Читать книгу Der Tiger in der guten Stube - Abigail Tucker - Страница 8
Katakomben
ОглавлениеAuf dem Wilshire Boulevard, mitten im Stadtzentrum von Los Angeles, blubbern mit natürlichem Teer gefüllte Gruben, die La Brea Tar Pits, vor sich hin; sie sehen aus wie Tümpel voller giftiger schwarzer Karamellbonbonmasse. Früher holten sich amerikanische Siedler hier Teer, um ihre Dächer abzudichten, doch heute sind diese Vorkommen eine wahre Schatzgrube für Paläontologen, die die Fauna der Eiszeit studieren. Fantastische Tiere aller Art versanken in diesen klebrigen Todesfallen: Präriemammuts mit geschwungenen Stoßzähnen, ausgestorbene Kamele, umherziehende Adler.
Doch am berühmtesten sind die La-Brea-Katzen.
Vor rund 11.000 Jahren und noch früher gab es in der prähistorischen Region des heutigen Beverly Hills mindesten sieben verschiedene Katzentypen: enge Verwandte der modernen Luchse und Pumas, aber auch mehrere heute ausgestorbene Arten. Mehr als 2000 Skelette von Smilodon populator – dem größten und furchterregendsten Vertreter der Säbelzahnkatzen, der auch als Säbelzahntiger bezeichnet wird – sind aus der 90.000 Quadratmeter großen Grabungsstätte geborgen worden, was sie zur weltweit größten Fundgrube ihrer Art macht.
Es ist später Vormittag, und während die Temperaturen steigen, erwärmen sich die Gruben, und die Luft riecht wie schmelzender Straßenbelag. Schwarze Blasen steigen in der Teergrube empor und lassen es so aussehen, als atme direkt unter der Oberfläche ein Monster. Die Dämpfe beißen mir in den Augen, und als ich einen Stock in die Masse stecke, stelle ich fest, dass ich ihn nicht wieder herausziehen kann.
„Man braucht nur ein paar Zentimeter, um ein Pferd bewegungsunfähig zu machen“, meint John Harris, der Oberkurator des hiesigen Museums. „Ein Riesenfaultier würde kleben bleiben wie eine Fliege an einem Fliegenfänger.“ Aus seiner Stimme spricht ein gewisser Stolz.
Die einzige Möglichkeit, den Teer wieder von der Haut zu bekommen, besteht darin, sie mit Mineralöl oder Butter zu massieren, wie einige einheimische Spaßvögel auf die harte Tour lernen mussten. Mit der Zeit sickert der Teer sogar in die Knochen ein, und konservierte die Überreste der Riesentiere, die dort unter Qualen starben, so gut, dass die Teergrubenexemplare nicht einmal wirklich versteinert sind. Wenn man die Rippe einer derart konservierten Säbelzahnkatze anbohrt, riecht es wie beim Zahnarzt: nach verschmortem Kollagen. Es riecht lebendig.
In der Dunkelheit der Teergruben suche ich nach Hinweisen auf die ursprüngliche Beziehung zwischen Mensch und Katze. Unsere Katzenhaltung, die uns so intuitiv erscheint, ist in Wirklichkeit eine recht junge und radikale Entwicklung. Obgleich wir die Erde seit fünf Millionen Jahren teilen, sind die Katzenfamilie und die Menschheit früher nie miteinander ausgekommen, geschweige denn, dass sie miteinander auf der Couch gekuschelt hätten. Wir konkurrieren um Fleisch und Lebensraum,1 und das macht uns zu natürlichen Feinden. Weit entfernt davon, Nahrung zu teilen, haben Menschen und Katzen den größten Teil unserer langen gemeinsamen Geschichte damit verbracht, sich gegenseitig Beute zu stehlen und sich die zerfleischten Überreste des jeweils anderen einzuverleiben – um ganz ehrlich zu sein, in den meisten Fällen verspeisten sie uns. Es waren Katzen wie die La-Brea-Säbelzahnkatzen, kolossale Geparden und riesige Höhlenlöwen – und später ihre modernen Erben –, die den ungezähmten Planeten beherrschten. Unsere Vorfahren teilten ihren Lebensraum mit diesen Ungeheuern in Nord- und Südamerika, und in Afrika hatten wir es viele Millionen Jahre lang mit verschiedenen Arten von Säbelzahnkatzen zu tun. So mächtig war der Einfluss, dass Katzen geholfen haben könnten, uns überhaupt zum Menschen zu machen.
In einem Lagerraum zeigt mir Harris die Milchzähne einer jungen Smilodon-Katze, Sie haben eine Länge von fast zehn Zentimetern.
„Wie haben ihre Mütter sie gesäugt?“, frage ich.
„Sehr vorsichtig!“, antwortet er.
Die oberen Reißzähne der erwachsenen Tiere sind 20 Zentimeter lang, und ihre Form erinnert mich an ein Sensenblatt. Ich lasse meine Finger über die gezackte Innenkurve gleiten, und eine Gänsehaut läuft mit über den Rücken. Man weiß immer noch nicht viel über diese Tiere – Forscher bauten einmal ein Stahlmodell eines Smilodon-Gebisses, um zu verstehen, wie um alles in der Welt diese Tiere kauten, und „wir haben erst vor Kurzem gelernt, Männchen und Weibchen zu unterscheiden“, gibt Harris zu –, aber man darf wohl ohne Übertreibung sagen, dass sie absolut Furcht einflößend waren. Diese Tiere wogen wohl an die 180 Kilogramm und benutzten ihre kräftigen Vorderpranken, um Mammuts niederzuringen, bevor sie ihrer Beute die dolchförmigen Zähne durch die dicke Haut in den Hals stießen.
Dann wandert mein Blick zu dem Skelett eines amerikanischen Löwen ganz in der Nähe, der einen Kopf größer war als die Säbelzahnkatzen und wahrscheinlich doppelt so schwer.
Das sind also die Gegner, mit denen es unsere Vorfahren zu tun hatten.
Die schiere Ungeheuerlichkeit solcher Raubtiere und das grausige Erbe unserer Auseinandersetzungen mit ihnen machen es besonders erstaunlich, dass die Menschheit heutzutage in Begriff ist, die Familie der Katzen vom Erdboden zu vertilgen. Die meisten modernen Katzenarten,2 ob groß oder klein, sind inzwischen im Rückgang begriffen und verlieren gegenüber den Menschen täglich an Boden.
Das heißt, mit einer Ausnahme. Harris führt mich zu einer laufenden Ausgrabung in der Nähe eines Asphalttümpels nicht weit entfernt von der Tür des Museums. Während zwei Frauen in teerbefleckten T-Shirts einen Smilodon-Oberschenkelknochen reinigen, wischt mir plötzlich ein brauner Schatten um die Knöchel und Bob, eine schwanzlose weibliche Hauskatze mit Schmerbauch und besitzergreifendem Auftreten, tänzelt mir um die Beine. Die kichernden Ausgräberinnen erzählen mir, wie sie Bob nach einem Autounfall retteten, bei dem die Katze ihren Schwanz verlor, und sie wieder gesund pflegten. „Keine Überraschungsmäuse mehr!“, meint eine der Frauen und tätschelt Bobs Rumpf mit dem amputierten Schwanz.
Was ist seltsamer, frage ich mich: die Tatsache, dass Beverly Hills ein Friedhof für riesige, hier ehemals heimische Löwen ist oder dass ein kleiner blinder Katzenpassagier, der ursprünglich aus den Nahen Osten stammt, heute hier eine Heimat gefunden hat?
Aber tatsächlich ist der Aufstieg der Hauskatze die Kehrseite des Untergangs der Löwen. Die Geschichte des fortlaufenden Niedergangs der Katzenfamilie hilft zu erklären, was Organismen wie Bob und Cheetoh und all unsere anderen geliebten Hauskatzen wirklich sind: perfekt ausgestattete Raubtiere, wie Luchse oder Jaguare oder irgendeine andere Katzenart, aber auch extreme biologische Sonderfälle.
Wenn man von der menschlichen Zivilisation einmal absieht, könnte die Gegend um Los Angeles noch immer ein erstklassiges Habitat für heimische Katzen sein, die das Eiszeitalter (Pleistozän) überlebten. Einige Pumas streifen noch immer durch die Santa Monica Mountains, auch wenn die Population hoffnungslos isoliert und ingezüchtet ist und die wenigen Jungtiere oft dem Straßenverkehr zum Opfer fallen.3 Ein Puma, der als P22 bekannt war,4 wurde kürzlich fotografiert, wie er nachts unter dem Hollywood-Schriftzug stand und auf die hell erleuchtete Stadt heruntersah.
Aber heute ist es Bob, der die Teergruben regiert.
Die Säbelzahnkatzen und Riesenlöwen von La Brea starben gegen Ende der letzten Eiszeit aus – warum, wissen wir nicht. Aber wir können erklären, warum die meisten der überlebenden wilden Katzen – selbst die kleineren Arten, von denen einigen unseren geliebten Hausgenossen sehr ähnlich sehen – heute in solchen Schwierigkeiten stecken. Die Geschichte beginnt, wo so viele unserer Vorfahren endeten: im Maul einer Katze.
Die Katzen (Felidae) sind eine Familie aus der Säugetierordnung Carnivora (Fleischfresser).5 Sämtliche Carnivora, von Wölfen bis Hyänen, ernähren sich teilweise oder überwiegend von Fleisch, und warum sollten sie das nicht tun? Fleisch ist eine wertvolle Ressource, voller Eiweiß und Fett und wunderbar leicht verdaulich. Aber es ist schwierig, an Fleisch zu kommen, daher ergänzen die meisten Tiere, darunter fast alle, die zu den Carnivora zählen, ihren Speisezettel mit anderen Nahrungselementen. In der Bärenfamilie, beispielsweise, mampfen Schwarzbären Eicheln und Wurzeln mit pflanzenzermalmenden Backenzähnen, die im Maul einer Kuh nicht fehlt am Platze wirken würden, Große Pandas ernähren sich, wie allgemein bekannt, fast ausschließlich von Bambus, und selbst die mit eindrucksvollen Reißzähnen ausgestatteten Eisbären lassen sich gelegentlich Beeren schmecken.
Nicht so Katzen. Von der nicht mal ein Kilogramm wiegenden Rostkatze bis zum Sibirischen Tiger, der 270 Kilogramm auf die Waage bringen kann, sind alle rund drei Dutzend Katzenarten Hypercarnivoren, wie Biologen es nennen.
Sie fressen kaum etwas anderes als Fleisch. Die pflanzenzerkleinernden Backenzähne (Molaren) von Katzen sind auf kümmerliche Reste geschrumpft, kaum größer als das, was ein Kind für die Zahnfee hinterlässt, und ihre übrigen Zähne sind außerordentlich lang und scharf, eine Mischung aus Steakmessern und Brechscheren. (Der Unterschied zwischen dem Gebiss einer Katze und dem eines Bären ist wie der zwischen Alpen und Appalachen.) Obwohl die Eck- oder Reißzähne als Caninen bezeichnet werden (und sich damit von lateinisch canis, Hund, ableiten), sind sie bei Katzen relativ größer als bei Hunden, was nicht überraschend ist: Katzen benötigen zur Ernährung dreimal soviel Protein wie Hunde, Jungkatzen sogar viermal so viel.6 Hunde können selbst bei veganer Ernährung überleben, doch Katzen können wichtige Fettsäuren nicht selbst synthetisieren, sondern müssen sie aus dem Körper ihrer Beutetiere beziehen. Katzenzähne haben nur einen einzigen Zweck – Beute zu töten und zu zerlegen –, und das ist der Grund, warum alle Katzengebisse selbst für Biologen ähnlich aussehen. Die Bezahnung eines insektenfressenden Malaienbärs sieht ganz anders aus als bei einem Grizzly, doch manchmal können selbst Experten nicht sagen, ob sie ein Tigeroder ein Löwengebiss vor sich haben, weil beide demselben Zweck dienen und sich entsprechend ähneln. Das gilt auch für den übrigen Katzenkörper. Es gibt riesige, manchmal fast schon komische Unterschiede in der Größe von Katzen – manche messen von der Schnauze bis zur Schwanzspitze 35 Zentimeter, andere fast 4,20 Meter –, doch im Körperbau unterscheiden sie sich kaum. „Der wichtige Punkt bei großen und bei kleinen Katzen ist nicht, dass sie unterschiedlich sind, sondern dass sie sich so sehr ähneln“, schreibt Elizabeth Marshall Thomas in Das geheime Leben der Katzen, ihrer Geschichte der Familie Felidae.7 Hauskatzen und Tiger, so Thomas, sind „das Alpha und das Omega ihres Schlags“.8 Natürlich haben Tiger Streifen und Löwen Mähnen, und Pumas haben acht Brustwarzen, Langschwanzkatzen hingegen nur zwei. Doch der Bauplan bleibt derselbe: lange Beine, kräftige Vorderextremitäten, eine flexible Wirbelsäule, ein Schwanz (der manchmal halb so lang ist wie der ganze Körper) zum Balancieren und einen kurzen Verdauungstrakt, um Fleisch und nichts als Fleisch zu verdauen. Katzen besitzen rückziehbare Krallen, hochempfindliche Vibrissen (Tasthaare) an der Schnauze und drehbare Ohrmuscheln für ein schon fast unheimlich gutes Richtungshören und den größtmöglichen Hörbereich. Ihre Augen liegen vorn im Kopf und verleihen Katzen ein ausgezeichnetes räumliches Sehvermögen sowie eine gute Nachtsicht. Der Katzenschädel ist gewölbt und das Gesicht ist abgerundet und kurz mit kräftigen, fest verankerten Kiefermuskeln, eine Anordnung, die die Bisskraft vorn im Maul maximiert. Ob die Beute ein Kaninchen oder ein Wasserbüffel ist, fast alle Katzen (mit Ausnahme der ultraschnellen Geparde) jagen auf dieselbe Weise: nachstellen, auflauern, angreifen und die Mahlzeit genießen. Selbst der träge Cheetoh jagt auf diese Art, wobei sein plumpes Hinterteil in Erwartung zuckt, wenn er sich auf einen ahnungslosen Schnürsenkel stürzt. Katzen sind vorwiegend visuelle Beutegreifer und setzen auf das Überraschungsmoment, wenn sie den Tötungsbiss applizieren, indem sie ihre Reißzähne zwischen die Halswirbel ihrer Beute schieben „wie einen Schlüssel in ein Schloss“9 (so der Verhaltensforscher Paul Leyhausen). Katzen können Beutetiere überwältigen, die dreimal größer sind als sie selbst,10 und damit ist ihr Ehrgeiz manchmal noch nicht befriedigt: Als Kind habe ich unsere Siamkatze oft dabei beobachtet, wie sie sich an Hirsche anschlich und sich auf Felsblöcken über dem nichts ahnenden Rudel zusammenkauerte.
Die modernen Katzenartigen waren zehn Millionen Jahre lang oder länger weltweit eine überaus erfolgreiche Tiergruppe und haben ein bemerkenswertes Spektrum von Lebensräumen besiedelt.11 Katzen haben eine Vorliebe für die asiatischen Troenwälder,12 doch der feline Archetypus kommt in fast allen Klimazonen vor: der Schneeleopard im Himalaja, der Jaguar im Amazonasgebiet, die Sandkatze im Herzen der Sahara. Vor vielen Tausend Jahren lebten Löwen nicht nur in Beverly Hills, sondern auch im englischen Devon und in Peru – so gut wie überall auf der Welt mit Ausnahme von Australien und der Antarktis. Löwen waren vermutlich die wilden Landtiere mit der größten Verbreitung, die es jemals gab,13 König der Wälder und der dazwischenliegenden Wüsten, Feuchtgebiete und Bergregionen.
Was wilde Katzen brauchen, um zu gedeihen, ist Platz. Aus diesem Grund sind sie in freier Natur gewöhnlich weniger häufig als andere große Fleischfresser wie Bären und Hyänen.14 Selbst die kleinsten Katzenarten brauchen ein relativ großes Jagdrevier, um an die nötigen Proteine zu kommen. Eine sehr grobe Daumenregel besagt, dass 100 Pfund Beutetier nötig sind, um ein Pfund in seinem Lebensraum ansässiges Raubtier zu ernähren.15 Bei Hypercarnivoren ist das Verhältnis jedoch noch ungünstiger. Diese Tiere haben keinen evolutionären Plan B. Sie müssen töten oder sterben. Tatsächlich töten Katzen recht häufig andere Katzen. Löwen fressen Geparde, Leoparden fressen Karakals (Wüstenluchse), Karakals fressen Falbkatzen. Katzen töten sogar Artgenossen, und diese Feindseligkeit erklärt – neben ihrer heimlichen Jagdweise und der begrenzten Tragfähigkeit eines gegebenen Ökosystems für eine große Zahl von Feliden –, warum die meisten Arten Einzelgänger sind.
Obgleich Menschen heutzutage eine erstaunliche Menge an Fleisch verzehren, gehören wir nicht zur Ordnung Carnivora. Wir sind Primaten. Unsere Verwandten, die Großen Menschenaffen, verzehren nicht viel Fleisch. Und das galt auch für unsere frühe menschenartige Verwandtschaft, die vor sechs oder sieben Millionen Jahren begann, die Bäume zu verlassen, lange nachdem Katzen ihre Stellung an der Spitze der Nahrungskette gefestigt hatten. Unsere Vorfahren aßen nicht nur kaum Fleisch, sondern spendeten es freigiebig in Form ihrer Körper und ihrer Babys. Eine ganze Palette von Geschöpfen hatte es auf unsere Vorfahren abgesehen:16 riesige Adler, Krokodile, Schlangen, so lang wie ein Bus, archaische Bären und vielleicht auch Riesenotter. Aber selbst unter solch furchterregender Gesellschaft waren Katzen höchstwahrscheinlich unsere gefährlichsten Prädatoren.
Die frühen Vorfahren der Menschheit entwickelten sich in Afrika während der „Blütezeit der Katzen“, schreibt der Anthropologe Robert Sussman, dessen Buch Man the Hunted (etwa: Der gejagte Mensch) unsere Geschichte als Beutetier schildert. In Regionen, in denen sich unsere Verbreitung mit derjenigen von Katzen überschnitt „hatten sie vollständig die Oberhand“, erklärte er mir – sie zerrten uns in Höhlen, verschlangen uns auf Bäumen, schleppten unsere ausgeweideten Körper in ihre Speisekammer. Tatsächlich wüssten wir vielleicht nicht annähernd so viel über die menschliche Evolution, wenn diese Großkatzen nicht so häufig Menschen erbeutet hätten.17 Der weltweit älteste, vollständig erhaltene Schädel der Gattung Homo, bekannt als Schädel Nr. 5, wurde in einer Höhle in Dmanisi, in Georgien, entdeckt, die ausgestorbenen riesigen Geparden wahrscheinlich als eine Art Picknickplatz diente. In Höhlen in Südafrika wunderten sich Paläontologen lange Zeit über Stapel von Hominiden- und anderen Primatenknochen und versuchten, die Ursache für dieses Gemetzel zu finden. Hatten unsere Vorfahren einander umgebracht? Dann fiel einem der Wissenschaftler auf, dass die Löcher in manchen Schädeln perfekt zu den Reißzähnen von Leoparden passten.
Auch heutzutage noch gibt es Hinweise auf den Tribut, den Katzen von unseren Vorfahren forderten. Sussman und seine Kollegin Donna Hart werteten Daten darüber aus, wie oft Primaten zum Opfer von Raubtieren werden, und stellten fest, dass die Katzenfamilie noch immer für ein Drittel aller Primatentötungen verantwortlich ist (Hunde und Hyänen hingegen nur für sieben Prozent). Eine Studie in den kenianischen Lavahöhlen von Mount Suswa ergab, dass die Leoparden dort Paviane fressen und praktisch nichts anderes. Selbst unsere stärksten und klügsten heute lebenden Primatenverwandten können Katzen zum Opfer fallen, die nur halb so groß sind wie sie: Wissenschaftler fanden im Kot von Leoparden die kurzen schwarzen Zehen von Tieflandgorillas, und im Kot von Löwen Schimpansenzähne.
Wissenschaftler beginnen gerade erst, unser eigenes Erbe als Beute offiziell zu erforschen,18 und stellen beispielsweise fest, dass sich unsere Fähigkeit zum Farbensehen und unsere Tiefenwahrnehmung entwickelt haben könnten, um uns das Erkennen von Schlangen zu erleichtern. Wie Experimente gezeigt haben, können selbst Kleinkinder Formen von Schlangen besser erkennen als diejenigen von Eidechsen; sie entdecken Löwen auch leichter als Antilopen.19 Gegen Fressfeinde gerichtete Strategien lassen sich noch heute in vielen menschlichen Verhalten nachweisen; das reicht von unserer Tendenz, unseren Nachwuchs in den dunkelsten Nachtstunden zu gebären (viele unserer Prädatoren jagten bevorzugt in der Abend- zw. Morgendämmerung), vielleicht bis zu unserer besonderen Wertschätzung für Landschaftsmalerei des 18. Jahrhunderts, deren weite Ausblicke uns das angenehme Gefühl verleihen, eine drohende Gefahr rechtzeitig kommen zu sehen. Die Gänsehaut, die ich in La Brea verspürte, als ich den Reißzahn einer Säbelzahnkatze in Händen hielt, stammt aus einer Zeit, als sich meine Körperhaare beim Näherkommen eines Raubtiers aufgerichtet hätten – was mich hätte größer und, so hoffe ich, auch Furcht einflößender hätte aussehen lassen.
Der Raubtierdruck hat wahrscheinlich auch unsere Körpergröße und unsere Haltung (ein hochgewachsener aufrechter Körper erlaubte unseren Vorfahren, weiter zu schauen), unsere Vorliebe für Gemeinschaft und Geselligkeit (ein Euphemismus für „Sicherheit liegt in der Zahl“) und unsere komplexen Formen der Kommunikation beeinflusst. Selbst weniger sprachbegabte Verwandte wie Grüne Meerkatzen haben eine Lautäußerung, die „Leopard“ bedeutet.20 (Aber wie um sich nicht übertrumpfen zu lassen, ahmen die kleinen, im Amazonasgebiet heimischen Langschwanzkatzen beim Jagen gelegentlich die Rufe von Affenkindern nach.21)
Möglicherweise basierte der wichtigste Beitrag von Katzen zur Evolution unserer Art jedoch nicht auf der Beziehung von Beutegreifer und Beute, sondern von Beutegreifer und Aasfresser. Dieses Geschenk war unsere erste schicksalhafte Begegnung mit dem Geschmack von Fleisch.
Die frühesten Belege für unseren Fleischkonsum datieren rund 3,4 Millionen Jahre zurück.
Schnittspuren auf Huftierknochen, die in der Nähe von Dikika, Äthiopien, gefunden wurden, zeigen, wie hart unsere weitgehend vegetarischen Vorfahren arbeiteten, um das Fleisch von den Knochen zu lösen; an anderen Fundorten hämmerten sie die Knochen auf, um an das nahrhafte Mark zu gelangen. Aber woher kamen diese ersten schmackhaften Knochen? Es sollte noch Millionen Jahre dauern, bis unsere Vorfahren Jagdtechniken entwickelten.
Nach Ansicht von Briana Pobiner, einer Expertin für menschliche Carnivorie (Fleischverzehr) am National Museum of Natural History, hetzten unsere unbewaffneten, auf Fleisch versessenen Vorfahren einige ihrer ersten Beutetiere möglicherweise einfach zu Tode oder steinigten sie, bis sie starben. Pobiner – die in ihrem Büro unter den fotografierten Blicken zweier sehr großer Löwinnen arbeitet – hält es jedoch für wahrscheinlicher, dass wir schamlose Diebe und Aasfresser waren, sogenannte Kleptoparasiten. Unsere wenig freundlichen Wirte waren demnach die großen Katzen, die Huftiere erlegten, sich satt fraßen und dann fortwanderten, um später zu ihrem Riss zurückzukehren. Das war der Zeitpunkt, an dem unsere raffinierten Vorfahren heranschlichen und stahlen, was sie tragen konnten. Vielleicht haben wir Antilopen aus den Bäumen geholt, wo Leoparden sie versteckt hatten (möglicherweise, um sie vor noch mächtigeren Katzen, wie Löwen, in Sicherheit zu bringen). Doch die Säbelzahnkatzen haben wohl die besten Überreste zurückgelassen, wie der Anthropologe Curtis Marean betonte, denn ihre mächtigen Zähne waren hervorragend zum Töten geeignet, jedoch nicht unbedingt zum Kauen, sodass viel Fleisch am Knochen blieb. Einige Wissenschaftler vermuten sogar, dass die Überbleibsel von der Tafel der Säbelzahnkatzen so reichlich und so wesentlich für die Ernährung der frühen Menschen waren, dass wir den Katzen von Afrika nach Europa folgten, die erste echte Wanderung unserer Art.22
Nachdem unsere Vorfahren einmal Geschmack an Fleisch gefunden hatten, so reich an Nährstoffen und Aminosäuren, wollten sie mehr davon. Einige Paläoanthropologen sind der Meinung, dass es der Fleischkonsum war, der uns letztlich zum Menschen machte. Es war sicherlich ein entscheidender Schritt.
„Fleischessen war so wichtig, dass wir bei der Herstellung von Steinwerkzeugen immer geschickter wurden“, erklärt Pobiner. „Es war eine Rückkopplungsschleife. Mehr Fleisch zu erbeuten, verlangt eine gute Kenntnis des Lebensraums, Kommunikation und Planung. Wir hätten nicht denselben evolutionären Weg eingeschlagen, wenn es nicht ums Fleischessen gegangen wäre.“
Tatsächlich könnte es sein, dass Fleischkonsum buchstäblich unseren geistigen Horizont erweitert hat, so die „Expensive-Tissue“-Hypothese (Hypothese vom teuren Gewebe), bei der es um die Entwicklung unseres Gehirns geht.23 Da vegetarische Primaten große Mengen an zähem Pflanzenmaterial verdauen müssen, haben sie einen sehr langen, viel Energie verbrauchenden Verdauungstrakt. (Darum sehen ansonsten schlanke Affen auch so aus, als hätten sie einen Bierbauch.) Tiere mit einem ständigen Zugang zu leicht verdaulichem Fleisch könnten jedoch den evolutionären Spielraum haben, ihren Darmtrakt zu verkürzen und die damit gesparte Energie in etwas Raffinierteres zu investieren: in ein enorm großes Gehirn. Dieses Kronjuwel von Homo sapiens ist energetisch außerordentlich kostspielig, es macht nur zwei Prozent unseres Körpergewichts aus, verbraucht aber in Ruhe 20 Prozent unserer Kalorienaufnahme.24 Möglicherweise können wir uns diesen Luxus nur leisten, weil wir Fleisch essen.
Der größte Sprung beim Hirnvolumen unserer Vorfahren ereignete sich vor rund 800.000 Jahren – nicht lange, nachdem wir gelernt hatten, mit Feuer umzugehen, das uns erlaubte, Fleisch zu erhitzen, sodass es länger haltbar blieb und sich besser transportieren ließ. Ein paar hunderttausend Jahre später fanden wir heraus, wie wir Großtiere aus eigener Kraft erlegen konnten. Noch ein paar weitere hunderttausend Jahre vorgespult, und vor rund 200.000 Jahren spaltete sich schließlich die Homo-sapiens-Linie vom Stammbaum ab.
An diesem Punkt wich die ursprüngliche, schiefe Machtbalance zwischen Menschen und Großkatzen einem fragilen Gleichgewicht, bei dem unser aufgebauschtes Gehirn ihre Muskeln austarierte. Mit unseren neuen Jagdwaffen konnten wir Großkatzen wahrscheinlich manchmal von ihrem Riss vertreiben und sogar einige töten, wenn es wohl auch die beste Strategie war, sich gegenseitig aus dem Weg zu gehen. Dennoch konnten wir offenbar nicht anders, als unsere eleganten und mächtigen Gegner zu bewundern. 30.000 Jahre alte Malereien in der südfranzösischen Chauvet-Höhle, die zu den ältesten Kunstwerken der Welt gehören, zeigen großartige ockerfarbene Leoparden und Löwen, gezeichnet mit einem Auge für biologische Details, bis zu den Spitzen der Tasthaare.
Diese uralte Pattsituation zwischen Katzen und Menschen, in der beide Parteien schwer bewaffnet und mehr oder minder gleich stark waren, was dem Kampf um Fleisch betraf, hielt bis vor rund 10.000 Jahren an,25 als die Menschen irgendwo im Nahen Osten auf die Idee kamen, wie sich unser unstillbarer Fleischhunger auf einfache Weise sättigen ließ: Tiere selbst züchten und töten. Die Domestikation von Herdentieren und Pflanzen, ein evolutionsgeschichtlicher Coup, der als Neolithische (jungsteinzeitliche) Revolution bezeichnet wird, erlaubte Jäger-und-Sammler-Gesellschaften, sesshafte Gemeinschaften zu bilden, was schließlich zur Geburt von Kultur und Geschichte und der Welt führte, wie wir sie kennen.
Für viele andere Geschöpfe, vor allem Katzen, läutete das Auftauchen unserer ersten Herden und Pflanzungen den Anfang vom Ende ein.
Wir glauben häufig, die Notlage von wilden Groß- und Kleinkatzen sei ein relativ neues Phänomen, und Europäer, allen voran die Briten, nehmen oft einen Großteil der Schuld für ihr Verschwinden auf sich. Es stimmt, dass die Kolonialherren Gewehre nach Indien und Afrika brachten und für Katzenfelle gut bezahlten. Bei einem Gelage 1911 erlegte die Jagdpartie des englischen Königs George V. innerhalb von zwei Wochen 39 indische Tiger. Die Viktorianer füllen die Londoner Zoos mit afrikanischen Löwen, die in Gefangenschaft dahinsiechten und gewöhnlich innerhalb weniger Jahre starben (wenn es auch einigen gelang, vor ihrem Ableben den einen oder anderen Karrengaul mitzunehmen).26 Die imperialen Feldzüge gegen Großkatzen sind in Jagdgeschichten festgehalten, eine singuläre Literaturgattung, die ein Biologe mir gegenüber als „die harte Zeit der Säugetierforschung“ bezeichnete. In dem Klassiker The Man-Eaters of Tsavo schildert der britische Kolonialoffizier James Henry Patterson mit eisiger Gelassenheit seinen Zusammenstoß mit zwei mähnenlosen, offenbar heruntergekommenen afrikanischen Löwen. Doch trotz all ihrer kühlen Effizienz beschleunigten die Briten lediglich einen Prozess, der mit dem Aufkommen der Agrikultur begann.
„Katzen sind sehr empfindlich“, erklärt mir der Katzengenetiker Steve O’Brien. „Wenn sie nicht genügend zu fressen haben, verhungern sie, einfach so. Es ist nicht die Jagd, die problematisch ist. Es ist die Errichtung von Farmen und Siedlungen.“
Katzen kommen biologisch einfach nicht mit dem allgegenwärtigsten Muster menschlicher Zivilisation zurecht.
Und das war so von Anfang an: Ägypten, die erste große Agrarkultur, verlor nach und nach den größten Teil seines Löwenbestands.27 Die Römer – die Großkatzen bei ihren Prozessionen und Kolosseum-Spektakeln einsetzten – berichteten bereits um 325 v. Chr. von einem Mangel an Großkatzen in bestimmten Regionen.28 Ab dem 12. Jahrhundert gab es in Palästina, wo sie einst häufig waren, keine Löwen mehr. Schon vor Ankunft der Europäer in Indien fragmentierten Mughal-Herrscher den Lebensraum von Tigern und damit ihre Population, indem sie Wälder abholzten. Und so erging es wilden Katzen aller Art.
Es ist nicht die Zeit oder die Jagdmethode, sondern der Ort, der die britischen Jagdgeschichten so informativ macht, denn sie illustrieren genau die Art von Plätzen und Situationen, an denen es zu Konflikten zwischen Menschen und Großkatzen kommt – nicht tief im Dschungel, sondern an den frisch gepflügten Rändern der Zivilisation: Zuckerrohr- und Kaffee-Plantagen, die an den indischen Dschungel angrenzen, Schienenwege, die sich durch den kenianischen Busch ziehen. An solchen Rändern dringen wir tiefer ins Territorium von Katzen vor und die Katzen wandern in unseres ein.
Je weiter wir vorrücken, desto schwieriger, ja fast unmöglich wird die Koexistenz mit wilden Katzen. Erst roden wir das Land, dringen immer tiefer in den Regenwald oder die Steppe vor und essen oder verscheuchen die Beutetiere. Das schadet den dort heimischen Katzen, von den Löwen und Tigern, die direkt mit uns um die großen Pflanzenfresser konkurrieren, die uns schmecken, bis zu hauskatzengroßen Feliden wie der Afrikanischen Goldkatze, deren kleinere Beute ausgerottet oder als Bushmeat verkauft wird.
Nachdem wir die Wälder abgeholzt und die heimischen Beutearten restlos verputzt haben, bringen wir unsere eigenen Nutztiere mit, wie Rinder, Schafe, Hühner und Fische – die die wilden Katzen aller Größen, die nun ohne Fleischquelle dastehen, natürlich als Beute ansehen. Nun sind sie an der Reihe, sich als Kleptoparasiten zu betätigen, und die Bauern lassen sich diesen felinen Diebstahl nicht gefallen.
Dazu kommt, dass die größten Katzen manchmal noch immer Geschmack an uns finden. Selbst im 21. Jahrhundert kommt es an der Grenze von Regionen, an denen sich ausbreitende menschliche Gemeinden auf Katzenreviere treffen, zu Todesfällen durch Raubkatzen. Ein einsamer Waldläufer kann in Russlands riesigen Birkenwäldern ein ganzes Leben lang jagen, ohne auf einen Sibirischen Tiger zu treffen, doch im indischen Sundardance Delta, in dem vier Millionen Menschen leben, sind menschenfressende Tiger durchaus ein Problem, und im tansanischen Ruffii-Distrikt mit seiner boomenden Landwirtschaft können Löwen pro Jahrzehnt Hunderte Dorfbewohner töten.29
Nur haben heutzutage Schädlingsbekämpfungsmittel Gewehre als unsere Waffe der Wahl ersetzt. Man vergifte einen Giraffenkadaver mit Pestiziden, und man eliminiert nicht nur den menschenfressenden Löwen, sondern das ganze rastlos umherstreifende Rudel, und entledigt sich des Königs der Tiere wie jedes anderen Schädlings. Wenn gerade kein Gift zur Hand ist, greifen die Dörfler auch zu anderen Mitteln. Indische Tiger, die außerhalb von Schutzgebieten angetroffen wurden, wurden einfach zu Tode geknüppelt.
Es ist einfach, Menschen in fernen Ländern die Schuld für den Niedergang der Großkatzen in die Schuhe zu schieben, bis man sich vorstellt, was es bedeutet, einen siebenjährigen Hirtenjungen auszuschicken, um eine von Löwen unsicher gemachte Weide zu bewachen, oder einen Leoparden in seiner Latrine zu entdecken. Und wenn das Problem zu Hause auftritt, verhalten sich Amerikaner nicht anders.30 Ein Großteil von Amerika war schließlich früher Großkatzenland, doch die Siedler machten schon vor langer Zeit mit Jaguaren im Süden und Pumas östlich des Mississippis kurzen Prozess – ausgenommen blieb nur der Florida-Panther, eine Unterart des Pumas, ingezüchtet und krank, die sich in einem entlegenen Zipfel der Everglades-Sümpfe von Gürteltieren ernährt
Die Neigung von wilden Katzen, die Wildtiere, die wir jagen, die Nutztiere, die wir züchten, und im Fall ihrer größten Vertreter auch uns selbst zu töten, macht sie weitgehend inkompatibel mit menschlichen Siedlungen. Als unsere Bevölkerungsdichte wuchs, mussten ihre Populationen schrumpfen, und da die überlebenden Katzen in ungeeignete Habitate abgedrängt werden, beginnen auch andere Kräfte, die mit menschlichen Besiedlungsmustern zusammenhängen, ihren Tribut zu fordern: Verkehrsunfälle, Staupeausbrüche, Trophäenjagd, Fallenstellen wegen der Felle, Dürren, Hurrikans, Grenzbefestigungen, illegaler Tierhandel usw. Gegenwärtig nehmen einige Menschen ihren neuen Status als Spitze der Nahrungskette wörtlich: Sie essen die Großkatzen, die einst uns verspeist haben. Der asiatische Markt für traditionelle Medizinprodukte boomt: Krallen und Tasthaare und Gallenflüssigkeit, aber vor allem pulverisierte Knochen werden zu Stärkungsmitteln verarbeitet.31 Und Löwenlende gilt bei einigen amerikanischen Gourmands, einschließlich einer in New York ansässigen Gruppe, die sich die „Gastronauten“ nennt, als der letzte Schrei. Diese Delikatesse wird offenbar am besten in der Pfanne scharf angebraten, dann langsam geschmort und mit Koriander und Karotten serviert.32
Da so viele wilde Katzen inzwischen viel leichter tot als lebendig zu finden sind, habe ich die Lagerräume der Smithsonian Institution aufgesucht (die abseits vom Museum in einem vorstädtischen Einkaufsgebiet in Maryland liegen), um sie mir anzusehen. Diese riesigen Gebäude beherbergen all die konservierten Delfine und Gorillas, die nicht in das Museum in der Innenstadt passen; eine Halle ist mehr oder weniger ein Hangar für die Knochen flugzeuggroßer Walskelette.
Ein Wachmann inspiziert meine Handtasche; auf diesem sterilen Friedhof ist keinerlei Essen erlaubt, und ich entferne diskret meinen Kaugummi. Bald folge ich dem Schlüsselgeklingel des Säugetierkurators des Smithsonian, während er durch Gänge voller Metallschränke schreitet. Dieses spezielle Gebäude beherberge nichts als „Häute, Schädel und Skelette“, erklärt mir Kris Helgen über die Schulter. Er zieht eine Schublade auf und zeigt mir die verschrumpelte Haut einer Giraffe, die 1909 von Teddy Roosevelt geschossen wurde, nur ein paar Wochen bevor er aus dem Amt schied; die langen Wimpern sind noch immer da und kokett nach oben gebogen. Wir untersuchen die gelblichen Vibrissen einer Mönchsrobbe, und blicken in die Stoßzahnhöhlen eines der größten Elefantenbullen, der aktenkundig wurde. Diese riesige Sammlung toter Tiere ist de facto eine Zeitmaschine, die uns einen Blick auf einen sich verändernden Planeten und auf Lebensformen erlaubt, die sich im Fluss befinden. Es erinnert mich ein wenig an La Brea, abgesehen davon, dass es Menschen waren, die die meisten dieser Tiere töteten und sorgfältig konservierten und so das ewige Werk der Asphaltgruben selbst erledigten.
„So“, meint Helgen, „sollen wir uns nun einige Katzen anschauen?“
Er öffnet einen Schrank zu unserer Linken und setzt mit sicherem Griff Unterkiefer und Schädel eines Sibirischen Tigers zusammen, von denen inzwischen nur noch rund 500 Exemplare in freier Wildbahn leben. Helgen weist mich auf die Breite der Wangenknochen und die Länge des Knochenkamms auf dem Schädel hin, was das lebende Gesicht zu einem fast perfekten orangefarbenen Kreis wie die Sonne gemacht hätte. Für mich sieht es so aus, als würde der Schädel die Zähne zusammenbeißen. Helgen rollt das Fell eines seltenen schwarzen afrikanischen Leoparden auseinander, ich streichele einen cognacfarbenen Puma aus Guyana und befühle das dichte Unterfell eines Schneeleoparden. Ich halte ein Stück Musselin, auf das das kleine Fell eines Pumajungtiers aufgenäht ist, wahrscheinlich eines der letzten, das im Staat New York geboren wurde, und befingere das Fell an den Ohren eines Pardelluchses. Die langen schwarzen Pinselhaare sind weich wie Seide.
Helgen ist ein junger Mann, und statt des von seinen älteren Kollegen bevorzugten Vollbarts trägt er einen Stoppelbart. Als wir uns trafen, stand er kurz vor einem dreimonatigen Trip in die Wildnis, von Kenia nach Burma, um in den Wäldern Bestandsaufnahmen zu machen und nach bislang unbekannten Säugerarten zu suchen. Er ist kein Schwarzseher, sondern wirkt auf mich eher wie ein Umweltoptimist.
Aber nicht, wenn es um die Familie Felidae geht. „Der Trend ist stets in eine Richtung gegangen – Menschen haben wilde Katzen ersetzt“, meint er. „Und dieser Trend schwächt sich weder ab noch kehrt er sich um, und für einige Tiere ist das Ende der Linie absehbar“ – einschließlich vieler Großkatzen, aber auch einiger Kleinkatzen. Wissenschaftler seiner Generation befürchten, Zeugen der ersten wirklich großen Aussterbewellen von Katzen zu werden; vom Aussterben bedroht sind vor allem der Pardelluchs und der Tiger – nicht irgendwelche Unterarten, sondern alle Tiger. Punkt. Zurück am Tigerschrank, zeigt er mir Felle (viele mit Kugellöchern) von Exemplaren aus dem 19. Jahrhundert, die aus Regionen stammen, wo es heute keine Tiger mehr gibt, wie Pakistan, während spätere Felle von Plätzen stammen, an denen es natürlicherweise nie Tiger gab, wie Jackson, New Jersey, Sitz eines großen Safari-Parks. „Ab Ende des 20. Jahrhunderts stammt fast alles aus Zoos“, erklärt er mir.
Während er den Schrank mit den exotischen Fellen wieder verschließt, schreitet Helgen weiter durch die Gänge und zieht den Schädel einer letzten Katze hervor, diesmal einer kleinen Art, aber einer, die dem Etikett nach zu urteilen, ein modernes Verbreitungsgebiet hat, das sich von Indien bis Indiana erstreckt: in etwa das Streifgebiet der prähistorischen Löwen, und noch etwas mehr. Es handelt sich um Felis catus, die gemeine Hauskatze.
„Und schauen Sie“, meint Helgen und öffnet die kleinen Kiefer, sodass wir in das Maul schauen können, „ein kleiner Tiger. Und auf ihre Weise genauso furchterregend. Sehen Sie sich nur diese Zähne an.“
Angesichts der Geschichte, die ich gerade erzählt habe, könnte ein selbstgefälliger Mensch diese unglaublich zahlreichen kleinen Feliden – die wir uns meist als Haustiere vorstellen – als eine Art lebende Trophäe ansehen. Genau so, wie die Römer Löwen im Kolosseum zur Schau stellten und mittelalterliche Könige sie in ihren Menagerien hielten, umgeben wir uns vielleicht als Beweis für unseren jüngst errungenen Triumph über die Katzenfamilie, den ältesten und einflussreichsten Feind der Menschheit, mit unseren Stubentigern. Wir amüsieren uns über die Wildheit dieser Miniaturtiger, bewundern ihre Zähne und Klauen – aber erst jetzt, wo wir gewonnen haben.
Vielleicht erinnert uns ein Tiger, der auf unserem Schoß schnurrt oder in unserem Wohnzimmer herumtobt, daran, dass wir uns die Natur untertan gemacht haben, sie vollständig kontrollieren. Vielleicht ist es aufschlussreich, dass einer der wenigen Plätze auf der Welt, wo Hauskatzen keine populären Hausgenossen sind, Indien ist, gleichzeitig auch eine der seltenen Regionen, wo Großkatzen noch immer wirklich Schaden anrichten.33
Es gibt jedoch auch durchaus Argumente, die dafür sprechen, dass die Familie Felidae tatsächlich unbesiegt bleibt und Katzen noch immer an der Spitze stehen und das Sagen haben. Ja, menschenfressende Löwen haben abgedankt, doch die bescheidene Hauskatze hält im neuen Jahrtausend denselben königlichen Anspruch aufrecht.
Denn trotz all ihrer Kraft und ihres Muts haben es Löwen niemals auch nur annähernd so weit in der Welt gebracht. Die Hauskatze hat Fuß gefasst von der Arktis bis nach Hawaii, hat Tokio und New York übernommen und den gesamten australischen Kontinent erstürmt. Und irgendwo unterwegs hat sie das kostbarste und bestgehütete Territorium auf diesem Planeten eingenommen: die Festung des menschlichen Herzens.