Читать книгу Der Tiger in der guten Stube - Abigail Tucker - Страница 7
Einleitung
ОглавлениеIm Sommer 2012 zelteten Denise Martin und ihr Mann Bob in der lieblichen Landschaft von Essex, etwa 80 Kilometer östlich von London, nahe des Badeortes Clacton-on-Sea.1 Als sich die Abenddämmerung über den Campingplatz senkte, erspähte Denise durch den Rauch ihres Lagerfeuers plötzlich etwas Unerwartetes. Die 52-jährige Fabrikarbeiterin griff nach dem Fernglas, um sich die Sache genauer anzusehen.
„Was hältst du davon?“, fragte sie ihren Mann. Auch er nahm das gelbbraune Wesen ins Visier, das sich in ein paar Hundert Metern Entfernung auf einem Feld rekelte.
„Das ist ein Löwe“, sagte Bob.
Eine Zeit lang beobachteten sie das Tier und es schien sie seinerseits zu beobachten. Seine Ohren zuckten und dann fing es an, sich zu putzen. Später trottete es an einer Hecke entlang. Die beiden behielten die Ruhe und legten eine fast schon philosophische Gelassenheit an den Tag. („So etwas bekommt man in der freien Natur nur selten zu sehen“, zitierte die Daily Mail Denise später.)
Andere Campinggäste reagierten weniger abgeklärt.
„Himmel, da ist ja ein Löwe!“, schrie ein anderer Mann Berichten zufolge und suchte schleunigst Deckung in seinem Wohnmobil.
Die Katze – angeblich „so groß wie zwei Schafe“ – verschwand bald darauf in der Nacht und Panik breitete sich aus. Scharfschützen der Polizei bezogen Stellung. Zoowärter mit Betäubungsgewehren rückten an. Über ihren Köpfen kreisten Hubschrauber mit Wärmebildgeräten. Der Campingplatz wurde evakuiert und Journalisten trafen ein, um die Großwildjagd zu dokumentieren. Twitter in Großbritannien explodierte geradezu mit Nachrichten über den „Löwen von Essex“.
Doch der blieb spurlos verschwunden.
Der Löwe von Essex ist eine sogenannte Phantom-Katze oder, kryptozoologisch korrekt, eine ABC (Alien Big Cat).2 Wie ihre vielen schwer fassbaren Brüder und Schwestern – etwa die Bestie von Trowbridge oder der Hallingbury-Panther – ist sie eine Art Katzen-UFO, eine rätselhafte Erscheinung, die vor allem in Teilen des früheren Empire – England, Australien, Neuseeland – verbreitet ist, wo Großkatzen in freier Wildbahn nicht mehr vorkommen oder nie vorgekommen sind. Einige der Phantome haben sich als bewusst kolportierte Fabelwesen oder rechtmäßig Entlaufene aus exotischen Menagerien entpuppt.3 Häufig erweisen sich diese frei herumlaufenden Panther und Leoparden als etwas viel Vertrauteres: die gemeine Hauskatze, verwechselt mit ihren Ehrfurcht gebietenden Verwandten, denen sie in allem gleicht außer in der Größe.
So war es auch mit dem Löwen von Essex, der so gut wie sicher nichts anderes war als ein stattliches orangefarbenes Haustier namens Teddy Bear. Teddys Besitzer – die zur Zeit der Löwenjagd in Urlaub waren – hatten ihn sofort im Verdacht, als sie die Abendnachrichten sahen.
„Er ist das einzige dicke orangefarbene Etwas in der Umgebung“, ließen sie die Journalisten wissen.
Und das war das Ende der absurden Safari.
Vielleicht waren die Camper aber gar keine Idioten, sondern Visionäre. Immerhin stellen echte Löwen keine wirkliche Gefahr mehr dar. Vielen Menschen tun die armen Kreaturen im Grunde leid – denken Sie nur an den internationalen Aufschrei der Empörung, als Cecil, der Löwe aus Simbabwe, von einem Zahnarzt aus Minnesota ins Jenseits befördert wurde. Früher die Herrscher der Wildnis, sind Löwen heute nur noch Relikte ohne Königreich: 20.000 Versprengte fristen noch mühsam ihr Leben in ein paar afrikanischen Reservaten und einem einzigen indischen Urwald, abhängig vom gespendeten Geld der Naturschutzorganisationen und unserer Gnade.4 Ihre Habitate schrumpfen Jahr für Jahr und Biologen fürchten, dass sie bis zum Ende des Jahrhunderts ausgestorben sind.
Derweil hat sich der kleine spaßige Bruder des Löwen, einst nichts weiter als eine Fußnote der Evolution, zu einer wahren Naturgewalt aufgeschwungen. Die globale Hauskatzenpopulation beträgt 600 Millionen, Tendenz steigend;5 jeden Tag werden allein in den USA mehr von ihnen geboren, als es Löwen in der freien Wildbahn gibt.6 Die jährliche Menge von Frühjahrskatzen in New York City macht der Anzahl der wilden Tiger Konkurrenz.7 Weltweit sind Hauskatzen bereits dreimal so zahlreich wie Hunde, ihre großen Rivalen um unsere Gunst, und diesen Vorsprung bauen sie immer weiter aus.8 Die Zahl der Hauskatzen in den USA stieg zwischen 1986 und 2006 um 50 Prozent9 und nähert sich heute der 100-Millionen-Marke.10
Ähnlich sprunghafte Entwicklungen sind weltweit zu verzeichnen:11 Allein in Brasilien wächst die Zahl der Hauskatzen jährlich um eine Million Tiere. In vielen Ländern ist die Menge der als Heimtier gehaltenen Katzen jedoch nichts gegen die stetig anwachsenden Kolonien verwilderter Katzen – Australiens 18 Millionen herumstreunende Exemplare übertreffen die Zahl der Heimtiere um das Sechsfache.12
Ob wild oder zahm, am heimischen Herd oder als Streuner – all diese Katzen gebärden sich zunehmend als Herrscher über Natur und Kultur, den Großstadtdschungel und die echte Wildnis dahinter. Sie haben die Kontrolle über Städte und Kontinente, ja sogar über den Cyberspace an sich gerissen. Sie beherrschen uns auf vielfältige Weisen.
Durch die Rauchschwaden des Lagerfeuers erhaschte Denise Martin womöglich einen Blick auf die simple Wahrheit: Die Hauskatze ist der neue König der Tiere.
Mittlerweile ist wohl jedem klar, dass unsere Kultur – onwie offline – in einem Katzenwahn gefangen ist. Prominente Hauskatzen unterzeichnen Filmverträge, spenden für wohltätige Zwecke und zählen Hollywood-Sternchen zu ihren Twitter-Followern. Ihre Duplikate aus Plüsch bevölkern die Regale großer Kaufhausketten; sie bewerben ihre eigenen Modelinien und Eiskaffeesorten; Bilder von ihnen überschwemmen das Internet. Hauskatzen managen sogar Katzencafés, bizarre Etablissements, die gerade in New York und Los Angeles und anderen Metropolen auf der ganzen Welt ihre Tore öffnen. Dort bezahlen Menschen Geld dafür, ihren Tee zwischen willkürlich drapierten Stubentigern zu schlürfen.
All dieser höhere Blödsinn lenkt jedoch den Blick von etwas weitaus Interessanterem ab. Trotz unserer unbestrittenen Katzenmanie wissen wir nur äußerst wenig darüber, wer diese Tiere eigentlich sind, wie sie in unsere Mitte gelangten oder warum sie – sowohl innerhalb als auch außerhalb unserer eigenen vier Wände – eine solch immense Macht über uns ausüben.
Noch spannender wird die Sache, wenn wir einmal darüber nachdenken, wie wenig wir offenkundig von dieser überfrachteten Beziehung profitieren. Menschen haben sich daran gewöhnt, domestizierte Tiere äußerst hart ranzunehmen. Wir erwarten, dass unsere Leibeigenen bei Fuß gehen, unsere Siebensachen schleppen oder gehorsam zum Schlachthaus trotten. Katzen aber bringen uns nicht die Zeitung, legen keine schmackhaften Eier oder erlauben uns, auf ihnen zu reiten. Es kommt sonst nicht oft vor, dass wir uns ratlos am Kopf kratzen und uns fragen, wieso in aller Welt wir uns diese Art von Haustier halten, geschweige denn Hunderte Millionen davon. Die Antwort liegt auf der Hand: Wir mögen Katzen – ja, wir lieben sie sogar. Aber warum? Was ist ihr Geheimnis?
Das ist umso erstaunlicher, als ebendiese verehrte Kreatur auch als eine der „einhundert schlimmsten invasiven Arten“ der Welt klassifiziert wurde, weil sie eine ganze Reihe von Ökosystemen bedroht und sogar seltene Tierarten zum Aussterben bringt.13 Kürzlich beschrieben australische Wissenschaftler streunende Katzen als größere Bedrohung für die Säugetiere des Kontinents als die globale Erwärmung oder den Verlust von Lebensräumen14 – in einer Landschaft, die von menschenfressenden Haien und giftigen Ottern wimmelt, ist es die Hauskatze, die Australiens Umweltminister als „wilde Bestie“ ausgemacht hat.15 Manche verwirrte Tierliebhaber wissen schon gar nicht mehr, ob sie Katzen Dosenlachs mit Crème fraîche auf dem Silbertablett servieren oder ihre Herzen auf ewig vor ihnen verschließen sollen.
Die gleiche Unsicherheit durchdringt auch die US-amerikanische Gesetzgebung – in einigen Bundesstaaten ermöglichen „Haustierstiftungen“, dass Hauskatzen rechtmäßige Erben von Millionen Dollar werden;16 andernorts werden im Freien lebende Katzen als „Schädlinge“ eingestuft. Vor Kurzem sperrte New York City einen großen Bereich seines gewaltigen U-Bahn-Systems, um zwei streunende Kätzchen zu retten;17 gleichzeitig werden in den USA Jahr für Jahr routinemäßig Millionen von gesunden jungen und ausgewachsenen Katzen eingeschläfert.18 Unser Umgang mit Hauskatzen steckt voller Widersprüche.
Die verstörende Natur der Beziehung zwischen Mensch und Katze erklärt auch, warum wir Hauskatzen hartnäckig mit schwarzer Magie in Verbindung bringen. In der Tat ist die Vorstellung von der „Hexenvertrauten“ eine wunderbare Definition der Hauskatze. Hexerei könnte eine durchaus plausible Erklärung für die mysteriöse und zuweilen aufreizende Macht der Katzen über uns sein. Bezeichnenderweise taucht eine moderne Version dieser mittelalterlichen Paranoia häufig in Diskussionen über eine verbreitete von Katzen übertragene Krankheit auf, die das menschliche Hirngewebe befällt und uns angeblich in unserem Denken und Handeln beeinträchtigt.19
Mit anderen Worten: Wir fürchten, verhext worden zu sein.
Ich sollte gestehen, dass ich selbst seit jeher dem Zauber der Katzen erlegen bin. Ich habe nicht nur Katzen besessen – die meiste Zeit meines Lebens war ich jemand, dem man Auflaufformen mit Schnurrhaaren und dazu passende Topflappen schenkte, ich schmücke mein Heim mit Katzendecken und -kissen und fülle ganze Fotoalben mit Bildern streunender Mittelmeerkatzen. Ich habe reinrassige Katzen von gemeinnützigen Katzenrettungsorganisationen gekauft (einst munkelte man, sie seien der weltweit größte Laden für ausgefallene Katzen)20 und verwilderte Exemplare aus Unterschlupfen und von der Straße adoptiert. Bei alldem habe ich private und berufliche Risiken auf mich genommen – kürzlich musste ich erfahren, dass die hoch allergische Mutter einer Freundin die Straßenseite wechselt, sobald sie mich kommen sieht, und einmal bei einer Recherche im Auftrag einer Zeitschrift – ich besuchte eine unter Wissenschaftlern berühmte Präriewühlmauskolonie – begann ein Forscher wortlos Katzenhaare von meinem Pullover zu picken, damit der Geruch die zu untersuchenden Nager nicht erschreckte und die Seriosität verschiedener Experimente gefährdete. In meinen eigenen vier Wänden wähle ich Teppiche nach wie vor aus einem eng begrenzten Farbspektrum aus, das Katzenkotze möglichst unsichtbar macht.
Nur wenige Menschen können von sich behaupten, dass sie ihre Existenz Katzen verdanken. Ich bin einer von ihnen: Meine Eltern gelobten einst, erst dann Kinder zu haben, wenn sie ihre erste Katze „erzogen“ hätten. (Zu guter Letzt lernte sie, einem Korken nachzujagen, was als ausreichend erachtet wurde.) Unsere Familie hat immer nur Katzen gehabt. Meine Schwester ist einmal über 600 Kilometer weit gefahren, um eine panische Russisch Blau aus dem Badezimmer eines Hundeliebhabers zu retten. Meine Mutter pflegt auf langen Autofahrten ihre Tigerkatze wie eine Pelzstola um die Schultern zu drapieren, während sie an verblüfften Zollbeamten vorbeiflitzt.
Weil ich so sehr daran gewöhnt war, Katzen um mich zu haben, machte ich mir selten Gedanken darüber, wie merkwürdig es war, diese kleinen Erz-Raubtiere zu beherbergen – das heißt, nur, bis ich Mutter wurde. Mit den gnadenlosen Ansprüchen meines eigenen Nachwuchses konfrontiert, erschien mir meine Hingabe an die Gelüste und sanitären Gewohnheiten einer fremden Spezies zunehmend töricht und sogar ein wenig verquer. Ich beobachtete meine Katzen mit neuem Argwohn: Wie genau hatten diese listigen Kreaturen es geschafft, mich in ihre Fänge zu bekommen? Warum hatte ich sie so viele Jahre lang wie meine eigenen Babys behandelt?
Doch während diese Zweifel in mir aufkeimten, machte ich auch die Erfahrung, Hauskatzen mit den Augen kleiner Kinder zu betrachten. „Katze“ war das allererste Wort meiner beiden Töchter. Sie bettelten um Kleidung, Spielzeug, Bücher, Geburtstagspartys, die sich um Katzen drehten. Für Kleinkinder besaßen diese Haustierchen fast schon Löwengröße und das Leben mit ihnen schien in ihnen Vorstellungen von einer wilderen Welt zu wecken: „Ich möchte so sein wie Lucy mit Aslan“, seufzte eine der beiden kurz nach einem Ausflug nach Narnia, während sie vom Fenster aus eine Nachbarskatze beobachtete. „Hat Gott Tiger lieb?“, fragten sie beim Schlafengehen und drückten die Plüschkatzen im Kinderbett fest an sich.
Also gelobte ich, mehr über diese Kreaturen und das Wesen unserer rätselhaften Beziehung zu ihnen in Erfahrung zu bringen. Tatsächlich habe ich in meinem Berufsleben viel Zeit damit verbracht, für Zeitungen und Magazine über Tiere zu schreiben, und bin buchstäblich bis ans Ende der Welt gereist, um die Wahrheit über verschiedene Lebewesen – von Rotwölfen bis zu Quallen – herauszufinden und sie als unabhängige Organismen in einer vom Menschen dominierten Welt zu begreifen. Manchmal jedoch liegt die beste Story von allen direkt vor unseren Füßen.
Und genau dort findet man jederzeit Cheetoh, die hellorange Muse dieses Buches.
Cheetoh ist mein aktuelles Haustier; ich habe ihn in einer abgelegenen New Yorker Wohnwagensiedlung aufgelesen, wo sein Vater vermutlich Waschbären bekämpfte. Bereits vor dem Frühstück bringt er um die zwanzig Pfund auf die Waage. Seine ungewöhnliche Größe ließ den Klempner beim Eintreten in unser Wohnzimmer vor Ehrfurcht erstarren, und der Typ von der Telefongesellschaft machte gleich Fotos mit dem Handy, um sie seinen Freunden zu zeigen. Katzensitter haben sich schon geweigert, ein zweites Mal zu kommen, weil Cheetoh sie in wilder Jagd nach Essbarem mit wackelndem Bauch verfolgt hat. Dank seiner nicht alltäglichen Proportionen fühlt man sich im eigenen Heim wie Alice im Wunderland – man fragt sich ständig, ob man geschrumpft ist oder er gewachsen.
Kaum zu glauben, dass dieses am Fußende meines Bettes zusammengerollte Riesencroissant zu einer Spezies gehört, die fähig ist, ein Ökosystem auf den Kopf zu stellen. Doch biologisch gesehen unterscheidet sich eine verhätschelte Stubenkatze nicht von einem armseligen australischen Streuner oder einer Mieze in den dunklen Ecken einer Großstadt. Ob Heimtier oder verwildert, reinrassig oder Bastard, Bewohner einer Scheune oder einer mehrstöckigen Luxuswohnung – Hauskatzen sind immer die gleichen Tiere. Die Domestikation hat ihre Gene und ihr Verhalten für immer verändert, selbst wenn sie noch nie einen Menschen zu Gesicht bekommen haben. Heimtiere und Streuner paaren sich immer mal wieder und sorgen auf diese Weise wechselseitig für die Erhaltung ihres Bestands. Tatsächlich kann eine Hauskatze ihr Leben als Exemplar der einen Kategorie beginnen und als Vertreter der anderen beenden. Der einzige Unterschied liegt in den äußeren Umständen und der Semantik.
Und selbst wenn Cheetoh nicht eben den Eindruck erweckt, dass er getrennt von seinem Futternapf überleben würde, verweist seine aufdringliche „Fütter-mich“-Beharrlichkeit auf eine wichtige Tatsache: Hauskatzen sind ausgesprochen gebieterische Tiere. Und das nicht, weil sie die allerschlauesten Lebewesen wären – und auch nicht die stärksten, insbesondere im direkten Vergleich mit ihren nahen Verwandten wie Jaguar und Tiger. Abgesehen von ihrer geringen Körpergröße sind sie mit dem gleichen Körperbau und dem lästigen Bedarf an proteinreicher Kost ausgestattet, der andere Mitglieder der Katzenfamilie an den Rand des Aussterbens bringt.
Hauskatzen sind jedoch äußerst anpassungsfähig. Sie können überall leben, und da sie so viel Protein brauchen, fressen sie praktisch alles, was sich bewegt, von Pelikanen zu Heuschrecken, sowie vieles, was sich nicht bewegt, wie Hotdogs.21 (Einige Vertreter ihrer gefährdeten Verwandten sind hingegen auf die Jagd einer seltenen Chinchilla-Art spezialisiert.)22 Hauskatzen sind sehr flexibel, was ihre Schlafphasen und ihr Sozialleben betrifft. Sie können sich vermehren wie die Karnickel.
Beim Erforschen ihrer Naturgeschichte konnte ich kaum umhin, diese Wesen auf immer neue und verrücktere Weise zu bewundern. Und nach Interviews mit Dutzenden Biologen, Ökologen und anderen Wissenschaftlern habe ich das Gefühl, dass viele von ihnen – manchmal gegen ihren Willen – ebenfalls Katzen verehren. Das überraschte mich ein wenig, weil sich die Kluft zwischen Katzenliebhabern und der wissenschaftlichen Zunft in den letzten Jahren vertieft hat, und das nicht nur, weil Forscher häufig mit Gruppen verbandelt sind, die Katzen als ökologisches Ärgernis betrachten. Der klinische Bereich der Forschung scheint ebenfalls das Herzstück feliner Subtilität und Rätselhaftigkeit mit Verachtung zu strafen: Für verzauberte Katzenfans mag es fehl am Platze (wenn nicht gar langweilig) erscheinen, von den „vorteilhaften Aminosäuresubstitutionen“ zu lesen, die die scheinbar mysteriöse Nachtsicht ihrer Haustierchen erklären helfen.23
Dennoch stammen einige der eloquentesten und originellsten Katzenbeschreibungen geradewegs aus wissenschaftlichen Publikationen: Katzen sind „opportunistische, kryptische, einsame Jäger“,24 „subventionierte Raubtiere“25sowie „entzückende und bestens gedeihende Profiteure“.26 Und viele, wenn nicht die meisten meiner wissenschaftlichen Interviewpartner für dieses Buch – ob sie nun die bedrohte Fauna Hawaiis, das Gehirn befallende Katzenparasiten oder die angenagten Knochen unserer urzeitlichen menschlichen Vorfahren erforschen – haben selbst Katzen zu Hause.
Das sollte uns gar nicht einmal so sehr überraschen, denn der bemerkenswerteste Aspekt der Anpassungsfähigkeit von Hauskatzen und ihre größte Kraftquelle ist ihre Fähigkeit, eine Beziehung zu uns zu gestalten. Zuweilen bedeutet dies das Reiten auf der Welle globaler Trends, wobei sie das, was wir der Welt angetan haben, zu ihrem uneingeschränkten Vorteil ausnutzen. So war die Urbanisierung für sie ein Segen. Über die Hälfte der globalen Menschenpopulation lebt mittlerweile in Städten,27 und da die platzsparenden und (angeblich) pflegeleichten Katzen für die beengten Verhältnisse des Stadtlebens besser geeignet scheinen als Hunde, kaufen wir mehr von ihnen als Haustiere. Mehr Haustiere bedeutet auch mehr Streuner, die die gleichen Gene haben, welche Menschen in ihrer näheren Umgebung für sie erträglich machen, womit sie gegenüber anderen Tieren, die in unseren lauten, stressigen Metropolen herumschleichen, im Vorteil sind.
Doch wenn es um die Beziehung zum Menschen geht, laufen Katzen uns nicht immer nur hinterher – sie können auch mutig die Initiative ergreifen, und das war schon immer so. Sie sind eine seltene Haustierspezies, von der es heißt, dass sie sich ihre Domestizierung selbst „erwählt“ haben, und heute, dank einer Kombination von hübschem Aussehen und wohlüberlegtem Verhalten, halten sie Hof in unserem Heim, auf unseren Kingsize-Matratzen, sogar in unserer Fantasie. Ihre jüngste Eroberung des Internets ist nur der letzte Sieg in einem fortwährenden weltweiten Wettstreit, ohne dass ein Ende in Sicht wäre. Tatsächlich ereignen sich täglich unzählige heimische Übernahmen: Während die meisten Leute auf der Suche nach einem neuen Familienhund das Haus verlassen müssen, kommt es statistisch gesehen sehr oft vor, dass Hauskatzen eines Abends einfach so vor der Hintertür stehen und sich Einlass verschaffen.28
Auch wenn der spielerische Überlebenskampf der Katzen in einer vom Menschen dominierten Welt erstaunlich und einzigartig ist, hat ihre Geschichte auch globale Auswirkungen. Sie zeigt beispielhaft, wie ein einziger kleiner und scheinbar unschuldiger menschlicher Akt – es mit der Miniaturausgabe einer Wildkatze aufzunehmen und ihr die Herrschaft über unseren Herd und letztlich auch unser Herz zu überlassen – eine Lawine weltweiter Konsequenzen auslösen kann, die sich von den Wäldern Madagaskars über psychiatrische Kliniken bis zu Onlineforen erstreckt.
In gewisser Weise ist der Aufstieg der Hauskatze tragisch, weil die gleichen Kräfte, die ihnen zugutekommen, viele andere Lebewesen zerstört haben. Katzen sind Glücksritter, Emporkömmlinge, und sie gehören zu den schlimmsten Invasoren, die die Welt je gesehen hat – abgesehen von Homo sapiens natürlich. Es ist kein Zufall, dass bei ihrem Erscheinen in einem Ökosystem Löwen und andere Vertreter der Megafauna meist schon wieder auf dem Rückzug sind.
In der Geschichte der Hauskatze geht es aber auch um das Wunder des Lebens und die fortwährende Fähigkeit der Natur, uns zu überraschen. Das bietet uns die Chance, unsere Selbstbezogenheit beiseitezuschieben, und eröffnet einen klareren Blick auf ein Lebewesen, das wir gerne wie ein kleines Kind behandeln und beschützen möchten, dessen Horizont aber weit über unsere Wohnzimmer und Katzenklos hinausreicht. Eine Hauskatze ist keineswegs ein pelziges Baby, sondern etwas viel Bemerkenswerteres: ein winziger Eroberer mit dem gesamten Planeten zu seinen Füßen. Hauskatzen könnten ohne Menschen nicht existieren, aber wir haben sie nicht erschaffen, und ebenso wenig besitzen wir nun die Kontrolle über sie. In unserer Beziehung geht es weniger um Besitztum als um Beihilfe.
Es mag ketzerisch anmuten, unsere anbetungswürdigen Gefährten in diesem kalten Licht zu betrachten. Wir stellen uns Katzen meist als von uns abhängige Haustiere vor und nicht als entwicklungsgeschichtlich freie Akteure. Sobald ich mit den Recherchen für dieses Buch begonnen hatte, sah ich mich mit vorwurfsvollen Kommentaren vonseiten meiner Mutter und meiner Schwester konfrontiert.
Wahre Liebe erfordert jedoch Verständnis. Und ungeachtet unserer wachsenden Faszination für die Stubentiger geben wir unseren Katzen vielleicht weniger, als ihnen zusteht.
Die angemessene Reaktion auf eine Kreatur wie Cheetoh ist wohl nicht „Ach wie süß!“, sondern „Großartig!“.