Читать книгу Traurige Strände - A.B. Exner - Страница 6
ОглавлениеLISKA WOLLKE
Dieser Sonntag war eine Totgeburt.
Durch die nikotingelben Gardinen des militantesten Nichtrauchers den ich kenne hindurch war zu erahnen, dass dieser Sonntag keine Freude machen würde. Niemandem.
Dieser militanteste Nichtraucher den ich kenne, hatte seinen Arm unter meinem Nacken. Deshalb wurde ich auch schon kurz nach Sieben wach. Es schmerzte. Metin, so heißt der Glückliche, der in der letzten Nacht mit mir schlafen durfte, rührte sich nicht, als ich mich erhob, um die Spuren dieser dreißig Sekunden Deutsch-Türkischer Freundschaft endgültig abzuwaschen.
Aus dem Fenster im Flur war nur zu erkennen, dass die Laternen dem Sonntag ihr Licht leihen mussten. Nebelschwaden hatten Berlin gefressen. Der Stadtteil Prenzlauer Berg bestand aus einem Faksimile eines Hauses gegenüber und den schwebenden Resten des Hauses aus dem ich schaute. Die Straße unter mir hatte der Nebel einfach gefressen.
Die S-Bahn war leiser als üblich. Der einzige Vorteil des Nebels.
Der Lautstärkeregler Berlins war leiser gedreht worden.
Meine Reaktion war der Griff zum Lautstärkeregler des Radios.
Ein Schluck Weißwein in der Küche. Aus der Flasche.
Wir hätten eine Omegalage.
Behauptete der Meteorologe. Das könne man ganz wunderbar auf seiner Isobarenkarte sehen. Er setzte eben an zu erklären, weshalb die Omegalage Omegalage hieß…
Ich war schneller.
Das war dieser Ostberliner Arschlochsender.
Ein kurzer konzentrierter Dreh am Senderknopf des alten Radiorekorders.
Der nächste Idiot, der mir was über das Wetter erzählen wollte.
Nebelschwaden seien nichts weiter als Wolken am Boden.
Das war dieser Westberliner Arschlochsender.
Ihr Spinner sollt mir sagen, ob ich meinen Mantel oder meinen Schirm brauche, nicht was eine Omegawolke ist.
Das war typisch Berlin. Jeder hat eine Message, die eigene Meinung musste die Welt erreichen.
Und die Massen erweichen. Vorher gab man sich nicht zufrieden.
Ein kurzer konzentrierter Druck auf die Playtaste des Kassettenrekorders.
Nein, nicht auch noch türkischer Leiergesang zum Sonntagmorgen.
Die Austaste.
Weißwein aus der Flasche.
Dusche.
Ich hatte geblutet. Das war gewiss auch auf dem Laken zu sehen.
Metin würde sicherlich sauer sein. Der Türke mit dem Ordnungssinn eines tiefdeutschen Beamten.
Zumal der Kerl Beamter war.
Deutscher Beamter.
Finanzbeamter.
Seine Wohnung lag in der vierten Etage in der Isländischen Straße im Prenzlauer Berg.
Wenn man sich nach links aus dem Fenster lehnte, konnte man selbst auf die S-Bahn sehen und der Typ aus dem Aufgang gegenüber meine Titten.
Was mir egal war.
Abends in der Kneipe, schaute der gleiche Typ mir ja auch nur auf meine Dinger.
Dekolletéchecker. Eugen hieß der Kerl. Eugen Böttcher.
Der war nicht pervers, der war ungefährlich und ein bisschen blöd.
Und verliebt in seine Halstücher.
Aber pflegeleicht.
Ich mochte ihn nicht.
Das mit den Halstüchern, oder wahlweise einem Schal, machte Sinn, denn die Brandmale an seinem Hals waren beschissen verheilt.
Eine Frau hatte ich bei dem noch nie gesehen.
Also konnte ich ihm am Sonntagmorgen auch mal einen solchen Frühstücksgenuss bieten.
Und meine Titten waren toll. Und Natur.
Der riesige Flurspiegel neben dem klitzekleinen Schlauch von einem Klo ohne Wanne bewies meine Behauptung.
Ich hatte ziemlich große Füße. Die knallrote Lackierung der Zehennägel bräuchte mal eine Restaurierung. Meine Fesseln könnten nach meinem Empfinden noch schmaler sein. Meine Knie waren der nächste Knackpunkt. Das Linke zierte eine Narbe aus meiner Kindheit, die ich mir damals immer wieder aufgekratzt hatte. Das rechte Knie sah dementsprechend etwas, wie soll ich sagen, schwabbeliger aus. Meine Schenkel waren frei von Einschlägen der berühmten Orangenhaut.
Mit einunddreißig Jahren. Nicht schlecht.
Mein Hintern war das Geilste was ich je gesehen hab. Ehrlich.
Die Hüften bewiesen, dass ich noch keine Kinder hatte.
Dass meine linke äußere Schamlippe größer war, hatte eine Freundin mit elf Jahren herausgefunden. Na und. Ich wusste das schon vorher.
Die Rasur galt es zu verbessern. Oberhalb meines Suchtzentrums hatte ich eine Raute stehen lassen, in deren Haaren ich seit Jahren mit meinem rechten Zeigefinger eine linksgedrehte Locke zauberte.
Mit meinen Brüsten, auch die beiden hatten sich nicht auf eine Einheitsgröße einigen können, konnte ich gut leben. Stramm wie eine Fußballerwade und sensibler als mancher Sozialpädagoge.
Nicht aber wenn es los ging. Dann wollten beide raue Männerhände.
Mit meinen Nippeln konnte man dann Diamanten schneiden.
Die Oberarmmuskulatur ließ zu wünschen übrig. Die schmalen, zarten Handgelenke verschwiegen meinen Liebhabern und meinem Chef, dass ich ganz gut boxte.
Zehn grazile Finger endeten in langen, schmalen Fingernägeln. Natürlich tiefstes Dunkelrot.
Purpur. Die Farbe der Könige. Deep Purple.
Das war meine Musik. Harter, giftiger Rock. Deep Purple, es gab sie noch die Rocker dieser Welt.
Musiker die in der Lage waren, Noten zu lesen und zu schreiben.
Aber zurück zu meinem Spiegelbild.
Dezent unzufrieden war ich mit der Haut auf meinem Hals. Nicht wegen irgendwelcher Falten.
Je reifer ich wurde - altern gibt es bei mir nicht - umso mehr Leberflecke quälten sich durch die tieferen Hautschichten an die Oberfläche. Was nervte.
Das Gesicht begann mit schmalen Lippen, die ich jedoch in der Lage war, üppig aufzubrezeln.
Kaum scheinbare Wangenknochen wiesen bei besonderen Lichtverhältnissen - das hatte ich trainiert - den Weg zu meiner schmalen Nase. Die Nasenflügel dagegen waren wieder etwas stärker, was mich pfiffiger aussehen ließ, als ich war.
Zur Erklärung: ich weiß, dass ich nicht doof war oder bin, aber oft ist es eben so, dass ich nicht beim ersten Mal verstehe. Naiv vertraue.
Dann benötigte ich einen anderen Blickwinkel, eine andere Perspektive. Oder ich brauche einfach Zeit zum Erkennen und Erfassen.
Meine Stirn war für die Kopfgröße relativ hoch. So war ich in der Lage entweder die unscheinbare zu geben und die Haare in die Stirn zu kämmen, oder ich warf meine strohige Mähne nach hinten in einem strengen Zopf oder Pferdeschwanz.
Nach der Haarfarbe konnte man sich bei mir nicht richten.
Umso mehr Sonne, umso dunklere Haare. Im Winter also fast blond.
Natürlich war das nicht naturgewollt, da mussten internationale Chemieingenieure schon nachhelfen. Auch an meiner Augenfarbe manipulierte ich herum.
Mit modischen Kontaktlinsen.
Es sind große Augen, sehr große, wenn ich es will. Meine Brauen brauche ich nur ganz wenig zu zupfen. So wie die beiden meine Augen von oben herab herrisch als ihr Revier markieren, gefällt es mir - und das ist das Wichtigste. Es gefällt mir.
Die Ohren. Ich liebe meine Ohren. Ich finde Ohren ohne Läppchen scheiße.
Ohren müssen wohlgeformt sein. Nicht das Verhältnis 2:1, sprich doppelt so hoch wie breit. Nein, höher noch als 2:1. Und mit schönem Läppchen ohne irgendwelchen Schmuck. Idealmaß ist 2,11:1. Mein Idealmaß.
Hinter mir hörte ich ein Dielenknarren.
Metin, mein türkischer Nachtgeselle, hatte solche Ohren. Höher als 2: …
Abgesehen von den schönen Ohren, war bei ihm auch etwas anderes höher als sonst.
Wie lange er da wohl schon so stand.
Egal, wenn er seinen osmanischen Kleiderhaken noch drei Minuten in Hab-Acht-Stellung halten könnte…
Ich bedeutete ihm, dass ich erst ins Bad wollte. Nicht nur, dass meine Blase zwickte - wieso bin ich blöde Kuh auch nicht nach der Mininummer vom gestrigen Abend noch mal pinkeln gegangen - nein ich wollte mir auch die Zähne putzen. Zum Sex gehört Knutschen und nach dem, was wir gestern Abend in der Kneipe für eine Rechnung produziert hatten, musste mein Atem unter die Haager Landkriegsordnung oder die Genfer Konvention fallen.
Eher beides.
Also saß ich meine Zähne putzend, pinkelnd auf dem Klo. Metins Klo.
Dieser Sonntag starb schon am Morgen.
Metins morgendliches Argument zum Verweilen hatte sich bereits nach zwei Minuten verflüchtigt.
Ich packte meine Sachen, nahm mir, wie abgesprochen, seine Korkpinnwand aus der Küche und verließ die Wohnung.
Als ich aus dem breiten Hausflur trat, blickte ich nach oben. Metin stand auf seinem Minibalkon und nickte mir zu. Im Haus gegenüber hatte Eugen Böttcher, der Dekolletéchecker, natürlich meinen Abschied beobachtet. War das Zufall, oder war der Typ krank?
Egal jetzt, ab nach Hause.
Unterwegs betrachtete ich mir meine Wohngegend. Ich musste über die Schönhauser Allee. Wollte dann in Ruhe auf der Ostseite der Schönhauser über die S-Bahn, die Greifenhagener runter, bis ich irgendwann die Knaakstraße erwischte.
Dort schnell bei meiner Freundin deren Schlüssel in den Briefkasten werfen.
Diese Freundin, Heidi Tech, war der Grund des abendlichen Treffens in unserer Stammkneipe. Neunundzwanzigster Geburtstag. Schön war es, ausufernd war es, laut war es. Heidi hatte ihren Autoschlüssel beim Wirt abgegeben und vergessen.
An der Haustür mit der großen Nummer 14 standen zwei ältere Damen. Nicht mehr redend, nein, auf das Heftigste zeternd. Der Streit beschäftigte auch schon Schaulustige auf der anderen Straßenseite. Zumindest waren zwei Männer stehengeblieben. Einer mit Hund, der andere mit Schlagseite.
Guten Morgen Prenzlauer Berg.
An der Hauseinfahrt konnte man C+M+B lesen. Die Schriftzeichen waren eben durch die eine Frau mit Kreide erneuert worden. Da ich an den beiden vorbei musste, um an den Briefkasten zu gelangen, auf dem TECH stand, war ich in beider Augen Opfer und Schiedsrichterin zugleich.
Dame A behauptete, ihren Gehstock schwingend, dass Dame B hier Gaunerhaken an die Tür male.
Kompletter Blödsinn.
Dame B wiederum fuchtelte mit Ihrem Stück weißer Kreide in der Luft und belehrte uns beide, dass sie lediglich die Namenskürzel der drei heiligen Könige an die Tür male, um das Haus durch den Herrn schützen zu lassen.
Genauso ein Blödsinn.
Nicht nur, dass Pisa ein wirkliches Problem für Deutschland wurde, jetzt versagte auch noch die interne Weiterbildung der Kirchen.
Ich sah den runzligen Streithennen tief in die Augen. Bis deren Atmung ruhiger war und ich die volle Aufmerksamkeit hatte.
Dann sagte ich nur: „Christus Mansionem Beneficat.“
Keine der beiden reagierte.
Ich ging in den Hauseingang, versenkte den Schlüssel für Heidi in dem mit TECH bezeichneten Briefkasten und stand Sekunden später den - vermutlich katholischen Laiengelehrten - zum zweiten Mal gegenüber.
Sie schwiegen.
Meine Stimme hob an und sprach im Pfarrerstonfall: „Christus Mansionem Beneficat. Gott Segne dieses Haus. Latein erstes Jahr.“
Die Blicke meiner Gegenüber waren unbezahlbar. Sollte aus diesem Tag doch noch ein Sonntag werden?
Da ich glücklicherweise keine Reaktion bekam, ging ich weiter durch die Kulturbrauerei in die Sredzki.
Da wohne ich.
In der Sredzkistraße. Unten im Haus ist ein geniales afrikanisches Restaurant. Ich wohne ganz oben.
Zwei Zimmer und ´ne Abstellkammer. Siebenundfünfzig Quadratmeter für achthundert Euro.
Kalt.
Kapitalismus in Reinkultur.
Ich war fast eine Stunde gelaufen. Das ginge auch schneller, aber ich wollte diesem Sonntagmorgen eine Chance geben.
Nein, dieser Tag war nicht wiederzubeleben.
Tot.
Also Rotwein und Badewanne.
Morgen musste ich wieder arbeiten.
Einfluss der Armut auf die Sozialepidemiologie eines Staates.
Das war die Überschrift. In Worte gefasst, die auch Metin verstanden hätte.
Ich kann das noch viel besser. Wissenschaftlicher, nervender, verletzender, fremdwörterischer.
Meine Doktorarbeit.
Vor vier Wochen verteidigt.
Seit gestern war ich Frau Doktor Liska Wollke. Einen Meter und einundsechzig Zentimeter hoch.
Jung, knackig, drahtig und ein wenig angesoffen.
Zwei Stunden später war mein Dachschrägenfenster vom Badewasser beschlagen.
Kondenswasser.
Da ich diesen Sonntag schon mehrfach für tot erklärt hatte, machte ich nicht den Versuch der Neuorientierung. Das Fensterglas wischte ich nicht ab.
Ich ging, meine Bude volltropfend, ins Wohnzimmer und legte mich nackt auf die Ledercouch.
Die unglücklichere, kleinere der Schamlippen war wohl in der Nacht bei Metin zu kurz gekommen und verlangte nach Streicheleinheiten. Zu Recht.
Dort wurde ich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich verletzt. Seelisch und körperlich.
Ich befeuchtete meinen linken Zeigefinger an der Quelle, also nicht mit Speichel, und verwöhnte die schrumpelige, wohldurchblutete Haut in meinem Schritt durch langsames Streicheln. Ohne Druck. Die dankbaren Reaktionen strahlten in den gesamten Körper aus.
Wohlig fühlte ich mich. Wohlig fühlte sich meine kleinere Schamlippe.
Sie gab sich zufrieden – nach etwa zwanzig Minuten.
Ich zog die Flanelldecke zu mir rüber, kuschelte mich ein und ignorierte stoisch die Türklingel und mein Handy. Erstaunlicherweise gaben beide Geräte gleichzeitig auf.
Mit meinem linken Fuß die Fernbedienung zu angeln, war nicht leicht. Dennoch gelang es.
Zappen um abzuschalten – welch schönes Wortspiel.
Gestern Abend hatte Gottschalks Nachfolger also zum dritten Mal wettend die Nation vergnügt. Einer seiner Gäste war der göttliche Wunderknabe aus Mannheim mit dessen Brüdern. Dass man Berufsverbote nicht auf diese singende Berufsgruppe ausweiten konnte! Dieser Mannheimer Barde war irgendwo ganz weit hinter meinem musikalischen Horizont angesiedelt.
Umschalten als Rettung.
Nächster Kanal: Märchen.
Weiter: Doku über angeblich strenge Eltern.
Danach: Werbung für einen Gemüsehäcksler…
Hunger.
Ich war eingeschlafen. Frau Doktor beliebte zu ruhen.
Ich prostete mir selbst mit Rotwein zu und bestellte mir einen deftigen Salat bei dem Afrikaner fünf beschwerliche Etagen unter mir. Sameena, die kleinste Kellnerin Berlins wusste was ich wollte. Deshalb ging es auch schnell.
Sie ließ mich wie immer eine Quittung unterschreiben. Wenn ich bei jeder Bestellung Trinkgeld gegeben hätte, dann wäre das zu teuer, hatte sie mir mal erklärt. Ich solle ihr doch lieber einmal in der Woche die Rechnungen begleichen und dann einmal zwanzig Euro als Trinkgeld geben.
Zielstrebig und hübsch. Frech und genial.
Außer montags.
Da war das Restaurant geschlossen.
Vorhin wollte irgendwer mich telefonisch erreichen.
Ich hörte den Anrufbeantworter ab. Welch bescheuertes Wort, als wenn die Maschine das könnte.
Metin war aufgeregt zu hören. Ob ich die Korkpinnwand mitgenommen hätte? Ich solle ihn doch bitte dringend anrufen.
Ich wählte seine Nummer aus dem Speicher und wartete.
Kein Metin ging ran, ergo keine Antwort.
Wenn der Bengel mich angerufen hatte, wer war dann der Mensch an meiner Wohnungstür?
Das Leben ist voller Fragen.
Arsch lecken Leben!
Salat essen, Rotwein genießen, Montag vorbereiten.
Die „Guten Morgens“ der Kollegen konnten nicht darüber hinweg täuschen, dass Hertha BSC und Union Berlin am vergangenen Wochenende genauso verloren hatten, wie Alba Berlin und die Eisbären, dieser Eishockeyclub.
Dass ich dann damit prahlen wollte, dass der BFC Dynamo, dessen Stadion gleich bei mir um die Ecke war, sein Heimspiel gewonnen hatte, konnte die Situation nicht wirklich retten.
Ehrlich, bis auf Boxen hatte ich von Sport keine Ahnung.
Auch nicht von Lotto.
Oder Sportwetten.
Was sich ändern sollte.
Auf meinem Handy war nochmals Metins Nummer. Ich konnte jetzt nicht anrufen. Mein Chef erwartete mich. Vor meinem Spätherbsturlaub sollte ich unbedingt die neuen Studienprojekte mit ihm klären. Simple Abstimmungsfragen.
„Guten Morgen Doktor Richard.“
Ein grauer Schopf. Tolle Augen. Fantastischer Körper. Ledig.
Die verkehrten Ohren.
„Frau Wollke, unter den Besitzern des Titels wird der Titel nicht erwähnt. Die Absentierung zum Pöbel, Sie verstehen.“
Er grinste.
Ich grinste.
Natürlich war das ein Machospruch der ersten Güte. Niemals hätte er einen solchen Mist vor Publikum gebracht. Es war ja auch mein Fehler.
Er hatte recht. Ich hatte den Doktortitel. Jetzt durfte ich Herr Richard zu ihm sagen.
Geil.
Wir waren bis zum Mittagessen fertig mit allem, was er als meine Urlaubsvertretung wissen musste.
Natürlich hatten wir uns wieder gestritten wo gegessen werden sollte. Immer wieder dieser kindische Zank um Kleinigkeiten, i-Phone oder Blackberry, Straßenbahn oder Taxi, Kindl oder Pils.
Das war etwas an ihm, was meine Wertschätzung ihm gegenüber nicht trübte, aber nervte.
Wir verabschiedeten uns. Ich wollte mein Büro noch übergeben.
Vor meinem Büro wartete ein Mann auf mich. Größer als einen Meter und neunzig. Freundlicher, südländischer Teint. Schöne, aber nicht perfekte Ohren.
Wir waren noch nicht einmal in meinem Dienstzimmer, als er mich stieß und fragte, wo Metins Pinnwand sei.
Instinktiv sagte ich ihm, dass ich nicht wüsste was er von mir wolle.
Er trat gegen den Bildschirm meines Computers.
Sein linkes Bein war gerade so schön weit oben, um den PC-Bildschirm zu treffen, ich konnte nicht an mich halten.
Ich trat ihm in die Eier.
Die von mir sehr verehrte Hella von Sinnen würde mich jetzt darauf hinweisen, dass die penisfreie Spezies diejenige sei, welche die Eier trage und die „Dreibeine“ lediglich Hoden hätten.
Danke Hella.
Die rasche Entwicklung von Schmerzfalten auf seiner Stirn zeugte, in Harmonie mit der Veränderung seiner Gesichtsfarbe, von meiner Treffsicherheit. Ich beugte mich kurz in seine Richtung und setzte eine, in Form und Ausführung an michelangeloische Vollkommenheit erinnernde, Schlagdoublette.
Mit der linken Faust auf sein rechtes Auge und mit der Rechten auf sein linkes Auge.
Meine kleinen, zarten Fäuste passten prima in seine Augenhöhlen.
Gerade als der Mann in sich zusammensank, kamen die ersten aufgeregten Besucher in das Büro.
Zwei Studenten schleppten den Mann in den Flur.
Der Sicherheitsdienst, ein Mann deutlich oberhalb der Sechzig, rief der Einfachheit halber die Bullen. Ehe der Alte in unserem vierten Stock angekommen wäre, um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen und dann zu entscheiden…
Der Anruf war die bessere Variante gewesen.
Die beiden Studenten hielten den Wimmernden in Schach. Was nicht nötig war, denn sehen konnte der bis morgen nichts.
Die Bullen nahmen meine Anzeige auf.
Ich hätte den Mann so in meinem Büro vorgefunden. Das war meine Aussage. Wer den Bildschirm meines Rechners geerdet hatte, könnte ich nicht sagen. Tut mir leid, der arme Kerl, das wird schon wieder… Und nein, ich kenne den Mann nicht.
Das immerhin war die Wahrheit.
Naja, wie sollte auch so eine kleine Frau wie ich einen solchen Hünen fällen.
Kaum dass ich die Tür meines Büros von innen schloss, fiel mir der eigentliche Besuchsgrund des gefallenen Gastes ein. Vor mir, auf der Innenseite meiner Bürotür hing die Pinnwand aus Metins Küche. Die war unscheinbar und leer.
Selbst die Pins müsste ich mir noch selbst kaufen. Ich nahm die Korkwand von der Tür.
Sollte die leichter oder schwerer sein? Ich hatte keine Ahnung. Siebzig Mal einhundertzwanzig Zentimeter. Weil das doofe Ding genau an meine Bürotür passte, hatte ich doch Metin darum gebeten. Er überließ mir die Tafel, nachdem er sie leer gemacht hatte. Metin hatte sich einen jungen Mann als Untermieter genommen, als unsere Beziehung beendet war. Dieser ehemalige Mitbewohner, ein Mini-Spediteur hatte die Tafel mitgebracht und in der Küche aufgehängt. Vor etwa einem dreiviertel Jahr. Der war ebenfalls Türke. Fiel mir dann wieder ein.
Nach dem Vorfall war es ein Leichtes, meinem Vorgesetzten zu erklären, wie aufgewühlt ich sei und dass ich mich beruhigen müsse. Die Arbeit sei sowieso erledigt und da ich ja eh übermorgen in den Urlaub wolle, solle ich mir mal heute und morgen frei nehmen. Er werde das schon regeln. Telefonisch sei ich ja wohl erreichbar. Nach einer mit zitternder Stimme erfolgten Bestätigung war ich frei.
Metins Telefon schwieg.
Der Teilnehmer sei nicht erreichbar, sagte mir eine magentafarbene Stimme.
Das Taxi quälte sich von der Kolonnenstraße in den Prenzlauer Berg.
Der Fahrer, wen wundert es, war Türke.
Metins Wohnungstür war aufgebrochen worden. Die Altbautür mit den kleinen Milchglasscheiben lag am Schloss an, aber die Holzsplitter am Boden zeugten von der angewandten Gewalt. Es war nichts zu hören. Kein Licht in einem der Räume. Ich lugte sorglos um die von mir geöffnete Tür herum.
Angst hatte ich keine. Meine positive Geisteshaltung würde mich sicher einmal dazu verleiten, in kompletter Fahrlässigkeit zu enden.
Mein maximales Quantum an Schmerz und Demütigung war mir vor sechszehn Jahren zuteil geworden. Mehr konnte man einem Menschen nicht antun, davon war ich fest überzeugt.
Naiv wie ich war.
Ich sah, was ich erwartete. Das Schuhregal, den Teppich, die Türen zu den drei Zimmern, den großen Spiegel, die Klotür und den alten Spind in dem Metin seine Reinigungsutensilien aufbewahrte. Ich nahm einen Schuh und warf ihn in Richtung der offenen Schlafzimmertür. Das Geräusch des sich überschlagenden und dann endgültig landenden Slippers war allein. Ein Mensch hätte reagiert, mit einem Erschrecken oder einem Rascheln.
Zumindest bildete ich mir das ein.
Im Flur war nur zu erkennen, dass eine Korkpinnwand komplett mit brachialer Gewalt zerlegt worden war. Ansonsten herrschte Metins filigrane Ordnung.
Zwanzig Minuten später wusste ich Folgendes.
Zum Ersten: Metin lag mit eingeschlagenem Schädel auf dem kleinen Balkon unter einer grünen Plastikplane.
Zum Zweiten: Ja, ich hatte in der vorletzten Nacht geblutet.
Zum Dritten: Metin, in seiner germanischen Manie, hatte das Laken gewechselt. Er, der die Ordnung so Verehrende, hatte immer noch Zeit gehabt, seiner größten Macke zu frönen. Direkt über seiner beplanten Lagerstatt wedelte das noch feuchte Laken an einer Wäscheleine. In freudig winkender Eintracht mit anderer Weißwäsche und den Zipfeln der grünen Plane die Metin bedeckte.
Nachdem ich diese meine Blutspur vernichtet wusste, sammelte ich seine Haarbürste ein, von der ich nicht sicher war, ob ich sie benutzt hatte. Seine Zahnbürste wanderte, da ich genau wusste, dass ich sie benutzt hatte, ebenfalls in meine Tasche.
Die größere der Bürsten landete im Gleisbett der S-Bahn, die kleinere in einem Papierkorb in der Gleimstraße Ecke Schönhauser, genau vor dem Kino Colosseum.
Nur weg.
Meine Seele fühlte sich an wie eine grazile Blase aus Nichts in der eiskalte, spitze Hagelkörner wie Flummis umhersprangen.
Denken konnte schmerzen. Eine völlig neue Erfahrung.
In der Pappelallee rettete mich eine Oma durch einen Zuruf vor einem Zusammenstoß mit einem Fahrrad. Ich war im Kopf weit weg gewesen.
Langsamer gehend überdachte ich mögliche Konsequenzen.
Die Polizei?
Nein, nach dem erschütterndsten, verwirrendsten, niederträchtigsten Erlebnis meiner Jugend, würde ich nie wieder einem Polizisten trauen.
Die Attribute passen alle nicht.
Es war das Beschissenste was ein junges Mädchen von fünfzehn Jahren erleben kann.
Ein halbes Jahr, nachdem mir alle Welt erklärt hatte, dass ich mich wohl getäuscht haben musste, verpisste ich mich aus dem Elternhaus. Eigentlich war es nur noch mein Vaterhaus.
Die Liska von damals wollte sich nur noch verstecken. Vor den Geistern der Vergangenheit.
Ich war inzwischen sechzehn Jahre alt. Mein Abi machte ich in Berlin. Das Studium dito.
Das größte Problem meiner selbst war, Vertrauen zu fassen.
Doktor Richard konnte ich vertrauen, weil er mich niemals anfasste. Nicht einmal hatte er mir die Hand gereicht. Berührungslose Begrüßungen. Sein Interesse an mir bezog sich auf mein Wissen und Können. Obwohl, zeitweise hatte ich das Gefühl, dass seine Blicke mich verfolgen würden, er mir ein, wie er selbst es nennen würde, wertigeres Interesse entgegenbrachte. Richtig berührt aber hatte er mich nie.
Meiner Gynäkologin konnte ich vertrauen, weil sie mich anfasste. Nur anfasste.
Wollte jemand beides, meine Seele und meinen Körper, machte ich sofort alle Türen zu und das Licht aus. Ich versteckte mich in mir selbst.
Meine junge Seele war schon einmal getötet worden.
Von meiner Lehrerin. Der Tochter des Landtagsabgeordneten, dem Kunstmäzen und Sponsor der Turnhalle unserer kleinen Gemeinde. Und meine Lehrerin war auch die Frau eines Polizisten, dem Kriminalbeamten, der mich im Wald fand.
Finden sollte?
Derjenige, der seinen ersten Bericht plötzlich nicht mehr wiederfand.
Und dann wiederrief!
Der gedeckt wurde von allen Seiten.
Die Polizei hatte bei mir verschissen.
Nicht einmal anonym sollten die einen Tipp von mir erhalten.
Metin durfte meine Seele und meinen Körper haben, denn er interessierte sich nur in ganz kleinen Dosierungen für mich. Er wollte nicht immer gleich alles. Er wollte mich nicht besitzen.
Er schnitt sich immer ein Scheibchen Liska ab, genoss es oder auch nicht, um es danach zu hinterfragen. Er ließ mir Zeit, gab mir Chancen und seine Seele preis.
Metin, der arme Kerl. Seit ungefähr vier Jahren hatten wir nach einer zwanzigmonatigen On-Off Beziehung immer mal wieder Sex. Einverstanden, das letzte Mal war aufgrund des Alkoholpegels nicht die Krönung. Doch sonst war er ein einfühlsamer Freund.
Gewesen.
Ich wollte allein sein beim Weinen, Trauern, beim Erinnern.
An der Straßenbahnhaltestelle gegenüber von Konnopke’s Currywurst machte ich eine Sinnierpause, die natürlich durch einen dieser kulinarischen Berlingenüsse unterfüttert wurde.
Mir war eingefallen wie ich mich von Metin verabschieden könnte.
Am Orankesee angekommen holte ich aus dem Cafe Schokomund ein Zwiebeleis. Das hatte er am liebsten gegessen. Es waren nur noch hundert Meter bis zum Wasser, als der Regen anfing.
Da saß ich dann also an dem kleinen Strand gegenüber vom Bootsanleger und schleckte zum ersten Mal in meinem Leben ein Zwiebeleis. Dass ich dieses Eis kosten solle, war einer der Wünsche die er mir gegenüber einmal geäußert hatte. Alle seine Wünsche hatte er immer nur einmal kund getan. Das fiel mir jetzt erst auf. Als ich fertig war, griff ich in die Tasche und bastelte den Schlüsselring mit den beiden kleinen Folklorepuppen ab. Metin hatte mir die bunten Püppchen in meine erste Steuererklärung gelegt. Metin war ein wirklich guter Mensch.
Der Regen tropfte durch das Blätterdach der Bäume auf meine Hände.
Orankeseestrand. Es war ein trauriger Strand.
Die Püppchen blieben am Strand. Versteckt in einem Wurzelvorsprung der Weide, unter der wir so oft gesessen hatten.
Ich fuhr nach Hause.
In der fünften Etage nahm ich hinter der Tür ein Geräusch wahr. Nachbar Beyer, mein dreiundneunzigjähriger Freund. Netter Kerl. Ich wartete, bis die drei oder vier Ketten die die Tür sicherten, entfernt waren.
Dann blickte ich direkt in seine wachen Augen. Er war genauso groß, respektive klein wie ich. Sorgen in seinem Blick, ließen mich augenblicklich noch wacher werden.
Er zog mich in seinen Flur.
Ich solle mir keine Sorgen machen, es wurde bei mir eingebrochen. Er habe ein Foto von dem Mann, der heute Morgen, gleich nachdem ich zur Arbeit gefahren bin, in meine Wohnung eingestiegen sei.
Das Bild habe er durch seinen Türspion geschossen. Dann schon mal im Bildbearbeitungsprogramm seines Rechners überarbeitet und an mich gemailt.
Solche Nachbarn braucht die Welt. Dreiundneunzig und topfit. Als begeisterter Verfechter des Internets schiss er auf Datenschutz – seine Worte, nicht meine. Opa Beyer hatte bei Facebook wohl mehr als fünfeinhalbtausend Freunde.
Ich nicht einen. Naja, es gab noch Heidi.
Metin gab es nicht mehr.
Ich fand Facebook nicht meinem Graue-Maus-Dasein in dieser Gesellschaft zuträglich. Ich war ja nicht mal bei Stayfriends oder StudiVZ zu finden. Ich lebte lieber als Igel.
Er klappte den Bildschirm seines Laptops in der Küche auf.
Diese Ohren erkannte ich sofort. Auch das markante Gesicht.
Dem Kerl hatte ich vor ein paar Stunden gezeigt, was kleine, böse Mädchen draufhaben.
Wenn der meine Wohnung umgekrempelt hatte, dann würde ich mir seinen Hodensack an meinen Stubendeckenventilator hängen. Mit einem fetten Grinsen nahm ich wahr, dass meine Blümchensaat in seinem Gesicht aufgegangen war. Die Veilchen würden ihn noch lange Zeit schmücken.
Opa Beyer hatte die Polizei nicht gerufen.
In meiner Wohnung herrschte bei Weitem nicht das erwartete Chaos. Alle Türen, auch die der Schränke, waren offen. Auch unter dem Bett hatte er was gesucht, aber nur eine Dreimillimeterschicht Staub entdeckt.
In der Miniküche lag sie dann.
Er hatte sie brutal zerstückelt.
Meine Pinnwand. Die größere.
Die Pinnwand die eben nicht hinter meine Bürotür gepasst hätte.
Komplett auseinandergerissen war das gute Stück.
Dieses einen-Meter-neunzig-Arschloch schuldete mir sechs Euro neunzig.
Und ein neues Türschloss.
Die Pinnwand aus dem Büro. Metins Pinnwand!
Innerhalb von fünfzig Minuten, was gegen sechszehn Uhr in Berlin einen unglaubwürdigen Rekord darstellte, war ich von der U-Bahn in der Dimitroff (Ich bin zwar ein Wessi, hatte mich aber mit der Geschichte des Mannes beschäftigt und fand die Umbenennung entwürdigend), also von der heutigen U-Bahnstation Eberswalder Straße bis zu meinem Büro geflogen.
Abgeschlossen, keine Einbruchsspuren.
Ich wollte es sofort wissen. Tür auf.
Diese blöde Korkwand zu zerpflücken dauerte genau zwei Minuten.
Erwartet hatte ich Drogen oder einen Schlüssel für ein Schließfach. So wie in richtigen Krimis.
Anders gesagt, in dem, was man uns als richtige Krimis verkaufen wollte.
Was ich fand?
Eine Folie zwischen dem eigentlichen Kork und der Trägerspanplatte an der Rückseite. Etwa so groß wie eine Zigarettenschachtel
Darin Papier.
Ein Los. Nein, mehrere.
Lotto? Da kannte ich nur 6 aus 49.
Es waren Wettscheine eines Wettbüros aus dem Fritze-Bollmann-Weg in Brandenburg.
Computerausdrucke mit einem Barcode und Zahlenreihen.
Ein ganzer Stapel Wettscheine. Zweiundzwanzig Stück.
In dem Feld Anzahl der Spiele war die 5 angekreuzt. Dahinter die Tipps. Zweiundzwanzig mal fünf Spiele. Der Mann hatte auf einhundertundzehn Sportereignisse gewettet. Zweiundzwanzig Wetten waren pro Monat möglich. Der Mann hatte also schon seit fünf Monaten gespielt. Worauf hatte der Kerl gewettet? Pferde? Fußball? Eishockey? War mir doch egal, sollte er doch wetten. Warum aber geheim? Hatte er gewonnen? Wenn ja, wie viel? Soviel, dass es einen Mord rechtfertigte? Wie viel Geld rechtfertigte einen Mord? War es denn Mord gewesen? Oder eventuell ein Unfall? War er der ehemalige Mitbewohner von Metin gewesen? Von wem sprach ich eigentlich? War der Kerl mit den perforierten Hoden und den Veilchen, derselbe der bei Metin gewohnt hatte? Sollte ich das rausfinden? Wie gefährlich war das? Hatte ich Angst? Wie definierte ich Angst? Diese unterschwellige Wird-schon-gut-gehen-Euphorie obsiegte. Eine gewisse Furcht spürte ich. Doch: Ohne Furcht kein Mut. Dieser Gedanke hatte etwas Interessantes in sich. Interessanter fand ich aber den Wert der Papiere, die ich in der Hand hielt. Eine U-Bahnstation weiter war der nächste Wettsalon, den ich als absolute Nichtspielerin kannte. 105.820,90 Euro. Mit einem deutlichen Wow auf den Lippen zückte ich meine Bankkarte, damit die mir immer wieder fröhlich gratulierende Dame von der Annahmestelle die Daten für die Überweisung abschreiben konnte. Ich verschwendete nicht einen Gedanken an die Rechtmäßigkeit meines Handelns. Die Tante hinter dem Tresen wollte die Scheine und die Tipps haben, befand alles für rechtens und verlangte dann nach meiner Geldkarte. Also war das Geld meins. Wenn der Hüne der Mörder Metins war, dann konnte der mit dem Geld sowieso nix anfangen. Das Geld stand mir dann mehr zu als ihm. Diese Gedanken endeten nach genau zwei Minuten. Dann wurde mir meine Geldkarte und eine Quittung gereicht. Was mich weckte und einem anderen Gedanken den Weg ebnete. Übermorgen wollte ich mich verkrümeln. Urlaub. Zwei lange Wochen. Nach mehr als einem Jahr Arbeit meine erste freie Zeit - wenn man von den Wochenenden absieht - die ich zum großen Teil mit Metin verbrachte. Äußerst selten endeten unsere Abende wie der Letzte. In unserer Kneipe „stadtgöre“ in der Bornholmer Straße. Doch unsere Freundin Heidi hatte Geburtstag. Der hatte ich am Sonntagmorgen noch ihren Schlüssel in den Briefkasten geworfen. Eigentlich wollte ich die erste Woche mit Heidi gemeinsam irgendwohin. Das würde ich jetzt nicht mehr können. Die Situation war neu. Das Geld ermöglichte mir zu tun, was ich eigentlich wollte. Nicht einen proletenhaften Erholungstrip vom Hotelpool zum Strand und dann ab an die Bar und wieder retour. Nein, jetzt war mein wissenschaftlicher Urinstinkt geweckt. Ich musste Heidi absagen. Ihr irgendeinen dienstlichen Schwindel auftischen. Jetzt wo das Geld da war, änderte ich sofort mein Verhältnis zu meinem Leben. Ich wollte jetzt erst recht an die Arbeit. Heidi wollte Urlaub. Ich war verliebt in meinen Job. Diese neue Situation der völligen finanziellen Absicherung bot mir eine Chance. Mir war wie einem Archäologen zumute, der weiß, wo die Pyramide verbuddelt ist und jetzt endlich das Geld für die neue Schippe hat. Das war der rationale Grund. Heidi wirkte geknickt, akzeptierte aber. Ich solle mich nach der ersten Woche bei ihr melden, womöglich ginge dann noch was in der zweiten Woche. Es würde nix werden, und ich würde mich in der kommenden Woche auch nicht bei ihr melden. Ich wollte nicht. Das Geld, gut und schön. Aber wenn Heidi jetzt bei mir sein würde, das war der emotionale Grund, dann wäre unser Hauptgesprächsthema unweigerlich Metin. Das würde ich nicht überleben. Meine Seele würde das nicht ertragen. Dieser vor sechszehn Jahren im Taunuswald geborene Instinkt des Versteckens erwachte mit einem Ruck. Plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, wusste ich, was geschehen sollte. Noch am selben Nachmittag richtete ich ein Konto ein, von dem monatlich von meinem eigentlichen Konto viertausend Euro zu überweisen waren. Ich wollte keine Karten dafür, sondern ein Passwort und eine Zahlenkombination die mich, inklusive meines Passes, bei internationalen Banken als die Eigentümerin legitimierte. Den Trick habe ich von dem reisewütigsten Menschen den ich kenne, Opa August Beyer. Opa Beyer bekam den Schlüssel für meine Wohnung und den Auftrag die Bullen zu rufen, falls der Kerl wieder kam. Meinen Kühlschrank konnte er leerfressen und die Weinreserven zunichtemachen. Einmal in der Woche lüften und Blumen gießen - das war sein Part, so war der Deal. Opa Beyer konnte mir auf mein Samsung-Handy Mails senden. Wenn was Wichtiges wäre. Dann würde ich ihn anrufen. Nach 13 Tagen sollte er den Brief in den Kasten der Universität werfen. In dem Schreiben erklärte ich Dr. Richard, dass ich um eine Auszeit bäte. Ich würde meine Studien fortsetzen wollen, jedoch nicht in Deutschland. Da meine Arbeit mit der Vorbereitung der neuen Aufgaben für die Seminargruppen sowieso in einer Sackgasse gelandet war, oder gewählter ausgedrückt, der Zenit meiner Arbeit mit der Erreichung des Doktortitels vorläufig nicht zu toppen war, klinkte ich mich jetzt mal aus. Ich war freie Mitarbeiterin und konnte machen was ich wollte. Meine Honorare würde ich noch für zwei Monate erhalten. Die Tantiemen für unsere gemeinsame Arbeit standen mir zu. Dazu existierte ein Vertrag, den er einhalten würde. Dieses Buch, das wir, Dr. Richard und ich geschrieben hatten, beschäftigte sich mit der Langzeitwirkung der Verarmung der Gesellschaft in Bezug auf die Kriminalität und das Anwachsen demagogischen und nationalen Denkens. Schwerpunkt der Studien und Basis meiner Doktorarbeit waren die Industriestaaten Mitteleuropas. Was ich bei dieser Arbeit zuallererst entdeckte, war der geistige Gefrierbrand in den Köpfen der Politiker. Mehr als zweitausend Politiker waren durch meine Studenten befragt worden. Vom ehrenamtlichen Bürgermeister über den hauptamtlichen Kommunalpolitiker bis zu einigen Berufsministern. Immer erst zu den Themen Angst, sowie positive und negative Geisteshaltung. Wenn die gewählten Volksvertreter dann weichgekocht waren, ging es an das eigentliche Thema. Interessanterweise konnte ich die Resultate beider Befragungen in meine Dissertation einarbeiten. Die Unterschiede zwischen den Extremen in Italien, Frankreich und Deutschland einerseits und dem Baltikum sowie Skandinavien andererseits waren nicht zu verstehen. Die Politiker wollten nicht begreifen, dass die Verarmung der Gesellschaft hauptsächlich von der infantilen Sorge der Staatslenker um den Erhalt der größten Unternehmen und der reichsten Firmen des Mittelstandes beeinflusst war. So etwas erörterte eine Sozialepidemiologin. So eine wie ich. Immer noch hatte ich keinen Plan, wohin die Reise gehen sollte. Nur weg. Mein Rollkoffer und meine Tasche waren schnell gepackt. Nachmittags schon lagen sie im Schließfach am Flughafen. Ab zu den Last Minute Büros. Mal sehen, was die noch so hatten. Schon die handschriftlichen Werbeschilder zeugten von der Potenzierung dessen, was die PISA-Studien aufzeigten. Ich beschloss, mich einfach von der Handschrift und den wenigsten Schreibfehlern leiten zu lassen. Ehrlich, was konnte man an Sevilla falsch schreiben? Was bei Guernsey? Auch um Zaragoza schreiben zu können, musste man nicht studiert haben. Mexiko-City war richtig geschrieben. Da war ich aber schon. Genauso wie in Moskau, Rio oder New York. Ich wollte aber in Europa bleiben, denn da konnte ich in fast allen Staaten ehemalige Studenten besuchen. So suchte ich weiter. Istanbul war in einem wunderbaren Auf-und-Ab als Wort zelebriert. In Pink. Die Frau hinter dem Tresen telefonierte, beendete aber sofort bei meinem Eintreten das Gespräch. Der zweite Pluspunkt. 790 Euro wollten die haben. Hotel Vicenza. Egal, jemand hatte bei den Sportwetten für mich gewonnen. Und dann meinem Freund den Schädel eingeschlagen. Er hatte kein Anrecht auf dieses Geld. Der hatte ein Anrecht auf einen Anwalt. Mehr nicht. Um alles zu verstehen, was die Frau dann wegen der Reise runter rasselte, brauchte ich Kontext. Mein alter Schaden, nicht verstehen und nicht sofort folgen können. Begreifen beim ersten Mal, das war mir nicht gegeben. Sie sagte mir sicherlich alles Wichtige, aber ich brauchte die simplen Informationen. Mit einem Lächeln bedeutete mir die Dame, dass sie verstünde und drehte den Bildschirm. Zwölf Bilder des Hotels überzeugten mich davon, dass ich die richtige Wahl getroffen hatte. Das waren die Botschaften die ich brauchte. Gekauft. In weniger als drei Stunden würde ich in meinem Flieger sitzen. Essen konnte man überall. Was ich tat. Pizza. Doch schon optisch handelte es sich eher um ein Faksimile einer Pizza. Was mich kapitulieren und ein anderes Mahl suchen ließ. Salatbar klang gut, war auch so – ich konnte beim Zubereiten zusehen. Das Resultat war dermaßen ökologisch, davon wäre sogar mein Chef noch klüger geworden. Siebzehn Euro für einen Salat. Scheiß drauf. Das Gepäck war ich schon los. Der Zeitungsstand bot nichts, was mich interessiert hätte. Bis auf, …das konnte doch nicht wahr sein! Dr. Richard hatte für den STERN einen Artikel geschrieben. Über meine Doktorarbeit. Die drei Euro und vierzig Cent waren fix investiert. Titel der Story: Armut = unsozialer Sozialstaat Mein Flug war klar zum Boarding. Sollte ich hierbleiben? Dr. Richard zur Rede stellen? Nein. Sitz 42 erwartete mich. Und der Text aus dem Nachrichtenmagazin STERN. Lesend, staunend, stiefelte ich durch den Check-in Bereich bis zum Flieger, nickte der Stewardess abwesend zu und fand meinen Platz. Auf der ersten halben Seite die Erläuterung unserer Arbeit. Dann eine Seite Werbung mit einer ein Buch lesenden Frau. Eine komplette Seite Text. Dann ein kleines Foto von Dr. Richard und ein Einliegertext. Dann ein kleines Foto von mir und- in einer geänderten Schriftart – ein längerer Text über weitere vier Seiten, inklusive Statistiken. Fazit meines Dr. Richard war, dass Frau Dr. Liska Wollke eine bissige Rechercheurin sei, die sich nicht vom Ziel abbringen ließe. Hörte sich für mich nach Lob an. Ich las mich fest, fand einen Text zu dieser einen Episode, die mich gleichwohl unangenehm werden ließ, als auch ernüchterte. Ja, an diese Begebenheit erinnerte ich mich. Als ich persönlich einem Liberalen den Mindestlohn als Lösung vorschlug, wurde der sogar grantig, wollte mich vom Mikrofon trennen. Der war regelrecht handgreiflich geworden, hatte mich an den Haaren gezogen. Als der erste Journalist einige Fotos von der Situation gemacht hatte, wurde der Mann ruhiger. Zwei Wochen nach Veröffentlichung der Fotos beendete der Liberale seine politische Karriere. Natürlich nicht wegen der Fotos, die einige mediale Tsunamis ausgelöst hatten, sondern aus persönlichen, gesundheitlichen Gründen. Selbstredend brauchte der keinen Mindestlohn und kein soziales Netz, denn die Industrie wartete bereits. Der Mann war seit mehr als zehn Jahren für monatliche Saläre von siebentausend Euro Aufsichtsratsmitglied in einem Unternehmen aus der Photovoltaikbranche. Die Firma gehörte einem Belgier, der EU Ratsmitglied der Grünen war. Soviel zur Vernetzung der liberalen Politik mit der grünen Wirtschaft. Nach diesem kurzen Exkurs in den Text, entschloss ich mich den gesamten Artikel von vorn bis hinten zu lesen. Meine Sitznachbarin grinste mich an. Eine Dame Ende fünfzig, was man nach dem zweiten Hinsehen erst mitbekam. Dunkelbrauner Hosenanzug, dunkler Teint, Schmuck, bis auf eine Uhr, nicht erkennbar. Mein erster Eindruck - Geschäftsreise. Im Touristenbomber? Das Lächeln der Geschäftsdame galt definitiv mir. Die Stewardess grinste dito. Ich blätterte zurück zum Anfang. Las. Die halbe Seite an Erklärungen war sachlich richtig und fürs Volk, den proletarischen Plebs, gedacht. Hätte Dr. Richard jetzt gesagt. Aber, ich wiederhole, das nur aus Quatsch. Der Mann war nah am Volk. Der redete eben manchmal so. Der STERN-Reporter war gut. Der stellte die richtigen Fragen. Wurde sicherlich auch von meinem Mentor zu dessen und somit unseren Schlussfolgerungen gelenkt. Als ich umblätterte, lächelte meine Nachbarin schon wieder jovial wissend in mein Gesicht. Jetzt begriff ich auch weshalb. Die zweite Seite war keine Werbung mit einer Frau wie ich vermutet hatte, sondern Frau Doktor Liska Wollke. Ein Riesenfoto, ganzseitig von mir. Die Dame neben mir bemerkte meine Überraschung und giggelte in ihren Damenbart. Die Stewardess war eben auf unserer Höhe und schenkte mir schmunzelnd den Blick auf einen halben Quadratmeter gepflegtes Zahnweiß. Sie wusste es also auch. Peinlich berührt senkte ich den Blick. Und las weiter. Die Konzentration wieder zu finden, war nicht leicht. Ich fühle mich ungern beobachtet. Graue Maus ist mein Ding. Mittelpunkt nicht. Der Rest des Berichtes über meine druckfrische Doktorarbeit war ohne negative Wertung meiner Arbeit. Die Ergebnisse allerdings ein direkter Angriff auf die Brennpunkte der scheinbar ach so sozialen Marktwirtschaft. Auswüchse wie Extremismus – in welche Richtung auch immer – waren auch nach STERN-Recherchen der Beweis für die Richtigkeit meiner Forschungsresultate. Das Abgrenzen der sogenannten reichen Bevölkerungsschichten in bewachten Wohnsiedlungen wäre der kommende Schritt. Das gab es schon. In Mexiko, in Brasilien und auch, oh Wunder, in Russland. Wer konnte diese Entwicklung verkennen. Eventuell ein Rechtsanwalt, der sich zum blassesten deutschen Außenminister seit Joseph Wirth aufschwang? Der Wirth war sogar zweimal Außenminister, einmal für zwei Monate und einmal für vier Monate. Ich konnte den Typen nicht leiden. Den Neuen meine ich, nicht den von damals. Doch wer war noch so blind? Ein Augenarzt, Feind des Mindestlohns, der das Ministerium der deutschen Wirtschaft leiten wollte? Vor ein paar hundert Jahren in Venedig mussten die Verantwortlichen der einzelnen Bereiche bewiesenermaßen Vertreter dieser Kategorie der politischen Fächer sein, für die sie Verantwortung übernahmen. Dadurch sparten sich die Venezianer schon mal das, was man neudeutsch Ausschüsse nannte. Ein Bereich meiner Forschung bewies zum Beispiel, dass die Kosten für externe Ratgeber und Beratungsfirmen von den Ministerien nicht sachlich richtig veröffentlich worden waren. Zumal solcherart Berater sich meist nicht aus den Mahnern an den Zuständen der Gesellschaft rekrutierten, sondern aus den stillen Empfehlungen der Staatssekretäre. Deren Sponsoring durch die Nutznießer stellte ich lediglich in den Raum. Mir wurde warm. Ich dachte mich schon wieder in Rage. Immer wenn es mir so ging, beruhigte mich mein Mentor. Ohne Doktor Richard wäre ich bestimmt mal einem der ignoranten, dennoch gewählten Volksvertreter in die Fresse gesprungen. Was ganz bestimmt was genützt hätte. Aber meine Studien hatten andere Ziele. Doch was half alles Meckern. In den USA durften ja auch mal Erdnussfarmer und Schauspieler die höchsten Ämter bekleiden. Meine Sitznachbarin weckte mich. Der Artikel habe ihr sehr gefallen, weil da endlich mal kritisch mit einigen Punkten umgegangen werde, die das Volk an der Seele rühren. Sie selbst sei bei einer Zeitung als Assistentin der Verlagsleitung tätig. Ob sie mir ihre Karte geben dürfe, denn sie sei sehr interessiert daran, meine Gedanken in einem Artikel zu veröffentlichen. Entgeistert und begeistert zugleich griff ich zu. Allerdings möge sie sich bitte gedulden, denn ich mache jetzt erst einmal Urlaub. Das verstand die Frau. Sie selbst wolle in Istanbul eine Woche lang Recherchen betreiben. Ich musste überhaupt nicht nachfragen, sie sprach von allein weiter, es ging um die große türkische Familie in Deutschland. Zum Jahrestag des Gesetzes zur Regelung des Umganges mit Gastarbeitern in Deutschland war so ein Thema etwas für den deutschen und den türkischen Teil ihres Verlages. Migration. Thema dieser Zeit. In einer 2005 veröffentlichten Studie des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung gebe es zum Teil fragwürdige Ansätze. Diesen wolle sie nachgehen. Auf ihrer Karte stand nur der Verlag, keine Zeitung. Das bedeutete, dass hier wirklich eine Große saß. Nicht eine Reporterin. Eine Telefonnummer, Anschriften in Hamburg , Berlin und München. Ein Name, nur der Nachname. Plitechna. Nie gehört? Egal. Ich händigte ihr einen Zettel mit meiner Mobilfunknummer aus. Verdammt, wie naiv konnte man sein. Das Hotel war das, was ich erwartet hatte. Nicht mehr und nicht weniger. Der junge Mann an der Rezeption besorgte mir ein Kopftuch und einen weiten Umhang. Netter Kerl, aber für mich zu servil und die verkehrten Ohren. Istanbul harrte meiner. Dreizehn Millionen Einwohner – nur für meine Studien. Dreizehn Millionen und alle nur für mich. Meine Liebe war und ist mein Beruf. So war es schon im Studium. Damals sah ich die freie Zeit nur als dann sinnvoll genutzt an, wenn ich täglich für meine Arbeit dazulernte. Sah ich das heute eigentlich anders? Ich könnte es nicht beantworten. Istanbul ist älter als 2.600 Jahre. Schon die Griechen und Römer hinterließen hier Spuren. Die Faszination der Historie hatte mich gefangen. Zuerst wollte ich eine Nachricht bei Hatice hinterlassen. Da meine Reise einem spontanen Entschluss entsprang, hatte ich keine Zeit Hatice vor meiner Abreise zu informieren. Nur wenige Minuten von meinem Hotel entfernt lag die Istanbul Üniversitesi. Das junge Mädel hatte bei mir studiert. Hatice war nach einem Jahr die Leiterin der Seminargruppe geworden und meine Assistentin. Sie heiratete mit sechsundzwanzig in Berlin einen Deutschen. Das war kein Problem für die Familie. Aber nach etwa zwei Jahren veränderte sich die finanzielle Situation ihrer bis dahin wohl situierten Angehörigen in der Heimat. Bei einem Unfall verstarben der älteste Sohn und der Vater. Die beiden Haupternährer. Hatice musste sofort nach Beendigung des Studiums zurück nach Istanbul. Ihre Bestnoten in Berlin brachten ihr einen wohldotierten Job in Istanbul. Ihr Mann lebte nicht einmal wirklich getrennt von ihr. Er hatte seine Aufgaben in Deutschland und besuchte Hatice so oft er konnte. Von Ehe oder Treue allerdings sprachen beide nicht mehr. Ob da noch Liebe war? Immerhin hatten sie ihre Situation akzeptiert und sich gefügt. Sie blieben in Kontakt wie gute Freunde. Ich hinterließ beim Portier eine Nachricht an Hatice und stürzte mich unter das Volk. Innerhalb einer halben Stunde, wusste ich nicht mehr wo ich war. Ein einmaliges Gefühl. Das ist und war meine Art Urlaub zu machen. Ich suche mir eine Stadt raus, fliege hin und laufe. Wenn ich müde bin, rufe ich mir ein Taxi, lasse mich zum Hotel kutschieren und schlafe. Ich gehe in Tavernen, Kneipen, Imbissbuden, Restaurants, Bars, Destillen, Kaschemmen – wohin die Menschen gehen, die in dieser Stadt wohnen. Touristenfallen vermeide ich tunlichst. Ich beobachte, resümiere. Nur in Rio und in Mexiko City war mir dabei unwohl. Naja, und in Moskau. Alle anderen Städte habe ich genossen. Selbst in Berlin, verkleidet als Marokkanerin konnte ich inmitten einer Männergruppe so tun, als wenn ich nichts verstünde, außer Englisch. Die Gesichtsfarbe war damals das größte Problem. Die vier Jahre Nebenjob während meines Studiums waren dafür sehr sinnvoll. An der Filmhochschule Babelsberg. In der Maske. Ich durfte mal Uwe Kokisch altern lassen. Der Schauspieler, der den Commissario in Venedig spielt. Und ich hatte Claude-Oliver Rudolph eine Stirnnarbe zu verpassen. Beide waren mir sehr sympathisch. Unterschiedliche Charaktere, jedoch kumpelhaft normal. Zumindest zu mir. Allerdings erinnerte der Erste mich an meinen Vater, dieses blöde Arschloch, und der Zweite erinnerte mich an den uniformierten Gatten meiner Lehrerin. Der Pädagogin, die in einem herbstlichen Taunuswald meine Jugend beendete. Doch jetzt war ich in Istanbul. Also unters Volk und lauschen und beobachten. Die Fremde und das Fremde erfahren und genießen. Sozialstudien machten mir so am meisten Freude. Verkleiden, besser gesagt tarnen und eindringen. Mein Handy klingelte. Eine unbekannte deutsche Nummer. Somit nicht Hatice. Ich ging nicht ran. Sekunden später die SMS mit der Info, dass ich mal meine Mailbox abhören solle. Interessierte mich jetzt auch nicht. Ich stellte den Klingelton auf Stumm und Vibration. Es wurde ein langer, angenehmer Spaziergang. Bereits drei Stunden war ich unterwegs um mich zu entspannen. Die Schatten wurden länger, was mich aus meinen Gedanken führte. Dann orientierte ich mich. Vor mir befand sich die Veli Efendi Pferderennbahn. Die Sonne neigte sich zum Verabschieden des Tages. Ich musste dringend auf ein Klo. Ich hatte Hunger und meine Füße waren auch schon mal trainierter. Mein Telefonino, wie die Italiener ihr Mobilfunktelefon liebevoll nennen, summte in der linken, vorderen Tasche meiner Jeans, was den Harndrang nicht gerade erträglicher machte. Eine türkische Nummer, vermutlich Hatice. Sie war es. Wir verabredeten uns. Auf dem Ekrem Kurt Boulevard sollte ich mir ein Café suchen und mir den Namen merken. Sie würde mich dann anrufen und dort abholen. Zwei Stunden später saß Dr. Liska Wollke neben Ihrer Freundin Hatice in deren Fiat. Wir hatten eben den Bosporus überquert. Der asiatische Teil Istanbuls empfing uns mit einem Abendstau. Hatice hielt in dritter Reihe parkend, vor einem kleinen Geschäft. Ich sollte warten. Eine Minute lang ertrug ich die Hupkonzerte. Dann wurde es mir zu viel. Gerade als ich sehen wollte wo sie blieb, stiefelte sie aus dem Laden. Mit einem Lächeln. Dem Hatice-Lächeln. Wenn ich ein Mann wäre… Was sie gekauft hatte, sagte sie mir nicht. Ihr Navigationsgerät versprach, dass wir nur neununddreißig Minuten benötigen würden. Es dauerte mehr als eine Stunde länger um in Polonez in der Beykoz Caddesi anzukommen. Hinter einer Doppelreihe aus Pinien stand ein Haus mit einem üppigen Holzvorbau. Ausladende Schnitzarbeiten ließen meine Augen anerkennend verweilen. Ein kleiner Brunnen, ebenfalls mit wundervollen Ornamenten, zierte das Entree. Ob der Brunnen echt war? Zikaden untermalten die Abendstimmung. Dieses Zirpen brauchte ich jetzt. Ich benötigte es um zu begreifen, dass ich im Urlaub war. Und diesen Duft. Der Duft von geräuchertem Fisch mischte sich in das dumpfe, leicht feucht-moorige Aroma. Was für ein eimaliges Odeur im Verhältnis zu Istanbuls Wachstumsdampf und dem klimaanlagenbereinigten Duft in Hatices Auto. Deren Mutter stand schon im Vorgarten und erwartete uns. Laut Hatice stand sie seit dem Unfall jeden Abend am Gartentor. So lange, bis Hatice daheim war. Die Mutter begrüßte mich mit einer alles erschlagenden Würde. Dann nahm sie ihre Tochter in den Arm. Ein kurzes Tuscheln zwischen beiden und die Gesichtszüge des Oberhauptes der Familie entspannten sich. Ein reiferer Mann, nach Hatices vorbereitendem Einblick in den aktuellen Familienstammbaum ihr Onkel, hantierte an einem Ofen, der so stark qualmte, wie der Onkel selbst. Der Zigaretten fressende Räucherer Ali war Innenarchitekt, spezialisiert auf Büro- und Verkaufsräume. Er selbst mochte lieber die, wie er es nannte, Low-Level-Arbeiten. Onkel Ali war verheiratet mit einer Innenarchitektin. Sie, Ahu, wiederum war Spezialistin für die teureren Räume von exklusiven Hotels und die Wohnungen der neuen türkischen Upperclass. Das verbliebene Mitglied der Familie war Hatices große Schwester. Sie arbeitete als Sprachlehrerin in einem Gymnasium in Cayagzi. Ein Ort der Neureichen direkt an der Küste des Schwarzen Meeres. Ihre Fächer waren Englisch, Spanisch, Finnisch und Ungarisch. Kaum zu glauben, aber sie lernte wegen der Entwicklung in der Welt jetzt noch Russisch an der Abendschule und Chinesisch im Fernstudium. Meine Frage nach der deutschen Sprache wurde von ihr nur belächelt. Nicht von oben herab belächelt, nein eher aus der Position des: „Ich verstehe nicht, wie man auf so eine Frage kommen kann?“ Es gäbe genug Türken die Deutsch können. In der türkischen Hotelbranche bestimmt die Hälfte aller Angestellten. Aus Deutschland kamen seit ein paar Jahren mehr Türken in die Heimat zurück als es türkische Auswanderer nach Deutschland gab. Das war mir nicht klar. Was ich aber begriff war, dass Hatices Schwester als Lehrerin jetzt schon in einem solchen Reichendomizil in Cayagzi arbeitete. Eine Dependance der türkischen Elite. Mauern rings um dieses Wohngebiet. Kameras, Bewegungsmelder und bewaffnete, private Security an allen Eingängen. Eigene Schule, eigenes Stadtteilzentrum, eigene Rechtsauffassung inklusive. Das hatte ich, im Rahmen meiner Forschungen, eigentlich eher für die Außenbezirke von Hamburg, München und Frankfurt am Main vorhergesagt. Aber hier? Das angebotene Glas mit milchigem Inhalt vernichtete ich in einem Zug, was besonders Onkel Ali zu einem anerkennenden Nicken verleitete. Raki mit Wasser. Prost Frau Doktor. Der Abend war schneller im Gange, als ich erwartet hatte. Schon erwähnter Raki und Wein aus der Taurusregion für die Seele und geräucherter Fisch aus dem Schwarzen Meer für die Hüfte – war die Devise der Mutter. Nach Mitternacht, mitten in einem Exkurs über meine unorthodoxen Lehrmethoden, schlug sich Hatice an die Stirn. Sie hätte von Ihrer Chefin heute einen Tipp erhalten. Hatice eilte zum Auto und holte die Einkäufe. Aus einer Papiertüte zog sie eine Zeitung. Auf Seite sieben war ich zu sehen. Eine ganze Seite Frau Dr. Liska Wollke. Weitere zwanzig Minuten später, hatte Hatice den Artikel ihrer Familie vorgelesen und mir übersetzt. Das Fazit der Familie war für mich erschütternd. Die waren begeistert. Angeblich hatte ich die Entwicklung in Deutschland so präzis beschrieben, dass zuallererst Hatices Schwester sofort die Zukunft der Türkei voraussah. Als die argumentatorischen Ungereimtheiten geklärt waren, war ich auf Stand, verzweifelt und verwirrt. Verwirrt, am meisten war ich verwirrt. Onkel Ali sagte unter dem Einfluss einer halben Flasche Raki und dem Gelächter seiner Familie, dass es bald eine türkisch-deutsche Arbeiteranwerbevereinbarung wie in den 50-jahren des letzten Jahrhunderts geben würde. Er freue sich schon auf deutsche Restaurants, Drehspieß-Kasseler-Imbisse und Sauerkraut-to-go-Läden. Bewirkte das meine Doktorarbeit? Ich lag in der Nacht wach. Das ließ mir keine Ruhe. Das wollte ich ergründen. Einen Tag später wollte ich es wissen. Ich verließ das Hotel ohne nur einmal das Bett genutzt zu haben. Die noch offenen, sechs nicht genutzten Nächte, wurden mir zur Hälfte erstattet. Zum ersten Mal in meinem Leben mietete ich mir ein Auto. Meine Fahrpraxis in Deutschland belief sich auf ungefähr doppelt so viele Kilometer wie in der Fahrschule verlangt wurden. Bei der Fahrzeugwahl machte ich es wie die FDP in der deutschen Heimat. Erst besah ich mir die möglichen Varianten und entschied mich dann für einen kleinen Asiaten. Ein Hyundai fand mein Gefallen und wurde für erschütternd wenig Geld mein Gefährte. Der Vermieter wollte nur dreißig Euro am Tag haben, inklusive aller Versicherungen. Abgeben konnte ich das Auto an allen Tankstellen der Orionkette und an allen Flugplätzen des Landes. Ich bezahlte erst einmal für fünf Tage. Verlängern ging immer. Der Kreditkarte sei Dank. Hatice hatte mir Anschriften von Freunden notiert, die ich aufsuchen konnte, falls was schief ging. Der erste Trip sollte nach Zonguldak gehen. Laut Navigation, über die mein Telefonino verfügte, sollte ich in fünf Stunden vor Ort sein. Meine Fahrpraxis allerdings, noch dazu in einem Land mit der mir fremden Auslegung des deutschen Paragraphen eins, sorgte dafür, dass ich fünfzig Kilometer vor meinem ersten Reiseziel in meinem Auto übernachten musste. Weiter zu fahren hätte nicht nur mein Leben gefährdet. Mein Handy weckte mich. Seit gestern in der Frühe hatte ich meine Mailbox und meine Mails nicht mehr abgerufen. Jetzt nahm ich mir die Zeit. Während eines Morgenspazierganges entlang der Küste vor Esenköy erlitt ich mehrere Herzattacken. Frau Hauptkommissar Weber aus Berlin bat um Rückruf wegen meines Freundes Metin. Heidi fragte wegen der Verabredung für die zweite Urlaubswoche nach. Herr Hauptkommissar Schneidereit aus Berlin wollte wissen, ob ich Anzeige gegen den Mann aus meinem Büro erstatten wolle? Metins Rechtsanwalt Schnick informierte mich über die bevorstehende Testamentseröffnung. Ich möge mich in vierzehn Tagen in seinem Büro einfinden. Opa Beyer berichtete über einen weiteren Besuch des Unbekannten. Er hatte die Polizei gerufen, die dann allerdings zu spät kam, um den Mann festzusetzen. Der Polizeimeister Kern aus meinem zuständigen Bezirksrevier informierte mich über den Einbruch in meine Wohnung. Dann noch einmal Heidi. Sie wollte wissen, ob ich schon wüsste was mit Metin geschehen sei? Dr. Richard, mein Chef, bat mich, mir den STERN zu kaufen. Er hätte eine Überraschung. Na, da war ja richtig was los in der Heimat. Ich rief dreimal die Bullen an. Nein, ich könne keine Hinweise zu den Sachverhalten um Metin geben, sagte ich dem ersten Polizisten. Fragte aber mit weinerlicher Stimme nach. Bereitwillig gab man mir dezente Auskunft. Ein Paketkurier wollte eine Lieferung bei Metin abgeben und fand die Wohnung offen. Metin hätte auf dem Balkon gelegen. Das zweite Telefonat. Nein, ich würde keine Anzeige erstatten. Den Bildschirm musste der Kerl dem Institut ersetzen, nicht mir. Dann dankte ich in der dritten Berliner Polizeidienststelle für die Info wegen meiner Wohnung und mein Nachbar würde schon alles in die Wege leiten. Keinem der Polizisten gab ich eine helfende Information. Nicht nach dem, was ich im Taunus erlebt hatte. Die hielten doch alle zusammen. Das waren doch schon bessere Menschen. Ich beruhigte mich wieder etwas. Dachte dabei an die Beschwichtigungsrituale meines Mentors. Dann rief ich Heidi an und heulte fünfzehn Minuten mit ihr gemeinsam am Telefon. Danach brauchte ich eine Pause. Würde ich rauchen, hätte ich geraucht. Wenigstens zwei Zigaretten. Opa Beyer bekam meine Reaktion per Mail. Es blieb bei unserem Deal. Metins Anwalt erhielt die Info, dass ich nicht zur Testamentsverkündung anwesend sein würde. Dr. Richard erhielt keine Info von mir. Gerade als ich die Senden-Taste gedrückt hatte, klingelte es. Ich war nicht auf der Höhe. Denn ich ging ran. Eine Frauenstimme. Plitechna. Kannte ich nicht. Verdammt, kannte ich doch. Die Dame aus dem Flieger. Sie würde mich gern sehen, hätte ihre Kontakte soweit abgearbeitet, dass sie sich zwei Tage frei nehmen könne. Ich erklärte ihr freundlich aber bestimmt, dass ich nach Zonguldak unterwegs sei. Freudig unterbrach sie meine Rede. Das sei ja fantastisch, denn sie selbst habe einen Termin in Karabük, den sie auf dem Weg nach Ankara noch wahrnehmen müsse. Sie würde dann eben einen Abstecher zu mir machen. Wo ich denn übernachten würde. Ich wusste es nicht und wollte diese Verlagstante auch nicht sehen. Wie konnte ich sie loswerden? So wie immer. Erst mal zusagen und dann anrufen und absagen. Nach der dritten Absage müsste die Frau dann das Offensichtliche einsehen. Ich ging immer so vor, direkt abzusagen, dazu war ich zu feige. Mein Selbstbewusstsein reduzierte sich auf den Selbsterhaltungstrieb. Meiner Konfliktfähigkeit war ich beraubt worden. Vor langer Zeit. Sie gab mir eine Anschrift in Zonguldak, die ich mir weder merkte noch notierte. Ob ich denn den Artikel in diesem türkischen Wirtschaftsmagazin gesehen hätte. Der Gastabdruck des STERN-Artikels zum Jahrestag der Anwerbevereinbarung. Ja, hätte ich. Sie sei ja so begeistert und wolle mich unbedingt mit ihrem Verlag in Verbindung bringen. Da sei einiges an Potenzial, was gerade die deutschen Politiker derzeit übersähen. Bla-Bla-Bla… Ich beendete das Gespräch indem ich einfach auflegte und speicherte die Nummer unter Verlagstante. Mein erster Versuch mir etwas zum Essen zu kaufen, endete mit Morddrohungen gegen den Softwareentwickler der von mir genutzten Deutsch-Türkisch Applikation auf meinem Handy. Ich brauchte ein Wörterbuch. Was wollte die Plitechna wirklich? Dass sich deren Reisepläne so schnell geändert hatten, wollte ich nicht glauben. Konnte ich nicht glauben. Konnte ich ihr glauben? Warum wollte ich ihr nicht glauben? Eine Stunde später kam der zweite Anruf von meinem neuen Schatten. Sie bitte nur um dieses eine Gespräch und werde auch nicht aufgeben. Eine Publikation in ganz Europa und wenigstens vierzehn weiteren Ländern bot sie mir an. Aha, jetzt begannen also schon die Verhandlungen. Das könnte helfen, den Weg in ein neues Leben trocken zu legen, wenn nicht gar zu pflastern. Sie wollte einmal darlegen, was ihr vorschwebte. Einmal. Ich sagte einem Treffen zu. Für morgen. Ort und Zeit würden wir später konkretisieren. Sie klang nicht erleichtert, sondern so, als wenn sie genau damit gerechnet hätte. Hm? Doch erst folgte die Verabredung mit Tülin. Tülin, so hieß Hatices Freundin bei der ich eigentlich schon gestern am Abend hatte sein wollen. Wie gesagt waren sowohl meine Geduld, als auch meine Fahrpraxis eingerostet und zu wenig asiatisch gelassen. Ich hatte einen halben Tag und eine Nacht Verspätung. Tülin wohnte in einer Siedlung, an der ich mich nicht wagte den Berg weiter aufwärts zu fahren. Die Häuser klebten dort am Fels. Die extrem schmalen Minigassen waren zu steil für meinen Mut. Wie sollte man hier wenden, was war mit Gegenverkehr? Nicht mit mir. Ich suchte mir die zweite Anschrift, die der Universität raus und fuhr dorthin. Inzwischen war ich ja daran gewöhnt, dass die anderen Autofahrer sich vor allem durch Hupen die Vorfahrt erbaten. Erbaten…? Daran hatte ich mich gewöhnt. Was man so gewöhnen nennt. An die anderen Gründe meiner Verkehrsverzweiflung war ich noch nicht gewöhnt. Ich verstand es einfach nicht. Was ich nicht begriff war, woher plötzlich diese Mopeds immer wieder auftauchten. Die Mistdinger mussten von Himmel fallen. Willkommen und zahlreich wie Moskitos mischten die knatternden Zweiräder sich immer wieder zwischen meine Synapsen für Akzeptanz und Aggression. Gegen Mittag dann hatte ich einen Parkplatz erwischt, erkämpft wäre besser, und mit Tülin telefoniert. Sie wollte gleich nach der Vorlesung in das Café des Emirgan Hotels kommen. Das läge dann auf dem Heimweg. Tülin war eine der Koryphäen an der ansässigen Karaelmas Universität, Fakultät für Zahnmedizin. Ihr Englisch war besser als meines, wir hatten uns verstanden. Jetzt hatte ich noch vier Stunden Zeit. Freizeit bedeutete immer, das Gegend erkunden mein Thema war. Gegend hieß in dieser Stadt Hafen. Häfen hatten schon immer etwas von Fernwehtilgung. Auch hier wollte ich den Hafen sehen. Der war leicht zu finden, weil ausgeschildert. Ich fischte meine Decke aus dem Kofferraum und suchte mir ein Plätzchen am nordöstlichen Ende der Mole. Was galt es zu tun? Frau Plitechna griff mir an das Nervenkostüm. Weshalb ging sie mir auf den Keks? Ich entschied wie immer in Sekunden. Mein Telefonino war schon am Ohr. Unwiderruflich. Nach dem vierten Klingeln, also genau zwischen dem „Wird´s bald-Klingeln“ und dem Unhöflich-Klingeln, nahm Sie ab und sprach sofort. Wie sehr sie sich doch freue. Also morgen zum Mittag würde ihr prima passen. Sie stelle sich gern auf meinen Kalender ein. Diesem verbalen Überfall gab ich nach. Sie war so – erfreut. Ich beschrieb ihr einen Ort neben der Universität. Sie solle einfach die zweispurige Küstenstraße entlangfahren und gegenüber der Tankstelle links in Richtung Küste abbiegen. Dort sei ein Felsplateau mit einem kleinen Fischrestaurant, wo ich sie erwarten würde. Kaum, dass ich zugesagt hatte, machte ich mir schon wieder Sorgen. Unterschwellig. Ich war nie eine Entscheiderin. Abwägen, warten, das konnte ich. In der Deckung verharren gelang mir immer. Jetzt entschied ich mich erst einmal für eine Pause. Meine Decke wartete auf meinen Hintern. Ich löste mich aus meinen Gedanken und ging zur Hafenmole. Der Himmel machte mir Freude. Die Aussicht wurde nur durch die Rauchfahne eines riesigen Erzfrachters getrübt. Kinder sprangen von der Mole auf der Hafenseite ins Wasser des Beckens. Angler hielten die Köder auf der anderen Seite ins Schwarze Meer. Ich war satt, ausgeschlafen und unruhig. In Berlin gab es einen Mörder. Ich hatte plötzlich 105.820,90 Euro mehr als mir zustanden und eine Verfolgerin hier in der Türkei. Was war mein Plan? Schritt für Schritt würde mein ehemaliger Klassenleiter jetzt sagen. Prioritätenliste erstellen. Prüfen. Sinffälligkeitsgegencheck und LOS. Dieser Gegencheck hatte mir in meinem Leben einige Ehrenrunden abgenommen. Das zielstrebigere Herangehen an Herausforderungen durch diese Prüfung wird erleichtert. Es kostet Zeit, sicher. Tut man es aber nicht, vergeudet man Zeit – definitiv. Dann konnte es ja morgen losgehen. Heute Abend würde ich mit Tülin die Diskussion zu meinen Forschungen führen dürfen. Morgen dann würde ich sehen ob mein Instinkt noch was taugte. Tülin war der Ausbund von Schönheit. Bis zum unteren Ende Ihres Halses. Ab da gab es eindeutig zu viel Tülin. Eine hellwache Frau. Gepflegt, adrett und schlagfertig. Wir benahmen uns, als wenn wir uns seit Jahren kannten. Sie war dankbar dafür, endlich mal etwas über die türkische Seele, die weibliche türkische Seele sagen zu dürfen. Ich hörte zu. Mit einem wundervollen Singsang ihrer Altstimme erklärte sie mir die Erfolge der Industrie ebenso wie die Misserfolge in der Agrarwirtschaft. Sie sprach von dem neuen Selbstbewusstsein, dem plötzlich globalen Denken der Türken. Die Türkei schaffte gerade die Emanzipation von der Tradition. Tülin sprach allen Ernstes von Aufbruch. Sie berichtete begeistert über die durchweg positiven Veränderungen zwischen den Religionen. Muslime durften wieder Muslime sein. Das war nicht immer so. Und mir war das neu. Mir war neu, dass es für die Muslime erhebliche Restriktionen gegeben hatte. Der berühmte Mustafa Kemal Atatürk hatte sogar den Fez, diese kegelstumpfförmige rote Kopfbedeckung mit dem schwarzen Puschel, verboten. Beschränkungen in der Ausübung der Religionsfreiheit gegen die eigene, ehemalige Staatsreligion. Verdammt, was hatte die Menschheit sich in diesem zwanzigsten Jahrhundert alles gefallen lassen. Etliches Anderes war mir ebenfalls neu. Die Türkei sollte weniger als neun Prozent Arbeitslose haben? Kaum zu glauben, oder? Muslimische Frauen durften mit einem eigenen Selbstverständnis ihrem Glauben frönen? Keine durch Männer dominierte Religion mehr in der Türkei? Also offiziell. Widerstände der Männer gab es zwar immer noch, die aber hatten selbst die Religionshüter nicht mehr hinter sich. Die Menschen in der Türkei waren erwacht. Sei Muslim und sei Geschäftsmann und sei Demokrat. Benimm und verstehe Dich als Weltbürger, als Kosmopolit mit türkischer Seele. Die Mischung machte es. Türken dürfen international selbstbewusst sein! Das gab es vor zwanzig Jahren noch nicht. Dieses türkische Selbstverständnis war neu. Ich war erstaunt und, ehrlich, angenehm überrascht. Jetzt fehlten nur noch die empirischen Fakten. Die Ergebnisse der Studien. Allerdings… Die Studien zu den Kriminalitätsraten hatte sie mir leider nicht mehr rechtzeitig besorgen können. Sie würde jedoch einer Freundin in Ankara Bescheid geben, ja genau die Freundin, die mir Hatice als dortige Ansprechpartnerin genannt hatte. Nezahat, so hieß die Freundin aus Ankara. Die arbeitete inzwischen in einem Ministerium. Innenministerium wohl. Wir verbrachten einen erfüllten, mich emotional stark in Anspruch nehmenden Abend. Es war ein Abend an dem ich in keiner Sekunde das Gesicht Metins vor mir sah. Die Spannung lenkte mich ab. Kein Gedanke an einen Haufen Geld. Oder an diese Verlagstante. Tülin und ich investierten jede Hirnwindung für die Arbeit. Diese Frau war Türkei pur. Nicht sonderlich tolerant, aber auch nicht demagogisch veranlagt. Nach einer verteufelt kurzen Nacht verabschiedeten wir uns. Ehrlich und herzlich. Vermutlich für immer. Genauso ehrlich bedankte ich mich, hatte aber nicht das Gefühl, dass wir Freundinnen geworden waren. Ich hatte schon alles eingekauft was ich brauchte. Auch, nein, gerade für das Treffen mit der Verlagstante. Wovor ich Bammel hatte. So ich es denn stattfinden lassen würde. Verabredet waren wir. Ich bräuchte nur nicht zu erscheinen. Oder mich vor Ort nicht zu zeigen. Ich hatte mir ein Diktiergerät und Pfefferspray gekauft. Soviel stand fest – ich hatte Respekt vor der Situation. Mit dem Diktiergerät wollte ich das Gespräch mitschneiden. Das mit dem Pfefferspray war ein Spontankauf. Ein nicht zu begründender. Ich sah während des Einkaufes auf dem Basar diese Frau vor meinem geistigen Auge und griff diese kleine Sprayflasche. Weshalb? Keine Ahnung. Jeder Kontakt zu der Plitechna war so bizarr. Der erste Kontakt war, hoffentlich, ein Zufall. Sie wirkte so blasiert. Bei den Telefonaten wiederum wurde es geradezu grotesk. Sie entschuldigte sich andauernd, wirkte so schüchtern. Sie drängte sich nicht auf. Als wenn sie auf mich angewiesen wäre. Die Plitechna war unwirklich. Das traf es. Wie ein Mensch der seine Rolle spielt – damals in Babelsberg beim Schminken der Künstler, wenn die noch mal schnell ihren Text durchgingen. Sie sprachen die Texte ohne sich in der Rolle zu befinden. Text ohne Mimik. Worte ohne das dazugehörige Spiel. War sie das, was sie vorgab zu sein? Kurz nach zehn Uhr klingelte es in meiner Tasche. Sie war dran. Sie könne wegen eines Unfalls, nein, ihr selbst sei nichts geschehen, erst gegen ein Uhr am Nachmittag am vereinbarten Ort sein. Na dann! Was mich verwirrte: Sie klang so lieb, so ungeschäftsmäßig. Welch interessantes Wort. Ich würde pünktlich sein. Ich sagte einfach zu. Ich reagierte, als wenn sie mich brauchte. Sie hörte sich an, als wenn sie mich brauchte. Sie nötigte mich nicht, sie bettelte nicht, sie bat – das war besser ausgedrückt, sie bat. Das war ihre Position. Die Position der Frau Plitechna. Weshalb aber, so fragte ich mich, wollte ich die Frau jetzt sehen? Hatte ich meine Meinung wirklich geändert? Das Diktiergerät hatte ich dabei. Die kleine Sprayflasche ließ ich im Auto. Früher gab es für mich nur eine Bezugsperson. Meinen Vater. Das war soweit okay und gleichsam scheiße Er war derjenige, der dafür sorgte, dass ich nie Zielstrebigkeit lernte, sondern nur – nein – nur wäre hier das verkehrte Wort, - lediglich ist besser - also ich lernte lediglich eine in einem tiefen Gerechtigkeitssinn verwurzelte Spontanität. Ich entschied spontan meine Wege und meine Abwege. Vor allem Letztere. Die Kurven und Abzweigungen in meinen Leben - war es mein Leben? Immer hatten doch Andere entschieden. Meine Mutter hatte bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr - bis zwei Tage vor meiner Kommunion nie wirklich in mein Leben eingegriffen. Sie erklärte mir unkompliziert und spielerisch das Wichtigste des Lebens. Wie lügt man? Wie macht man sich selbst einen Orgasmus? Wie geht man Problemen aus dem Weg? Das waren die Wahlpflichtfächer… Die Hauptfächer waren: Was sind Männer? Was macht einen wertvollen Menschen aus? Weshalb gibt es nur wenige wertvolle Männer? Was ist der richtige Weg um sich ein Umfeld zu schaffen, in dem Probleme verwässern? In dieser Disziplin war meine Mutter unschlagbar. Sie war immer nur auf Frieden aus. Niemals Konfrontation. Mein Physiklehrer hätte jetzt folgenden Einwurf: Meine Mutter ging den Weg des geringsten Widerstandes. Wie ein Blitz. Immer durch die dünnsten Luftschichten, dann verlor man am wenigsten Kraft. Ihr Lebensweg war wie ein Blitz. Ständige Richtungswechsel - immer den Schwanz einziehen - nie aufmucken - brav reagieren wie ein Thermometer - nie agieren wie ein Thermostat. Und dann, zwei Tage vor meiner Kommunion, starb meine Mutter. Und schon litt ich wieder. Litt auf des Messers Schneide zwischen Zielstrebigkeit und Spontanität. Dank meines Vaters. Sollte ich ihr, der Plitechna, eine Chance geben? Sollte ich mir eine Chance geben? Dreizehn Uhr und drei Minuten. Von meinem Platz aus konnte ich die Staubfahne einer schwarzen Limousine sehen. Irgendwas Großes. Mercedes, Bentley oder so. Am Fischrestaurant hielt sie an. Und stieg nicht aus. Sie stieg nicht aus? Stattdessen öffnete sich die Fahrertür und ein Mann schälte sich aus dem Sitz. Der ging ums Auto herum, öffnete den Fond und entließ eine bepelzte Dame mit einem roten Wagenrad auf dem Kopf aus dem Wagen. Der Hut war einmalig. Mit Fransen und purpurner Schärpe. Das Ding bot einer Kleinfamilie bei Bedarf Komplettschutz. Eigentlich wollte ich sie nach kurzer Zeit stehen lassen und dieses Kapitel damit hinter mich bringen. Verdammt. Ich konnte meinen Plan nicht umsetzen. Etwas aus dem behüteten, dem wohlig warmen Teil meiner Seele, meiner Vergangenheit, sagte mir, dass es wichtig sei, mich zu öffnen. Ich musste mit ihr reden. Erst einmal. Ich wurde ruhiger. Meine Transpiration regulierte sich… Frau Plitechna erwies sich als ungefährlicher, als ich dachte. Sie schickte den Fahrer weg. Samt ihrer Limousine. Wir waren allein. In dem Restaurant aßen wir lediglich eine Kleinigkeit. Salat mit frischem Fisch. Dann gingen wir am Fuße des Wohngebietes über karges Land. Ihren roten Hut und die, vermutlich echte, Pelzstola hatte sie achtlos in meinen Wagen geworfen. Statusgimmicks nannte sie diese Accessoires. Ich nahm mir vor, meinen Plan im Hinterkopf zu behalten. Den Plan des Rückzugs, so wie meine Mutter es gemacht hätte. Dennoch wollte ich extrem auf der Hut zu sein. Elenea Plitechna hatte ihre Pumps in der Hand und schritt barfuß neben mir über das steinige Plateau. Ohne zu Zucken. Die Frau war zäh. Ich auch. Sie war zwanzig Kilo schwerer und ebenso viele Jahre älter als ich. Meine Schätzung. Eigentlich war sie nicht die Assistenz der Verlagsleitung, sondern die Scouterin des Verlages. Sie hasste es wenn jemand sie „den Scout“ nannte. Sie war kein „den“, sie war eine DIE. Somit war das geklärt. Weshalb sie hier war, wolle sie mir erläutern. Es gab in der Berliner Redaktion einen Redakteur mit griechischen Wurzeln, der sich mit der Migration und dem Rechtsradikalismus beschäftigte. Dem hatte ich mit meiner Doktorarbeit den Rang abgelaufen. Ich war ihm zeitlich zuvorgekommen und fachlich einfach weiter voraus als das Raumschiff Enterprise einem Taschenrechner. Meine Promotion wäre ja gar nicht das Problem des Verlages gewesen, der Zeitpunkt der Veröffentlichung war das Problem. Sein Problem. Elenea, wir waren schon beim Du, hatte Erkundigungen eingezogen, die bestätigten, dass ich von der Veröffentlichung im STERN nichts wusste. Das war wichtig für sie. Dennoch wollte sie sich selbst überzeugen, welche Art von Rechercheurin ich sei. Daher sei sie das erste Mal in Ihrem Leben in solch einen Touristenflieger gestiegen. Ihre Limousine hatte sie extra weg geschickt, damit ich mir keine Sorgen machte. Sie vertraue mir und wolle mir einen Job anbieten. Ja, sie habe tatsächlich einen Termin in Istanbul gehabt, jedoch, nachdem sie mich schon in der Abflughalle des Flughafens in Berlin erkannt hatte, sofort entschieden, dass sie mit mir in Gespräch kommen musste. Also nahm sie nicht ihren eigentlichen Flug. Sie gelangte durch eine willkommene Spende am Counter zu einem Sitzplatz direkt neben mir und war somit zu einem ersten, zufällig-unauffälligen Kontakt zu mir gekommen. Das hatte funktioniert. Und verdammt, es hörte sich ehrlich an. Jetzt wiederholte sie das mit dem Job. Ich solle für die verschiedenen Tageszeitungen und Zeitschriften des Verlages genau zum Thema meiner Doktorarbeit die Fakten liefern. Sie würde mich gut bezahlen und gleichzeitig dafür Sorge tragen, dass der Türke, den ich um eine gewisse Summe Geldes beschissen habe, nicht an mich ran käme. Das saß. Sie wusste es. Sie wusste von dem Sportwettenschein? Verdammt, wer war die Frau? Zwei Stunden später - ich durfte wirklich alle Fragen stellen - war ich schlauer. Die Polizeireporter des Verlages hatten den Zusammenhang hergestellt, zu dem die Polizei in Berlin nicht in der Lage war. Der Überfall in meinem Büro - der Einbruch in meine Wohnung - Metins Leiche. So einfach konnte Polizeiarbeit sein. Hätte sein können. Für die Berliner Polizei. Elenea Plitechna gehörten seit dem Tod ihres Vaters dreiunddreißig und ein halbes Prozent des gesamten Verlages. Sie sorgte nur für Nachschub an loyalen, fleißigen Mitarbeitern und eventuell zwang sie den einzelnen Zeitungen mal Themen auf. Ansonsten interessierte sie nur, wie man einen ordentlichen Martini mixte. Und Whisky. Sie wusste, was meinen Fall betraf, über Informanten nur, dass der große türkische Unbekannte rasend sauer auf mich war. Es ginge um einen Haufen Geld. Wie viel Geld genau oder wie ich das angestellt hatte, war ihr egal. Sie wusste also nur, dass da was geschehen war, nicht aber wie ich in das Geld gekommen war. Sie wollte zwei Zusicherungen von mir. Erstens: sie wollte in die Hand die Zusage, dass ich keinen Menschen getötet hatte. Die erhielt sie. Lange blickte sie mir tief in die Augen. Sie nahm es sehr ernst. Sie glaubte mir. Offensichtlich. Zweitens, ebenfalls in die Hand: Ich würde die Erkenntnisse aus meinen Recherchen nur ihr persönlich zur Verfügung stellen. Ich überlegte. Lange. Elenea saß in ihrem gerafften Abendkleid neben mir auf von Flechten überzogenen Felsen und ließ mich in Ruhe. Langsam neigte sie sich nach hinten und legte sich einfach hin. Ihre Pumps als Kopfkissen nutzend. Die zweite Zusage erhielt sie nicht. Weshalb nicht? Ich erzählte ihr - ich weiß nicht weshalb - von Metin. Vieles erzählte ich, nicht alles. Fast alles. Sie rührte sich nicht, hörte nur zu. Das tat gut. Neben dem Heultelefonat mit Heidi war sie, Elenea, die erste Frau der ich von Metin erzählte. Der erste Mensch überhaupt. Wie gern hätte ich jetzt geheult. Die Sonne brüllte auf uns herab und der denkbar langweiligste Himmel lag in sanftem, unechtem Blau über uns. Keine Wolke war zu sehen. Wie gesagt, langweilig. Touristenhimmel. Das Schönste an einem Himmel waren für mich immer die Wolken. Keine Seele konnte Wolken fangen. Nicht einmal malen konnte man Wolken. Diese stete Veränderung regte mich schon immer an. Mein Zugang zur Hausdachterrasse in Berlin war mein Bett an Tagen der Wolkenwanderungen über Berlin. An solchen Tagen pustete ich meine Seele frei. Wie lange musste ich wohl noch warten, bevor ich einen solchen Tag wieder geschenkt bekam? Meine Gedanken waren weg. Elenea. Sie bat mich darum, mir helfen zu dürfen. Wobei? Es dauerte mehrere zehn Sekunden bis die Antwort kam. Sie richtete sich langsam wieder auf und blickte weiterhin in die Ferne. Ihr Kleid war vom Wind hochgerutscht. Die Frau hatte tiefdunkle Krampfadern an beiden Beinen. Die aufwendige Frisur war im Liegen verrutscht. Ich erblickte die schönsten Ohrmuscheln die ich je gesehen hatte. Sie wolle mir beim Erreichen meiner Ziele helfen. Ich müsse nur definieren, was meine Ziele seien. Sie vertraue mir. Was waren meine Ziele? Erst einmal wollte ich durch die Türkei reisen und mir einen möglichst kompletten Eindruck von der Richtigkeit meiner Forschungsergebnisse machen. Wenn meine Forschungsergebnisse nicht stimmten, dann hätte ich eine neue Aufgabe. Das sagte ich ihr. Sie griff meine Hand. Unsere erste Berührung. Ein warmes, ehrliches Gefühl durchströmte mich. Sie bestätigte meine Ziele und setzte ein Ziel obenauf. Leben. Ich solle auf mein Leben achten, denn ich übersähe einen Aspekt. Ihr sei komplett egal, wie viel Geld ich dem Fremden mit welcher Methode abgenommen habe. Der jedoch wolle das Geld zurück. Sie wolle nur meine fachliche Kompetenz. Er wolle eventuell mein Leben. Der Mann hatte vermutlich schon getötet. Eventuell bewusst, absichtlich getötet. Ich wusste, dass Elenea mich zu finden wusste. Sie strahlte eine Macht aus, die widerstandlos machte. Hatte ich Angst? Verdammt, selbstverständlich hatte ich Angst. Ich war nicht cool, ich war vielleicht abgeklärter als manch anderer Mensch – kaltblütiger auch nicht, nein, stoischer eher. Ja, stoischer und dickköpfiger. Das würde mein Vater sofort unterschreiben. Liska = Dickkopf. Und noch etwas hätte der Alte unterschrieben. Dass ich kein Selbstbewusstsein hätte. Ich wusste genau, worin ich wirklich gut war. Allerdings hatte mein Vater genau diesen Asp
ekt derartig intensiv von der gegenüberliegenden Seite beleuchtet, dass mir mit Schmerzen gründlicher bewusst war, was ich alles nicht konnte. Er lobte nicht die guten, förderungswürdigen Leistungen, sondern zeigte mir immer nur meine Makel auf.
Weshalb hast du denn im Hochsprung nur eine 3 bekommen? - Weil ich nur zweimal im Schulsport trainieren durfte und mit meinen vierzehn Jahren lediglich 1,46 groß bin. Woran liegt es denn nur, dass deine Leistungen in Mathe und Physik nie über eine knappe 2 hinaus kommen, du aber in Geschichte und Literatur auf einer 1,0 stehst? - Weil mir das in den Schoß fällt, mich interessiert, mein Leben sein wird. Was ist nur mit Dir los? Du bringst eine 3 in Bio mit, obwohl du mir versprochen hast, gelernt zu haben. - Weil Biologie mich einfach nicht interessiert. Mir fehlte ein halber Punkt an der 2. Und ich habe gelernt. Allein gelernt, weil du mich ja nicht mal abhören willst. Diese ewigen Vorwürfe gingen genau eine Woche nach meiner Kommunion los. Neun Tage nach dem Tod meiner Mutter. Als mein Vater mit der Nachricht aus der Klinik kam, nahm er mich in den Arm. Liebevoll. Auch ich nahm ihn liebevoll in den Arm. Zum letzten Mal in meinem Leben. Mein Vater war eine Woche lang betrunken. Die Briefe mit den Sterbeurkunden an die Versicherungen und das Sozialamt hatte ich geschrieben. Unter Mithilfe einer entfernt verwandten Tante abgesandt. Er wäre nicht dazu in der Lage gewesen. Bei der Kommunionsfeier, dem öffentlichen Teil, riss er sich zusammen. Im Kreis der Familie kotze er sich aus. Im Sinne des Wortes. Mutters Lebensversicherung zahlte eine Summe, die uns einen VW Käfer finanzierte. Unser erstes Familienauto. Das Auto gibt es heute noch. Es steht in der Garage am Althoffplatz in Berlin Steglitz. In der Gegend hatte ich meine erste Berliner Wohnung. Mittelstand. Straßen mit Bäumen. Eine Post, die wie ein Grafenschloss aussieht, vor allem im Winter, wenn so richtig Schnee liegt. Die Wohnung im Hochparterre hatte mehr als sechzig Quadratmeter. Mein Vater zahlte die Miete unter der Bedingung, dass ich arbeiten ging und untervermietete. Vierzig Quadratmeter der Wohnung davon brauchte ich nicht. Also gehorchte ich und vermietete das größte Zimmer, das mit dem separaten Hofeingang, an Studenten. Die sollten mir, das war Vaters Hoffnung, beim Lernen helfen. Bei jeder Mietzahlung folgte der obligatorische Anruf, immer gab es die identische Leier. Die Studenten verstanden mich und halfen mir beim Verschleiern meiner Lernerfolge und vor allem meiner Misserfolge. Ich verschwieg ihm irgendwann die Zensuren, weil ich eh kein Lob zu erwarten hatte. Die vier Jahre mit den Studenten unter meinem Dach lehrten mich viel. Die Hauptfächer waren koksen, kiffen, saufen, onanieren und vor allem debattieren. Darin war ich am besten. Ich konnte mich auf das Niveau meiner Gesprächspartner einstellen. Ohne herablassend zu sein, darin war ich spitze. Hatten die anderen weniger Ahnung, nahm ich sie mit zu meinen Erkenntnissen, zu meinen Fakten. Waren die Anderen mehr im Thema als ich, stand ich dazu. Ich bekannte offen, keine Ahnung zu haben. Diese Blöße zu zeigen sorgte sofort und immer dafür, dass jetzt ich an die Hand genommen wurde, um zu den Erleuchtungen der Anderen geführt zu werden. Das machte ich dann in der zehnten Klasse mal mit meinem Physiklehrer. Ich erklärte ihm frank und frei, dass ich nicht verstünde, was er mich jetzt gerade zu lehren gedenke. Seine Herangehensweise sei nicht der Weg, auf dem ich ihn verstünde. Meine Klassensprecherin war völlig fertig, der Lehrer musste sich setzen, mein Banknachbar starrte mich nur an. Ich hatte nicht die Variante Beschiss, also Abschreiben oder Menstruation vortäuschen, gewählt. Ich hatte mich nicht für Schauspielerei und Betrug entschieden. Ich stand einfach dazu, dass ich kein Wort verstand! Was niemand verstand. Meine Klassenleiterin war konsterniert, das hätte sie noch nie erlebt. Mein Vater musste zu einem Lehrergespräch. Aus dem wunderschönen, so verhassten Örtchen Brechen im Taunus, nach Berlin. Alle hatten mich falsch verstanden. Jeder Lehrer, auch mein Klassenlehrer. Jeder dachte, ich hätte den Lehrer angreifen wollen, weil dessen Lehrmethodik mir zu blöd war. Diese Betonschädel. Ich hielt es damals und halte es auch heute noch für völlig normal, meinem Ausbilder sagen zu dürfen, wenn er mich nicht erreicht. Es gibt immer mehrere methodische Ansätze wie man etwas erlernen kann. Ich wollte eben nicht über das Eintrichtern von Fakten gelehrt bekommen. Zumindest nicht in meinen miserableren Unterrichtsfächern. Mir schwebte ein gemeinsames Erarbeiten vor. Lernen mit Anfassen, mit Beispielen, mit Erfahren, mit Fragen stellen dürfen, mit beim Lernen auf die Fresse fallen und damit den besseren Weg zur Lösung zu finden. Dieser bessere Weg ist für den Einen das pure Pauken, für den Nächsten aber das Erfassen, Erfühlen - das Erkennen – das Begreifen durch das begreifen. Ich erfuhr es bei meinem ersten Erkennen meines Körpers. Berichte mal über einen Orgasmus, wenn du noch keinen hattest? Mach Dir einen und erkenne Dich selbst. Ist ein klasse Vergleich, allein die Lorbeeren gehören nicht mir, sondern einer Studentin aus Belgien die drei Monate bei uns wohnte. Dann zog sie aus, weil mein Vater ihr während eines längeren Besuches, er hatte Urlaub, nachstellte. Danke Papa. Was ich jetzt, hier auf einem Felsen in der Türkei, von Dr. Liska Wollke, von mir selbst erwartete? Tja, was wollte ich? Mein Leben wollte ich zurück, meine Forschung, meine Freiheit, mein egoistisches, eingeigeltes Ich. Und das Geld behalten wollte ich. War das Alles? Ja! Was erwartete ich jetzt von ihr, von Elenea Plitechna? Nur Bedenkzeit wollte ich. Mehr nicht. Sie schwieg. Ich schwieg und dachte an nichts. Die Denkschwaden aus Verwirrung und Egozentrik in meinem Schädel lichteten sich. Ich schloss die Augen – wollte nur denken. Es hatte gut getan mit ihr zu sprechen. Fakt 1. Fakt 2: sie bot mir einen Job an, der genau auf meiner Wellenlänge lag. Der mir sogar alle denkbaren Freiheiten ließ. Fakt 3: ich kannte die Frau nicht. Nummer 4? Mein Ego sagte Nein. Ein langes, lautes Ausatmen meinerseits ließ sie aufhorchen. Sie richtete sich auf. Sah mich an. Tiefblaue Augen, warme Augen. Ehrliche Augen? Ich wusste es nicht. Wieder atmete ich laut aus. Sie reagierte nicht darauf, sah mich nur an. Sie legte sich, nach einem langen Blick in meine Augen, wieder hin. Ich wollte ihre Frage nicht beantworten, ihr nicht die Einwilligung geben, dass all meine Erkenntnisse nur ihr zur Verfügung standen. Wer jetzt als Erster sprach, hatte diese wortlose Diskussion verloren. Sie lag mit geschlossenen Augen neben mir. Der Wind wehte ihr das Haar vom rechten Ohr. Fantastische Ohren.
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