoll, laut und unaufhaltsam. Hysterisch brach er aus ihr heraus und mit ihm ihre gesamte Angst und Verzweiflung, doch die Passanten schienen davon keine Notiz zu nehmen. Sie eilten an ihr vorbei, als wäre sie gar nicht da.

„Warum hilft denn niemand? Hilfe!“

Tränen strömten über ihre blassen Wangen und sie begann zu schluchzen, aber die Leute drängelten sich belanglos an ihr vorbei, als wäre sie ein Geist, ein nichts. Furchtsam drehte sie sich erneut zu dem grauenvollen Bild um, wandte sich jedoch gleich wieder ab. Es war kein dummer Scherz, kein blöder Witz. Nicole war tot.

„Manche Schreie werden nicht gehört …“, drang eine monotone und gleichgültige Stimme an ihr Ohr. Sie spürte, dass jemand Fremdes dicht hinter ihr stand, denn sie konnte seinen Atem in ihrem Nacken spüren. Als sie herumwirbelte, war allerdings niemand zu sehen. Stattdessen blickte sie direkt auf ihren Zug auf dem gegenüberliegenden Gleis, der in wenigen Minuten abfahren würde. Traurig senkte sie den Kopf und ballte die Hände zu Fäusten.

„Es tut mir leid, Nicole. Es tut mir so schrecklich leid.“

Tränenüberströmt rannte sie zu den Schließfächern und riss ihre Koffer ruppig heraus. Sie erreichte die Bahn gerade noch rechtzeitig. Die Türen schlossen sich hinter ihr und das Pfeifen für die Abfahrt erklang. Holpernd setzte sich der fast menschenleere Zug in Bewegung und nahm Sey mit sich, deren Seele vor Schmerz und Schrecken blutete. Ratternd verschwand der rote Zug in die Weiten der tiefschwarzen Nacht, die selbst die Himmelskörper nicht zu durchdringen vermochten.

Marienblut

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