Читать книгу Traurige Strände - A.B. Exner - Страница 7
ОглавлениеEUGEN BÖTTCHER
Mein Gott.
Auf diese Frau aufzupassen hatte was Spezielles.
Sie nervte, sie tappte in Fallen, war nicht beziehungsfähig und extrem von sich eingenommen – egal wie sie sich selbst zu beschreiben pflegte.
Sie war schlau und klug. Eine Konstellation, die selten genug vorkommt.
Jedoch reduzierte sie ihre Klugheit auf den Job und die Schläue auf ihr privates Gehabe.
„Leben“, will ich diese ewige Suche nach dem Sinn des eigenen Daseins nicht nennen.
Sie ließ sich immer wieder ein. Auf was auch immer.
Ihr Gehirn signalisierte bei allem was sie tat stets zu früh Entwarnung.
Selbst wenn sie sich direkt vor ihrer Stammkneipe mit einem Kerl prügelte, was ich wohl ein Dutzend Mal erlebt hatte, war sie immer der Meinung zu gewinnen. Sie kannte dann keine Scheu.
Nur dann. Ob der Alkohol, von dem einiges in diese kleine Frau reinpasste, eine Rolle spielte, war nicht klar.
Was deutlich wurde, immer wieder, war, dass sie sich nüchtern eher zurückzog, ihren Weltschmerz pflegte – auch mit Alkohol, womit dann die andere Liska Wollke wieder zum Vorschein kam.
Ein Teufelskreis?
Liska Jekill und Wollke Hyde?
Ich wusste es nicht.
Hätten die Typen, mit denen sie sich schlug, ernst gemacht, dann hätte Frau Doktor als Fleischsalat mit zu hohem Alkoholgehalt in der Pathologie geendet. Dass diese Männer aber nie ernst machten, begriff sie nicht.
Selbst in ihrem Boxclub in der, wie sollte es anders sein, Boxhagener Straße, war sie verschrien als üble Draufgängerin, die nie sportlich fair blieb.
Genau deshalb wurde sie dort geduldet.
Sie war das Extrem, das Besondere, der sportlich nicht kalkulierbare Gegner.
Dieses durch mich eher verachtete Wesen hatte ich zu überwachen. Permanent.
Liska Wolke hatte vor Jahren einen ersten Kontakt zum Finanzamt. Damals musste sie ihre Steuern zum ersten Mal abrechnen. Was sie auf eine Art und Weise tat, wie sie alles tat.
Sie ging mit allen Unterlagen, Verträgen, Quittungen und was sich da sonst noch so anhäuft ins Finanzamt Berlin Steglitz. Dort entleerte sie die vier Schuhkartons auf dem Tisch des Sachbearbeiters.
Sodann kam die typische Liska Wollke Nummer.
„Bitte helfen sie mir…“
„Ich kenn mich doch nicht aus…“
„Er hat mich verlassen…“
„Mein Vater schuldet mir noch so viel Geld…“
„Es ist das allererste Mal…“
Weshalb Metin damals darauf ansprang, wird er nicht mehr berichten können.
Laut den Ermittlungsakten hatten die beiden in der folgenden Nacht Sex und Liska Wollke nie wieder Probleme mit ihrer Steuererklärung.
Die Sinnfälligkeit der offensichtlich hormonell gesteuerten Vereinbarung der Beiden passte prima in das Gesamtkonzept, sowohl in das von Liska, als auch in das von Metin.
Es gibt zwei Arten für Licht zu sorgen, man kann die Kerze sein, oder der Spiegel der das Licht reflektiert. Das sagte Edith Warton, die Spötterin der oberen Gesellschaftsklassen. Sie sagte dies vor etwa einhundert Jahren.
In jedem Fall war in der Beziehung der Beiden zu Observierenden Liska die Kerze und Metin der alte Taschenspiegel.
In seinem eigentlichen Job aber war Metin definitiv der Flakscheinwerfer.
Und jetzt spreche ich nicht von seiner Tätigkeit im Finanzamt.
Er hatte noch einen anderen, seinen Hauptjob.
Er war derjenige, an dem ich mir die Zähne ausbiss.
An einem blassen Sonntagmorgen konnte ich von meiner Wohnung aus wieder mal die wunderbaren Brüste von Liska sehen, als sie sich aus dem Fenster beugte.
Sie hatte mich am Abend vorher, wie so oft, in der „stadtgöre“ beschimpft.
Als Dekolletéchecker.
Ich liebe Alkohol – aber er mich nicht.
Somit riss ich mich, schon allein, weil ich auf Liska aufzupassen hatte, an diesem Abend wieder einmal zusammen und trank nur Radler. Ich hatte eben Bereitschaft.
Wenige Minuten bevor die Beiden Metins Wohnung erreichten, waren meine drei Bildschirme schon warmgelaufen.
Das was Metin dann als Sex mit Liska zelebrierte, hätte man zehn Minuten vor dem Sandmann senden können und nicht einmal aus Bayern hätten empörte Eltern angerufen. Naja…
Die folgenden Stunden des Sonntagnachmittags waren recht ruhig.
Am Abend dann hatte Metin den entscheidenden, sein Leben beendenden Besuch.
Die Aufnahmen waren eindeutig. Es war ein Unfall. Noch dazu von Metin selbst verschuldet.
Er war einfach saudumm gestürzt, wenn auch aus Angst. Etwa dreißig Minuten nachdem die Wohnungstür wie von der Kraft eines Panzers aufgebrochen wurde.
Metins Besucher war mindestens einen Meter und fünfundneunzig hoch. Im Bereich der Schultern verfügte er über eine erstaunliche Breite. Der Typ sah einfach nur blöde aus. Als er den Mund aufmachte, gab er Bemerkungen von sich, die das Bildungsproblem unseres Landes offenbarten.
Was auch die Tonspur des Videos bewies.
Er war, auch nach mehrmaligem Abhören dessen was er als Audio hinterließ, ein miserabel integrierter Landsmann Metins, hätte unser Innenminister jetzt resümiert. Allerdings wusste ich es besser als der Herr Minister. Der Typ hieß Xetar Gulper und war Polizist. Er ermittelte gegen seine eigenen Leute, gegen Türken. Er war kein deutscher Polizist.
Sofort wandte sich Xetar Gulper der Küche zu, ging zu einer an der Speisekammertür hängenden Pinnwand.
Nach der Zerstörung der Pinnwand war er – wie soll ich es ausdrücken - sichtlich sauer.
Er nahm sich Metin zur Brust, wollte wissen, wer seine Pinnwand habe. Metin, das belegten die Bilder aus unserer Überwachung eindeutig, flüchtete ins Schlafzimmer. Der Große war ebenso schnell. Es kam zum offensichtlichen Streit um Metins Handy. Dieses Intermezzo endete darin, dass der Besucher offensichtlich die Wahlwiederholungstaste drückte. So präzis sind unsere Kameras inzwischen. Ich amüsiere mich immer wie das Fernsehen die Zuschauer auf den Arm nimmt, wenn denen irgendwelche Grautonbilder im Tatort oder Polizeiruf 110 angeboten werden. Metin flüchtete sich aus dem Zimmer ins Klo und trat auf die Haarbürste, die Liska wohl hatte fallen lassen. Er erschrak, rutschte weg und schlug mit dem Kopf erst auf die Kante des Waschbeckens, dann auf den Rand der Duschwanne. Der Ton des Aufpralls kulminierte in einem Geräusch, welches einem erst richtig Angst einjagte, wenn man es ohne die Videobilder „genoss“. Nur Ton. Ich kannte das Geräusch, wenn ein Schädel birst. Aus eigenen Erleben. Der Große besah sich die Situation, tastete an Metins Halsschlagader herum. Offensichtlich erfolglos. Dann hob er die Bürste auf, legte diese auf den Rand des marmornen Waschbeckens und verließ die Wohnung. Da der Mann kein Mörder war, überließ ich dessen Observation meinen Kollegen. Jetzt also kam mein Auftritt – Liska war zu schützen. Das war mein Job. Unser Job. Ich verließ meine Observationswohnung und ging über die Straße. Kein Mensch war zu sehen. Meine zugeschaltete Handyapplikation bewies mir, dass die Wohnung inzwischen keine neuen Besucher hatte. In keinem Raum. Zuerst sicherte ich die Fingerabdrücke auf der Haarbürste. Liskas daktyloskopische Abdrücke hatten wir. Jetzt auch die von dem Hünen, von Xetar, der Metin in den Unfall trieb. Dann kam die richtige Arbeit. Metins Leichnam auf den Balkon zu wuchten war schwer. Noch schwerer war, sich im Waschprogramm seiner Waschmaschine zu Recht zu finden. Mit Blut beschmutzte Laken immer erst mit kaltem Wasser per Hand ordentlich durchspülen und dann in einem möglichst wenigstens 60° Programm komplett durchwaschen. Ich war bestimmt zum hundertsten Mal in dieser Wohnung. Wieder suchte ich nach Informationen. Nach Akten, nach Anhaltspunkten. In seinem Büro hatten wir nichts entdecken können. Wir wussten, dass sie es taten. Wir ahnten wie. Wir hatten keine Beweise. Nach fast zwei erfolglosen Suchstunden war die Waschmaschine fertig. Das Laken konnte zum Trocknen auf den Balkon. Neben Metins letztes Lager. Vorletztes. Ich tauschte die Haarbürste, die Liska benutzt hatte, gegen eine andere, die ich im Flurspind fand. Nach meiner Erinnerung waren keine weiteren, offensichtlichen DNA Spuren von Liska in der Wohnung. Die normalen Fingerabdrücke ließen sich durch Liska sicherlich leichter erklären, als Menstruationsblut auf dem letzten Laken des Opfers. Warum tat ich das? Die Spur zu Liska Wollke hätte unsere Polizisten nur abgelenkt. Was könnte ich hier noch tun. Ich hatte ein Verbrechen absichtlich vorgetäuscht, um die Mittelsmänner Metins unter Druck zu halten. Hatte, obwohl es mich anstank, so gut es eben ging, Liska aus der ganzen Chose rausgehalten. Mehr durfte ich nicht tun. Spuren zu verwischen hieße, die Normalbullen auf Fährten zu locken. Das galt es zu vermeiden. Es wurde Montag. Ich erwartete Liska. Ich wusste aus drei Gründen, dass sie hierher kommen würde. Sie wurde durch Xetar mehrfach von Metins Handy aus angerufen. Liska musste aber davon ausgehen, dass die Anrufe von Metin waren. Das war der erste Grund. Zum weiteren hatte ich im Gefühl, dass Liska kommen würde. Das war zumindest für mich der offensichtlichste Grund. Drittens: Meine Kollegen kündigten sie soeben an. Ich wollte wissen, was sie eventuell wusste. Wenn Liska Wollke Komplizin war, dann würde sie sich genau jetzt verraten. Sofort war ihr klar, dass die Tür aufgebrochen worden war. Sie warf einen Schuh in die Wohnung – weshalb auch immer. Was sie auf den Balkon lockte, weiß ich nicht. Als sie den Leichnam Metins entdeckte, blieb sie erstaunlich ruhig. Das Laken begutachtete sie mit einem erleichterten Lächeln. Dann ging sie sehr zielstrebig vor. Ich konnte sehen, dass sie die Haarbürste und die Zahnbürste mitnahm. Das Weshalb war offensichtlich. Liska verließ die Wohnung. Sie hatte nichts gesucht, keine Geheimfächer geöffnet, den Computer im Schlafzimmer nicht eines Blickes gewürdigt. Meines Erachtens war diese nervige Person damit entlastet. Die Kollegin der Observation sollte mir melden, wenn Liska weit genug von der Wohnung entfernt war. Sieben Minuten nach dieser Meldung betraten wir zu fünft die Wohnung, um unsere Überwachung zu deinstallieren. Acht Kameras und doppelt so viele Mikros. Nach weniger als einer Viertelstunde waren wir wieder draußen. Den Computer ließen wir in Ruhe, die Daten hatten wir uns sowieso permanent gespiegelt. Immer wenn der Kollege Finanzbeamte seine Wohnung verließ, holten wir uns seine Daten. Er war unter metin.berlin@web.de für seine Kumpels und unter metin.guerduek@web.de für die seriösen Kontakte erreichbar. Er versandte an fleißigen Tagen mehr als zwanzig Mails. An Kumpels in die Heimat und in Berlin. Nirgends sonst kannte er Menschen. Was uns nicht wenig erstaunte: die komplette Buchhaltung für zwei Sektionen des türkischen Sportverbandes von Berlin lag in seiner Hand. Ehrenamtlich. Absolut seriöse Abrechnungen. Alles Sauber. Wir hatten dies sofort geprüft. Hätte ich ihn nur verhören dürfen. Eigentlich hatte ich Metin immer den Rest geben wollen. Schade, dass eine Haarbürste dazwischen kam. Seit Jahren beschattete ich Metin Gürdük und dessen Machenschaften. Ich wusste wonach ich fragen hätte wollen. Allein, ich durfte nicht. Ich verließ die Wohnung als Letzter. Die Einbruchspuren an der Tür waren offensichtlich. Wir ließen es dabei. Dann bestellten meine Kollegen einen Paketboten für den Montagabend in die Wohnung. Somit würde dann die Leiche schon mal gefunden, weil der Bote einer unserer Gehaltsempfänger war. Wenn auch nicht gerade auf Vierhundert-Euro-Basis. Eher weniger. Opa Beyer signalisierte mir durch einen verkehrt herum liegenden Fußabtreter, dass ich willkommen sei. Das Wort ENTER auf eben diesem Rosshaarfußabtreter war von seiner Tür aus zu lesen, für den Besucher stand die Nachricht auf dem Kopf. Natürlich hatte er mich vorher einfach auf meinem Handy angerufen. Aber dieser kleine konspirative Spleen - wie der mit der Fußmatte - war ihm eben nicht zu nehmen. Er wollte mir Informationen über den Herren liefern, der bereits zweimal in Liska Wollkes Wohnung eingestiegen war. Der alte, dennoch unglaublich vitale Mann, machte sich echte Sorgen. Die Einbrüche mussten Gründe haben, die so ein Vorgehen rechtfertigten. Da hatte der alte Nachbar unbedingt recht. Auch ihn mochte ich nicht, er war so makellos. Aber zurück zu meiner Arbeit. Warum bricht Xetar Gulper zweimal in die Wohnung von der Wollke ein. Wie viel Schuld lädt man sich für welch einen Gegenwert auf? Wie viel ist ein Menschenleben wert? Wie viel Zeit im Gefängnis zu verbringen riskiert man wofür? Natürlich musste er, wie mit Liska Wollke abgesprochen, die Polizei informieren. Selbstredend aber hatte Opa Beyer nicht sofort die uniformierte Truppe gerufen sondern sich vorher direkt bei mir gemeldet. Dass alle „Opa“ zu ihm sagten, war ihm Recht. Es hatte sich seit wir ihn zwei Jahre nach der Wende kennen gelernt hatten, so eingebürgert. Die Überwachungseinrichtungen in Liskas Wohnung offenbarten ein Leben in mich verwirrender Offenheit. Dieses Empfinden präziser zu beschreiben würde in freizügigen Stilmitteln ausarten. Noch nicht in pornographischen Stilmitteln, jedoch, viel fehlte nicht. Mit unserem Fall hatte dies alles nur als Nebenschauplatz zu tun. Liska Wollke war in etwas rein gerutscht, was sie selbst nie bemerkte. Ihre Naivität war einfach Schwindel erregend. Sie war der festen Überzeugung, ihr Leben im Griff zu haben. Sie hatte aber nur einen Griff in der Hand – nicht mehr. An diesem Griff hing nichts weiter. Ohne ihren Professor, ohne ihre Studenten und letztlich ohne mich, wäre Liska schon längst…? Ja, wo würde sie sein? Sie hatte nicht mal Freunde. Metin hatte sie nur aus einer durch ihre Faulheit provozierten Notsituation kennen gelernt. Mit einer gewissen Zielstrebigkeit, zugegeben, dennoch hätte es auch gereicht, einfach die Steuererklärung selbst auszufüllen. Sogar ihre Freundin Heidi aus der Knaakstraße 14 war eine meiner Kolleginnen. Wir setzten Heidi auf Liska Wollke an, weil wir uns einfach nicht vorstellen konnten, dass Liska keinerlei Menschen in Ihrem Umfeld zum Freund hatte. Alle meine Kollegen vermuteten dahinter eine Legende. Wir mussten davon ausgehen, dass es Liska Wollke so nicht gab, sondern dass es sich um eine konstruierte Person mit erdachter Historie handelte. Wir sollten falsch liegen. So erstaunlich es uns vorkam. Wir mussten den Kontakt zu Metin aber sichern, sollte heißen, wir benötigten eine Kontaktperson in Liskas Nähe, besser aus dem direkten Umfeld. Über einen Tipp der psychologischen Beraterin unserer Abteilung, kamen wir an Opa Beyer ran. Beide, Beyer und unsere Psychologin waren in derselben evangelischen Gemeinde in Berlin organisiert. In der Paul-Gerhardt-Kirche in der Wisbyer Straße im Prenzlauer Berg. Sofort erklärte er sich bereit, zu helfen. Seine Geschichte war nicht nur in der Kirchengemeinde bekannt. Der alte Nachbar hatte eine freundschaftliche Beziehung zu Liska aufbauen können, die schnell durch Vertrauen und sogar Zutrauen gekrönt wurde. Er würde dieses Vertrauen niemals enttäuschen, soviel stand fest. Deshalb hatte Opa Beyer Liska Wollke auch nur beaufsichtigt, und niemals die Ergebnisse seiner Überwachung einsehen wollen. Was mir als Leiter dieser Observation durchaus in die Karten spielte. Opa Beyer war einer der sechs Verantwortlichen aus der evangelischen Gemeinde, die zu DDR-Zeiten Regimegegner versteckten und dabei nicht auf die Konfession achteten. Soweit zu der evangelischen Glaubensgemeinde. Katholische Denkperioden dauern etwa fünfhundert Jahre. Nicht aber, wenn sich diese in einem sozialistischen Staat befinden. Dann sind die wirklich flexibel. Und kooperativ. Auch ökumenisch. Die katholischen Feinde des Sozialismus hatten in der Sankt-Augustinus-Kirche in der Dänenstraße ihren Anlaufpunkt und die evangelischen in der schon erwähnten Kirche, in die auch Opa Beyer immer ging. Konfessionslose wurden in den geheimen Wohnungen und in einem kleinen Versammlungsraum im Dachgeschoß des Schwimmbades in der Oderberger Straße betreut. Von den sechs Freiwilligen wurde anerkennenswert gute Arbeit geleistet. Diese sechs, drei Männer und drei Frauen, waren die Verantwortlichen für den Stadtbezirk Prenzlauer Berg. Sie sorgten für Unterkunft, wo auch immer, besorgten Verpflegung und organisierten sowohl Kleidung als auch Verkleidung. Damit waren diese Christen direkte Gegenspieler des Inlandsgeheimdienstes und der Polizei. Zwei der Frauen wurden durch Lockvögel verraten. Beide saßen einige Zeit im Gefängnis. Eine erlag vor der Wende einem Herzanfall, die andere, zwei Jahre später, einem Schlaganfall, an dem Tag, als die Ostdeutschen zum ersten Mal frei wählen konnten. Zwei der Männer starben wenige Jahre vor dem Zerfall des sozialistischen Experiments auf deutschem Boden. Die dritte Frau heiratete einen Pfarrer aus der Bundesrepublik und verließ die DDR im Herbst 1988. Opa Beyer blieb. Er war einer der Sieger. Er hatte den Sozialismus auf dessen eigenen Territorium besiegt. Zwei Monate vor dem Mauerfall betreute er sechsundzwanzig Menschen in sechsundzwanzig Wohnungen. Diese geheimen Unterschlupfunterkünfte stammten teils von Künstlern, größtenteils aber von Menschen, die einfach nur unzufrieden mit der sozialen Situation waren. Eine Mammutaufgabe für einen alten Mann wie Opa Beyer. Er wurde nie enttarnt. Sein direkter Gegner wohnte, ohne es zu ahnen, nur zwei Hausnummern weiter. Nach der Wende lernten sich die beiden bei einer Podiumsveranstaltung in der Kulturbrauerei kennen. Das Ganze fand ungefähr drei Jahre nach dem Fall der Mauer statt. Im Stadtbezirk Prenzlauer Berg, in dem früher, zu sozialistischen Zeiten, die meisten Nichtwähler wohnten, waren gerade eben die meisten Stimmen für die PDS in Berlin abgegeben worden. Das interessierte die Welt, die Politik und die Anwohner. Wie konnte es dazu kommen? Im Publikum saßen freie Bürger, die verschiedene Vergangenheiten erlebt hatten. Ein geringerer Teil war der DDR sehr verbunden gewesen. Ein nicht größerer Teil der Anwesenden gehörte zur schweigenden Masse, deren Träume einfach in den vorgezeichneten Wegen der Parteifunktionäre vergilbten. Das Gros der Zuschauer jedoch wollte einfach nur Klarheit. Diese Menschen hatten Fragen. Wie war das mit den kleinen Mitarbeitern und Strukturen der Überwachung in Berlin? Welche Rolle spielten diese Seilschaften in der heutigen Zeit? Weshalb wusste man mehr als drei Jahre nach dem Fall des Systems so wenig darüber? So hatte jeder der Protagonisten auf der Bühne seine kleine Anhängerschar. Der Spitzel des Inlandsgeheimdienstes, der zu seiner Vergangenheit stand, wurde gefragt, wie er mit seiner Aufgabe umgegangen sei? Wie er mit Lügen, Schnüffeln und Hintergehen umgehen konnte? Das wären ja alles Befehle und das System gab ihm so einen Job und die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Macht. Zumal jeder Staat seine Systeme überwache. Was er getan habe, sei ganz normal gewesen. Das mit den Lügen aber könne er nicht verstehen, weil er immer die Wahrheit über die zu überwachenden Personen gesagt und weiter gegeben habe. Er sei sich keiner Schuld bewusst. Das System habe es so verlangt und immerhin habe das ja auch vierzig Jahre lang funktioniert. Das allein gebe ihm doch wohl schon Recht. Er habe nie gelogen. In aller Spitzfindigkeit, um von sich selbst abzulenken, leitete er die Frage nach der Lüge und damit an der Mitschuld des Nichtfunktionierens des Sozialismus, an Opa Beyer weiter. Die Anhänger des Gruppenleiters der informellen Mitarbeiter des Staatsicherheitsdienstes im Publikum setzen sich aufrechter hin. Sollte das Verbalgemetzel jetzt beginnen? Opa Beyer wurde also gefragt, wie er als Christ, als gläubiger Mensch zur Lüge stand. Im Auditorium zog sich ein unmutiges Raunen durch die Reihen. Durch alle Reihen. Offensichtlich waren die Reihen der Anhänger von Opa Beyer dichter geschlossen als die der Fans der ehemaligen Kontrollorgane der DDR. Opa Beyer griff nach seinem Glas, räusperte sich, sah seinem Gegenüber tief in die Augen und antwortete konzentriert ins Mikrofon: „Lügen ist nur dann ein Laster, wenn es Böses stiftet, dagegen eine sehr große Tugend, wenn dadurch Gutes bewirkt wird.“ Dann trank er einen Schluck, stellte sein Glas ab und wandte den Blick ins Auditorium. Dieses erwartete offensichtlich noch eine Erklärung, einen Nachsatz, kurz, er wollte Kontext! Die Reaktion allerdings kam von seinem ehemaligen Gegner. „Das ist doch wieder typisch, die Christen dürfen sich alles so zurechtlegen, wie sie es brauchen.“ Weißer Geifer sammelte sich in den Mundwinkeln. Die Augen stierten in Richtung der mehr als zweihundert Personen im Zuschauerraum. Dort jedoch kam keine Reaktion, die den alten Mann hätte ruhiger werden lassen können. „Lügen steht jetzt wohl in eurem Buch der Bücher als Tugend, als eines der Zehn Gebote?“ Der Mann war kurz davor seine Contenance völlig zu verlieren. Er war aufgesprungen. Seine definitiv im Publikum vertretenen Anhänger wurden sehr ruhig. Dort baute sich Distanziertheit auf. Die ehemaligen Befürworter wanderten ab. „Woher bitte stammt denn dieser blöde Spruch? Aus dem Buch Genesis oder den Briefen an die Korinther? WOHER?“ Opa Beyer antwortete, indem er das Mikrofon ganz nah an den Mund nahm und sehr deutlich und laut nur diese acht Buchstaben, diese beiden Silben sprach: „VOLTAIRE!“ Das Mikro von seinem Gesicht weg schiebend, ließ Opa Beyer sich gleichzeitig gemütlich in seinen Sessel fallen. „WAS SOLL DENN EIN WOLLTÄHR SEIN?“ Diese gebrüllte Fragestellung des offensichtlichen Verlierers dieser Podiumsdiskussion beendete eben selbige und füllte auf Wochen die Seiten von einigen Zeitungen. Opa Beyer war einer von den Guten. Den richtig Guten. Ich verabscheute seine Aura und seinen Habitus. Er war zu gut. Komplotte und Intrigen zu schmieden konnte mit ihm nicht funktionieren. Wir benötigten aber die Hilfe dieses Heiligen. Wir hatten also mit Heidi Tech, Opa Beyer und mir eine perfekte Überwachung organisiert. Eine Überwachung die uns drei Jahre lang nicht einen Schritt weiter gebracht hatte. Was meinen Chef sehr wurmte. Jetzt, da Metin nicht mehr war, stand die Münze plötzlich auf dem Rand. Kopf oder Zahl? Diese Bande wusch Geld. Das war klar. Wie? Wer? Woher? Wohin? Wann? Das waren die Fragen meines Chefs an mich. Vieles wusste ich bereits. Allein, ich wollte ihm noch nicht Bericht erstatten. Nur wenn ich diesen Wollknäuel komplett vor ihm ausrollen können würde, dann würde ich reden. Und ihn um die Versetzung ins Ausland bitten. Auch Menschen wie ich hatten Ziele. Ergo arbeitete ich weiter. Es war kein Kontakt von Liska zu Metins Geschäften oder seinen Partnern nachzuweisen. Wir hatten mehrere Mal versucht zu ergründen, ob Metins Leute Liska zu geheimen Botendiensten benutzten. Botendiensten von denen Liska nichts wusste. Immerhin rannte die Frau stundenlang in verschiedensten Verkleidungen durch den Wedding, Kreuzberg und Mitte. Sie setzte sich in einschlägig bekannte Restaurants, echte Berliner Kneipen und die heruntergekommensten Etablissements. Als Mohammedanerin verkleidet mischte sie sich unter Touristengruppen auf dem Alexanderplatz oder dem Kurfürstendamm. Einen Tag später, als geblümt bekleidete Marokkanerin, fand sie sich auf der Besucherempore im Berliner Rathaus. Die dritte Verkleidung der Woche war indisch, in einem vorrangig von Asiaten besuchten Klubhaus in der Nähe des Museums für asiatische Kunst in Dahlem. Unser Abteilungsleiter war elektrisiert. Das musste es doch sein. Perfekte Verkleidung. Verschiedene Haarfarben, immer anders geschminkt. Das war die Botin der Geldwäscher. Seit sie am ersten Abend dieser Eskapaden mit dem Taxi nach Haus fuhr, wurde festgestellt, dass der Fahrer Türke war. Seither wurden auch diese möglichen Geldpfade mit überwacht. Taxifahrer als Kuriere. Das wäre genial. Und war… Ergebnislos. Und es war zum Verzweifeln. Erst nach einem Gespräch von Liska Wollke mit ihrer neuen Freundin Heidi aus der Knaakstraße 14, wurde uns klar, was dieses ganze Verkleidetheater sollte. Es war ihre Arbeit und ihr Hobby gleichzeitig. Sie ging ihren Forschungen als Sozialepidingsda nach. Sie blieb aber der Kontakt zu Metin. Ich persönlich hatte Metin in der Kneipe „stadtgöre“ kennen gelernt. Ein farbloses Werkzeug. Für beide Seiten, sowohl für die Chefetage in seinem Finanzamt, als auch mit Sicherheit für seinen Chef bei den dunklen Geschäften. Heidi konnte mit Metin gar nichts anfangen. Metin zu reizen war schlichtweg nicht möglich. Er rastete nie aus. Selbst als einer unserer Leute ihm mit Absicht in seinen Peugeot fuhr, erklärte Metin nur, dass die Versicherungen das wohl schon regeln würden. Wir brauchten diesen Unfall, damit wir eine Chance hätten, das Auto einmal in aller Ruhe zu demontieren und mit entsprechender, nur uns dienlicher, Elektronik zu bestücken. Es gelang. Wir waren innerhalb weniger Stunden mit der Reparatur fertig und könnten jeden Schritt, besser, jeden gefahrenen Weg Metins live überwachen. Dachten wir. Zwei Tage nach dem Unfall rief Metin in der Werkstatt an, um zu verkünden, dass ein türkischer Autohändler den Peugeot holen würde, er selbst habe sich schon ein neues Auto gekauft. Immer wieder setzten wir zum Stoß an, immer wieder erlitten wir Rückschläge. Und jetzt war Metin tot. Und Liska war weg. Wohin? Nicht die leiseste Ahnung. Morgen musste ich mit dem Chef zum Staatsanwalt. Darauf freute ich mich wie auf eine 4-Finger Rektaluntersuchung.
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