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SCHAU-SPIELE KOMPLEXER RÄUME: HEINRICH VON KLEIST UND DIE KRISE DER BEWUSSTSEINSPHILOSOPHIE

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Helmut Grugger

Universität Innsbruck

Im 17. Jahrhundert, zur Vernissage des sich selbst als modern ausstellenden Denkens, schließt René Descartes seine Augen, verstopft seine Ohren und wendet alle seine Sinne ab, um den Blick nach innen richten zu können (vgl. Descartes, 1986: 98). Für die philosophische Moderne trennt er in dieser so einflussreichen Operation den Geist von jeglicher Körperlichkeit, prägt die Begriffe der res cogitans und der res extensa. Das denkende Ding wird außerhalb konkreter Räumlichkeit verortet, der Akt der Kognition von der Form eines Ausgedehnt-Seins losgelöst sowie gleichzeitig von Zeithaftigkeit abgeschnitten. Zielpunkt seines Vorstoßes ist das gewisse, für das jeweilige Selbst nach-erkennbare, allgemein-individuelle Subjekt, das als Folgeprodukt die Existenz Gottes absichern soll. Expressis verbis formuliert Descartes sein Ziel als nicht mehr zu bezweifelnde Gotteserkenntnis, aus der Selbstbetrachtung kreiert wird aber das moderne Subjekt. Die neben Nikolaus von Kues wohl schillerndste Figur der Renaissance-Philosophie, Pico della Mirandola, beschreitet im 15. Jahrhundert ebenfalls den Weg der Selbstschau: Denn, wer sich erkenne, so Pico, könne in sich alles erkennen (vgl. Pico, 1990: 26). Um zur Erkenntnis Gottes zu gelangen, empfiehlt Augustinus, tausend Jahre davor, ebenfalls den Weg nach innen: sein Erkenntnisinteresse der Selbstschau ist allerdings weder die Welt noch das Subjekt als selbstgewisser Einzelner, sondern der Weg zu Gott, dessen Existenz das Mittelalter voraussetzen wird.

2011 greift der Mitherausgeber des Heidegger-Jahrbuchs, Alfred Denker, in Unterwegs zu Sein und Zeit auf Johann Gottlieb Fichte zurück, womit wir in der Zeitgenossenschaft Kleists sind, und zitiert zustimmend folgende Stelle aus der Einleitung in die Wissenschaftslehre: «Merke auf dich selbst: kehre deinen Blick von allem, was dich umgiebt, ab, und in dein Inneres – ist die erste Forderung, welche die Philosophie an ihren Lehrling tut. Es ist von nichts, was ausser dir ist, die Rede, sondern lediglich, von dir selbst» (Fichte zit. nach Denker, 2011: 16). Für Alfred Denker wird die Innenschau also zur Bedingung der Möglichkeit des Philosophierens.

Das Fichte-Zitat führt zurück zu Descartes, da er sowohl das Kantische als auch sein eigenes Philosophieren ebenso dezidiert wie folgerichtig in den cartesianischen Kontext stellt (vgl. Fichte, 1997: 73). Dieser Kontext, um das deutlich festzuhalten, wird von einer folgenschweren doppelten Bewegung gesteuert. Das Subjekt entsteht als allgemeines und als individuelles. Deutlich wird diese Problematik, wenn an die Ästhetischen Briefe Schillers gedacht wird, der mit genau dieser Hybridität sich abringt und sehr vorsichtig nach Formen individueller Subjektivität sucht.

Das allgemeine bürgerliche Subjekt der Aufklärung wird also durch den intellektuellen Nachvollzug des individuellen, von Descartes vorgezeichneten Weges zur Selbstgewissheit gewonnen, der die Unmöglichkeit der Nicht-Existenz der res cogitans formuliert, verknappt zum berühmten cogito, ergo sum. Abgetrennt von Ort, Zeit und Wahrnehmung verbleibt nur noch der Innenraum, das abgetrennte und auf das Äußerste reduzierte Denken selbst, eigentlich: das Fragil-Unsichere, zur Selbstvergewisserung. Nachlesend bleibt die Gewissheit, dass diese res cogitans im Moment ihrer Reflexion existiert, und zwar unverortet und zeitlos. Man erlaube mir eine simple Illustration: Descartes’ Existenz ist erloschen, der körper- und zeitlose Satz bietet mir im Akt des Lesens nach-denkend die Möglichkeit der analog durchgeführten, auf das Äußerste reduzierten Selbstvergewisserung.

Das Außerhalb wird methodisch aufgegeben und der Rationalität im Sinne des denkenden Beobachtens entzogen. Der Kantische Dualismus, die Spaltung zwischen dem transzendentalen Ich und der nicht mehr erkennbaren Wirklichkeit, ist also mehr als nur vorbereitet. Die Kriterien, die Descartes der Wissenschaft auf den Weg mitgeben wird, um zu sicherem Wissen zu kommen, sind allerdings vor-kantianisch und haben bis heute wenig von ihrem Einfluss verloren: die Klarheit und die Wohlunterschiedenheit, die fortan alles Wissen garantieren sollen. Arbogast Schmitt, der eindrücklich für eine Ablöse der Bewusstseinsphilosophie durch eine aristotelisch-platonisch begründete Philosophie der Unterscheidung plädiert, bringt die Zeit- und Ortlosigkeit der cartesianischen Trennung auf den Punkt: «Auf diese Weise wird ein ausdrücklich jedes Inhalts entleertes Wissen – alle Inhalte sollen ja bezweifelbar sein – zum Garant für die Wahrheit jedes Inhalts» (Schmitt, 2008: 118), sofern er eben klar und deutlich bewusst ist.

In seiner Kantkritik wird Adorno in der Negativen Dialektik, von einer gesellschaftlichen Prägung des Einzelnen ausgehend, die «reale Komplexion von Innen und Außen» einfordern (Adorno, 1990: S, 213), Kraft der Leistung des Subjekts soll der «Trug konstitutiver Subjektivität» (S. 10) durchbrochen werden. (Das betrifft also die Antwort Kants auf die Fragen Descartes.) Mit diesem Gedanken der Komplexion von Innen und Außen wird dem zuvor mehrfach präsentierten Weg nach Innen die soziale Bedingtheit des Einzelnen gegenübergestellt. Im Anschluss an Foucault gelingt es dem Soziologen Andreas Reckwitz in seiner Habilitationsschrift zum hybriden Subjekt (vgl. Reckwitz, 2006) eindringlich, die Beziehungen zwischen diesen beiden zugegebenermaßen unscharfen Begriffen Innen und Außen in einem komplexen Modell zu erfassen, indem den sich subjektivierenden Tätigkeiten der Einzelnen die gesellschaftlichen Dispositive gegenübergestellt werden: Subjektivierung ist in diesem Sinn ein aktiver Prozess, das Subjekt ist stets Gestaltendes und Gestaltetes. Um diese Positionen an das zuvor Gesagte anzuschließen: Reckwitz geht nicht den Weg nach innen, sondern untersucht die Kreation dieser Innenräume aus der Wechselwirkung von gesellschaftlichen Prozessen und aktiver Sozialisierung des Einzelnen. Anders gesagt und etwas vereinfacht: Im Innen finden wir das Außen, so wie wir im Außen Anteile des Innen finden.

Um die Relevanz dieses Unterschiedes darzustellen, möchte ich noch einmal an Arbogast Schmitts Einsatz gegen die Bewusstseinsphilosophie und für eine Philosophie der Unterscheidung erinnern. So gelingt ihm der Nachweis, wie die naturwissenschaftliche Gehirnforschung nicht nur in der Präsentation ihrer Ergebnisse – freier Wille, ja oder nein – noch immer in cartesianischen Kategorien denkt, was als nicht mehr hinreichend komplex bezeichnet werden muss: Ein zu einfaches Verständnis des Bewusstseins multipliziert sich mit einem zu einfachen Verständnis des Ich zu einer mediengerechten, aber kognitiv naiven Absage an den freien Willen, der selbst als Begriff vor jeder Problematisierung verbleibt (vgl. Schmitt, 2003).

Wo ist in diesem Gesamtkontext Heinrich von Kleists Dramatik zu verorten? Die richtige, allerdings untaugliche Antwort wäre: (fast) überall. Um einen durchaus kontingenten Rahmen abzugrenzen, möchte ich die Ausführung in vier Punkte aufteilen, die ich zuvor kurz benenne: Der erste Punkt ergibt sich aus der komplexen psychischen Konzeption seiner Figuren mit ihrer wechselseitigen Durchdringung von Innen und Außen. Zur theatralen Schau gestellt wird so – mit dem Ausdruck Adornos – die «reale Komplexion» (s. o.) der beiden Bereiche, auf welche die Figuren fortlaufend verweisen.

Die cartesianische Klarheit und Wohlunterschiedenheit, als nächster Punkt, wird sowohl durch das Begehren als auch die Mehrdeutigkeit der Figuren unterhöhlt. Das Begehren zeigt sich in vielem als den Sprechakten entgegengesetzt, die Mehrdeutigkeit wird nicht durch den Autor aufgelöst, die Figuren verlieren dadurch ihre Aussagenflächen, das Schweigen wird zu einem bedeutenden Faktor einer Dramaturgie, die das Innenleben der Figuren dem Betrachter entzieht.

Der dritte Punkt liegt in der Zurückweisung der Vernunft in ihrer durch die Aufklärung reduzierten, von Descartes geprägten Form. In einer Zeit, in der nicht nur durch Hegel, eine gedankliche Bewegung Vicos aufnehmend, die Geschichte selbst zur vernünftigen erklärt wird, beschäftigt sich Kleists Dramatik mit den Grenzen einer zu eng geführten Rationalität. Arbogast Schmitt verweist in diesem Kontext auf einen überaus bedeutenden Punkt, und zwar auf den Zusammenhang der Rationalisierung der Geschichte mit der Instrumentalisierung des Einzelnen. In der Negation der Kontingenz droht der Einzelne zum Material für sogenannte historisch notwendige Prozesse zu werden (vgl. Schmitt, 2008: 120).

Als vierten Punkt möchte ich die Körperlichkeit sowie die Ereignishaftigkeit betonen. Bernhard Greiner spricht in diesem Kontext wiederholt von einem Kleistschen Theater der Präsenz, was mir ein gelungener Ausdruck zu sein scheint, der die wichtigen theaterwissenschaftlichen Zugänge zu Kleist berücksichtigt. Präsenz steht hier im Gegensatz zu Aussage, fokussiert auf Unmittelbarkeit und schafft Platz für eine Körperlichkeit, die nicht zur beredten Rede wird, sondern Leer- und das heißt Reflexionsräume eröffnet.

Um über die reale Komplexion zwischen Innen und Außen zu sprechen, werde ich kurz auf den Variant eingehen. Dem Drama des Adam im Zerbrochnen Krug wird hier das Drama der Eve gegenübergestellt, wodurch sich das Spiel erst reflexiv entfaltet und seine entscheidende Struktur sowie Bedeutung gewinnt. Beda Allemann, der in seinem so grundlegenden dramaturgischen Modell die Bedeutung des Variants überaus deutlich sieht – ohne den Variant verliert sich die reflexive Gesamtkonstruktion – verweist noch auf die Unspielbarkeit (vgl. Allemann, 2005: 111-114), die mittlerweile durch zahlreiche Aufführungen praktisch widerlegt wurde: Die erste Widerlegung war bekanntlich die von Klaus Kanzog als paradigmatisch verstandene von Dieter Dorn (vgl. Kanzog, 1988: 328). Ausgeklammert wurde nach dem Weimarer Reinfall in der Rezeptionsgeschichte ausgerechnet das Drama der Frau, das nach dem Drama um das männliche Begehren im Status post, am Tag danach, als unnötiger Anhang verstanden wurde.

Die gebotene Kürze erlaubt keine Analyse des Variants insgesamt, herausgreifen möchte ich das perfide Eindringen Adams in Eve. Dramaturgisch wird sie zu Beginn des Variants geschickt, ohne Rücksicht auf die Logik des Stücks, ins Zentrum gerückt, um ihr Spiel entfalten zu können. Ihr Schweigen entpuppt sich als Gegenlist zur List Adams und erweist sich als berechnet. Walters Aufgabe durch den Variant hindurch ist es, die durch Adam in ihr organisierte Gedankenwelt wieder aufzulösen, was erst durch den heute nicht mehr rekonstruierbaren Schluss gelingt. Adam, der abwesend Anwesende, zeigt sich im Variant nicht mehr als ungeschickter, fast liebenswerter Begehrender im Sinne des Ecce homo, sondern als perfider Vollstrecker einer Kunst des Täuschens. Im Innen der anwesenden Eve wird das Innen des abwesenden Adam sichtbar, das während seiner beredten Anwesenheit stets verborgen blieb. Zu überwinden hat Eve eine in ihr erzeugte geschickte Konstruktion eines Anderen, die für sie in ihrer Nicht-Überprüfbarkeit zu einem Glaubenssatz wurde. Erst als die Sätze des Adam in ihr verlöschen, wird das lustspielhafte Ende möglich und kann die Grenzüberschreitung des Richters zurückgewiesen werden. Dass Kleists Figuren psychisch in den anderen eindringen, lässt sich nicht nur für den Variant festhalten, die Grenze zwischen Innen und Außen wird in seinen Stücken durchgehend brüchig. Kleists Spiele an der figuralen Grenze bieten in diesem Sinn reichlich Stoff für weitere Reflexion, an der auch aktuell trotz komplexester mathematischer Grenzmodelle kein denkbarer Weg vorbeiführt.

Der zweite Punkt betraf das Begehren sowie die cartesianische Klarheit und Wohlunterschiedenheit. Der Riss durch die Zweckrationalität des Menschen, für die Moderne prominent verbunden mit Sigmund Freud, zeigt sich bei Kleist als Schau-Spiel verschiedener Formen des Begehrens, die das gesprochene Wort zurücknehmen sowie auf das unaussprechliche Andere verweisen.

Wenn im Käthchen, in II, 1, an einer der wenigen monologartigen Stellen der Kleistschen Theatralik, der Graf Wetter vom Strahl sein eigenes Verhalten während des vorangegangenen Verhörs formuliert, wird die Diskrepanz zwischen abgeschlossenem Sprachverhalten und begehrender Struktur für einmal verbalisiert. Seinem Auftreten im Verhör werden die inneren Gefühle dem Käthchen gegenüber inklusive seines Begehrens gegenübergestellt, allerdings, als wichtiger Unterschied zur Klassik, soweit es ihm präsent ist. Ein umfassend dargestellter Innenraum ist in Kleists Theaterwelt undenkbar. Diese Deutlichkeit gönnt er den LeserInnen ansonsten in keiner Weise und Klarheit ist seinen Figuren durchgehend fremd. Das rezeptive Suchfeld ist von Kleist in der Mehrdeutigkeit angelegt, er ist ein Meister im Auslegen von Spuren möglicher Bedeutungen, wobei Klarheit und Wohlunterschiedenheit der Analyse stets nur auf Kosten der Vernachlässigung anderer Spuren ermöglicht wird.

Ob Penthesilea und Achilles, der Kurfürst, Nathalie und Homburg oder auch Alkmene und Jupiter: die Beziehungen stehen fern der Zweckrationalität und fern der Eindeutigkeit, ein entscheidender Teil der dramaturgischen Energie wird stets dazu verwendet, geschickt zu polysemieren. Wer den Homburg genau liest, wird um sein übereiltes Eingreifen ein Geflecht möglicher Gründe entdecken, die gegeneinandergehalten werden und sich nur gewaltsam auflösen lassen. In den Figuren selbst ist das Scheitern nach Eindeutigkeit und Klarheit suchender Interpreten angelegt, sodass die Rezeptionsgeschichte zur Geschichte einer fortlaufenden Entlarvung zu eng gesetzter Lesarten wird. Bedeutungen verlieren sich so wie der Prinz von Homburg in der Exposition den vermeintlichen Traumgestalten nachsinnt, deren Realität ihm entschwindet.

Zur Zurückweisung einer zu einfachen Vorstellung der Vernunft, auch bezogen auf die Rationalisierung der Geschichte, den dritten genannten Punkt, möchte ich zunächst auf eine markante Neuerung durch das Kleistsche Theater eingehen. So wie seine Figuren sich nicht aussagen, explizieren seine Stücke nicht, sondern erweisen sich als Experimente der Visualisierung. Am deutlichsten wird dies im Vergleich der späteren Dramaturgie zur Familie Schroffenstein. In seinem Erstlingswerk behandelt Kleist u. a. die Frage der diskursiven Produktion von Gewaltphänomenen. Über weite Strecken zeigt sich dieses Drama als erörterndes, in guter Tradition der Aufklärung, bis in der Schluss-Szene die sprachlich logische Ordnung aufgegeben wird. Ludwig Tieck sprach im Vorwort seiner Kleistausgabe vom Misslingen dieser Szene (vgl. Tieck, 1826: 34), die doch charakteristisch für die weitere Dramaturgie werden sollte. Von der sich aussagenden Struktur in den sprachbestimmten Langszenen der Familie Schroffenstein wird Kleist am Ende, im Prinz von Homburg, Bilder festhalten und sich von einer aussagenden Dramaturgie abtrennen. Vielleicht wäre er, die Familie Schroffenstein spricht hier eher dafür, sogar ein erfolgreicherer aufklärerischer Dichter geworden, aber ab der Schlussszene gibt es keinen Bedarf mehr daran – die Konstruktion erwies sich offensichtlich als deutlich zu einfach. Er wird die Elemente fortsetzen, die bei sehr genauer Betrachtung schon im Erstling das Aussagende fortlaufend übertönen.

Über den Somnambulismus des Homburgs und des Käthchens oder die Transgression der Penthesilea findet allerdings keine Verabschiedung vernünftigen Denkens zu Gunsten einer romantischen Verzauberung statt, sondern wird eine Erweiterung der Vernunft implementiert, zugunsten der Komplexität, die sich programmatischer Aussagen verweigert.

Für die Gegenüberstellung von Rationalisierung der Geschichte und Instrumentalisierung des Einzelnen versus Kontingenz, wie sie Arbogast Schmitt aufwirft, ist an die frühere Kleist-Forschung etwa in den 1970er oder 80er Jahren zu erinnern, die intensiv den Einzug der Kontingenz in die Dramengeschichte mit diesem Autor erforschte. Kleist verfolgt, wie mehrfach festgehalten, in Erzählungen und Dramen eine Strategie einer teils radikalen Kontingenz,1 die auf die aristotelische poetische Kategorie der Wahrscheinlichkeit wenig Rücksicht nimmt, sodass auch von dieser Seite sein dramatischer Kosmos eine höhere Äquivalenz zur kontingenten Realität aufweist als zu den Konstrukten der Wahrscheinlichkeit in zahlreichen traditionelleren Theaterformen.

Als letzten Punkt hatte ich die Körperlichkeit und den Charakter des Ereignisses herausgegriffen, mit denen sich Kleist von der cartesianischen Moderne fortbewegt. Volker Klotz versucht zu zeigen, wie der Sosias des Amphitryon als radikaldramatische Figur Theater unmittelbar über Körperlichkeit zur Anschauung bringt (vgl. Klotz, 1996: 76). Was für die Figur des Sosias im vorliegenden Kontext besonders ins Auge sticht, ist die von Molière übernommene und gesteigerte ironische Descarteskritik. Wenn Sosias sich über göttliche Schläge seiner selbst versichert, so geschieht dies nicht in rationaler Form. Er durchstreift mehrere Möglichkeiten der Selbstvergewisserung – Name, göttliche Ordnung, soziale Funktion und vor allem Erinnerungen als rein privates Wissen –, bis er zu dem Punkt gelangt: «Man muß, mein Seel, ein bißchen an ihn [das zweite Ich] glauben» (Vs. 321).2 Den von Descartes ausgeschlossenen Wahn sowie die Möglichkeit der Nicht-Identität bricht Kleist ironisch:

Träum’ ich etwa? Hab ich zur Morgenstärkung

Heut mehr, als ich gewöhnlich pfleg’, genossen?

Bin ich mich meiner völlig nicht bewußt?

[...]

Nahmst du den Stock zur Hand nicht, und zerbläutest

Auf das unmenschlichste den Rücken mir,

Mir ins Gesicht behauptend, daß nicht ich,

Wohl aber du Amphitryons Diener seist.

Das Alles, fühl ich, leider, ist zu wahr nur;

Gefiel’s den Göttern doch, daß ich besessen wäre.

(Vs. 278–296, Hervorhebungen von Vf.)3

Was Sosias die entscheidende Selbstgewissheit vermittelt, da über das Denken keine Auskunft zu erhalten ist, ist in erster Linie der körperliche Schmerz, den er empfindet.

Die Selbstidentität wird bis zur bereitwilligen Verleugnung aus ihm herausgeprügelt, verbleibt aber dennoch ohne Alternative: Ich kann nichts anderes sein als ich und kann nicht nicht sein und in diesem Sein erleide ich Schmerzen. Statt der cartesianischen res cogitans ist es für Sosias also die res extensa, die von Descartes abgetrennte Körperlichkeit, die letztlich sein Sein vergewissert.

BIBLIOGRAPHIE

ADORNO, Theodor W. (1990): Negative Dialektik, Frankfurt am Main, Suhrkamp.

ALLEMANN, Beda (2005): Heinrich von Kleist. Ein dramaturgisches Modell, Bielefeld, Aisthesis.

DENKER, Alfred (2011): Unterwegs in Sein und Zeit, Stuttgart, Klett-Cotta.

DESCARTES, René (1986): Meditationes de prima philosophia (= Meditationen über die Erste Philosophie), Stuttgart, Reclam.

FICHTE, Johann Gottlieb (1997): Schriften zur Wissenschaftslehre, Frankfurt am Main, Deutscher Klassiker Verlag.

GRUGGER, Helmut (2010): Dramaturgie des Subjekts bei Heinrich von Kleist, Würzburg, Königshausen & Neumann.

KANZOG, Klaus (1988): «Vom rechten zum linken Mythos», in: Dirk Grathoff (Hg.): Heinrich von Kleist. Opladen, Westdeutscher Verlag, S. 312-328.

KLEIST, Heinrich von (1987-1997): Sämtliche Werke und Briefe, Frankfurt am Main, Deutscher Klassiker Verlag.

KLOTZ, Volker (1996): Radikaldramatik, Bielefeld, Aisthesis.

PICO DELLA MIRANDOLA, Giovanni (1990): De hominis dignitate (= Über die Würde des Menschen), Hamburg, Meiner.

RECKWITZ, Andreas (2006): Das hybride Subjekt, Weilerswist, Velbrück.

SCHMITT, Arbogast (2003): «Subjektivität und Evolution – Kritische Anmerkungen zu einer kognitionspsychologischen Erklärung von Subjektivität», in: Paul Geyer / Monika Schmitz-Emans (Hg.): Proteus im Spiegel, Würzburg, Königshausen & Neumann, S. 159-189.

SCHMITT, Arbogast (2008): Die Moderne und Platon, Stuttgart/Weimar, Metzler.

TIECK, Ludwig (1826): «Vorrede», in ders. (Hg.): Heinrich von Kleists gesammelte Schriften, Berlin, Reimer, S. 3-66.

1. Klaus Müller-Salget spricht für die Erzählungen von «einer schon rücksichtslos „unwahrscheinli-chen” Zufälligkeit des Handlungsablaufs» (ders. in Kleist, 1987-1997, III: 689).

2. Kleist wird nach der Frankfurter Studienausgabe des Deutschen Klassiker Verlages zitiert.

3. Zum Vergleich mit Molière vgl. Helmut Grugger, 2010: 97.

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