Читать книгу Marienblut - A. Kaiden - Страница 9

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Kapitel 1

Gelangweilt sah Leetha zur Decke und runzelte nachdenklich die Stirn. Seit dem Vorfall im Freibad war eine Woche vergangen und noch immer konnte sie kaum fassen, was passiert war. Sie fand einfach keine logische Erklärung für die Ereignisse. Die Polizei hatte ihnen nicht geglaubt, was Leetha ihnen nicht einmal verübeln konnte. Immerhin war das Becken spurlos verschwunden und von dem unheimlichen Mädchen fehlte jede Spur. Welcher normale Mensch hätte ihnen also glauben sollen? Leetha verstand es ja selbst kaum. Stattdessen hatten sie sich alle einem Drogentest unterziehen müssen, bis auf Anja. Die war sofort ins Krankenhaus gebracht worden, sollte jedoch diese Woche wieder entlassen werden. Natürlich war der Drogentest negativ ausgefallen. Seltsamerweise hatte Leetha keinen Ärger von ihren Eltern bekommen. Dabei hatte sie schon damit gerechnet. Allerdings war das Verhältnis ihren Erziehungsberechtigten zu ihrem Bruder vollkommen anders … kühl, als hätte jemand im Winter die Heizung ausgeschaltet. Immer wieder ging ihr das emotionsgeladene Gespräch ihrer Eltern mit John durch den Kopf, doch so viel sie auch darüber nachdachte, sie kam einfach nicht dahinter. Und John selbst schwieg wie ein Grab. Sollte sie ihn darauf ansprechen? War das klug?

Leetha seufzte laut auf und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht, um die lästigen Gedanken zu vertreiben. Die unendliche Grübelei brachte sie nicht weiter. Ihr Blick glitt über ihren belagerten Schreibtisch, doch auf Hausaufgaben hatte sie ganz und gar keine Lust. Seit zwei Tagen war die Schule wieder geöffnet und kaum noch einer redete über die Leiche der jungen Frau. Das Leben ging einfach weiter, aber Leetha konnte es nicht ohne Weiteres vergessen. Schwungvoll stand sie auf und ging hinunter in die Küche, wo John sich gerade einen Smoothie zubereitete. Er sah kurz auf und lächelte ihr zu. Ein müdes und irgendwie trauriges Lächeln, auch wenn er die Gefühle vor ihr zu verbergen versuchte.

„Hey, na wie geht’s? Möchtest du auch einen?“

John deutete einladend auf seinen Früchtecocktail, doch Leetha schüttelte den Kopf.

„Nein, danke. Sag mal, wie geht es dir?“

Überrascht blickte er sie an und fuhr sich mit der Hand durch sein hellbraunes Haar.

„Gut, es geht mir gut. Wieso frägst du?“

„Du siehst nicht danach aus, als ob es dir gutgehen würde.“

„Oh, das ist nicht gerade ein Kompliment“, entgegnete John und lachte unsicher.

„John, bitte, ich meine es ernst. Seit einer Woche bist du nicht gut drauf und ich mache mir Sorgen um dich.“

„Das ist mir nicht aufgefallen. Mach dir keine Gedanken.“

Er wich ihrem Blick mit einem flüchtigen Lächeln aus und sie wurde wütend, obwohl sie das gar nicht wollte.

„Sag mir doch was los ist! Über was habt ihr letzte Woche gesprochen als ich die Treppe runterkam? Warum sind unsere Eltern wütend auf dich?“

Für einen Moment erschien er erstarrt, dann schnappte er sich seinen Smoothie und ging wortlos an ihr vorbei. Kurz bevor er den Raum verließ, blieb er stehen, wandte sich jedoch nicht zu ihr um.

„Es tut mir leid, aber das ist mein Streit mit unseren Eltern, nicht deiner. Ich wollte nicht, dass du das mitbekommst. Tu mir einen Gefallen und vergiss es einfach. Ich verspreche dir, alles wird wieder gut.“

„Ja, aber …“

„Bitte, lass es dabei beruhen“, unterbrach er ihre Frage, eilte mit großen Schritten durch den Flur und die Treppen hinauf in sein Zimmer.

„Na toll, das ist ja super gelaufen!“, fluchte Leetha vor sich hin und krallte ihre Finger in die Oberarme. Dann ging auch sie in ihr Zimmer.

Lange hatte sie es dort nicht ausgehalten. Sie hatte ihre Sportklamotten übergestreift und rannte seit einer viertel Stunde durch den Wald. Der trockene Erdboden knisterte leise unter ihren federnden Sprüngen und die Sonne schien wärmend auf ihren verschwitzten Körper. Ab und zu streifte ein angenehm kühler Windhauch ihre Haut und motivierte sie zum Weiterrennen. Tatsächlich vergaß sie ihre Sorgen für ein paar Minuten. In ihr flammte sogar der Gedanke auf, dass sie Anja eventuell mit John verkuppeln könnte. Eigentlich hielt sie sich aus dem Liebesleben ihres Bruders heraus, aber zurzeit war er so deprimiert … eine Freundin würde ihm wohl ganz guttun. Doch wie sollte sie es geschickt anstellen, ohne dass John ihr Vorhaben bemerkte? Er wäre garantiert nicht einverstanden damit.

KRÄÄÄÄH!

Das laute Schreien eines Vogels riss sie aus ihrer Grübelei und ließ sie zusammenzucken. Verwundert sah sich Leetha um. Sie war dermaßen in Gedanken versunken, dass sie gar nicht darauf geachtet hatte, welchen Weg sie gelaufen war. Suchend drehte sie sich im Kreis und ihre Augen blieben an einem alten Haus haften, das majestätisch zwischen dem saftigen Grün der blühenden Bäume hervorragte.

„Was zum … ?“

Leetha blinzelte ein paar Mal, doch das Haus war keine Einbildung, es war wirklich da. Jedoch konnte sie sich nicht daran erinnern, dass in dem Wald ein Wohnhaus stand. Sie überlegte einen kurzen Moment, dann ging sie langsam auf das unbekannte Gebäude zu. Es gab keinen Zweifel für Leetha: Der Bau schien bewohnt, denn er war sehr gut erhalten. Selbst der hölzerne Gartenzaun wies keinen Makel auf. Wer auch immer hier wohnte, achtete sehr auf den Zustand seines Heims. Neugierig trat Leetha auf den Briefkasten zu, der am Gatter befestigt war, doch zu ihrer Enttäuschung war kein Name darauf angebracht. Forschend glitten ihre Augen über das große Anwesen, über die süß duftenden Wiesenblumen und den rotbraunen Ziegeln des prachtvollen Hauses. Zu gerne würde sie mehr erfahren und erkunden, doch einen Einbruch wollte sie absolut nicht begehen. Das wäre ein gefundenes Fressen für die Polizei nach dem letzten Vorfall im Schwimmbad. Sie würde einfach ihre Eltern und ihre Freundinnen nach dem Haus im Wald fragen. Womöglich wussten diese mehr als sie. Sie strich sich einige ihrer langen Haarsträhnen aus dem Gesicht und drehte sich entschlossen um. Es war wohl besser, wenn sie den Rückweg antrat, wo auch immer der sein mochte. Sie konnte nur hoffen, dass sie ihre Orientierung wiederfinden würde. Auf einmal kam ihr der Gedanke an den Heimweg schrecklich erdrückend vor. Die Hitze erschien ihr wie ein lähmendes Ungeheuer und ihre Beine waren mit einem Mal schwer. Sie holte tief Luft und wollte gerade losjoggen, als direkt hinter ihr ein langgezogenes Quietschen die Luft erfüllte. Ruckartig schnellte Leetha herum und ein Schauer glitt ihr über den Rücken. Plötzlich stand das Gartentor sperrangelweit offen.

Kapitel 2

„Hallo? Ist da jemand?“

Leetha bekam keine Antwort. Nur das Gartentor wiegte leicht hin und her und quietschte unaufhörlich. Obwohl es warm war begann sie zu frösteln.

„Hallo?“

Als sie wieder keine Antwort bekam, wollte sie das Hoftor schließen, da vernahm sie ein leises Kinderlachen. Sie hielt in ihrer Bewegung inne und sah sich um, jedoch konnte sie noch immer niemanden sehen. Zögernd trat Leetha in den fremden Garten.

„Wer ist da?“

Zur Antwort ertönte abermals nur ein Kichern. Leetha tippte auf ein Mädchen, war sich allerdings nicht sicher. Wenn sie doch nur das Kind ausmachen könnte, aber sie konnte nicht einmal die genaue Richtung bestimmen, aus der das Gelächter kam. Es war, als wäre sie von dem Lachen umhüllt – es war überall. Plötzlich wurde ihr schwindelig. Halt suchend griff sie um sich und hielt sich an einem der Bäume fest. Das Gejauchze wurde immer lauter und als Leetha sich umdrehte, rannte ein kleines Mädchen mit langen, honigblonden Haaren direkt in ihre Richtung.

„Halt, stop!“

Doch das Mädchen hörte nicht auf sie. Stattdessen rannte sie weiter auf sie zu und schließlich durch sie hindurch. Leetha stockte der Atem und sie war starr vor Schreck. Mit aufgerissenen Augen sah sie, wie ein zweites und etwas älteres Mädchen auf sie zu schnellte. Hastig drückte sie sich gegen den Baum, sodass sie nicht im Weg stand.

„Gesa! Gesa, nun warte auf mich!“

„Ha ha, du musst dich mehr beeilen, Melina!“

Die Mädchen rannten um die Wette auf das Haus zu, wobei Gesa gewann. Melina schnappte sich die jüngere und knuffte sie spaßig in die Seite.

„Hey ihr zwei! Wartet auf euren alten Herrn.“

Ein Mann Anfang vierzig in einem teuren Anzug trat langsam auf die Kinder zu und legte beiden eine Hand auf die Schultern. Seine braunen Haare waren ordentlich nach hinten gestylt. Liebevoll sah er auf die Mädchen herab.

„Du bist nicht alt, Daddy“, antwortete Gesa und griff zaghaft nach seiner Hand.

„Genau, Gesa hat recht. Du bist nicht alt.“

„Ha ha, na wenn ihr meint. Und? Wie gefällt es euch? Was sagt ihr?“

„Es ist spitze!“, antwortete Gesa prompt und ihre hellblauen Augen strahlten freudig. Auch Melina wippt emsig mit ihrem Kopf.

„Ja, es sieht einfach himmlisch aus. Können wir reingehen?“

„Da bin ich aber erleichtert. Bekomme ich zur Belohnung einen Kuss?“

„Sogar zwei!“, meinte Melina lachend und zog ihren Vater nach unten, um ihn auf die linke Wange zu küssen. Gleichzeitig bekam er von Gesa einen Kuss auf die rechte Backe. Der Mann lächelte glücklich und Leetha konnte spüren, wie sehr er seine Töchter liebte.

„So, dann lasst uns das Reich mal von innen inspizieren!“

„Au ja“, riefen beide im Chor und rannten fröhlich zur Eingangstür. Im nächsten Augenblick waren alle drei weg, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Ungläubig blinzelte Leetha ein paar Mal hintereinander, aber die drei blieben verschwunden. Ebenso schnell, wie die Familie sich in Luft aufgelöst hatte, war auch ihr Schwindel wie weggeblasen. Ohne nachzudenken trat Leetha auf den Eingang zu und drückte die Klinke herunter. Die Tür war offen. Sie atmete tief durch, dann trat sie mit klopfendem Herzen ein.

Miaka saß auf ihrer Fensterbank und starrte gedankenversunken nach draußen. Die Bilder der vergangenen Tage wollten ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen und die Ungewissheit fraß sie von innen her auf. Ständig sah sie Leetha vor sich, mit dem Rücken zu ihr gewandt, wie sie aufstand und in das blutrote Wasser sprang. Auch das Bild von der Leiche der jungen Frau kam ihr immer wieder in den Sinn. Sie wusste nicht warum, doch sie wurde das Gefühl nicht los, dass die beiden Vorfälle miteinander zusammen hängten.

Seit diesem Abenteuer hatte sie kein einziges nicht mehr mit ihren Freundinnen gesprochen. Warum eigentlich? Weil es zu verrückt war, um wahr zu sein? Miaka fluchte vor sich hin. Sie hatte keine Ruhe mehr. Sie musste unbedingt mit jemandem darüber reden. Und mit wem konnte sie besser über diese Angelegenheit sprechen als mit ihren Freundinnen, mit denen sie den Horror erlebt hatte? Entschlossen nahm sie ihr Telefon zur Hand und wählte die Nummer von Leetha. Es klingelte einmal, zweimal und noch weitere Male, doch sie nahm nicht ab.

„Verdammt … dann die nächste.“

Grübelnd starrte sie auf ihr Handy. Wahrscheinlich war es besser, zuerst Anja anzurufen. Zum einen war die noch im Krankenhaus und hatte Abwechslung bitter nötig und zum anderen war sie direkt am Geschehen beteiligt gewesen. Außerdem wusste Sey auch nicht mehr als sie selbst. Mit flinken Fingern wählte sie Anjas Nummer.

Kapitel 3

„Hallo? Ist hier jemand? Die Tür war offen. Hallo?“

Leetha stand mitten im Flur des Hauses, doch von dem Vater mit seinen Töchtern fehlte jegliche Spur. Eine Antwort auf ihr Rufen bekam sie nicht. Also sah sie sich neugierig in dem Flur um. Links und rechts befanden sich jeweils zwei Türen. Die Wände waren aus einer schicken Holzverkleidung und verliehen dem Anwesen etwas Antikes aus längst vergangener Zeit. Leise schloss sie die Tür hinter sich und sah zögernd von links nach rechts. Was tat sie hier eigentlich? Es wäre besser zu gehen. Sie beging gerade Hausfriedensbruch und dennoch … sie konnte nicht anders. Das Grundstück hatte etwas Magisches, das sie in den Bann zog. Ein Geheimnis versteckte sich in den prachtvollen Wänden und sie würde herausfinden, was es war. Abgesehen davon konnte sie ja nichts dafür, wenn ihr niemand antwortete. Vielleicht war der Familie etwas passiert und sie brauchten womöglich Hilfe.

Leetha entschied sich für die rechte Tür. Auf leisen Sohlen schlich sie auf ihr Ziel zu und drückte ihr Ohr gegen das kühle Holz, doch sie konnte nicht das Geringste hören.

„Komm schon, sei kein Hasenfuß“, sprach sie zu sich selbst, öffnete vorsichtig den Durchgang und lugte in eine Küche. Da auch diese menschenleer war, trat sie neugierig ein und begann sich in dem geräumigen Raum umzusehen. Sie öffnete Schublade für Schublade und musste feststellen, dass es an Werkzeug absolut nicht mangelte. In den Wandschränken stapelten sich Porzellantassen mit edler Verzierung und etliche schön geschwungene Gläser. An Geld schien es den Bewohnern nicht zu fehlen. Die gesamte Küche strahlte vor Sauberkeit. Für Leetha stand außer Frage, dass das Haus bewohnt sein musste. Sie biss sich zögernd auf ihre Unterlippe.

„Dann sollte ich wohl besser ganz schnell die Biege machen …“

Sie warf einen bedauernden Blick auf die zweite noch geschlossene Tür, die sich in der Küche befand. Leetha drehte sich eilig um und wollte das Haus verlassen, da ertönte direkt hinter ihr ein lautes Klirren. Erschrocken fuhr sie herum, kreideweiß und in Gedanken sich schon ihre Entschuldigung für ihr unbefugtes Betreten zurechtlegend. Melina stand am Herd und werkelte emsig herum. Von Leetha schien sie keine Notiz zu nehmen, aber Leetha hielt es für besser, wenn sie die Sachlage klärte, bevor die Situation aus dem Ruder lief. Unsicher ging sie einen Schritt auf das honigblonde Mädchen zu, die ihre Haare zu einem strengen Dutt zusammengebunden hatte.

„Ähm, hallo. Bitte nicht erschrecken. Ich weiß, das hört sich jetzt seltsam an, aber …“

Sie stockte, denn das Mädchen sah noch immer nicht auf und schien völlig in ihrer Arbeit versunken zu sein. Nervös begann Leetha an einer ihrer Haarsträhne zu zwirbeln. Ein beunruhigendes Gefühl beschlich sie, doch ehe sie es ergründen oder sich zu einem erneuten Versuch aufraffen konnte, das Mädchen abermals anzusprechen, erklang die Stimme von Melinas Vater hinter ihr.

„Mmh, köstlich, wie das duftet.“

„Dann hoffe ich mal, dass es auch genauso gut schmeckt“, antwortete Melina lachend und schenkte ihm ein herzliches Lächeln. Leetha streckte leicht ihre Nase in die Höhe, aber sie konnte nichts riechen.

„Bestimmt. Wieso sollte es nicht?“

„Nun … Ich habe noch nicht oft gekocht und das ist das erste Mal, dass ich Lammbraten zubereite … nicht, dass du enttäuscht bist.“

„Unsinn, wie könnte ich je enttäuscht sein, wo ich doch so eine wunderbare Tochter habe.“

„Daaaaad“, protestierte Melina geschmeichelt und ihre Wangen liefen rot an.

Der Vater schüttelte den Kopf und trat näher an sie heran. Leetha sprang schnell auf die Seite, auch wenn sie sich denken konnte, dass sie nicht wirklich im Weg stand. Wahrscheinlich wäre er ohnehin durch sie hindurch gelaufen. Aus ihren Augenwinkeln nahm sie einen Schatten wahr und als sie sich umwandte, erkannte sie Gesa, die hinter dem Türrahmen versteckt hervor spähte und die beiden beobachtete.

„Melina, Schatz. Du bist erst zwölf, du solltest deine Kindheit genießen. Es ist nett, dass du mit anpackst, doch du musst nicht jeden Tag sauber machen und kochen. Du solltest rausgehen und die Sonne genießen – dich mit Freunden treffen. Ich möchte nicht, dass du dich übernimmst.“

„Ich mache das gerne und mir geht es gut. Ehrlich. Bitte mach dir keine Sorgen um mich.“

Der Vater starrte Melina einige Minuten lang schweigend an. In seinem Blick lag unendlicher Stolz und Hingabe. Leetha schien es, als würde die Wärme, die seine Augen ausstrahlten, auf sie übergehen.

„Dad, was ist los?“

„Ah, entschuldige, mein Schatz. Mir ist gerade nur wieder aufgefallen, wie unglaublich ähnlich du deiner Mutter siehst.“

Gesas zierliche Finger krallten sich am Türrahmen fest und sie schien noch kleiner zu werden, als sie ohnehin schon war. Sie biss sich auf die Unterlippe und ihre Augen füllten sich mit glitzernden Tränen, die sie mit aller Kraft zurückhielt.

„Ich könnte fast meinen, deine liebe Mutter hier stehen zu sehen. Du siehst aus wie sie und hast dasselbe Herz. Wenn sie dich jetzt sehen könnte – sie wäre so stolz auf dich.“

In diesem Moment schluchzte Gesa kaum hörbar auf und ihre Augen funkelten verletzt in die Richtung ihres Vaters. Sie stieß sich mit Schwung von dem Türrahmen ab und rannte weg.

„Miaka?“

„Ja, ich bin’s. Hi, wie geht es dir?“

„Besser, danke. Heute darf ich endlich raus. Keinen Tag länger halte ich diesen Horror hier aus. Ich hasse Krankenhäuser.“

„Das glaube ich dir. Wann genau kommst du raus? Soll ich dich holen?“

„Theoretisch kann ich jederzeit gehen. Meine Eltern können mich allerdings erst gegen Abend abholen und ich möchte nicht mit dem Bus fahren.“

„Mmh, verstehe. Du könntest solange mit zu mir, falls du magst. Ich würde dich abholen, allerdings müssten wir ein kleines Stück mit dem Stadtbus zurücklegen.“

„Echt jetzt? Genial. Ich bin dabei. Beeil dich.“

Miaka konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Die Ungeduld ihrer Freundin sprang ihr förmlich durch das Telefon entgegen, doch sie konnte ihre Reaktion gut nachvollziehen. Sie selbst war auch kein Fan von Krankenhäusern.

„Alles klar. Ich mach mich sofort auf den Weg. Solange musst du noch durchhalten.“

„Mach ich, hast du genug zum Futtern daheim?“

„Was meinst du?“

Miaka stutzte.

„Ich hab tierische Gelüste auf Chips und Cola.“

„Ach herrje … da wird es eventuell etwas eng. Aber ich hatte ohnehin vor, noch Sey und Leetha anzurufen, damit wir uns bei mir treffen.“

„Super, die sollen was mitbringen.“

„Okay, richte ich ihnen aus“, antwortete Miaka glucksend und zog sich gleichzeitig ihre Schuhe an. „Dir ist es also recht, wenn noch mehr kommen und wir über das Ereignis im Freibad sprechen?“

„Klar, hätten wir schon längst tun sollen.“

„Gut, bis gleich.“

Miaka beendete eilig das Telefongespräch und verließ das Haus, während sie als Nächstes die Nummer von Sey wählte.

Leetha blieb vor Staunen die Luft weg. Bisher hatte sie nur einen vergleichbaren Speisesaal bei einer Schlossführung gesehen. Langsam ließ sie ihren Blick durch den länglichen Raum schweifen, in dem ein großer Tisch aus edlem Holz bestückt mit etlichen Kerzen thronte. Vorsichtig streiften ihre Finger zuerst die Platte, dann einige der rot gepolsterten Sessel, die in Vielzahl darum standen. Weder auf dem Tisch, noch auf den Polstersesseln war ein Quäntchen Staub zu entdecken.

„Wie kann ein dermaßen großes Haus nur derart sauber sein?“, murmelte Leetha gedankenverloren vor sich hin und schlenderte auf eine der prachtvollen Ritterrüstungen zu, die an der Wand stand. Sie streckte zaghaft ihre Fingerspitzen nach der grauen Rüstung aus, traute sich dann doch nicht und ließ ihre Hand wieder sinken. Sie wollte nichts zerstören und sie hatte nun mal ab und an zwei linke Hände. Sie seufzte leise auf und musterte den Brustpanzer von oben bis unten. Sie kannte sich zwar in solchen Dingen nicht sonderlich gut aus, doch es brauchte keinen Blick eines Speziallisten um festzustellen, dass es sich um ein antikes Stück handelte.

„Nicht schlecht, nicht schlecht.“

Sie wandte sich um und wollte gerade gehen, als ihre Augen an dem riesigen Spiegel hängen blieben, der ihr beschwörend entgegen funkelte. Wie gebannt trat sie auf den vergoldeten Rahmen zu. Efeu und Blumenranken schlängelten sich verspielt um das saubere Glas und erinnerten Leetha an ein Tor zu einer anderen Welt. Dieses Mal konnte sie ihre Finger nicht still halten, zu groß war ihre Faszination für den Spiegel. Der würde Anja bestimmt auch gefallen, da war sie sich sicher. Was ihr allerdings weniger gefiel, war ihr eigenes Spiegelbild, das ihr verschwitzt und müde entgegenblickte.

„Oh Mann, du hattest auch schon bessere Tage“, murmelte sie und zupfte an ihren Haaren herum. Genau in dem Moment erspähte sie drei Schatten im Spiegel. Sie zuckte erschrocken zusammen und wirbelte aufgeregt um die eigene Achse. An der langen Tafel, die plötzlich reich gedeckt war, hatte der Vater mit seinen Töchtern Platz genommen.

„Ausgezeichnet. Das Essen ist dir wieder einmal hervorragend gelungen.“

„Vielen Dank, Dad. Das freut mich.“

Melina strahlte über das ganze Gesicht und ihre Wangen leuchteten in einem sanften rot.

„Du verwöhnst mich, wirklich. Deine Kochkünste werden von Tag zu Tag besser. Du stehst deiner Mutter in nichts nach.“

„Meinst du wirklich?“

Der Mann tupfte seinen Mund mit der Servierte ab und nickte der älteren Tochter eifrig zu.

„Ja, aber sicher. Zweifelst du an meinen Worten?“

Melina schüttelte emsig ihren Kopf und schaute mit großen und hoffnungsvollen Augen zu ihrem Vater.

„Nein, das nicht, doch ich glaube, ich bin noch lange nicht so gut wie Mama.“

„Oh doch, das bist du. Glaube mir.“

Leethas Blick fiel auf Gesa, die die gesamte Zeit lustlos und genervt in ihrem Essen herumstocherte. Bei letztem Kompliment ließ sie die Gabel laut auf dem Teller aufschreien. Sowohl ihre Schwester als auch ihr Vater zuckten zusammen.

„Gesa! Was soll das denn? Man spielt nicht mit dem Essen! Deine Schwester hat sich viel Mühe gegeben, also habe wenigstens den Anstand, dich vernünftig zu benehmen wenn du schon nichts essen möchtest.“

Gesa sah trotzig auf und schnaubte verachtend, antwortete jedoch nicht. Ihr Verhalten trieb ihrem Vater eine leichte Zornesröte ins Gesicht. Vorsichtig schaltete sich Melina ein, die Verständnis für ihre kleine Schwester zu haben schien. Mitfühlend sah sie die an.

„Hast du denn keinen Hunger?“

Es folgte nur ein widerspenstiges Kopfschütteln als Antwort und Melina schluckte leicht, gab allerdings nicht auf.

„Schmeckt es dir denn nicht?“

„Nein!“

Gesa schmiss klirrend die Gabel auf den vollen Teller, sprang auf und rannte wütend aus dem Raum. Die Tür knallte laut zu und der Vater stand zornig auf. Zu spät, denn Gesa war bereits weg.

„Also wirklich was ist denn nun wieder in sie gefahren?“

Er warf einen fragenden Blick zur älteren Tochter, die deprimiert in ihren Stuhl einsank. Sofort wurden seine Gesichtszüge wieder weich und er trat auf sie zu, um ihr aufmunternd eine Hand auf die Schulter zu legen.

„Es liegt nicht an deinen Kochkünsten. Dein Essen ist vorzüglich. Sie macht einfach nur eine schwierige Phase durch. Nimm dir ihre Worte und ihr Verhalten nicht zu sehr zu Herzen. Ich werde nachher mal ein paar Takte mit ihr sprechen.“

Melina griff zaghaft nach der Hand ihres Vaters und schüttelte verneinend den Kopf.

„Nein, ist schon gut. Ich denke, ich weiß, was mit ihr los ist. Am besten ist es, wenn ich mit ihr spreche, ja? Bitte lass es mich zuerst versuchen. Ich denke, ich kann vielleicht besser zu ihr durchdringen.“

Ihr Vater zog überrascht eine Augenbraue in die Höhe, dann nickte er zustimmend.

„In Ordnung, das hört sich gut an. Ich bin mir sicher, du schaffst das.“

Beide lächelten sich innig an, dann waren sie plötzlich verschwunden und mit ihnen das Essen ebenso wie das Besteck. Leetha blinzelte ein paar Mal hintereinander. Da jedoch nichts mehr passierte, verließ auch sie das Zimmer mit gemischten Gefühlen.

Kapitel 4

Sie konnte nicht sagen, warum sie das tat. Auf der einen Seite wusste sie, dass es Hausfriedensbruch war, aber andererseits stimmte hier irgendetwas nicht. Ihr Verlangen, dem Geheimnis des Hauses und der mysteriösen Familie auf den Grund zu gehen war unbändig. Deswegen ging sie auch ohne Zögern zurück in den Flur und schnurstracks auf die zweite Tür zu, die noch unerforscht war. Sie holte einmal tief Luft, dann drückte sie entschlossen die Klinke nach unten und betrat das Wohnzimmer. Wie erwartet war sie allein in dem Raum. Das geräumige Zimmer bestand aus einer großen und sehr einladenden Ledercouch, einem edlen Glastisch mit schwarzen Beinen und milchig weißen Schränken und Regalen. Den Fernseher suchte Leetha vergebens. Wenn es kein TV-Gerät und keinen Computer hier gab, mit was beschäftigten sich die Kinder?

„Nichts für mich“, murmelte sie und bewegte sich auf den ersten Schrank zu, um den Inhalt zu inspizieren. Ein Pfiff entwich ihren Lippen, als sie das reichlich vorhandene Silberbesteck mit den kunstvollen Verzierungen erblickte. War hier auch irgendetwas einfach? Aßen die Bewohner wirklich mit dem blank geputzten Besteck? Für Leetha wirkte es mehr nach Schmuck und Dekoration als tatsächliches Nutzwerkzeug.

Gedankenverloren ging sie zu einem hüfthohen Schrank und begann, Schublade um Schublade zu öffnen. Sie fand viele gehäkelte und genähte Tischdecken und Tischläufer, die sie allerdings nur kurz musterte. Für Handarbeit hatte sie sich noch nie wirklich begeistern können, abgesehen vom wöchentlichen Backen. Das war jedoch was anderes. Überrascht hielt sie inne, als ihr ein paar Zeichnungen in die Hände fielen. Die DIN A4 Skizzen waren mit Bleistift gezeichnet und ziemlich gut. Es waren verschiedene Motive darauf abgebildet. Zum einen Schmuckschatullen und Medaillons, zum anderen unterschiedliche Landschaften und doch hatten alle etwas gemeinsam. Leetha kniff die Augen zusammen und prüfte jede Skizze sorgfältig, bis sie fand, was sie suchte. Auf jedem der Bilder waren verschiedene Symbole versteckt und eingearbeitet. Sie kannte die Zeichen nicht direkt, aber sie glaubte, diese in Zusammenhang mit Religion oder Magie schon einmal gesehen zu haben. Ob sie die Zeichnungen mit ihrem Handy abfotografieren sollte? Sie kramte etwas unschlüssig in ihren Taschen. Genau in dem Moment ließ sie eine wütende Stimme zusammenfahren und herumwirbeln.

„Gesa!“

„Hallo?“

„Hi, Sey. Ich bin’s! Stör ich dich gerade?“

„Hey Miaka, nein, tust du nicht. Ich sitze vor dem Fernseher, aber es läuft eh nichts Gescheites. Was gibt’s?“

„Das trifft sich gut. Ich hole gerade Anja vom Krankenhaus ab und wir gehen dann noch zu mir, um zu quatschen. Wie sieht’s aus? Hast du auch Lust?“

„Was für ne Frage! Klar komme ich. Ich mach mich gleich auf den Weg. Kommt Leetha auch?“

„Ich habe sie leider nicht erreicht, doch ich probiere es gleich nochmal.“

„Okay, ich komm zu dir.“

„Super, ich freu mich. Bis gleich.“

„Ich auch. Bis gleich.“

Freudig legte Sey auf und zog sich sofort ihre Schuhe und eine Jacke an. Dann schnappte sie sich ihre Tasche und rannte euphorisch zur Haustür. Auf halbem Weg blieb sie jedoch stehen, als sie die diskutierenden Stimmen ihres Vaters und seiner Freundin vernahm. Angespannt blieb sie stehen. Noch bevor sie überhaupt nachdenken konnte, ob sie das Gespräch mitbekommen wollte, war es auch schon zu spät.

„Ich weiß nicht. Kann denn die Geschäftsreise nicht verschoben werden?“, stöhnte ihr Vater verzweifelt auf, worauf seine Kollegin und Freundin schnaubte.

„Natürlich nicht. Der Termin steht nun schon so lange, den können wir nicht verschieben.“

„Ja, doch gibt es keine Möglichkeit, dass einer von uns beiden hierbleibt?“

„Hierbleibt? Und wer hätte die Arschkarte gezogen? Du denkst doch jetzt bestimmt an mich! Das sehe ich nicht ein!“

„Es wäre immerhin nur für den einen Termin …“

„Nein, Arthur, nein! Du weißt genau, wie lange ich darauf warte nach England zu reisen! Das ist die Gelegenheit für mich.“

Sey hörte, wie die Freundin ihres Vaters wütend mit dem Fuß aufstampfte und verdrehte leicht ihre Augen. Sie hatte Andrea noch nie gemocht und das nicht nur, weil sie eine direkte Arbeitskollegin zu ihrem Vater war. Sie kam einfach mit ihrer temperamentvollen Art nicht zurecht. Überhaupt wusste sie nicht, was er an der aufgedonnerten Schnepfe fand. Sey hätte nie gedacht, dass er einen derart schlechten Geschmack hatte. Ihre Mutter war völlig anders gewesen …

„Andrea, ich würde ja Zuhause bleiben, doch der Kunde hat ausdrücklich nach mir verlangt.“

„Ich verstehe das Problem nicht. Deine Tochter ist alt genug. Immerhin ist sie siebzehn. Sie war schon öfter allein daheim, wenn du auf Geschäftsreisen warst. Wieso ist es dieses Mal ein Problem?“

„Die Lage spitzt sich zu. Meine Tochter ist ohnehin viel zu oft allein. Dann sind auch noch Sommerferien … mir ist das nicht recht. Und denk doch mal an den Fund der Leiche direkt vor ihrer Schule. Ich möchte sie nicht allein daheim wissen.“

„Mitnehmen ist auf jeden Fall keine Option.“

„Ja, ich weiß …“

Sey schluckte. Ihr war unwohl. Sie mochte es nicht, wie über sie gesprochen wurde … als sei sie eine lästige Sache, eine Last. Ihre Hände krallten sich fest in den Stoff ihres Pullunders, sodass ihre Knöchel weiß hervortraten. Sie wollte wegrennen, doch sie konnte es nicht. Es fühlte sich an, als würden schwere, unsichtbare Fesseln sie an Ort und Stelle festbinden, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.

„Wenn du sie unbedingt unterbringen möchtest, dann schick sie doch zu deiner Mutter.“

„Das ist nicht so einfach, Andrea.“

„Einfach, einfach. Was ist hier denn momentan schon einfach?“

„Sey hat ihre Großmutter immerhin jahrelang nicht mehr gesehen. Sie kennen sich praktisch gar nicht mehr.“

„Arthur, Liebling, dann lernen sie sich in den Ferien eben wieder kennen. Oder meinst du, deine Mutter hätte was dagegen?“

Ihr Vater überlegte kurz und Sey hielt für einen Moment den Atem an und wünschte sich, er würde ablehnen, doch vergebens.

„Nein, ich denke nicht.“

„Also, siehst du? Dann rufe sie am besten gleich an. Wieso machst du denn so ein Gesicht?“

„Ich mache mir Sorgen.“

„Wieso denn nun wieder?“

„Na, weil sie sich eben lange nicht mehr gesehen haben.“

„Das musst du nicht. Deine Mutter ist ihre Großmutter und welche Großmütter freuen sich nicht über den Besuch ihrer Enkel und verwöhnen diese?“

„Mmh, ja. Ich schätze, du hast Recht.“

Nun schaffte Sey es endlich, sich aus ihrer Starre loszureißen. Mit großen Schritten eilte sie nach draußen in Richtung Bushaltestelle. Sie konnte nicht fassen, dass ihr Vater sich dermaßen von der Schnepfe leiten ließ. Wieso wurde sie nicht nach ihrer Meinung gefragt? Zählte ihr Wille denn gar nichts? Sie konnte sich ein verzweifeltes Schluchzen gerade noch verkneifen. Die Tränen konnte sie allerdings nicht zurückhalten.

„Gesa! Kannst du mir mal sagen, was das soll?“

Die wütende Stimme des Mannes hallte dröhnend in den vier Wänden wider. Leetha stand erstarrt vor dem Schrank, die Zeichnungen noch immer in den Händen. Genauso verblüfft und erschrocken blickten die beiden Töchter, die auf der Couch saßen, ihren Vater an, dessen Gesicht hart wie Stein erschien und von einem unheilvollen Rot durchzogen wurde. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt und stand im Türrahmen wie ein furchterregender Titan.

„Was denn, Daddy?“, wisperte Gesa ängstlich und ihre Hände schlossen zitternd das Buch, in dem sie gelesen hatte.

„Wie oft habe ich euch gesagt, dass ihr den Speicher nicht betreten sollt?! Was hattest du da oben zu suchen?“

„Aber ich …“

„Was du da oben zu suchen hattest, habe ich gefragt!“

„Dad, bitte hör auf. Gesa war es nicht … ich bin oben gewesen“, schaltete sich Melina besänftigend ein, legte ihre Lektüre bei Seite und ging vorsichtig auf ihn zu.

„Du? Du bist oben gewesen?“

Ungläubig sah er sie an und seine Gesichtsfarbe wechselte von dem glühenden Rot in ein milchiges weiß. Melina nickte und ergriff sanft seinen Arm.

„Ja, ich war das. Bitte verzeih mir.“

„Wieso um alles in der Welt warst du denn da oben?“

„Ich habe unsere Spielsachen und alte Kleider ausgemistet. Die vollgestopften Säcke habe ich auf den Speicher getragen. Ich wusste nicht, wo ich sie hätte sonst hinstellen sollen. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst, Daddy. Es tut mir leid.“

Er biss sich auf die zitternde Unterlippe und umarmte sie überschwänglich. Tränen blitzten in seinen Augen auf. Angst und Erleichterung wechselten sich in seinen Gesichtszügen ab. Leetha schaute perplex auf die Szene. Die Gefühle des Mannes schienen direkt auf sie überzugreifen und ließen sie erschauern.

„Daddy, es tut mir wirklich leid“, flüsterte Melina sichtlich irritiert über die Reaktion ihres Vaters, der sie noch immer nicht loslassen wollte.

„Nie wieder.“

„Was?“

„Versprich mir, dass du nie wieder dort hinauf gehst.“

„J-ja, ich verspreche es dir. Ich werde nicht mehr auf den Speicher gehen.“

„Dann ist es gut.“

Mit einem leisen Seufzen ließ er sie los und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie sahen sich in die Augen und sie nickte ihm noch einmal bestätigend zu.

„Gesa, es tut mir leid, dass ich dich …“

Er brach mitten im Satz ab und auch Melina drehte sich zur Couch um, doch Gesa war nicht mehr da.

„Da habe ich wohl etwas gut zu machen“, murmelte der Vater verlegen vor sich hin und kratzte sich am Hinterkopf. „Dann gehe ich Gesa mal suchen.“

Leetha wurde von einem Schwindelgefühl überrollt und musste die Augen schließen, wobei ihre Hände haltsuchend um sich griffen. Für einen Moment schien sich alles zu drehen und ihr Magen zog sich zusammen, dann war alles wieder normal. Vorsichtig öffnete sie die Augen. Wie erwartet war sie allein in dem Wohnzimmer. Sie holte tief Luft, dann steckte sie die Skizzen zurück in die Schublade und verließ eilig den Raum. Nun fehlte ihr nur noch die Treppe, die im Flur zwischen den beiden Türen nach oben führte. Mit klopfenden Herzen betrat sie die ersten Stufen. Wieso war der Vater der Mädchen dagegen, dass sie den Speicher betraten? Er schien regelrecht in Panik zu verfallen. Was verbarg sich dort? Was war sein Geheimnis? Es war offensichtlich, dass er mehr an der älteren Tochter als an der jüngeren hing. Die Kleine tat ihr wirklich leid. Doch was ging hier vor? Was waren das für Erscheinungen und Szenen, die sie immer wieder vor sich sah? Mit einem mulmigen Gefühl und den Kopf voller Fragen bahnte sich Leetha ihren Weg die Treppe hinauf.

Kapitel 5

Sey kam eine Stunde nach dem Telefonat bei Miaka an. Sie holte tief Luft und wischte die letzten Tränen weg, zwang sich ein kleines Lächeln auf und schrieb ihre Freundin über das Smartphone kurz an. Nicht einmal eine Minute später öffnete Miaka dankbar lächelnd die Tür.

„Hey Sey! Danke, dass du nicht die Klingel benutzt hast.“

„Hi, keine Ursache. Du musst dich dafür nicht immer bedanken. Ich weiß doch selbst, dass deine Großeltern ständig über den Lärm und den Durchgangsverkehr meckern“, erwiderte Sey und umarmte ihre Freundin kurz.

„Komm doch rein. Anja ist schon da.“

Sey folgte ihr durch den Flur in den hinteren Bereich des Hauses. Miaka wohnte seit ihrem dritten Lebensjahr bei ihren Großeltern, da ihre Eltern leider bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Obwohl sie ihren eigenen Wohnbereich, bestehend aus einem Wohn- und gleichzeitig Schlafzimmer, ein Badezimmer und eine gesonderte Küche hatte, mischten sich ihre Großeltern nur allzu oft in ihre Angelegenheiten ein. Sey bewunderte Miaka für ihre Gelassenheit und Geduld. Sie wäre an ihrer Stelle wohl längst von der nächst besten Brücke gesprungen.

„Ich habe Knabbersachen mitgebracht. Ein Paar Chips, Flips und natürlich deine Brausebonbons.“

„Dich schickt der Himmel“, meinte Miaka und lachte herzlich auf.

„Wartet ihr schon lange? Ich hatte den letzten Bus nicht mehr bekommen.“

„Nein, wir sind selbst erst vor zehn Minuten angekommen.“

Sie betraten den runden Wohnbereich, wo Anja sich mittlerweile genüsslich auf der Couch breitgemacht hatte und sie ungeduldig ansah.

„Das wird ja auch Zeit. Hast du was zu Futtern dabei?“

„Was für eine nette Begrüßung. Ja, ich habe was mitgebracht“, antwortete Sey mit einem lautlosen Seufzen und stellte ihre volle Einkaufstasche vor ihr auf den Holztisch ab. Anja stürzte sich sofort darauf wie ein ausgehungerter Geier.

„Chips! Oh mein Gott, wie habe ich das vermisst!“

Mit einem amüsierten Schmunzeln auf den Lippen sahen Miaka und Sey ihrer Freundin dabei zu, wie sie eifrig die Tüte aufriss und genüsslich die Augen schloss und den Duft tief einatmete.

„Man sollte fast meinen, die hätten dich da unten verhungern lassen“, scherzte Miaka und setzte sich auf einen freien Sessel. Sey ließ sich schweigend daneben nieder und war froh von ihren Problemen abgelenkt zu werden.

„Du hast ja nicht die geringste Ahnung!“, antwortete Anja theatralisch und schob sich eine ganze Hand voll Chips in den Mund.

Noch einmal versuchte Miaka, bei Leetha durchzuklingeln, jedoch ohne Erfolg.

„Das gibt es nicht. Was macht die bloß?“

„Egal was sie macht, sie verpasst was. Denn ich werde euch jetzt von meinen Krankenhauserlebnissen berichten. Angefangen bei den knackigen Ärzten“, entgegnete Anja und grinste dabei verschmitzt in die Runde, worauf die anderen lachend ihre Köpfe schüttelten. Eins musste man Anja lassen: Wenn es darum ging, lustige Stories zu erzählen, war sie unschlagbar.

Neugierig sah sich Leetha um. Sie hatte gerade die letzten Stufen genommen und stand nun in einem Flur mit insgesamt fünf Türen. Sie strich sich kurz durch ihre Haare und wagte einen erneuten Versuch.

„Hallo? Ist hier jemand?“

Als sie wie erwartet keine Antwort erhielt, steuerte sie auf die erste Tür zu. Zu ihrer Enttäuschung musste sie feststellen, dass abgeschlossen war. Auch bei den nächsten drei hatte sie kein Glück. Mit wenig Zuversicht ging sie auf die letzte zu und drückte die Klinke nach unten. Verdutzt starrte sie auf den Durchgang, nachdem sich die Türe mit einem lauten Quietschen öffnete.

„Oh, na dann.“

Sie schaute direkt auf eine weitere Treppe, die ebenfalls nach oben führte. Missmutig verzog sie ihr Gesicht. Ein Zimmer wäre ihr lieber gewesen. Vor allem, weil sie sich denken konnte, wo die Treppe hinführte und sie wusste nicht, ob sie dorthin wirklich wollte. Unschlüssig blieb sie stehen und blickte den engen Gang zum Speicher hinauf. Ihr Magen begann protestierend zu murren und sie legte schnell die Hand auf ihren Bauch. Ihr Herz fing an, wild in ihrem Brustkorb zu pochen. Sie wollte umkehren, die Geheimnisse ungelüftet lassen, aber sie konnte es nicht. Eine unsichtbare Macht trieb sie immer weiter an und sie konnte nicht das Geringste dagegen tun.

„Du bist echt der Knaller. Das kannst du doch nicht zur Krankenschwester sagen“, meinte Miaka und lachte amüsiert auf. Anja hingegen winkte ab und verzog ihr Gesicht zu einem breiten Grinsen.

„Natürlich kann und habe ich das. Wir sind in einem Land mit Meinungsfreiheit und die Wahrheit hat noch nie jemand geschadet.“

„Ach herrje … dass die dich nicht schon viel eher rausgeschmissen haben. Sey, was meinst du dazu?“

Sie sahen zu Sey, die so ganz und gar nicht zugehört hatte. Sie hatte es zwar versucht, aber ihre Sorgen holten sie immer wieder ein. Als Miaka sie leicht anstieß, zuckte sie erschrocken zusammen.

„Oh … es tut mir leid, worum ging es?“ Ertappt blickte sie von einer zur anderen und wartete auf eine Erklärung.

„Tz, da haben wir uns länger nicht gesehen und ich bin trotzdem nicht interessant genug, um deine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Was sagt man dazu?“, seufzte Anja übertrieben auf und fuchtelte zur Betonung ihrer Worte mit den Händen herum.

„Nein, nein, das ist es nicht. Wirklich …“

„Was ist denn los?“, hakte Miaka nach.

„Ich wollte euch nicht unterbrechen oder die Stimmung ruinieren.“

„Dafür ist es wohl zu spät“, entgegnete Anja bissig und erntete von Miaka einen unsanften Stoß in die Seite.

„Quatsch, raus mit der Sprache. Wir sind ganz Ohr.“

Miaka nickte Sey aufmunternd zu, worauf die kurz die Augen schloss und sich einen Ruck gab. Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus und sie erzählte ihren Freundinnen das gesamte Gespräch zwischen ihrem Vater und Andrea, das sie belauscht hatte. Anja und Miaka hörten ihr bis zum Schluss aufmerksam und gespannt zu.

„Die wollen dich nur wegen der toten Frau vor unserer Schule zu deiner Oma schicken? Machst du Witze?“, polterte Anja aufgebracht los.

„Ich wünschte, es wäre nur ein Witz.“

„Seltsam. Wenn du mit deinem Vater sprichst? Ich meine, du bist wirklich alt genug, um allein daheim zu bleiben.“

„Miaka hat recht! Die sollen dich gefälligst nicht wie ein kleines Kind behandeln, er und seine olle Schrulle!“

„Abgesehen davon hast du deine Oma ja eine Ewigkeit nicht gesehen. Ich finde, das geht nicht“, äußerte Miaka ihre Bedenken laut.

„So einfach ist das nicht“, entgegnete Sey traurig. „Sie klangen dermaßen überzeugt.“

„Na und? Du musst es trotzdem versuchen oder magst du deine gesamten Sommerferien bei ner Alten verbringen, die du überhaupt nicht kennst?“

„Sie ist meine Großmutter, Anja.“

„Pah, du kennst sie doch gar nicht. Die Blutsache wird überbewertet.“

„In einem Punkt muss ich Anja zustimmen: Du solltest wirklich mit deinem Vater sprechen. Wenn möglich nur du und er, also ohne seine Flamme“, meldete sich Miaka wieder zu Wort, allerdings ruhiger und bedachter als Anja. „Du könntest ja auch bei mir schlafen oder ich bei dir, dann wärst du nicht allein. Das könntest du zum Beispiel als Argument bringen.“

„Mmh … ja, ihr habt wohl recht.“

„Ich frage mich allerdings wirklich, ob die Tote und die Sache im Schwimmbad miteinander zusammenhängen“, meinte Miaka und sah die beiden fragend an. Die zuckten nur mit den Schultern.

„Am besten ist es wohl, wenn ich noch einmal versuche, Leetha zu erreichen. Wartet eben mal kurz.“

Sie zückte erneut ihr Handy und wählte die Nummer ihrer Freundin, doch abermals erklang nur das nervtötende Freizeichen. Die Freundinnen blickten sich stumm an. Ihnen wurde auf einmal kalt und sie fröstelten, ohne dass sie genau wussten, warum.

„Oh Mann, na endlich! Ich kann nicht mehr“, schnaufte Leetha erschöpft, als sie die Speichertür erreichte. Sie hatte die Stufen nicht gezählt, doch schienen es ihr unendlich viele gewesen zu sein. Innerlich fluchte sie über ihre schlechte Kondition und nahm sich vor, demnächst viel öfter joggen zu gehen. Ihre Kleider klebten unangenehm am Körper und die Luft war erdrückend stickig. Leetha blieb für einen Moment stehen und rang nach Atem. Dann starrte sie auf die Tür und haderte, ob sie tatsächlich durchschreiten wollte.

„Jetzt habe ich mich die Treppe schon hochgequält, dann sollte ich auch nachsehen, was sich dahinter verbirgt“, redete sie sich gut zu und streckte ihre zitternde Hand nach der abgegriffenen Klinke aus. Sie schluckte, denn etwas tief in ihrem Inneren schrie voller Furcht auf und besagte ihr, auf der Stelle umzukehren, doch ihr Körper gehorchte ihr schon lange nicht mehr. Unaufhaltsam näherte sich ihre Hand der Tür, bis ihre Fingerspitzen das matte Metall berührten. Mit einem Mal wurde ihr schwindelig und ihre Beine drohten zu versagen. Schnell ging sie auf die Knie und lehnte sich gegen die dunkle Wand.

„Gesa, wo willst du hin? Du weißt genau, dass wir nicht auf den Speicher dürfen!“

Melina hielt die Jüngere am Arm fest und sah sie durchdringend an, aber die schüttelte hastig den Kopf. Die Schwestern standen nun direkt vor Leetha, so real und deutlich und dennoch griff sie durch sie hindurch.

„Dieses Mal ist es was anderes. Wir müssen auf den Speicher! Daddy hat es angeordnet.“

„Aber davon weiß ich nichts“, entgegnete Melina unsicher und musterte Gesa voller Zweifel.

„Ja, weil Daddy es eilig hatte, deswegen. Er meinte, er habe eine Überraschung für uns auf dem Speicher.“

„Gesa, ich weiß nicht … lass uns vorher zu Daddy gehen und ihn nochmal fragen.“

Das kleine Mädchen stampfte beleidigt mit dem Fuß auf und sah ihre Schwester vorwurfsvoll und mit verzogener Miene an.

„Du glaubst mir nicht!“

„Doch, natürlich glaube ich dir.“

„Dann lass uns jetzt auf den Speicher gehen!“

Melina starrte zögernd auf die verschlossene Tür und dann wieder zurück in das Gesicht ihrer Schwester, die den Tränen nahe war.

„Ich möchte es trotzdem erst noch einmal mit Daddy abklären. Du weiß doch, wie böse er werden kann, wenn es um den Speicher geht“, versuchte Melina auf Gesa einzureden, doch die begann jämmerlich zu weinen.

„Dann müssen wir wochenlang warten! Daddy ist auf einer Geschäftsreise. Ich finde es voll gemein, dass du mir nicht glaubst. Nie glaubt mir jemand. Nicht du und auch nicht Vater. Was habe ich euch denn getan? Warum seid ihr so gemein zu mir?“

Das kleine Mädchen fing herzzerreißend zu weinen an, sodass Leetha sie am liebsten selbst in den Arm genommen hätte. Allerdings war ihr das nicht möglich. Deshalb blieb ihr keine andere Wahl außer zuzusehen. Melina griff nach ihrer Schwester, um sie zu trösten, doch die stieß sie unsanft zur Seite.

„Gesa, weine bitte nicht. Ich meine es nicht böse. Natürlich glaube ich dir.“

„Wirklich?“, hakte Gesa schluchzend nach und sah sie aus großen, nassen Augen an.

„Ja, ich glaube dir.“

„Dann lass uns jetzt auf den Speicher gehen.“

„Ja …“, antwortete Melina sanft, jedoch mit schuldbewusstem Unterton und griff zaghaft nach der Klinke. Wohl war ihr bei der Sache nicht, das war ihr deutlich anzusehen. Gesa wischte sich mit dem Ärmel ihres Pullovers die Tränen aus dem Gesicht und blickte gespannt nach vorne.

„Dann wollen wir mal“, meinte Melina, öffnete langsam die knarzende Tür und trat in den dahinter liegenden Raum. „Gesa, ich sehe gar nichts.“

In dem Moment schlug ihre kleine Schwester die Speichertür zu. Melina fing panisch an zu schreien und trommelte wie wild gegen das Holz, aber Gesa blieb hartnäckig.

„Gesa! Gesa, die Tür ist zugefallen. Bitte, lass mich raus! Öffne die Tür, bitte. Gesa!“

Ihre Schwester antwortete ihr nicht. Stattdessen verzog sich ihr Gesicht zu einer boshaft und hinterhältig grinsenden Grimasse voller Schadenfreude. Dann verschwand das Bild der Mädchen. Was zurück blieb war eine vollständig fassungslose und entsetzte Leetha.

Kapitel 6

Sie konnte einfach nicht fassen, was sie gesehen hatte. Aber was war auf dem Speicher, das ihn so verboten und geheimnisvoll machte? Leetha schluckte. Ihr war schwindelig und leicht übel. Das ungute Gefühl wurde immer mächtiger, doch sie war nun schon zu weit gegangen, um umzukehren. Sie musste wissen, was es mit dem verbotenen Raum auf sich hatte. Was war mit der Familie geschehen? Die Ungewissheit nagte an ihr und die Neugier ließ sie nicht mehr los. Sie musste es wissen, und zwar jetzt!

Entschlossen griff sie nach dem Knauf und öffnete die Tür. Eine Armee von feinen Staubkörnern wirbelte durch die Luft und vollführte einen wilden Tanz durch das dämmrige Licht. Leetha musste ein paar Mal blinzeln, bevor sie etwas erkennen konnte. Es handelte sich um einen rechteckigen Raum, der von drei Fenstern mit verschlissenen und vergilbten Vorhängen erhellt wurde. Auf dem Holzfußboden waren etliche Türme von Spielsachen, Büchern und alten Kleidern aufgereiht. Am Ende des Zimmers, frontal zum Eingang, stand ein wuchtiger Schrank aus dunklem Holz wie ein Herrscher über die Türme.

Leetha versuchte, das schlechte Gefühl in ihrem Inneren zu ignorieren, und betrat mit klopfendem Herzen den Speicher.

„Das gibt es nicht. Leetha geht doch sonst immer an ihr Handy“, grübelte Miaka laut und strich sich über ihre Arme.

„Hoffentlich ist nichts passiert …“

„Sey, jetzt male mal nicht gleich den Teufel an die Wand. Leetha geht es bestimmt gut. Wahrscheinlich hat sie ihr Handy mal wieder verlegt oder ihr Akku ist alle. Wäre ja nicht das erste Mal“, argumentierte Anja leicht gereizt und kramte nach ihrem eigenen Mobiltelefon.

„Ich weiß nicht, ich habe ein ganz seltsames Gefühl“, widersprach Miaka und Sey nickte zustimmend.

„Ich auch.“

„Genau aus diesem Grund, Schneckies, rufe ich jetzt bei ihr daheim auf dem Festnetz an. Ihr werdet sehen, ihr geht’s bestimmt gut und ihr macht euch umsonst nen Kopf.“

Mit diesen Worten wählte Anja auch schon die Nummer und wartete ungeduldig darauf, dass jemand abhob. Sie musste nicht lange warten.

„Lenk, hallo?“

„Äh, ja. Hi, wer genau ist am Telefon? Ich bin’s, Anja. Ich möchte gerne mit Leetha sprechen.“

„Ah, hi Anja. Hier ist John. Warte ich seh kurz nach.“

„Danke dir.“

Anja zwinkerte ihren Freundinnen neckisch zu. Gleich würde sie ihre Bestätigung erhalten, da war sie sich sicher. Jedoch kam es anders.

„Ähm, Anja?“

„Ja?“

„Leetha ist nicht da. Sie ist vorhin joggen gegangen. Ich dachte, sie sei wieder zurück, aber anscheinend ist sie das nicht …“

„Die Olle geht joggen? Bei der Hitze? Die hat ja Nerven.“

„Ja, da hast du wohl recht. Ich hätte mitgehen sollen“, antwortete John bedrückt und Anja verzog verdutzt ihre Miene.

„So habe ich das aber nicht gemeint. Du hast es absolut nicht nötig. Ich meine, ich habe zwar noch nicht viel von dir gesehen, doch du scheinst mir recht gut in Form.“

„Ich … was?“

Anja lachte verschmitzt auf. Sie konnte sich regelrecht Johns verwirrtes Gesicht vorstellen.

„Ich habe dir gerade ein Kompliment gemacht.“

Für einige Sekunden herrschte Stille. Jetzt wurde Anja doch etwas nervös. So schlimm war ihr kleiner Flirt nun auch wieder nicht gewesen, oder?

„Hey, bist du noch dran?“

„Oh, ja, ich .. tut mir leid.“

„Meine Güte. Haben meine Worte dich denn dermaßen verwirrt? Der Punkt geht wohl an mich.“

„Nein, das ist es nicht. Ich mache mir Sorgen.“

„Bitte?“

Anja rümpfte ihre spitze Nase. Das war ja wohl der Gipfel. Da flirtete sie diesen Schwachkopf an und der hörte ihr nicht einmal zu! Sie musste mal ein ernsthaftes Wort mit Leetha sprechen, was das Verhalten ihres Bruders anging.

„Sie ist mittlerweile ziemlich lange weg. Sonst braucht sie nicht so lange zum Laufen.“

„Dann hat sie unterwegs jemanden getroffen zum Schnacken oder zum Eis essen. Ich würde mir da keine Sorgen machen.“

„Nein, das glaube ich nicht.“

„Komm schon, sie ist deine Schwester. Sie wird dich nicht über alles informiert halten. Apropos – magst du eigentlich Eis?“

Miaka und Sey warfen sich eindeutige Blicke zu und lachten in sich hinein. Das war typisch Anja, anders kannten sie ihre Freundin nicht.

„Ja, aber …“

„Und was für ne Sorte magst du am liebsten? Ich mag gerne Erdbeere.“

„Ähm, schön. Anja, hör zu, das ist wirklich ein nettes Gespräch, doch ich muss jetzt Schluss machen.“

„Was? Aber wieso? Du hast meine Frage noch gar nicht beantwortet.“

„Tut mir leid, aber ich muss jetzt Leetha suchen gehen. Man sieht sich. Sorry nochmal.“

„Hey, warte …“

Er hörte ihr nicht weiter zu und legte auf. Warum war ihm das nicht früher aufgefallen?

„Verdammt! Sonst achte ich für gewöhnlich darauf, ob sie da ist oder nicht. Ich lasse nach“, schimpfte John leise vor sich hin und streifte sich eilig seine Turnschuhe über. Wäre er bloß nicht trainieren gegangen, dann wäre ihm Leethas Abwesenheit bestimmt eher aufgefallen. Irgendetwas stimmte nicht, das spürte er ganz deutlich. Sollte ihr etwas passieren dann würde er sich das nie verzeihen. Überstürzt und voller Sorge verließ er das Haus.

„Ach, wie niedlich!“

Leetha hielt einen rosafarbenen Babystrampler in die Höhe. Es war wirklich erstaunlich, was man in Gerümpel anderer Leute alles finden konnte. Ein schlechtes Gewissen, weil sie in fremdem Plunder wühlte hatte sie seltsamerweise nicht. Stattdessen ließ sie ihrer gesamten Neugier freien Lauf und durchsuchte einen Stapel nach dem anderen.

Als Nächstes nahm sie sich einen der vielen Spielzeugtürme in der Mitte des Raumes vor. Mit flinken Fingern kramte sie einen alten Schatz nach dem anderen aus. Der Krempel beinhaltete etliche antike Puppen aus Porzellan, die sie an einen schwarz-weiß Film erinnerten, Brettspiele aus Holz und süße von Hand gefertigte Schaukelpferdchen in unterschiedlichen Varianten und Größen, die Leethas Herz höher schlagen ließen. Ob es auffiel, wenn sie ein oder zwei davon mitnahm? Sie schüttelte schnell den Kopf und legte die handlichen Holzspielsachen zurück. Was war nur mit ihr los? Zum Dieb wollte sie absolut nicht werden. Es war ihr Glück, dass sie keiner beobachtete. Was würden wohl ihre Freundinnen oder gar ihr Bruder dazu sagen?

Sie stand auf, um den nächsten Haufen zu durchsuchen. Der bestand ebenfalls aus entsorgten Spielsachen, doch dieses Mal hielt sich Leetha nicht allzu lang an den einzelnen Stücken auf, um nicht noch mehr in Versuchung zu geraten. Als ihr jedoch ein mit Muscheln verziertes Schmuckkästchen in die Hand fiel, konnte sie nicht anders, als sich dieses genauer zu betrachten und zu öffnen. Mit Entzücken stellte sie fest, dass es sich dabei um eine kleine Spieluhr handelte, deren traurige Melodie klar und hell durch den Speicher drang. Sie selbst hatte zwar immer wieder überlegt, ob sie sich eine Spieldose holen sollte, sich aber letztendlich nie für eine entscheiden können.

Sie lauschte eine Weile verträumt den melancholischen Tönen, dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit dem Ring, der in der Spieluhr versteckt worden war. Sie kniff ihre Augen leicht zusammen. Ihren Geschmack traf der Ring ganz und gar nicht. Im Gegenteil: Sie empfand ihn als unheimlich. Es war ein schwerer Silberring, der keinerlei Verzierung aufwies, bis auf das geschlossene Auge auf der Oberfläche.

„Das nenne ich mal schön scheußlich“, kicherte Leetha und zog das Schmuckstück spaßeshalber über ihren Ringfinger, wo er wie angegossen saß.

„Dort wird er auch nicht schöner.“ Sie lachte auf und wollte ihn wieder abstreifen, als ein Schmerz gleich eines Stromschlages sie durchschoss. Sie riss panisch ihre Augen auf und wollte es erneut versuchen, doch sie kam nicht mehr dazu. Tausende von unsichtbaren Blitzen schienen durch ihren Körper zu schießen und lähmten sie vor Schmerz. Ein gepeinigter Schrei entwich ihrer Kehle, dann verließen sie ihre Sinne und sie sank ohnmächtig zu Boden.

Kapitel 7

„Gesa, bitte! Du hörst mich doch. Bitte, lass mich endlich hier raus! Du hattest deinen Spaß, aber das ist jetzt nicht mehr lustig, hörst du? Gesa?“

Melinas Fäuste trommelten panisch gegen die Speichertür und sie war den Tränen nahe. Was ging nur in ihrer kleinen Schwester vor? Sollte das ganze ein schlechter Scherz sein? War Gesa sauer auf sie und das war ihre Art der Rache? Doch Rache wofür? Was hatte sie ihr denn getan?

„Du möchtest raus? Wieso das denn? Hast du Angst, du bekommst Ärger? Das ist unnötig, du bekommst doch nie Ärger!“, schrie Gesa ihr von der anderen Seite der Tür entgegen.

„Gesa, bitte!“

„Du kannst so viel jammern und betteln, wie du möchtest! Nie bekommst du Ärger. Alles was du machst ist in Ordnung, aber alles was ich mache ist falsch! Das ist so unfair!“

„Gesa, du siehst das falsch. Ich flehe dich an, lass mich hier raus und wir reden in Ruhe über alles. Bitte.“

Die Verbitterung des kleinen Mädchens verwandelte sich zu einer boshaften Schadenfreude.

„Vielleicht habe ich gar keine Lust mit dir zu sprechen. Rede doch mit dir selber. Dazu wirst du nämlich viel Zeit haben.“

Melina wurde kreidebleich und ihre Hände blieben reglos an der Tür haften.

„Schwester, was meinst du damit?“, fragte sie mit zittriger Stimme, die zu versagen drohte.

„Ganz einfach. Vater ist für eine Woche auf Geschäftsreise und solange wirst du hier oben bleiben.“

„Das kann nicht dein Ernst sein. Willst du mich umbringen?“

„Mmh … ne, das jetzt nicht. Wegen Essen und Trinken hab ich dir hinten was in die Tüte gepackt. Ich wünsche dir viel Spaß, ich werde den jedenfalls haben“, trällerte Gesa und fing an gehässig zu lachen.

Die panischen Rufe ihrer älteren Schwester sog sie auf wie eine Biene den Nektar. Mit beflügelten Schritten sprang sie die Treppe hinunter in das Wohnzimmer und überließ Melina ihrem Schicksal.

„Sie kann das unmöglich ernst meinen. Das ist ein Scherz, genau, ein böser Scherz“, flüsterte Melina entsetzt und traurig zugleich. Sie konnte nicht fassen, was Gesa da getan hatte. Bestimmt würde die Kleine nach ein paar Minuten zurückkommen, um sie herauszulassen. Seufzend setzte sich Melina auf den staubigen Fußboden. Sie konnte ihrer Schwester nicht einmal böse sein, denn an ihren Worten war etwas Wahres dran. Vielmehr empfand sie Mitleid mit ihr. War sie womöglich selbst Schuld an ihrer jetzigen Lage? Hätte sie es kommen sehen müssen? War sie nicht einfühlsam genug gewesen? Sie runzelte grübelnd die Stirn und schloss für einen flüchtigen Moment ihre Lider. Ein leichtes Knarzen des Holzfußbodens ließ sie aufsehen und sich umdrehen. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals und ihre Kehle war staubtrocken. Erstarrt hielt sie inne und Tränen der Furcht schossen ihr in die Augen.

„Oh nein, bitte nicht …“

Tausende von kleinen roten Augen blitzten sie gefährlich hungrig an. Sie schienen sie mit ihren Blicken zu durchbohren und Melinas Körper fing an spastisch zu zucken, ohne dass sie etwas dagegen hätte tun können.

„Gesa, mach auf. Hörst du? Gesa!“

Ihre angsterfüllten Schreie hallten durch das gesamte Haus und verwandelten sich in schmerzerfülltes Kreischen. Unten saß Gesa im Wohnzimmer und las ein Buch. Erschrocken legte sie es beiseite. Irgendetwas stimmte nicht. Schnell sprang sie auf und rannte die Treppenstufen hinauf zum Speicher, wo sie unsicher vor der geschlossenen Tür stehen blieb.

„Melina? Was ist denn los? Wenn du glaubst, ich falle auf deinen Trick rein, dann irrst du dich gewaltig.“

Sie wollte sicher und überlegen klingen, doch sie hörte sich zögernd und ängstlich an. Sie wartete einige Sekunden, aber ihre Schwester antwortete ihr nicht. Sie schluckte hart und öffnete zögernd die Tür.

„Melina?“

Ihre Frage hallte in dem dämmrigen Speicher trostlos wider. Eine Antwort erfolgte nicht. Langsam blickte Gesa in den Raum – ihre Schwester war tot.

Das laute Knarren des Holzfußbodens ließ Leetha erwachen. Vorsichtig rappelte sie sich auf. Es dauerte einige Minuten bis sie begriff, wo sie sich befand und was passiert war. Sie blickte auf ihre Hand, wo sie noch immer den Ring trug. Ihr Kopf dröhnte und schien zerplatzen zu wollen. Stöhnend hielt sie ihre Hand gegen die Stirn. Sie wollte nur aus dem Haus heraus. Mit wackeligen Beinen richtete sie sich auf, als direkt hinter ihr ein lautes Quietschen erklang. Ruckartig drehte sie sich um und bereute es im selben Moment, da ihr Kopf schmerzhaft aufschrie.

„Na, tut’s weh?“

Die kindliche Stimme ließ sie zusammenfahren. Sie kam ihr so vertraut vor und weckte das ungute Gefühl in ihrem Inneren, das geschlafen hatte. Leetha wurde aschfahl.

„Du bist das Mädchen aus dem Schwimmbad“, murmelte sie geschockt vor sich hin und im nächsten Moment weiteten sich ihre Augen voller Erkenntnis. „Du bist Gesa!“

„Ach ne, wirklich? Wen interessiert’s! Schön, dass du endlich wach bist. Wir haben schon auf dich gewartet!“

„Was meinst du damit? Wo ist dein Vater?“

Das bösartige Grinsen von dem kleinen Biest wurde breiter.

„Schluss jetzt mit dem Gebrabbel. Wir haben lange genug gewartet und wollen endlich spielen.“

„Wir? Was meinst du mit Wir?“

Das kleine Ungeheuer lachte genüsslich auf und breitete seine Arme aus.

„Sieh und lausche!“

Leetha bekam eine Gänsehaut und erschauerte. Sie brauchte sich nicht anzustrengen, denn das Tippeln unzähliger kleiner Füße erklang um sie herum wie der Aufmarsch von einem Soldatenheer. Sie spürte, wie die Angst sie übermannte. Langsam, wie in Zeitlupe, drehte sie sich um, aber zu ihrem Erstaunen sah sie nichts. Eine mickrige Welle der Erleichterung flutete ihren Körper, jedoch nicht lange. Etwas schneller wie zuvor wandte sie sich wieder um. Gesa war verschwunden.

„Wo zum … Gesa?“, Leethas Frage war mehr ein Flüstern, das unbeantwortet blieb. Stattdessen wurde das beunruhigende Tippeln um sie herum bedrohlich lauter wie eine alles zermalmende Flutwelle. Sie zitterte am ganzen Körper und war für einen Augenblick gelähmt. Dann, als hätte irgendjemand einen Knopf gedrückt, verstummte das dröhnende Tippeln und es war gespenstisch still. Zu still. Leetha zuckte zusammen, denn sie spürte, wie sich unzählig stechende Blicke in ihren Nacken bohrten. Ein dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals und sie ballte ihre Hände zu Fäusten. Der Schmerz ihrer Fingernägel, die sich in ihr Fleisch drückten, erinnerten sie daran, dass das alles wirklich geschah, dass sie nicht schlief. Voller Furcht drehte sich Leetha um und erstarrte.

„Irgendwie ist das seltsam.“

„Du findest das seltsam? Ich finde es eher verdammt unfreundlich, wie der mich abgespeist hat!“, beschwerte sich Anja erbost.

„Nein, ich meine nicht John, sondern dass Leetha nicht an ihr Telefon geht und schon so lange unterwegs ist“, entgegnete Miaka und stellte ihre Cola zurück auf den Tisch.

„Fängst du jetzt auch noch an? Reicht es nicht, dass ihr Bruder einen auf überfürsorglich macht?“

Sey verdrehte die Augen, doch sie blieb stumm und durchstöberte lustlos die DVD’s, die ihr Miaka in die Hand gedrückt hatte. Miaka hingegen schüttelte den Kopf und wandte sich Anja zu.

„Ich kann verstehen, dass du sauer bist. Aber erstens war John seit ich denken kann nicht anders, wenn es um seine Schwester ging – gerade du solltest das wissen – und zweitens hat er Recht. Überleg mal!“

„Mmh“, gab Anja nur trotzig zurück und Miaka musste gegen ihren Missmut ankämpfen, den Anjas Reaktionen in ihr entfachte.

„Ich mache mir auch Sorgen. Du kennst Leetha besser als Sey und ich zusammen …“

„Das sollte man meinen, immerhin sind wir seit dem Kindergarten die besten Freundinnen.“

„Siehst du. Und kannst du dich erinnern, dass Leetha jemals lange laufen war und mal nicht an ihr Handy ging?“

„Nein … vielleicht hat sie es daheim vergessen.“

„Anja, ich bitte dich! Niemand von uns würde ihr Handy vergessen und wenn, dann würde wohl jede einzelne sogleich wieder umkehren, um es zu holen.“

„Ist ja gut, du oder ihr habt Recht. Jetzt hab ich auch ein ungutes Gefühl, zufrieden?“

Miaka band sich ihre langen Haare nachdenklich zu einem Pferdeschwanz zusammen. Dann schüttelte sie ihren Kopf, sodass ihr hellbraunes Haar emsig umher flog.

„Nein, das wollte ich jetzt auch nicht. Lasst uns erst mal eine DVD anschauen, wie geplant. Womöglich meldet sich Leetha dann von selbst … Falls das allerdings nicht der Fall sein sollte, müssen wir sie suchen. In Ordnung?“

Ihre Freundinnen nickten, wobei Sey eine der DVD’s heraussuchte und sie Miaka reichte. Es handelte sich um eine Komödie, doch so sehr sich die drei auch bemühten auf den Film zu konzentrieren, es mochte ihnen einfach nicht gelingen, denn ein bitterer Beigeschmack blieb.

Leetha starrte in unzählige rote Augenpaare, die sie hungrig und lauernd ansahen wie wilde Raubtiere, die Blut geleckt hatten. Sie warteten nur auf einen Fehler ihrer Beute, um sie endgültig zu erledigen. Voller Ekel, Abscheu und Furcht verharrte Leetha auf der Stelle und traute sich kaum zu atmen, während sie auf die vielen faustgroßen Spinnen starrte, die unruhig auf ihren acht Beinen hin und her wackelten. Die Angst trieb ihr die Tränen in die blauen Augen und sie konnte nicht verhindern, dass sie ausbrachen und über ihre Wangen liefen. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seitdem sie reglos verharrte, doch es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Es musste etwas geschehen. Leetha nahm all ihren Mut zusammen und ging langsam einen Schritt zurück, den Blick nicht von den Achtbeinern abwendend. Die roten Augen blitzten gefährlich auf und sie wartete einen Moment, aber nichts geschah. Das war ihre Chance. Wenn sie nur geduldig und vorsichtig Schritt für Schritt zurück zur Speichertür arbeitete, dann könnte sie es schaffen. Sie musste es einfach versuchen!

Abermals setzte sie einen Fuss zurück und wieder erfolgte nur ein Aufblitzen der rubinroten Spinnenaugen. Leetha atmete innerlich auf, dann ging sie einen weiteren halben Meter nach hinten und noch einen. Sie hatte noch ein ganzes Stück vor sich, jedoch hatte sie die vielen aufgetürmten Stapel auf dem Fußboden vergessen. Sie stolperte über einen Spielzeughaufen und landete unsanft mit einem lauten Knall auf dem Boden. Noch bevor Leetha ihren Fehler in vollem Ausmaße begreifen konnte, stürzten sich die Achtbeiner mit ohrenbetäubenden und schrillen Lauten auf sie.

John hatte das halbe Dorf abgesucht, aber seine Schwester hatte er nicht gefunden. Die einzige Möglichkeit, die er noch sah, war der Wald hinter dem Abenteuerspielplatz. Wenn Leetha mal joggen ging, was sie nur selten tat, dann entweder die kleine Runde im Dorf oder im Wald. Er musste sie einfach finden.

„Hey, jetzt bleib doch mal stehen!“, rief eine ihm bekannte Stimme und noch bevor er sie zuordnen oder sich gar umdrehen konnte, wurde er auch schon herumgezogen.

„Lexington?“, hauchte John erschrocken und blickte verdutzt in das Gesicht seines Freundes.

„Nein, der Weihnachtsmann. Klar bin ich es! Hast du was an den Glubschern oder gar was geraucht? Falls es letzteres ist, dann möchte ich auch etwas davon.“

Grinsend gab Lexington seinen Kumpel einen Stoß und lachte herzhaft auf. John blickte ihn immer noch verdattert an, als würde er eine Fata Morgana sehen. Dann riss er sich aus der Starre und wandte sich von ihm ab.

„Ich muss weiter.“

„Hey, jetzt warte! Ich steh ja auch auf Sport, aber übertreibst du es nicht mit deinem Fitnesswahn?“, fragte Lexington und begann neben John her zu joggen.

„Ich, nein … sorry. Momentan bin ich etwas kopflos.“

„Das merke ich. Vorschlag meinerseits: ich begleite dich ein bisschen, obwohl das bei der Hitze echt behämmert ist, und du erzählst mir mal, was los ist.“

„Einverstanden“, meinte John und nickte seinem Kumpel zu, den er seit dem Kindergarten kannte. „Ich suche meine Schwester.“

„Wieso das denn? Ist was passiert?“

„Hoffentlich nicht. Sie ist seit Stunden unterwegs und hat sich nicht gemeldet.“

Lexington wartete vergebens auf eine weiterführende Erläuterung und starrte John fragend an, während dieser den Blick unruhig im Wald umherschweifen ließ.

„Und? Was ist daran ungewöhnlich?“

„Sie ist Joggen.“

Lexington verdrehte ungeduldig die Augen.

„Du bist aber heute auch gesprächig. Muss ich dir denn alles aus der Nase ziehen? Ist doch schön, dass deine Schwester sportlich ist.“

„Mensch Lex, sie ist nun schon seit Stunden bei der Hitze unterwegs und geht nicht an ihr Handy. Ich mache mir Sorgen“, antwortete John etwas gereizt, was ihm sogleich leidtat. Jedoch schien ihm sein Freund das nicht übel zu nehmen.

„Okay, aber findest du nicht, dass deine Schwester alt und vernünftig genug ist? Wie alt ist sie noch einmal?“

„Sie ist siebzehn …“

„Also drei Jahre jünger als wir.“

„Ja, wieso?“

„Ist sie zufälligerweise noch solo?“

Abrupt blieb John stehen und sah seinem verschmitzt grinsenden Freund warnend an.

„Sie ist nichts für dich.“

„O lala, wenn Blicke töten könnten, dann hättest du für längste Zeit einen besten Freund gehabt“, lachte Lexington und fuhr sich über seine verschwitzte Stirn.

„Abgesehen davon hast du eine Freundin. Was ist mit Jenny?“

„Exfreundin“, betonte Lexington und fächerte sich mit seinem T-Shirt frische Luft zu.

„Du wechselst deine Freundinnen wie deine Unterwäsche. Und ausgerechnet dir sollte ich Leetha überlassen? Keine Chance.“

„Meine Güte, du hast aber einen Großen-Bruder-Komplex. Und ich muss dir widersprechen: meine Unterwäsche wechsle ich öfter.“

Lexington grinste John breit an und begann gleichsam mit ihm wieder zu laufen. Als sie eine Weile schweigend nebeneinander gerannt waren, hielt er die angespannte Stille nicht mehr aus. Er wusste, dass John gut schweigen konnte, er selbst war darin nie besonders gut gewesen, wollte das allerdings auch nicht.

„Sag mal John, wieso legst du dir nicht mal ne Freundin zu? Die letzte ist ja schon Lichtjahre her. Ein bisschen Abwechslung täte dir ganz gut.“

„Mmh.“

„Ist das alles? Ein Mmh?“

„Lex, nimm’s mir bitte nicht übel, aber ich hab jetzt keinen Kopf um darüber zu reden, solange ich nicht weiß, wo Leetha ist und ob es ihr gut geht.“

Lexington musterte seinen Freund von der Seite. Dermaßen besorgt hatte er ihn schon lange nicht mehr gesehen. Deshalb nickte er nur und meinte: „Okay, verstehe, sorry. Lass uns deine Schwester finden!“

Verzweifelt versuchte Leetha, den springenden Angreifern auszuweichen, jedoch waren es zu viele. Sie war umrundet und die Spinnen ließen nicht von ihr ab. Hektisch schüttelte sie ihren Arm und schlug mit der anderen Hand drei von den Biestern herunter, als ihr die nächsten auf den Rücken sprangen. Mit einem panischen Schrei ließ sich Leetha rücklings fallen und rollte schnell auf dem Boden hin und her, sodass unter ihr ein schauderhaftes Krachen und Matschen ertönte. Sie wollte wieder auf ihre Beine springen, als sie einen stechenden Schmerz am Hals verspürte.

„Au …“

Voller Furcht riss sie das Tier von ihrem Hals weg, aber bevor sie aufstehen konnte, spürte sie, wie unzählige der haarigen Monster an ihre Beine sprangen, sich festkrallten und ihr Fleisch mit ihren messerscharfen Zähnen durchbohrten. Aus Leethas Kehle bahnte sich ein schmerzerfüllter Schrei und hallte in dem dämmrigen Speicher wider. Sie strampelte mit den Beinen, doch so viele sie auch abschüttelte, immer wieder kamen neue nach. Sie spürte, wie die Kraft sie verließ und ihr Schreien verwandelte sich in ein Krächzen. Plötzlich kehrte Ruhe in ihren Körper ein und der Schmerz wich einer süßen Benommenheit. Sie fühlte sich auf einmal gut und unglaublich leicht. Der Speicher schien zu schwanken und als sie blinzelte, befand sie sich nicht mehr in dem staubigen und vollgestopften Dachboden, sondern auf einer blühenden Wiese, umgeben von etlichen Mohnblumen. Sie sah nach oben und blickte der lächelnden Sonne entgegen, die ihre wärmenden Strahlen einladend auf sie herabsenkte. Taumelnd rappelte sich Leetha auf ihre Knie und schaute sich um, ließ die Hände sanft durch das Gras streichen, das sie umgab. Die Spinnen um sie herum erschienen ihr gar nicht mehr hässlich und furchteinflößend, vielmehr niedlich. Sie fing an zu Kichern und streckte zaghaft eine Hand nach den kleinen pelzigen Tierchen aus, aber die begannen zurückzuweichen und verschwanden schließlich ganz im Gras. Enttäuscht ließ Leetha ihre Hand sinken und wollte gerade versuchen aufzustehen, als sie Gesa erblickte, die einen Kranz aus Wiesenblumen auf ihrem Kopf trug und in einem sommerlich weißen Kleid zu einer stummen Melodie auf sie zu getanzt kam. Das Mädchen lächelte beschwörend und ihre Bewegungen waren anmutig und gewandt, sodass Leetha ihren Blick einfach nicht von ihr abwenden konnte. In Gesas Händen funkelte ein kleiner Zauberstab, den sie fröhlich in der Luft schwenkte …

Mit einem siegessicheren Lächeln trat Gesa auf die vom Spinnengift berauschte Leetha zu, die sie mit einem dämlichen Grinsen empfing. Gesa schüttelte leicht den Kopf. Kaum zu glauben, wie dumm und einfach die Menschen waren. Allerdings wollte sie sich nicht daran stören, so war es doch für sie ein leichtes, sie zu vernichten. Sie fuchtelte voller Vorfreude auf das bevorstehende Blutbad mit dem Messer in der Luft herum. Dieses Mal würde sie sich Zeit beim Töten lassen und sie würde es genießen. Ihre Augen funkelten aufgeregt und sie hob ihre Klinge an Leethas Kehle, die sie noch immer bewundernd und benommen anstarrte, als sehe sie eine Fee oder dergleichen. Vermutlich sah sie das auch, aber das war Gesa egal. Sollte sie doch sehen, was sie wollte.

„Sag, bist du eine Maria oder vielleicht einer deiner blöden Freundinnen?“

Leetha antwortete nicht, stattdessen lächelte sie Gesa schlaftrunken und berauscht vor Glück an.

„Was soll’s. Du musst mir nicht antworten. Ich werde es auch allein herausfinden. Eine nach der anderen werde ich euch abstechen, bis ihr alle weg seid!“

Gesa begann schallend zu lachen. Leetha lächelte sie noch immer belämmert an und erinnerte das Mädchen an ein dummes Schaf. Sie ließ mit dem Messer von Leethas Kehle ab und hob es drohend in die Luft. Gesa genoss den Moment, kostete ihn aus. Dann blitzten ihre Augen gefährlich auf und sie ließ die Klinge voller Kraft herabsausen, direkt auf ihr Opfer zu. Es kam nicht zum ersehnten Blutbad, denn plötzlich durchzog gleisendes Licht den Speicher und brannte in ihren Augen wie das Höllenfeuer selbst. Gesa stieß einen schrillen Schrei aus und hob schützend ihre Hände vor das Gesicht.

„Was zum ...?!“

Sie brauchte nicht lange nach der Ursache für die Unterbrechung zu suchen. Bevor sie die Frage beendet hatte, kannte sie die Antwort.

„Der Ring! Woher hat die Kuh den Ring? Der Ring, Melinas Auge, verdammt!“

Kapitel 8

Sie waren mittlerweile zwanzig Minuten unterwegs und Johns Unruhe hatte kein bisschen abgenommen. Im Gegenteil: Mit jeder verstreichenden Minute, in der sie Leetha nicht fanden, wurde er nervöser. Lexington beobachtete seinen Kumpel mit wachsender Besorgnis. Johns Verhalten war ihm ein Rätsel. Okay, er konnte nachvollziehen, dass er sich Sorgen um seine kleine Schwester machte. Wahrscheinlich war das so, wenn man Geschwister hatte. Er selbst war ein Einzelkind und hatte von solchen Dingen keine Ahnung, doch er mochte es nicht, wenn es John offensichtlich schlecht ging.

„Sag mal John, ich weiß, du kannst es nicht mehr hören, aber findest du deine Fürsorge nicht etwas übertrieben?“

John verdrehte genervt die Augen, antwortete jedoch nicht. Stattdessen schüttelte er nur kaum merklich den Kopf und beschleunigte sein Tempo. Manchmal ging ihm Lex ziemlich auf die Nerven, auch wenn er es nur gut meinte.

„John, jetzt sei doch nicht beleidigt! Ich meine es ernst. Deine Schwester ist kein kleines Mädchen mehr. Klar, du bist ihr großer Bruder und passt auf sie auf, aber etwas lockerer könntest du das Ganze schon nehmen. Ich meine jetzt ganz allgemein, nicht auf die Situation bezogen.“

Abermals erhielt Lexington keine Antwort, nicht einmal ein Kopfschütteln hatte John für seinen Freund übrig. Das Gespräch war ihm lästig und das ließ er ihn spüren.

Lexington seufzte leise auf. John konnte unglaublich stur sein. Vielleicht war es besser, wenn er das Thema vorerst einmal begrub. Deswegen überlegte er kurz und probierte es erneut mit einem Themenwechsel.

„Ein Mädchen würde dir bestimmt gut tun. Das bringt dich auf andere Gedanken. Auf welchen Typ Frau stehst du? Ich bin mir sicher, wir finden schnell was für dich.“

„Nein, danke.“

„Wieso denn nicht?“

„Für Beziehungen habe ich keine Zeit.“

„Ha ha, du bist ja witzig! Verwende etwas weniger Zeit, um den großen Beschützer zu spielen, dann hast du genug davon.“

„Ach Mann, lass stecken.“

„John, ich meine es ernst. Denkst du mir fällt nicht auf, dass du immer unzufriedener wirst? Was ist denn bloß los, Alter?“

„Ich … ich weiß doch auch nicht“, nuschelte John missmutig vor sich hin und starrte finster gerade aus.

„John …“

„Lexington, ich danke dir wirklich, dass du dir Sorgen machst, doch das musst du nicht. Lass uns bitte meine Schwester suchen, denn vorher bin ich sowieso nicht fähig, mich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren, okay?“

„Oh Mann, ich hab’s versucht“, seufzte Lexington. „In Ordnung, lass uns schnell deine Schwester finden und dann greifen wir die Freundinnensache nochmal auf.“

Leetha schloss geblendet die Augen. Die Benommenheit war mit einem Schlag wie weggeblasen, als hätte das Licht sie verschlungen. Schlagartig wurde ihr bewusst, in welcher misslichen Lage sie sich befand. Sie öffnete mit aller Gewalt ihre Lider und suchte nach Gesa. Die grellen Strahlen erschwerten ihr die Sicht. Leetha fühlte sich wie in einem Traum. Alles kam ihr unwirklich vor, so verzerrt. Sie musste hier raus, und zwar schnell. Panisch kreiste ihr Blick im Dachboden umher. Sie glaubte, zwei Schatten zu erkennen, die sich in wildem Kampf ineinander verkeilten. Leetha wollte aufstehen, doch es gelangte nicht genug Kraft in ihre wackeligen Beine. Ihr gesamter Körper erschien schwach, als hätte sich jemand an ihrem Lebenssaft bedient. Sie blinzelte ein paar Mal hintereinander und das Schattenknäul verwandelte sich zu Gesa und Melina, die miteinander rangen. Leetha versuchte zu sprechen, doch von ihren Lippen drang nur ein Keuchen. Um sie herum begann es schwarz zu werden, ein dunkler Schleier des Schlafes drohte, sich auf sie zu legen. Tränen schossen in ihre Augen – sie durfte auf keinen Fall ohnmächtig werden. Nicht jetzt. Nicht hier.

Sie nahm alle Kraft zusammen und zog sich mit ihren Händen, auf dem Bauch robbend, vorwärts. Nur mühevoll kam sie voran und immer wieder drehte sie panisch den Kopf zu den kämpfenden Schwestern, die keine Notiz von ihr zu nehmen schienen. Sie waren viel zu sehr mit ihrem eigenen Kampf beschäftigt. Innerlich betend zog sie ihren schweren Körper zur Tür, die lange Treppe des Speichers hinunter. Der Schleier wurde immer dichter und der Schlaf drohte sie einzuholen, während ihre Kräfte stets weiter dahin siechten. Sie zitterte vor Erschöpfung, war kaum noch fähig den Kopf zu heben. Ihre dünnen Finger krallten sich verzweifelt in das harte Holz des Fußbodens. Mühevoll zog sie sich durch das große Haus. Leetha konnte noch die Umrisse einer Tür erkennen und hoffte, dass es die Eingangstür war. Sie spürte, dass etwas vor sich ging. Die Atmosphäre veränderte sich. Es war, als würde das Haus mit der Luft verschmelzen und eine Einheit bilden. Dann holte sie die Dunkelheit endgültig ein.

„Da! Da vorne liegt jemand!“, rief John und sein Herz schlug bis zum Anschlag. Ohne eine Antwort von Lexington abzuwarten rannte er auf die schlafende Person zu. Als er seine Schwester erkannte wurde ihm schlecht und Furcht stieg in ihm auf. Angst, die schlimmer als alles andere war, was er bisher kannte. Es fühlte sich an, als würde jemand sein Herz zuschnüren, nur um es dann mit einem Dolch zu durchbohren.

„Leetha! Wach auf, oh bitte, wach auf!“

Er fiel neben ihr auf die Knie und nahm sie vorsichtig in die Arme.

Lexington beugte sich atemlos zu seinem Freund. Kaum zu glauben, dass sie Johns Schwester tatsächlich gefunden hatten. Er schämte sich, dass er ihm nicht geglaubt und ihn nicht ernst genommen hatte. Hoffentlich war der Kleinen nichts passiert. Vorsichtig ergriff er das Handgelenk von Leetha und atmete erleichtert auf, als er ihren Puls fühlte.

John merkte davon nichts, denn als seine Schwester die Augen nicht aufschlug, überrannte ihn die Panik wie eine Herde Büffel. Hektisch fing er an, sie zu schütteln.

„Wach auf, bitte. Leetha!“

Lexington wollte ihn festheben, doch John war außer Rand und Band. Ungehalten schüttelte er seine Schwester weiter, bis die tatsächlich ihre Lider öffnete.

„Gott sei Dank!“

John nahm sie stürmisch in die Arme und konnte seine Tränen nicht verbergen. Zu groß war die Erleichterung, die ihn überkam wie der Rausch einer Droge. Leetha blinzelte irritiert, denn sie begriff nicht ganz, was vor sich ging.

„John, hey, du erdrückst sie noch!“, meldete sich Lexington breit grinsend zu Wort und klopfte seinem Kumpel auf die Schultern, der sofort den Griff lockerte, Leetha allerdings nicht losließ.

„Wo … sind wir? Wo kommt ihr her?“

Sie blickte fragend von ihrem Bruder zu dessen Freund. Die Erlebnisse vor der Ohnmacht passten nicht mit der jetzigen Situation zusammen. Irgendein Puzzleteil fehlte und sie konnte sich absolut nicht erinnern, welches es war.

„Wo ist das Haus? Die Mädchen …“

Sie wollte auf ihre Beine springen, aber die beiden Jungs hielten sie am Boden fest.

„Du solltest noch nicht aufstehen. Warte bitte einen Moment“, meinte John und nickte ihr beruhigend zu. „Wir sind im Wald. Du hast bewusstlos auf dem Boden gelegen. Ich weiß nicht, von welchem Haus oder welchen Mädchen du sprichst. Hier ist nichts und niemand.“

Leetha blickte sich suchend um, doch ihr Bruder hatte recht. Außer ihnen und lauter Bäumen war nichts zu sehen. Lexington gab John einen ungeduldigen Stoß in die Seite.

„Hi, Leetha. Kennst du mich noch? Ich bin Lexington. Wir haben uns ja jetzt schon ewig nicht mehr gesehen … fast zehn Jahre, wenn ich mich recht erinnere.“

Er grinste sie verschmitzt an. Auch wenn das John nicht gefallen würde: Er konnte nicht leugnen, dass John eine hübsche Schwester hatte.

John sah Leetha besorgt an, die noch immer sehr irritiert wirkte und ihre Blicke suchend durch die Gegend schweifen ließ. Sie brauchte eine kurze Weile, bis sie ihre Aufmerksamkeit Lexington schenken konnte und sich ihm zuwandte.

„Oh, hallo. Entschuldige, ich bin wohl noch nicht ganz bei mir“, antwortete Leetha etwas schüchtern und nickte ihm z. Ihre Augen glitten über seine mandelbraune Haut zu seinen mit Gel gestylten hellbraunen Haaren, die an den Seiten kurz rasiert waren und einen lilafarbenen Zickzack gleich eines Blitzes aufwiesen. Sie bemerkte, dass sie ihn offensichtlich anstarrte und wandte den Blick schnell von seinen Haaren, blieb dennoch an seinen Augen erneut hängen. Langsam konnte sie sich an ihn erinnern. Schon als Kind hatte sie seine Augen faszinierend gefunden. Allerdings hatte sie sich nicht getraut, ihm das zu sagen.

„Wirklich außergewöhnlich – ist das violett?“

„Bitte?“

„Deine Augen … sie sind dunkelbraun und haben unten einen starken violetten Stich“, flüsterte Leetha beeindruckt vor sich hin und Lexingtons Grinsen wurde noch breiter, als es ohnehin schon war. Ein spitzbübisches Funkeln kreuzte seine Augen.

„Ja, das stimmt. Die waren schon immer so und das mit den Haaren war eigentlich ein Farbunfall, doch ich habe gefallen dran gefunden. Irgendwie passt es zu mir.“

„Das ist wohl war. Deine Frisur ist genauso verrückt wie du“, unterbrach John die beiden und half nun Leetha vorsichtig auf die Beine. „Was ist denn passiert? Kannst du dich an etwas erinnern? Hat dir jemand was getan?“

Sie überlegte einige Sekunden, hielt es jedoch für das Beste, vorerst nicht die Wahrheit zu sagen. Wer würde ihr das schon glauben? Sie war sich selbst nicht sicher, ob sie nicht geträumt hatte.

„Ich bin gejoggt und … es war so warm, mir wurde schwindelig … ich glaube, ich bin gestolpert“, log Leetha und biss sich leicht auf die Zunge. Sie hasste es zu lügen. John betrachtete sie nachdenklich, während Lexington auf die andere Seite trat, um sie zu stützen.

„Hauptsache, dir ist nichts passiert. Kannst du laufen oder sollen wir dich tragen?“

„Ach du liebe Güte, ich werde laufen, wenn ihr langsam macht und Geduld habt“, entgegnete Leetha leise und peinlich berührt.

„Natürlich. Sollte es jedoch nicht gehen, dann gib mir bitte Bescheid“, bat John seine Schwester und beäugte sie besorgt. Die winkte ab und gemeinsam machten sie sich auf den Rückweg. Sie bemerkten nicht, dass sie von Gesa mit einem hasserfüllten Blick beobachtet wurden.

„Lach du nur und freu dich, solange du noch kannst. Dieses Mal hattest du Glück, doch noch einmal wird sie dir nicht helfen können! Dieser verfluchte Ring wirkt nur einmal – jetzt ist er tot. Seine Magie ist erloschen. Meine verdammte Schwester wird dich nicht mehr beschützen können!“

Das kleine Mädchen ballte ihre Fäuste und blickte den drei böse hinterher. Sie war es nicht gewohnt, dass ihre Opfer ihr entkamen. Erst im Schwimmbad und nun hier. Wenn ihr Gebieter davon erfahren würde, wäre er alles andere als begeistert ...

Erst die Begegnung im Schwimmbad und nun hier – ob das etwas zu bedeuten hatte? War sie eine der Marien? Ihr Blick blieb an Leethas Hand haften, wo sie noch immer das Schmuckstück trug – das Auge fehlte allerdings, jetzt war es nur noch ein gewöhnlicher Ring.

„Nein, noch einmal wird sie dir nicht helfen! Du … ihr alle seid so gut wie tot!“

Marienblut

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