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1. Sie möchten also in einem Heilberuf arbeiten?

Ich hatte ein so enormes Verlangen, im Bereich des Heilens tätig zu sein, dass ich es nie wirklich infrage stellte, bis ich schon viele Jahre in die Welt der Heilung eingetaucht war. In unserer Kultur wird dies als eine noble Beschäftigung angesehen, und man wird dafür anerkannt, dass man sich in ihren Dienst stellt. Auch ist es eine sehr intime und erfüllende Tätigkeit. Ein Traumjob – man wird dafür bezahlt, dass man sich um andere sorgt und ihnen liebevoll begegnet. Aber es gibt auch eine Schattenseite: ungeprüfte, unbewusste Motive, die im besten Fall eine unwirksame und im schlimmsten eine höllische Erfahrung für alle Beteiligten lostreten können.

Nach vielen Jahren als Heilpraktiker, als einer, der selbst von Heilpraktiker*innen versorgt wird und der auch Menschen in Heilberufen unterrichtet, bin ich zu einem unumstößlichen Schluss gekommen: Menschen ergreifen den Heilberuf aufgrund ihrer eigenen Verwundung aus der Vergangenheit. Und das muss nicht unbedingt etwas Schlechtes sein, solange man es im Auge behält. Unbewusst begeben wir uns auf dieses Feld, um unsere eigenen verwundeten Aspekte zu heilen. Was die wirklich profunden Praktizierenden von anderen unterscheidet, sind nicht angeborene Gaben, Techniken oder Charisma, sondern das Erkennen ihrer eigenen Verwundung und deren Rolle bei ihrer heilerischen Tätigkeit. Die effektivsten Heilpraktiker*innen sind die verwundeten Heilpraktiker*innen, die sich täglich ihrer eigenen Verwundung bewusst sind, sie anerkennen und sich mit ihr auseinandersetzen. Lassen Sie uns also einen Schritt zurücktreten und die Motive untersuchen, die hier im Spiel sind.

Der von C. G. Jung geprägte Mythos des »verwundeten Heilers« steht im Mittelpunkt des Wunsches, heilend tätig zu sein. Jung verband den Archetyp des »verwundeten Heilers« mit der antiken griechischen Mythologie. Es gibt da den Mythos von Chiron, dem Zentauren, Heiler, Propheten und Lehrer. Wenn Sie diese Geschichte nicht kennen, nehmen Sie sich bitte einen Moment Zeit, um sich mit ihr vertraut zu machen. Sie enthält tiefe Erkenntnisse für all diejenigen von uns, die wir in einem Heilberuf arbeiten.

Die Kurzversion:

Chiron wurde bei einem sexuellen Übergriff auf seine Mutter gezeugt und daher bei der Geburt von beiden Elternteilen abgelehnt. Dies war seine erste Wunde, um die sich sein Adoptivvater Apoll, Gott der Sonne, des Lichts, der Poesie, der Musik, der Prophezeiung und der Heilung, kümmerte. Chirons zweite Wunde entstand durch einen Pfeil, der ihm versehentlich vom Bogen seines Freundes Herakles ins Knie geschossen wurde. Dieser Pfeil war mit dem Gift der monströsen Hydra vergiftet, weshalb die Wunde niemals heilen sollte. Als Unsterblicher verbrachte Chiron den Rest seines Lebens unter qualvollen Schmerzen und wurde aufgrund seiner Verwundung zu einem mächtigen Heiler.

Wie die meisten unbewussten Dinge – im Alltag übersehen und nicht weiter untersucht – können sich nicht untersuchte Verwundungen ganz unterschiedlich auf die Praxisarbeit auswirken. Im Allgemeinen können Menschen, die in Heilberufen arbeiten, ihr eigenes unbewusstes Material auf die Patient*innen projizieren und versuchen, sich selbst zu heilen, indem sie sich auf ungesunde und co-abhängige Weise um ihre Patient*innen kümmern. Ein anderer Weg, wie sie sich vor ihrer eigenen inneren Verwundung schützen können, ist ein aufgeplustertes Ego; der daraus resultierende Narzissmus entzieht sowohl den Patient*innen als auch dem Behandlungsraum jegliche Luft. Die einzige Möglichkeit, diese Fallstricke zu vermeiden, ist die Selbstprüfung, die wir im nächsten Kapitel erörtern werden.

Die Quintessenz hier ist: Unsere eigene nicht hinterfragte Verwundung wird unsere Heilungsarbeit unweigerlich zerstören. Eine unbewusste Wunde wird uns immer in die Quere kommen, wenn sie nicht anerkannt und untersucht wird und wir mit ihr in einen Dialog treten. Daher ist es wichtig, unseren verwundeten Aspekt im Auge zu behalten, der die Zügel an sich reißen möchte, anstatt den Raum für die Person in unserer Obhut zu halten. Nur so können wir vermeiden, unsere Patient*innen als Balsam für unsere eigenen Schmerzen zu benutzen. Heilungsarbeit kann erfüllend sein, aber sie darf keine Quelle dafür sein, unsere eigene Leere zu füllen.

Es kann hilfreich sein, unsere Heilungsarbeit mit diesem Bewusstsein zu beginnen, fortzusetzen und zu beenden:

Wir haben einige Defizite – wie alle anderen auch. Wir behalten unsere Verwundung immer im Auge, während wir uns um die Person kümmern, die wir betreuen. Auf diese Weise lenken wir das Bewusstsein dahin, wo es vorher keines gab: nämlich auf die Verwundung, die uns aufgefordert hat, auf die Bedürfnisse eines anderen zu antworten. Wir tun dies mit einem Bewusstsein dessen, was im Behandlungsraum unser eigenes Päckchen ist und was das unbewusste Material des Patienten oder der Patientin ist. Wir dürfen nicht in Versuchung geraten, mit unserer Arbeit eine innere Leere zu füllen. Wir bleiben uns bewusst, wenn wir den Märtyrer oder die Retterin spielen – Komplexe, die direkt mit unserer eigenen Verwundung zusammenhängen. Wir arbeiten nicht daran, uns selbst zu reparieren, indem wir uns um einen anderen kümmern. Durch dieses ständige Bewusstsein halten wir den Raum für unser eigenes inneres Material sowie für unser Gegenüber.

Nach buddhistischer Auffassung ist unsere eigene Erleuchtung eng mit der unserer Patient*innen verstrickt. Wir stehen nicht über ihnen, sind nicht besser oder vollkommener als sie. Wir sind in Beziehung mit ihnen und im gleichen Topf wie sie. In Situationen, in denen wir uns über jemand anderen stellen, verwechseln wir die Tatsache, ein Gefäß zu sein, mit der überbewussten Energie, die durch uns hindurchfließt. Diese allumfassende Energie ist letztendlich die einzige Kraft, die heilt.

Handbuch der Selbstfürsorge

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