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GOTT, MENSCH, TIER. HEINRICH VON KLEISTS KONZEPT EINES ANTHROPOLOGISCHEN RISSES IM MENSCHEN UND DIE THEORIE DER GREAT CHAIN OF BEING

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Reinhold Münster

Universität Bamberg

Wie der Mensch das Glück erlangen könne, dieser Frage stellte sich der junge Heinrich von Kleist während seiner Militärzeit in einer Reflexion mit dem Titel Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden und ungestört – auch unter den größten Drangsalen des Lebens – ihn zu genießen! (Kleist, 1994, II: 301-315). Den Essay widmete er dem melancholischen Freund August Otto Rühle von Lilienstern. Inhaltlich bewegte sich Kleist auf der Ebene der britischen Moralphilosophie, den Lehren der römischen Stoa und der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. Das Ideal sei der tugendhafte Weise, der den goldenen Mittelweg zur Harmonie des Lebens finde. Unterschieden wurde in die innere Glückseligkeit und das Glück der Fortuna. Um sein Glück zu erkennen, müsse der Mensch einsehen, dass ein gleiches Gesetz über der moralischen und der physikalischen Welt walte (Kleist, 1994, II: 308). Junge Menschen wie Rühle und Kleist könnten dieses jedoch nicht verstehen, sie wankten auf regellosen Bahnen umher, die Gärung der jugendlichen Kräfte verhindere die Einsicht in Liebe und Wohlwollen. Die Einsicht erweise sich als schwierig, denn es schwebe, so Kleists Erläuterung, ein «ewiger Schleier» über den Geheimnissen der Welt (Kleist, 1994, II: 310). Kleist erklärte:

Irgendwo in der Schöpfung muss es sich gründen, der Inbegriff aller Dinge muss die Ursachen und die Bestandteile des Glückes enthalten, mein Freund, denn die Gottheit wird die Sehnsucht nach Glück nicht täuschen, die sie selbst unauslöschlich in unsrer Seele erweckt hat... (Kleist, 1994, II: 301).

Kleist mahnte den Freund, auf diese «geheime göttliche Kraft» zu vertrauen (Kleist, 1994, II: 306).

Mit dem kleinen Essay stellte sich Kleist in die Traditionen der Aufklärung, die zwar zu seiner Zeit auf der einen Seite eine rationalistische Verengung erfahren hatte, auf der anderen aber in eine erweiterte Aufklärung und in frühromantische Theorien übergegangen war (Münster, 1993). Er bezog sich auf das zentrale Thema der Zeit, auf die Frage nach dem ganzen Menschen. Das einfache Modell der Anthropologie, das Kleist in dem Text entwarf, bestand aus drei Annahmen: Es gebe ein ewiges, göttliches Gesetz, ein unaufhebbarer Schleier liege über der Erkenntnis des Lebens, die Erfahrung des Glücks und die Aufdeckung der Geheimnisse des Lebens erfolge erst im Paradies. Wie lässt sich für Kleist das Glück des ganzen, aber in sich zerrissenen Menschen erlangen? Worin besteht der Sinn des Lebens und des Glücks? Ist dieses überhaupt auf Erden oder erst im ewigen Frieden erreichbar? (Földenyi, 1997).

Die Forschungen zu Kleist betonten häufig die Dimensionen des konkreten Daseins in Kleists Werk, seine persönliche Problematik mit psychischen Störungen, mit der, wie Kleist an die Schwester Ulrike (5. Februar 1801) schrieb, zerrissenen Seele, die wie die Sprache des Menschen in Bruchstücke zersplittert sei (Kleist, 1994, II: 626). Grundlage der Interpretation wurden damit Äußerungen zu den Unsicherheiten des persönlichen Lebens, der fehlenden Geborgenheit und des Bewusstseins von Kontingenz und Zufall in den Texten Kleists.

Berühmt wurden die Aufzeichnungen aus dem Jahre 1801. In diesen inszenierte Kleist unterschiedliche Todesarten, häufig in tragikomischer Art: Sterben an der Kontingenz eines Eselsgeschreis, sterben im Sturm auf dem Rhein. Im Brief an Karoline von Schlieben (Paris, 18. Juli 1801) berichtete Kleist in lebendiger Rhetorik:

... als mit einemmal ein Esel hinter uns ein so abscheuliches Geschrei erhob, dass wir wirklich gerade so vernünftig sein mussten, wie wir sind, um dabei nicht scheu zu werden. Die armen Pferde aber, die das Unglück haben keine Vernunft zu besitzen, hoben sich in die Höhe und gingen spornstreichs mit uns in vollem Karriere über das Steinpflaster der Stadt durch. Ich griff nach dem Zügel, aber die hingen ihnen, aufgelöset, über der Brust, und ehe ich Zeit hatte, an die Größe der Gefahr zu denken, schlug schon der Wagen mit uns um, und wir stürzten – Und an einem Eselsgeschrei hing ein Menschenleben? Und wenn es nun in dieser Minute geschlossen gewesen wäre, darum also hätte ich gelebt? Darum? Das hätte der Himmel mit diesem dunkeln, rätselhaften, irdischen Leben gewollt, und weiter nichts –? (Kleist, 1994, II: 666).

Der scheinbare Realismus löst sich schnell im intertextuellen Blick auf. Das Vorbild findet sich in Platons Dialog Phaidros, im Bild der Seele als Wagenlenker. Kleist drehte das Bild um 180 Grad: Die Vernunft halte keine Zügel in der Hand, die Pferde seien beide unvernünftig, jegliches Telos fehle. Auch ein Richtungswechsel findet statt: Nicht ins Elysium gehe die Fahrt, sondern in den Abgrund.

Kurze Zeit später im Brief an Wilhelmine von Zenge (21. Juli 1801) wurde die literarische Inszenierung noch deutlicher. Er, so schrieb Kleist recht lebhaft und anschaulich, habe sich mit dem Fährschiff mitten auf dem Rhein befunden, als ein plötzlich einsetzender Sturm das Boot in den Abgrund zu reißen drohte. Todesangst habe ihn ergriffen. Diese Angst wandelte er sofort in eine trockene Reflexion über den Sinn des Lebens um. Der Bezug zum Motiv des Schiffbruchs (Odysseus, Lukrez, Voltaire, Bibel), vielleicht sogar zum Gedicht Zu Bacharach am Rheine, das Clemens Brentano im Jahr 1800 geschrieben hatte, lässt ein reales Erlebnis als Grundlage der Darstellung unwahrscheinlich werden. Kleists Methode der Vervielfachung, nicht nur einer einfachen Verdopplung, wie sie Fritz Martini für das Käthchen von Heilbronn annahm, könnte sich direkt auf die Forderung von Friedrich Schlegel im Athenäums-Fragment Nr. 116 nach einer Potenzierung des Lebens und der Literatur beziehen (Martini, 1976: 428 ff.; Schlegel, 1988, Fragm. 116). Kleist interpretierte die erscheinende Wirklichkeit durch die Literatur, die ihrerseits die Literatur kommentierte. Er interpretierte die Parisreise: «... und nun sehe ich mich auf einer Reise ins Ausland begriffen, ohne Ziel und Zweck, ohne begreifen zu können, wohin das mich führen würde – Mir war zuweilen auf dieser Reise, als ob ich meinem Abgrunde entgegen ginge» (Kleist, 1994, II: 667). Die Figur eines Geschehens «Als-Ob» und die Plötzlichkeit als möglichen Wendepunkt im Leben (Peripetie) waren literarisch schon ausgeprägt spätestens bei Augustinus. Es deutet sich an, dass Kleist das Motiv der romantischen Todessehnsucht in einer potenzierenden Intention für die Selbstinszenierung aufgegriffen habe.

Auch die politischen Ambitionen Kleists erfordern ein Fragezeichen hinter den scheinbar klaren Aussagen. Im Dezember 1805 schrieb er an von Lilienstein: «Ja, mein guter Rühle, was ist dabei zu tun. Die Zeit scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen, und wir werden davon nichts, als bloß den Umsturz der alten erleben» (Kleist, 1994, II: 761). Bekräftigt wurde das Interesse an der Politik im Brief an Karl Freiherrn von Stein (Dresden, 1. Januar 1809): «... so will ich lauter Werke schreiben, die in die Mitte der Zeit hineinfallen» (Kleist, 1994, II: 820). Das Ergebnis waren Lobreden im hohen Stile, Lehrbücher und Katechismen, Proklamationen, fiktive Briefe, operative Gattungen wie Fabeln und Satiren, Programme und Essays sowie eine aggressive Kriegslyrik (Kriegslied der Deutschen, Germania an ihre Kinder). Die operative Begrenzung dieser Gattungen wurde Kleist als sprachkritischem Autor schnell klar (Essen, 2005). Kleist nahm wahr, dass ein politisches Engagement auch Lebenssinn produzieren konnte. Die Beschreibungen des auf dem Wege des Untergangs befindlichen Selbst und das politische Schreiben als Barde für den Widerstand Deutsch-lands gegen die französischen Untermenschen, die nach Kleists eigenem Bekunden nur auf der untersten Stufe von Tieren stehen würden – so Kleist im Kriegslied der Deutschen –, verweisen auf eine ästhetische Inszenierung. Anders als sein Verwandter, der preußische Offizier Ewald von Kleist, hauchte der Dichter sein Leben nicht auf dem Schlachtfeld aus.

Kleist, der seine Texte sorgfältig konstruierte und kombinierte, beschäftigte sich intensiv mit den Fragen seiner Zeit und antwortete mit seinen Dramen und Novellen auf diese. Dramen und Novellen sind keine Essays oder Abhandlungen, doch sie verfügten in der Aufklärung über theoretische Grundannahmen. Seit Platon und Aristoteles, aber auch im Mythos vom Sündenfall, stellte sich die Frage nach dem ganzen Menschen, dem Sinn seines Daseins, seiner Stellung innerhalb der Welt. Kleist wandte sich diesen Problemen zu, den Fragen nach dem Menschen als Vernunft- und als Naturwesen, nach der freien Entscheidung und dem kantischen «radikal Bösen», der Frage nach dem Naturzustand und der Leistung der Kultur, nach dem Verhältnis von Leib, Psyche und Seele. Die Forschungen zu Kleist arbeiteten deutlich die Bezüge zur Anthropologie der späten Aufklärung heraus (Košenina, 2009; Bennholdt-Thomson, 2005). Die von Kleist thematisierten verworrenen Zustände waren schon lange vorher Gegenstand der Theorien von den menschlichen Seelenvermögen bei Christian Wolff und bei Gottfried Wilhelm Leibniz (Kleist, 1994, II: 654). Die Vertreter der modernen Anthropologie kannte Kleist meist persönlich. Während der Würzburger Reise hörte er die Vorlesungen von Ernst Plattner (1801). Im Juliusspital in Würzburg erlebte Kleist eine Reihe von psychisch Kranken während ihrer Leiden. Mit dem Göttinger Johann Friedrich Blumenberg und dem Magazin für Erfahrungsseelenkunde von Karl Philipp Moritz beschäftigte sich Kleist, angeregt durch seinen Erzieher Christian Ernst Wünsch und dessen Lehrbuch Kosmologische Untersuchungen für die Jugend (Leipzig, 1778-1780, 3 Bde.). Der Mediziner Georg Wedekind, von welchem sich Kleist in der Zeit von Dezember 1803 bis Juni 1804 behandeln ließ, publizierte in Moritz’ Magazin. Wedekind eröffnete auch den Weg zu den mesmeristischen Experimenten von Christoph Ludwig Hoffmann und Eberhard Gmelin, deren Vorstellungen einigen Einfluss auf das Schauspiel Käthchen von Heilbronn ausgeübt haben (Weder, 2008; Peters, 1990). Bei Gmelin fand sich auch die Geschichte mit den grünen Augengläsern, die Kleist im März 1801 aufgriff (Kleist, 1994, II: 634; Mandelartz, 2006). Die Vorlesungen des Psychiaters Johann Christian Reil kündigte Kleist 1810 in seinen Abendblättern an (Kleist, 1959). Kleist besuchte 1807 die Vorlesungen von Gotthilf Heinrich Schubert über die Ansichten von den Nachtseiten der Naturwissenschaften. Schubert vertrat die These von einer dreifachen Natur des Menschen, der aus Leib, Seele und Geist bestehen sollte. Nach Schubert soll der Mensch von Ich-Sucht beherrscht sein und ständigen Metamorphosen unterliegen. In ihm kämpften die beiden Wünsche nach dem Tod und nach der Liebeserfüllung miteinander. Im Traum würden diese Sehnsüchte geäußert, sie erschienen als Hieroglyphen, die mit der Zeit die Form universaler Symbole annähmen (Schubert, 1961; Ellenberger, 1985).1 Für Kleist bedeutete dies, dass der Mensch nicht mehr im Naturzustand lebte, sondern in einer modernen Zerrissenheit. Er befand sich damit im Zentrum der Debatten über den Sinn des menschlichen Daseins.

Es war das Verdienst des Novalisforschers Josef Kunz, auf die Modellhaftigkeit von Kleists anthropologischem Grundverständnis hingewiesen zu haben. Kunz entdeckte in der Penthesilea und der Geschichte der Marquise von O... eine Ausformung der Theorie der verschiedenen Stufen der Wesen. Kunz fasste zusammen:

Danach gibt es also in Kleists Vorstellung verschiedene Stufen, Ebenen, Stadien des Lebens. Es gibt die Stufe der Existenz mit ihrer Entfremdung vom Grunde, mit ihrem Konflikt zwischen Vertrauen und Misstrauen, zwischen Gewissheit und Ungewissheit. Und es gibt die Stufe der Präexistenz, in die die Zweideutigkeit und Spaltung nicht hineinreichen. Der Mensch aber lebt [...] offenbar auf diesen verschiedenen Stufen des Lebens zugleich (Kunz, 1967: 684).

Es handle sich um eine Dreistufenlehre, bestehend aus Präexistenz, Existenz, Überwindung der Krise und Ahnung der Vollkommenheit.

Der Blick ins 18. Jahrhundert zeigte, dass Kleist die gängigen Theorien der Stufenleiter der Wesen bekannt waren. Doch dürfte er mit der Lehre der Präexistenz kaum ein Schüler des Origines gewesen sein, auch eine Nähe zur Existenzphilosophie von Sören Kierkegaard lässt sich nicht beweisen. Doch die Theorie der great chain of being beschäftigte Aufklärung und Romantik (Lovejoy, 1993). Die Anfänge der Theorie fanden sich bei Aristoteles, der drei Stufen unterschied: a) vegetative Funktionen, Wahrnehmung und Bewegung sowie Denkvermögen, b) die Wärme des Körpers und c) den Grad der Komplexität von Körpern. Interessant wäre es, hier die Metaphern der Temperaturen bei Kleist mit Blick auf die Theorie der Kette der Wesen zu analysieren. Denn häufig werden den Figuren Temperaturen zugewiesen, so dass diese kalt wie Eis oder heiß wie eine Sonne erscheinen. Aristoteles behauptete auch, dass eine entscheidende Differenz des Menschen zur Welt im Besitz einer Seele liege. Mediziner und Literaten wie Leibniz, John Locke, Joseph Addison, Bolingbroke, Akenside, Thomson, Buffon, Bonnet, Goldsmith, Diderot, Lambert, Pope, Albrecht von Haller, Kant, Herder und Schiller schlossen sich den Theorien an.2 Beschrieben wurde die Kette der Wesen von Alexander Pope in Essay on Man (1734):

Der Wesen Kette, die mit Gott begann,

ätherisch hohe Wesen, Engel, Mann,

Tier, Vögel, Fisch, Insekt, was Augen hier

Nicht sehen: vom Unendlichen zu Dir,

von Dir zum Nichts... (Pope 1993: 33).

Immanuel Kant vertrat in der Allgemeinen Naturgeschichte ähnliche Auffassungen (Kant, 1983, I: 386 f.). Der Mensch nehme eine Mittelstellung zwischen dem Nichts und der absoluten Vollkommenheit ein. Als Mittelwesen könne er nie die Gottheit verstehen, denn der Körper ziehe ihn ins Naturreich hinab.

Der biblische Mythos vom Sündenfall, der Kleist oft beschäftigte bis dahin, dass er empfahl, die Hintertüre des Paradieses zu suchen, erweiterte die Theorie (Kurz, 1981/82) ebenso wie der antike Mythos. Als Minimum finden sich daher in seinem Werk drei ineinander verschränkte Ebenen: Gottheiten, Menschen und Tiere. Die Gottheiten traten plötzlich ins Leben der Menschen, wie ein Blitzesstrahl. Jupiter aus dem Amphitryon oder Friedrich Wetter, Graf vom Strahl, der seine antik-göttliche Abkunft im Namen trug und als Cherubim agierte, können dies belegen. Achill in Penthesilea erschien dieser als der Sonnengott Helios. Agnes in Die Familie Schroffenstein erhielt Attribute der Jungfrau Maria und der Cherubim. In Der zerbrochene Krug spiegelten die beiden Namen Adam und Eve das Geschehen im Garten Eden wider. Käthchen von Heilbronn zeigte eine weibliche Figur, deren Erscheinung wie Maria, Maria Magdalena und Aphrodite in ein Bild zusammengefasst aussah. Insgesamt lassen sich im Werk Kleists viele Erscheinungen von Engeln und Cherubim auflisten.

Neben die Überhöhung des Menschen auf die Stufe der Engel oder der Gottheiten stellte Kleist die Erniedrigung des Menschen zum Tier. Das bekannteste Beispiel dürften Penthesilea, die mit ihren Hunden gleich einem gierigen Hund den Geliebten kannibalisch verzehrte, und Käthchen sein, die wie ein Hund dem Geliebten folgte (Klüger, 1993). Käthchen entstieg dem Bad in der Grotte als ein Schwan. In Robert Guiskard erschien der Held als kranker Löwe. Achill verwandelte sich in die Figur des Aktäons und erlitt dessen Schicksal, Ähnliches drohte in dem Gedicht Der Schrecken im Bade. Graf Strahl nahm die Rolle eines verliebten Käfers ein. So erhielt der Beischlaf zwischen Käthchen und Graf Wetter unter dem Holunderbaum – Symbol für den Ort, an welchem sich Judas erhängte – eine animalische Komponente. Im der Herrmannschlacht agierten die Römer als Wölfe. Rupert in Die Familie Schroffenstein nannte den Krieg eine Jagd auf Schlangen und Wölfe (Schmid, 1974: 79-87; Münster, 2004).

Die Stufenfolge der Wesen wusste auch von der anthropologischen Zerrissenheit, vom Leben an den Grenzen. Es sei, so Kleist, der arme herzdurchglühte Mensch, dessen Herz und Vernunft beständigem Irrtum und Wirrungen unterliege. In seiner Anthropologie lebte der Mensch unsicher in Beschränkungen, an den Grenzen der Reiche der Natur und des Göttlichen mit der Tendenz, diese Grenzen zu überschreiten. Das Paradies war verlassen, der Naturzustand nicht mehr erreichbar, das Glück des himmlischen Elysiums weit entfernt. Friedrich Schiller hatte in Über naive und sentimentalische Dichtung auf den Riss in der Welt hingewiesen. Schillers Ausweg bestand in der Suche nach dem Elysium. Friedrich Schlegel hatte in Über das Studium der Griechischen Poesie diesen Weg verschlossen und auf die unendliche Perfektibilität der Moderne verwiesen. Kant zeigte auf, dass der Mensch lediglich die Phänomene, nie aber das Sein erkennen könne, allenfalls mittels des Gefühls (Affektes) eine leise Vorahnung erhaschen könne. Käthchen geriet dem Ding an sich ganz nahe, da sie wie eine «fünfdrähtige» Marionette handelte. Es sei, so Kleists Konklusion, eine Welt des «Als-Ob», in welcher der Mensch leben müsse und zu keiner Versöhnung der Widersprüche gelangen könne. Weder Vernunft noch Gefühl könnten die Welt erklären, ihr ihren Sinn verleihen. Daher vertrat Kleist eine Anthropologie des Risses in der Welt und durch den Menschen, der am Ende nur noch verstümmelt leben könne. Ein Beispiel hierfür wäre Penthesilea, die Achill die Brust reichen will, die sie sich als Kriegerin abgeschnitten hatte.

Der Riss bestimmte nicht nur das Leben. Die Grenze zwischen Mensch und Tier, zwischen Gott und Mensch blieb zwar opak für Kleist, aber sie war nicht in der Welt überschreitbar. Der göttliche Wille, so sagte es Sylvester in Die Familie Schroffenstein, lenkte für den Menschen unerkennbar die Welt. Am Ende blieb nur eine Figur aus der Gnosis übrig: Der Deus absconditus, der verborgene Gott, der nicht erkennbar ist, wohl aber durch seine Boten in die Welt wirken kann. Jupiter im Amphitryon donnerte die Figur des menschlichen Amphitryon an, als dieser Auskunft über die Gottheit verlangt hatte: «Das Licht, der Äther, und das Flüssige, / Das was da war, was ist, und was sein wird» (Kleist, 1994, I: 318).

Welche Antwort auf diese Unsicherheit und Ungewissheit gab die Anthropologie Kleists? Welches sollte nun das Telos des Menschen sein? Johann in Die Familie Schroffenstein fasste den Weg zusammen: «Ins Glück? Es geht nicht Alter. ‚S ist inwendig / verriegelt. Komm. Wir müssen vorwärts» (Kleist, 1994, I: 148). Den Übergang ermöglichte nur eines: der Tod. Hier schließt sich der Bogen zum Glück. Penthesilea schwärmte auf der Bühne: «Ich bin so selig, Schwester, überselig! / ganz reif zum Tod o Diana, fühl ich mich» (Kleist, 1994, I: 421). Die Glückseligkeit scheint erreichbar zu sein, wenn der Mensch sich in einen Gott verwandelt, so jedenfalls die Vorstellung Penthesileas. Auch Kleists Seele, so schrieb er im Abschiedsbrief an Marie von Kleist und wiederholte fast wörtlich seine Protagonistin, sei ganz zum Tode reif geworden, habe die Welt, die Erde, das Ganze und Einzelne überwunden (Kleist, 1994, II: 885). Der Erlösungsschritt der Gnosis wurde im November 1811 vollzogen. In Freude und unaussprechlicher Heiterkeit wolle er sterben, so hieß es im letzten Brief an Ulrike von Kleist. Zur gleichen Zeit träumte er gegenüber Sophie Müller: «Wir, unsererseits, wollen nichts von den Freuden dieser Welt wissen und träumen lauter himmlische Fluren und Sonnen, in deren Schimmer wir, mit langen Flügeln an den Schultern, umherwandeln werden. Adieu!» (Kleist, 1994, II: 886). Der Übergang ins Jenseits, in die Welt des Göttlichen, blieb auch noch in diesem Augenblick eine Inszenierung des Als-Ob. Denn das wahre Glück liegt erst auf der anderen Seite, die Grenze muss ganz überschritten sein. Bis in den eigenen Tod hinein hielt Kleist an der Theorie der Stufenleiter der Wesen fest. Im Amphitryon vermutete Kleist, dass sich die Perspektive vollständig ändern würde. In diesem Stück galt: Aus der Sicht des Menschen schien die Welt eine Tragödie zu sein, in welcher die Seele besser im Zustand der ewigen Umnachtung bleiben sollte, aus der Sicht des Gottes erwies sich das Stück als eine Komödie, die Jupiter mit den Menschen spielte. Und für die Zuschauer war es eine Reflexion über die Seele und ihr Verhältnis zu Gott und der niederen Natur. Nur, indem der Mensch, so wie es die beiden Gesprächspartner in Über das Marionettentheater entdeckten, erneut vom Baum der Erkenntnis essen würde, könne er den Stand der Unschuld und Reinheit erlangen, der den Göttern eigen sei (Weihe, 2003). Schein und Sein würden sich im neuen Paradies versöhnt haben. Daher soll die Gottheit, auf deren Wort Kleist zu vertrauen schien, das Schlusswort erhalten: «Und im Olymp empfang ich dann den Gott» (Kleist, 1994, I: 319).

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2. Georg Christoph Lichtenberg machte sich darüber lustig: «So wird uns der Vetter Engel und der Vetter Affe auslachen». «Gott schafft die Tiere, der Mensch schafft sich selber» (1958: 173, 301).

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