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Katzenwiege

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Ich holte mir Cheetoh – oder vielleicht holte er mich – um die Osterzeit. Wir schrieben das Jahr 2003 und ich war eine frischgebackene Zeitungsreporterin im Hinterland von New York. Mein jüngster Auftrag hatte mich zu einem ramponierten Sofa geführt, auf dem ich neben einer tränenüberströmten jungen Frau und ihrer Mutter hockte. Ich sollte über einen kürzlich begangenen Mord in ihrer Wohnwagensiedlung berichten und wusste nicht recht, wo ich beginnen sollte.

Plötzlich spürte ich einen leichten Schlag gegen meinen Knöchel. Ich sah nach unten und erblickte den stattlichsten, breitbrüstigsten Kater, der mir je unter die Augen getreten war und sich nun anschickte, mir seinen riesigen roten Kopf ein zweites Mal gegen das Bein zu rammen. Reflexartig reichte ich nach unten und kraulte das flaumige Fell unter seinem Kinn.

„Er mag Sie“, sagte die Mutter mit einem Anflug von Anerkennung in der Stimme. „Er mag sonst niemanden.“

Bald entwickelte sich unser düsteres Interview zu einer angeregten Unterhaltung über die Dutzenden von Katzen in der Umgebung. Diese waren eine Art Gemeingut; sie gehörten zu niemand Bestimmtem und wanderten von einem Haushalt zum nächsten, wo man sie mit mal mehr, mal weniger Enthusiasmus willkommen hieß.

Die Frauen führten mich in den hinteren Bereich des Wohnwagens, wo sich eine schlanke dreifarbige Streunerin zum Werfen ihrer Jungen niedergelassen hatte. Nun maunzten zwei orange Neugeborene an ihrer Seite und der spärliche Rest meines professionellen Auftretens schmolz dahin.

Eines der Kätzchen hatte einen weichen Pfirsichton. Das Fell des zweiten war von einem lebhaften Orangerot – oder sogar noch ein wenig heller. Es hatte die Farbe von künstlichem Käsepulver – dem Zeug, das in der Cheetos-Packung zurückbleibt, wenn man alle Chips aufgefuttert hat. Die Färbung der Kleinen legte die Vermutung nahe, dass der aufdringliche Kater, der um uns herumstrich, an ihrer Geburt nicht ganz unbeteiligt war. Ich nahm das orangerote Kätzchen auf – es rekelte sich in meiner Handfläche, die Babyohren an den Spitzen noch nach unten gebogen. Seine kleinen trüben Augen hatten sich gerade erst geöffnet: Ich war eines der ersten Dinge, die Cheetoh zu Gesicht bekam.

Als ich später wieder im Auto saß, meinen Auftrag unvollendet, aber mit der Aussicht, in sechs Wochen mein neues Kätzchen abholen zu dürfen, sah ich Cheetohs imposanten Vater aus dem offenen Fenster des Wohnwagens springen, auf dem Weg zu seiner nächsten geschnorrten Mahlzeit oder leidenschaftlichen Eroberung. Ich hatte noch nie Katzen zu Gesicht bekommen, die sich so frei bewegen durften – sie waren weniger separierte Haustiere als unabhängige Geschäftspartner, die ihren Lebensunterhalt über gespendetes Katzenfutter und offene Mülleimer sicherten und verwegen kamen und gingen, wie es ihnen passte. Damals erschien mir dies als geradezu aufgeklärtes, fast schon futuristisches Arrangement – wie eine abgefahrene Katzenkommune in Kalifornien.

Aber vielleicht hat sich die Beziehung zwischen Mensch und Katze tatsächlich unter ähnlichen Bedingungen entwickelt, wenn auch zwischen eng gedrängten Lehmhütten statt Wohnwagen. Die lange, rätselhafte und höchst unwahrscheinliche Geschichte der Katzendomestikation wird wohl kaum einen anderen Ursprung gehabt haben.

Das 11 600 Jahre alte Dorf Hallan Çemi lag am Ufer eines Zuflusses des Tigris, im Gebiet der heutigen Türkei.1 In den Lehmhütten wohnte nur eine Handvoll Steinzeitfamilien. Und doch begann vermutlich in solch winzigen Siedlungen die monumentale Entwicklung der Menschheit zu Landwirten. Unsere Wandlung vom Jäger und Sammler zum Farmer bedeutete letztlich weltweit den Untergang für viele Hypercarnivoren, aber auch eine Reise ins Glück für einige domestizierte Tiere der Zukunft, darunter die Wildkatzen, die zu modernen Hauskatzen werden sollten.

Hallan Çemi wurde 1989 von Archäologen ausgegraben und gilt als eine der ersten permanenten Siedlungen im Osten des Fruchtbaren Halbmonds: ein primitives Basislager für Nomaden, die dank kürzlich erfolgter ökologischer Veränderungen keine weiten Strecken mehr zurücklegen mussten, um Nahrung zu finden. Mit dem Rückgang der Eiszeit hatte sich das lokale Klima stabilisiert und es gab eine Überfülle an natürlichen Ressourcen; das ermöglichte ihnen eine abwechslungsreiche Ernährung. Die Anrainer fischten im Fluss, plünderten den nahe gelegenen Pistazienwald und jagten Großwild in den Hügeln und auf den Ebenen. Sie aßen praktisch alles, was ihnen über den Weg lief: Schwäne, Muscheln, Eidechsen, Eulen, Rotwild, Wildschweine, Schildkröten. Insgesamt hinterließen die Dorfbewohner aus dem Neolithikum rund zwei Tonnen an Tierknochen.

Die Archäologin Melinda Zeder hat Jahre damit zugebracht, sich durch diese Grillreste zu wühlen, die von der Ausgrabungs stätte zu ihrem Smithsonian-Labor in Washington verbracht wurden, nur ein paar Schritte von der Sammlung an Großkatzenskeletten im Museum entfernt.2 Zeder, in deren Augen zuweilen das Licht lange erloschener Feuerstellen aufzuflackern scheint, ist eine Expertin für die Domestizierung von Tieren und den schicksalsschweren Übergang des Menschen zu einem sesshaften Lebensstil. Die prähistorischen Bewohner von Hallan Çemi hielten noch keine Nutztiere – zu jener Zeit waren nur Hunde bereits domestiziert worden, schon Tausende Jahre zuvor, als alle Menschen noch Nomaden waren –, doch es ist denkbar, dass die Dorfleute bereits begonnen hatten, örtliche Populationen von Beutetieren wie Wildschweinen bewusst zahmer zu machen. Überdies glaubt Zeder, in Hallan Çemi Hinweise dafür gefunden zu haben, wie sich diese Protofarmer unbewusst gewisse andere Arten kleiner, pelziger Bestien heranzogen.

Während wir uns unterhalten, lässt ein Doktorand einen kleinen Frischhaltebeutel auf Zeders Schreibtisch fallen, der etwas wie Zimtstangen enthält. Die urzeitlichen braunen Beinknochen fühlen sich so zerbrechlich an wie gebrannter Ton. Diese mageren Überreste stammen vom wilden Vorfahren der Hauskatze.

Die bisher identifizierten 58 Wildkatzenknochen von Hallan Çemis Frühstücksbüfett künden vermutlich nicht von unseren allerersten Hauskätzchen – zu meinem Kummer werden wir sie wohl wie alles andere verspeist haben. (Ein kleiner, aber äußerst plastischer Apparat an wissenschaftlicher Literatur beschreibt Neandertaler und Jäger-und-Sammler-Menschen, die sich als Katzenliebhaber in ausschließlich kulinarischem Sinne hervorgetan haben.)3 Zeder und ihre Studenten haben jedoch gewisse Vorstellungen davon, wie dieser schrullige kleine Fleischfresser – dessen lateinischer Name Felis silvestris „Katze der Wälder“ bedeutet – den Wald verlassen und den Entschluss gefasst haben könnte, sein Schicksal mit dem unseren zu teilen. Wie sich gezeigt hat, war die Sesshaftigkeit des Menschen eine Lebensführung, mit der sich Cheetohs Urahnen von Anbeginn an bestens arrangieren konnten.

„Wie wirkt sich Sesshaftigkeit auf eine Umwelt aus?“, fragt Zeder. „Wie verändert sie den Evolutionsverlauf anderer Tiere?“

Der neue Lebensstil des Menschen beeinflusste viel mehr Arten als nur Katzen – zusätzlich zu Wildkatzen zog Hallan Çemi zahlreiche andere kleine Fleischfresser an, wie Dachse, Marder und Wiesel sowie insbesondere Füchse, deren Anzahl ihre natürliche Verbreitung im Nahrungsnetz proportional weit überstieg. Eine solche Flut an mittelgroßen Beutegreifern ist eigentlich ein Merkmal heutiger Stadtgebiete: Unsere kleinen und großen Städte sind voll von Waschbären, Stinktieren und anderen fleischfressenden Plagegeistern;4 im modernen London sind vor allem Rotfüchse ein Ärgernis.5

Ein Populationsmaximum kleiner Fleischfresser bezeichnet man als „Zunahme von Mesoprädatoren“; diese Art von Überschuss scheint zu erfolgen, wenn Menschen die Spitzenprädatoren in einem Ökosystem dezimieren. In der Tat legen Leoparden- und Luchsknochen aus Hallan Çemi nahe, dass die Dorfbewohner erfolgreich Großkatzen jagten, was den kleinen Fleischfressern, die sonst verdrängt oder gar verspeist worden wären, das Leben erleichterte. Es mag sein, dass die Menschen diese Füchse und Dachse und kleineren Katzen auch nicht mochten, aber vielleicht befanden sie es nicht der Mühe wert, sich darüber Gedanken zu machen – ganz wie bei den Waschbären in unseren Vorstädten von heute.

So boten die ersten permanenten menschlichen Siedlungen einen sicheren Hafen, darüber hinaus aber auch eine sensationelle neue Nahrungsquelle. Die Wiesel, Dachse und Katzen, die in Hallan Çemi einfielen, waren vermutlich hungrig. Viele der dort gebratenen großen Tiere scheinen nicht mit allzu großer Sorgfalt geschlachtet worden zu sein – wahrscheinlich lag eine Menge an verrottendem Fleisch herum, das man stibitzen konnte. („Das muss zum Gotterbarmen gestunken haben“, wie Zeder bemerkt.) Für die putzigen kleinen Fleischfresser war dieser Abfall wohl ein Geschenk des Himmels, der ihr Leben von Grund auf umkrempelte. Manchmal wurden die herumstreunenden winzigen Raubtiere auch eingefangen und dienten selbst als Gang eines Menüs, oder ihnen wurde das Fell abgezogen, aber dieses Risiko gingen sie gerne ein.

Auf diese Weise boten die Menschen unwillentlich einer ganzen Reihe kleiner Räuber ein Willkommen. Warum aber haben wir dann heute keine Dachse oder Füchse in unserem Wohnzimmer? Warum waren es von all den kleinen Wildtieren, die in Hallan Çemi über unsere Schwelle schlichen, einzig und allein die Katzen, die sich häuslich niederließen und domestiziert wurden? Und warum in aller Welt ließen wir sie gewähren, ungeachtet aller Feindseligkeiten zwischen der Familie der Katzen und der unseren?

Wissenschaftler beschreiben den Prozess der Domestizierung von Tieren oft als einen jahrhundertelangen Pfad, den Tiere einschlagen – oder häufig auch entlanggeführt werden –, wobei sie eine Reihe grundlegender genetischer Veränderungen durchlaufen.6 Typischerweise handelt es sich um eine Einbahnstraße: Ist eine wilde Art erst einmal domestiziert, führt kein Weg mehr zurück, selbst wenn einige Individuen letztlich wieder in freier Natur leben. Ein „verwildertes“ Tier ist kein wildes Tier, sondern ein domestizierter Streuner, und seine Jungen ähneln biologisch den Tieren, die nie den heimischen Hof verlassen haben. (Denken Sie an Cheetohs lange verschollenen orangen Bruder aus demselben Wurf – selbst wenn er schließlich allein im Freien lebte, unterschied sich sein genetisches Rohmaterial in nichts von dem seiner verwöhnten und verhätschelten Geschwister, und seine Jungen sind – für unzählige weitere Generationen – dafür prädestiniert, wunderbare Haustiere zu werden.) Dagegen kann ein wildes Tier im Laufe seines Lebens zwar gezähmt, aber nicht domestiziert werden – das Gefühl des Komforts, das es im Zusammensein mit Menschen zu schätzen lernt, kann es nicht an seine Nachkommen weitergeben. Wir haben Unmengen an wilden Katzenarten zahm gemacht, sogar Löwen und Tiger und Geparden. Aber Hauskatzen sind die einzigen domestizierten Vertreter der Familie der Katzen.

Die Vorzüge der Domestizierung sind gewaltig. Mit dem Zugang zu unserem reichen Nahrungsangebot und mächtigen Schutz erfreuen sich domestizierte Tiere eines nie dagewesenen Fortpflanzungserfolges, wobei einige sogar uns Menschen übertreffen: Heute gibt es auf der Erde etwa dreimal so viele Hühner (Nachkommen des Bankivahuhns) wie Menschen, und Schafe sind in manchen Ländern siebenmal so zahlreich wie wir.7

Als Gegenleistung opfern Nutztiere ihr Fleisch, ihr Fell oder ihre Arbeit für uns wie auch ihre Freiheit und erfahren häufig eine extreme physische Metamorphose, um sich an das Leben in der Menschenwelt anzupassen. Haustiere sehen meist ganz anders aus als ihre wilden Pendants. Manches davon ist bewussten menschlichen Eingriffen geschuldet – wir züchten Tiere auf Merkmale hin, die uns gefallen, wie ein dickeres Fell oder mehr Fleisch. Anderes jedoch ergibt sich zufällig aus dem Zusammenleben mit uns. Aus Gründen, die wir bald erforschen werden, ähneln Haustiere juvenilen Versionen ihrer wilden Vettern und Cousinen oder besitzen sonderbare Merkmale wie Flecken und Hängeohren. Wir können die Zeitleiste der Domestikation bei den meisten Haustieren zurückverfolgen, indem wir einfach auf die deutlichen Unterschiede in ihren Fossilien achten. So suchen Archäologen nach verräterischen Domestikationszeichen wie Rückbildung der Backenzähne bei urzeitlichen Schweinen oder kürzeren Hörnern bei Rindern. Hunde – als die ersten domestizierten Tiere – wurden unter unserer Fürsorge so vollständig umgemodelt, dass es für Wissenschaftler kaum zu bestimmen ist, von welcher Abstammungslinie des Wolfes sich die moderne Diversität von Chihuahuas, Golden Retrievern und Pitbulls herleitet und wann sich diese Linie auseinanderentwickelt hat.8

Bei Hauskatzen haben die Wissenschaftler jedoch das umgekehrte Problem. Katzen haben sich während ihrer Zeit unter Menschen physisch so wenig verändert, dass Experten selbst heutzutage oft getigerte Hauskatzen nicht von Wildkatzen unterscheiden können.9 Das verkompliziert die Erforschung der Katzendomestizierung sehr. Anhand urzeitlicher Fossilien, an denen kaum Unterschiede zum heutigen Knochenbau festzustellen sind, den genauen Zeitpunkt festzulegen, ab dem Katzen am Leben der Menschen teilgenommen haben, ist einfach unmöglich. „Man findet ja keine Katzenhalsbänder oder Glöckchen“, gibt Zeder zu bedenken.

Weil Katzen mit ihrem Eigensinn schon immer einen anderen Weg beschritten haben als andere Lebewesen, haben die meisten Forscher sie schlichtweg ignoriert – Charles Darwin widmet gerade einmal ein paar Seiten seines Buches über Domestikation diesen äußerst komplizierten Kreaturen, während Tauben zwei ganze Kapitel erhalten.10 Allerdings ist nach wie vor in der Tat strittig, ob Hauskatzen schon als domestizierte Tiere gelten können, auch wenn sie die gleichen evolutionären Vorteile einheimsen wie Schafe und Hühner.11 Haben Katzen bereits das Ende dieser Entwicklung erreicht oder sind sie noch unterwegs?

Ziemlich lange konnten sich Wissenschaftler nicht einmal entscheiden, von welcher wilden Katze die Hauskatze abstammt. Sie vermuteten, in unseren Stubentigern seien urzeitliche Spuren verschiedener Katzentypen zu finden: Ein bisschen Pallaskatze hier, ein paar Spritzer Rohrkatze da und vielleicht auch ein Hauch Steppenkatze in der unverwechselbaren Siamkatze.12 Es schien sehr wahrscheinlich, dass Felis silvestris irgendwo in den Genen der fünf Unterarten steckte, aber in welcher oder vielleicht sogar in allen?

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts beschloss Carlos Driscoll, ein Doktorand der Oxford University, das Rätsel zu lösen. Er bestieg sein Motorrad mit dem ambitionierten Ziel, genetisches Material von 1000 Katzen auf der ganzen Welt zu sammeln, um eine gemeinsame Herkunft festzumachen. In Israel köderte er Katzen mit lebenden Tauben in Fallen, freundete sich in der Mongolei mit verwilderten Katzen an, schnitt überfahrenen Katzen in Schottland die Ohren ab und überredete sogar Züchter von Modekatzen in Amerika, die DNA ihrer Lieblinge testen zu dürfen.

Das Projekt nahm fast zehn Jahre in Anspruch, aber die Ergebnisse lohnten das Warten: Es stellte sich heraus, dass alle Hauskatzen, von blaublütigen Perserkatzen bis zu räudigen Streunern, von Manhattans gewieften Straßenkatzen bis zu den verwilderten Exemplaren in Neuseelands Wäldern, nicht etwa aus einem genetischen Mischmasch zahlreicher Arten hervorgegangen sind, sondern allesamt von Felis silvestris abstammen.13 Noch verblüffender ist, dass sie einzig und allein Nachkommen der Unterart lybica, der Falbkatze, sind, deren nahöstliche Heimat im Süden der Türkei, im Irak und in Israel liegt, wo sie noch heute vorkommt.


Driscoll glich seine genetische Analyse mit den spärlichen archäologischen Nachweisen ab. Dazu gehörten ein 9500 Jahre altes Kätzchengrab auf Zypern, das nahelegt, dass die Menschen damals schon ihr Herz für Katzen entdeckt hatten, und ägyptische Kunst von 1950 vor Christus, die Katzen als festen Bestandteil des menschlichen Haushalts zeigt. Sein Schluss lautete, dass unser vertrauter Umgang mit Hauskatzen zur gleichen Zeit an den gleichen Orten begann wie unsere Beziehung zu Schafen und Kühen und fast allen anderen unserer tierischen Leibeigenen: vielleicht vor 10.000 oder 12.000 Jahren irgendwo im Fruchtbaren Halbmond und möglicherweise in einer Region unweit von Hallan Çemi, obwohl es sich höchstwahrscheinlich um einen Prozess handelte, der über einen längeren Zeitraum an mehreren Orten erfolgte. Von dort breiteten sich die Hauskatzen dann irgendwie über die ganze Welt aus und nahmen sie in Besitz.

So wissen wir zumindest ungefähr, wann und wo die Domestikation der Katzen ihren Anfang nahm. Rätselhaft bleibt, warum und wie – und letztlich, wer dafür verantwortlich war, denn wie viel der Mensch dabei zu sagen hatte, ist unklar.

Objektiv gesehen eignen sich Katzen nicht im Geringsten zur Domestizierung.14 Das augenscheinlichste Problem ist ihr Sozialleben oder besser, ihr nicht vorhandenes. Die Standardstrategie des Menschen, um die Kontrolle über andere Spezies zu erlangen, besteht typischerweise darin, sich deren Dominanzhierarchien zu eigen zu machen und die Rolle des Leitbullen oder Alpha-Männchens zu übernehmen, sodass sich die untergeordneten Tiere ihm fügen und er sie nach Gutdünken züchten, befehligen und töten kann. Aber wie fast alle Katzen (außer Löwen und zuweilen Geparden) kennt Felis silvestris lybica keine soziale Hierarchie. Sie hat keinen Anführer. In freier Wildbahn duldet sie abgesehen von der Paarung nicht einmal die Gegenwart anderer ausgewachsener Katzen. Eine Katzenherde zu hüten, ist eine verflixt schwierige Aufgabe.

Was ihre Eignung zur Domestikation betrifft, ist das eingeschränkte Sozialleben von Katzen nicht der einzige Minuspunkt. Die wilde Felis silvestris lybica ist, wie die meisten Katzen, nachtaktiv, zeigt Territorialverhalten, ist äußerst agil und schwer in Schach zu halten. Das alles passt ganz und gar nicht zu einem planvollen Zusammenleben mit Menschen an einem begrenzten Ort. Bei der Partnerwahl ist sie sehr wählerisch – Domestikation bedeutet normalerweise, die besten Tiere zu paaren, um erwünschte Merkmale zu verstärken, aber Driscoll glaubt, dass wir das Sexleben von Katzen in höchstens 100 der letzten gut 10.000 Jahre beeinflusst haben und selbst heute nur einen verschwindend geringen Anteil von (meist reinrassigen) Paarungen kontrollieren.

Und natürlich ist Felis silvestris lybica ein fürchterlich pingeliger Esser. Viele unserer domestizierten Tiere (etwa Schweine und Ziegen) verdrücken klaglos jeden Fraß, doch Katzen sind samt und sonders Fleischfresser und verspeisen nur qualitativ hochwertiges Fleisch. Auch bei den Hauskatzen von heute sind diese Ansprüche noch lästig, wie jeder weiß, der um 23 Uhr feststellen muss, dass der Vorrat an Putenfleisch und Innereien aufgebraucht ist. In früheren Jahrtausenden, als die Fleischressourcen noch viel kostbarer waren, werden Katze und Halter darum wohl erbittert konkurriert haben. (In einigen Teilen der Welt besteht diese stillschweigende Konkurrenz nach wie vor. So vertilgt die durchschnittliche australische Heimkatze im Jahr mehr Fisch als der durchschnittliche Australier.)15

Selbst wenn unsere Urahnen, die sich noch Hungersnöten und Leoparden erwehren mussten, mit all dem zurechtgekommen wären, bleibt die Frage, warum sie sich die Mühe hätten machen sollen. Unsere Motive für Domestizierung liegen meist klar auf der Hand: Wir begehren Körperteile eines Tieres, seine Nebenprodukte oder Arbeitskraft. Was genau Hauskatzen uns bieten können (darauf kommen wir im nächsten Kapitel zurück), ist sehr viel weniger klar umrissen.


Zum Glück für Felis silvestris lybica besaßen zumindest einige Individuen dieser Spezies offenkundig ein entscheidendes „häusliches“ Merkmal, das ihnen in die Karten spielte: ihr Temperament. Sich im Prinzip beim Menschen wohlzufühlen, ist die bei Weitem wichtigste Voraussetzung für alle Domestikationskandidaten.16 Ängstliche Tiere paaren sich in Gefangenschaft nicht und sterben vielleicht sogar an Stress. Den Umstand nutzend, dass sich unsere Kaninchen wie die Karnickel vermehren, haben Menschen stets – bewusst oder mangels Alternative – gelassene Exemplare gezüchtet, die sich mit unserem chaotischen Umfeld arrangieren. Das Sonderbare an Hauskatzen ist, dass sie dieses Merkmal anscheinend selbstständig kultiviert haben.

Fast alle Wildkatzen, selbst diejenigen Arten, die groß genug sind, um Menschen zu verschlingen, sind (mit ausgesprochen gutem Grund) scheu, leben zurückgezogen und haben oft Todesangst vor uns – und das gilt auch für mehrere nicht domestizierte, doch nahezu identische Unterarten von Felis silvestris. In den 1930er-Jahren beschrieb die Tierfotografin Frances Pitt ihren Versuch, die Europäische Wildkatze (Felis silvestris silvestris) zu umwerben, eine enge Verwandte des Hauskatzen-Urahns. „Beelzebina …, Prinzessin der Teufel“, wie sie das gefangene Tier nannte, war „eine halb erwachsene Jungkatze, die in äußerst erbitterter Ablehnung spuckte und kratzte. Ihre blassgrünen Augen funkelten den Menschen voller Hass an, und alle Versuche, eine freundschaftliche Beziehung zu ihr aufzubauen, schlugen fehl.“17

Die aus dem Nahen Osten stammende Falbkatze hingegen ist eine bemerkenswerte Ausnahme. Untersuchungen von heutigen Exemplaren der wilden Felis silvestris lybica, die mit Senderhalsbändern ausgestattet waren, legen nahe, dass die meisten zwar dem Menschen aus dem Weg gehen, jedoch ab und zu ein besonderer Vertreter uns folgt, um Taubenschläge herumschleicht und mit unseren Hauskatzen rumschmust, wobei es immer mal wieder zu Paarungen kommt.18 Das soll nicht heißen, dass eine wagemutige lybica zu solch zutraulichem Verhalten wie unsere Stubentiger in der Lage wäre – diese wilden Tiere werden nicht mit Ihnen am Sonntagmorgen gemütlich kuscheln oder auf Ihrer Schulter sitzen oder es genießen, am Bauch gekrault zu werden. Wie Driscoll erläutert, ist die Persönlichkeitsstruktur jedoch ein Merkmal, das vererbt wird, so, wie auch Milchleistung oder Muskelbeschaffenheit weitergegeben und zuweilen durch die DNA verstärkt werden. Und irgendeine Laune im natürlichen Genpool von Felis silvestris lybica verleiht bestimmten Individuen die Disposition zu einem gewissen naturgegebenen Draufgängertum – eine Eigenschaft, die letztlich die Grundsubstanz für die Bindung zwischen Mensch und Katze bildet. Was wir bei unseren Heimkatzen als „Freundlichkeit“ bezeichnen, ist zum Teil einfach fehlende Aggressivität. Zugleich ist es aber auch ein Fehlen von Angst sowie angeborene Kühnheit.

Demnach waren es nicht die lieben und sanften Kätzchen, die sich als Erste an den Lagerfeuern von Hallan Çemi und andernorts zu uns gesellten – es waren diejenigen mit Löwenmut. Waren die furchtlosesten erst einmal in unseren Kreis vorgedrungen, stärkten sie sich an unseren schmackhaften Speiseresten und paarten sich mit anderen wagemutigen Katzen in der Nähe, wobei noch kühnere Nachkommen entstanden. Diese waren keine domestizierten Söldner, sondern Eindringlinge. Und während sich andere kleine Raubtiere wie Füchse und Dachse damit zufriedengaben, am Rand der Zivilisation herumzustreifen, wie sie es noch heute tun, bahnten sich die verwegenen Katzen einen Weg bis hinein in unsere Betten und vollzogen dabei selbstständig einen sonst vom Menschen gesteuerten Selektionsprozess.

Eigentlich, so erfahre ich von Driscoll, „haben sich Hauskatzen selbst domestiziert“. Und damit ich mir ein Bild davon machen kann, wie sich die wichtigsten kätzischen Persönlichkeitsmerkmale durch den Stammbaum bis zu unseren modernen Haustieren fortgepflanzt haben könnten, schlägt er vor, dass ich mit ihm ein spezielles Untergeschoss besuche.

Als ich Melody Roelke-Parker zum ersten Mal sah, war sie gerade dabei, das gefrorene Herz eines Pumas in einem Labor der National Institutes of Health (NIH) zu zerlegen. Als weltbekannte Veterinärin für Großkatzen hat sie einen Ausbruch von Staupe bei Löwen in der Serengeti diagnostiziert und Indizien für einen genetischen Flaschenhals bei Geparden geliefert; ihre persönliche Sammlung gefrorener Gewebeproben von Wildkatzen aus aller Welt ist unerreicht.

Ich war jedoch an einer anderen Sammlung interessiert – einer lebenden in ihrem Haus.

Jahrelang leitete Roelke ein Projekt mit einer Kolonie wilder Bengalkatzen, kleiner gefleckter Katzen, die im Dschungel Südasiens beheimatet sind; die Forscher kreuzten sie mit normalen Hauskatzen, um Aspekte wie Fruchtbarkeit oder die Bildung bestimmter Fellfarben zu untersuchen. Als die Finanzierung dieser Experimente versiegte, beschloss Roelke-Parker – deren Herz sehr viel weicher ist als die in ihren Gefrierschränken –, Dutzende dieser hybriden Labortiere zu adoptieren, selbst wenn sie zu Exorzismus-würdigem Verhalten neigten und etwa kopfüber an den Drahtdecken ihrer Käfige entlangspazierten. Aufgrund mangelnder Erziehung und ihrer Bengalkatzengene waren die meisten mehr oder weniger wild – „absolute Teufelsbraten“, wie sich Roelke-Parker liebevoll erinnert. Sie kreuzte die Tiere miteinander und mit normalen Hauskatzen.

Ein Jahrzehnt und zahlreiche Würfe von Katzen später ähnelt Roelke-Parkers Kellergeschoss in Maryland einem Miniaturzoo, mit Käfigen bis zur Decke, die festlich mit baumelnden Ästen und Hängematten ausgestattet sind. Als Besucher fühlt man sich den prüfenden Blicken unzähliger schräger gelber Augen ausgesetzt. Das entschlossene Brummen der Waschmaschine untermalt das Miau aus vielen Kehlen.

Die Kreuzungen aus Bengal- und Hauskatze sehen überwiegend wie ganz normale Haustiere aus – es sind rauchfarbene, gestromte und Tuxedo-Katzen (sogenannte „Katzen im Smoking“). Was Roelke-Parker und ihren früheren Laborkollegen Driscoll nun interessiert, verbirgt sich unter der Oberfläche: das Verhalten der Tiere, das festgelegten genetischen Pfaden zu folgen scheint.

„Ich möchte Ihnen gern die Familien vorführen“, sagt Roelke-Parker. „Beginnen wir mit Kiwi.“ Sie führt mich zu einem Käfig voller Katzen mit angelegten Ohren und wütenden Gesichtern. Wasserschüsseln klappern, als Kiwi, eine Katze mit getupftem Fell, und ihre ausgewachsenen Jungen in wildem Durcheinander versuchen, sich so weit wie möglich von uns zurückzuziehen. „Das ist die böse Familie“, sagt sie. „Kiwi mag mich nicht, sie will mich nicht ansehen. Die meisten ihrer Jungen sind wirklich unausstehlich. Alles an ihnen sagt: ‚Ich bin stinksauer und könnte dich umbringen!‘“

Einige von Kiwis Jungen sind wunderbar silbrig gefärbt, was für potenzielle Käufer besonders attraktiv sein mag, aber das Temperament der Katzen macht dem einen Strich durch die Rechnung. „Diese dort heißt Snow Witch“, sagt Roelke-Parker und zeigt auf das angriffslustigste Exemplar. Snow Witch war ein solch hübsches Kätzchen, dass eine Mitarbeiterin des NIH-Labors so dumm war, sie mit nach Hause zu nehmen. In der ersten Nacht in ihrem neuen Zuhause riss sie den Ventilator von der Badezimmerdecke. Snow Witch kehrte postwendend in Roelke-Parkers Keller zurück.

Am anderen Ende des Spektrums finden wir Poppy. Poppy und Kiwi haben sich teilweise mit denselben Männchen gepaart, aber aus einem unerfindlichen Grund sind Poppys Junge meist freundlich und werden mit jeder neuen Generation zutraulicher. Zu ihnen gehören Pistachio, Pecan und Pyro, die ich näher in Augenschein nehme. „Manchmal entwickelt sich ein ausgesprochen anhängliches Exemplar, das gerne auf meiner Schulter sitzt“, erzählt Roelke-Parker.

Fast aufs Stichwort ertönt ein flehentliches Miau und zu meinem Schrecken springt ein rotbrauner Kater namens Cyprus, einer von Poppys Nachkommen, aus seinem Käfig. Roelke-Parker hat ihm die Tür geöffnet – er ist die einzige Katze hier, der dieses Privileg zuteil wird. Er verspeist sein ganz privates Dosenfutter neben der Waschmaschine und erhält viele Streicheleinheiten extra. Roelke-Parker wirft ihm sogar Luftküsse zu, und er scheint sie zu lieben und sucht den Augenkontakt mit ihr. Es würde mich durchaus nicht wundern, wenn sich diese Katze zu guter Letzt den Weg aus dem Keller und hinaus in ihr Wohnzimmer erschmeicheln würde – obwohl er mit der übrigen Kolonie zusammenhaust, ist Cyprus im Grunde ein Heimtier. Was aber macht ihn so anders?

Wie sich herausstellt, bin ich nicht der erste interessierte Besucher von Roelke-Parkers Untergeschoss. Vor Kurzem hat sie Wissenschaftler von der berühmtesten Domestikationsstudie aller Zeiten zu Gast gehabt – dem noch andauernden Experiment auf einer russischen Fuchsfarm. Vor über 50 Jahren begannen sibirische Forscher, Silberfüchse zu züchten, doch statt auf Fellqualität oder Körpergröße oder ein anderes standardmäßiges Körpermerkmal hin zu selektieren, auf das man bei gezüchteten Füchsen Wert legen könnte, konzentrierten sie sich allein auf ihr Temperament.19 Die Ergebnisse waren eine Sensation: Nach nur wenigen Generationen, in denen immer die zutraulichsten Tiere miteinander gekreuzt worden waren, leckten die zuvor knurrenden Silberfüchse – eine Spezies, die niemals domestiziert worden war – die Forscher ab wie Hunde. Heute werden die Silberfüchse als Haustiere verkauft.

Die russischen Gäste wollten sehr gerne mehr über die verträgliche Poppy und die reizbare Kiwi und ihre jeweiligen Clans erfahren. Eines Tages möchten Wissenschaftler die Gene identifizieren, die solche Temperamentsunterschiede formen und möglicherweise dem rätselhaften Prozess der Domestizierung unterliegen.

Dennoch ist Roelke-Parkers Kellergeschoss ein äußerst künstliches, von Menschen kontrolliertes Szenario. Die wahre Geschichte der Katzendomestikation – in der Wildkatzen vor allem zentrale Persönlichkeitsveränderungen erlebten – ist eine faszinierende Parallele aus der realen Welt zu dem berühmten Fuchsexperiment. In der Natur und unserer gemeinsamen Geschichte erfuhren überwiegend Katzen, die sich selbst überlassen waren und immer wagemutiger in unseren Siedlungen räuberten und sich paarten, diese Veränderungen. Nicht die Menschen hielten die Zügel in der Hand.

Weil es sich um einen natürlichen Prozess handelte, erfolgte die reale Metamorphose der Hauskatze vom wilden Tier zum kuscheligen Gefährten sehr, sehr langsam. Die Persönlichkeitsveränderung des Silberfuchses vollzog sich in wenigen Jahrzehnten und die vor langer Zeit abgeschlossene Domestizierung der meisten gewöhnlichen Nutztiere erforderte nur wenige Jahrhunderte – auch wenn die unerfahrenen Hirten von vor 10.000 Jahren sehr viel weniger Fachkenntnisse besaßen als die modernen russischen Wissenschaftler. Dagegen ist die Wandlung zur Hauskatze wahrscheinlich selbst heute noch nicht abgeschlossen. Als Forscher von der Washington University in St. Louis kürzlich das Genom von Hauskatzen mit dem ihrer wilden Verwandten Felis silvestris lybica verglichen, entdeckten sie nur eine Handvoll genetischer Unterschiede, was in Relation zu den Veränderungen, die zahme Hunde durchlaufen haben, nicht gerade beeindruckend war. „Die Zahl der Genabschnitte mit eindeutigen Hinweisen auf Selektion seit der Domestizierung der Katzen“, so die Autoren, „scheint sehr überschaubar zu sein“.20

Dafür spricht auch der Körperbau der modernen Hauskatze. Die meisten domestizierten Tiere weisen eine gemeinsame Menge spezieller körperlicher Merkmale auf; dazu gehören fleckige Fellpigmentierung, kleine Zähne, jugendlich aussehende Gesichter, Schlappohren und Ringelschwänze. Wissenschaftler bezeichnen diese noch wenig durchschaute Merkmalspalette als „Domestikationssyndrom“. Darwin, der es als Erster beschrieb, verblüfften insbesondere die Schlappohren, die bei domestizierten Hunden, Schweinen, Ziegen und Kaninchen so verbreitet sind, bei wilden Tieren – abgesehen von Elefanten – jedoch nie vorkommen.21 Als die russischen Füchse zahmer wurden, entwickelten sie plötzlich ebenfalls dieses Markenzeichen, gemeinsam mit weißen Fellflecken, die ihnen eine große Ähnlichkeit mit Collies verliehen. (Selbst die Schuppen von Karpfen in Zuchtfarmen können weiß gesprenkelt sein.) Der Grund für den markanten und etwas albernen domestizierten „Look“ ist eines der großen Rätsel der Evolutionsbiologie.


Seltsamerweise sehen Hauskatzen nicht so aus. Sie haben keine Schlappohren. Sie haben keine Ringelschwänze. Verglichen mit ihren wilden Pendants sind ihre Zähne nicht winzig, und ihr Gesicht – und überwiegend auch ihr Körper – sieht nicht kindlich aus. Im Grunde sind sie beinahe mit einer ausgewachsenen wilden lybica zu verwechseln.

Hauskatzen weisen durchaus Anomalien in der Pigmentierung auf, die sich in einem weißen Bauch, einer Blesse und anderen ungewöhnlichen Fellzeichnungen äußern. Doch diese Form des Körperschmucks ist anscheinend noch recht neu. So gibt es Hinweise darauf, dass Variationen im Fell der Hauskatzen erst etwa im letzten Jahrtausend aufgetreten sind.22 Davor waren Katzen offenbar noch einfarbig. Altägyptische Grabreliefs beispielsweise zeigen keine Tuxedo-Katzen – die Hauskatzen sind allesamt braun getigerte Tabbys wie die wilde lybica, obgleich Katzen sich damals bereits Tausende von Jahren in menschlicher Gesellschaft befanden. Der erste Beleg für veränderte Fellfarben stammt laut Driscoll von einem Verfasser medizinischer Texte, der sie um 600 nach Christus erwähnt.

Neben diesen neuen Fellfarben passt sich die moderne Hauskatze noch in einigen anderen Aspekten der Domestikationsschablone an. So durchlaufen manche Exemplare mehr Fortpflanzungszyklen als ihre wilden Pendants, was bedeutet, dass ganzjährig Kätzchen geworfen werden und ihre Züchter sich auf diese Weise die goldene Nase verdienen können, die die Domestizierung ermöglicht.23 Und sie weisen das unverzichtbarste und prägnanteste körperliche Kennzeichen aller domestizierten Tiere auf: Hauskatzen haben gegenüber lybica eine um ein Drittel geschrumpfte Hirnmasse.24

Dieser statistische Wert ließ mich sogleich an einige meiner geistig schwerfälligeren Stubentiger denken. Die Hirnreduktion ist jedoch ein standardmäßiges Merkmal domestizierter Tiere – von Truthähnen bis zu Lamas. Sie bedeutet nicht, dass die Tiere dumm sind; vielmehr ermöglicht sie ihnen, in unseren Siedlungen zu überleben. Die Reduktion betrifft typischerweise das Vorderhirn, das unter anderem die Sinneswahrnehmungen steuert; zu ihm gehören auch die Amygdala und andere Komponenten des limbischen Systems, die das Empfinden von Angst kontrollieren. Eine reduzierte Kampf-oder-Flucht-Reaktion hat zur Folge, dass ein Tier besser mit Stress zurechtkommt – das ist der entscheidende Faktor des Haustierdaseins. Insbesondere aufgrund dieser geringeren Angst sind Hauskatzen Draufgänger und können – sofern sie in ihren ersten zwei Lebensmonaten ausreichend Kontakt zu Menschen gehabt haben – das sanftmütige und sogar freundliche Verhalten an den Tag legen (Knöchel reiben, Gesicht lecken), das ihren Haltern von heute das Herz erwärmt.

Doch da der Mensch diesen Prozess nicht direkt steuerte, dauerte es ewig, bis das Katzenhirn schrumpfte.25 Die Untersuchung von ägyptischen Katzenmumien, die nur einige Tausend Jahre alt sind, hat erbracht, dass das Hirn dieser Tiere nach wie vor so groß war wie das ihrer wilden Verwandten.

Nun vermuten Wissenschaftler, dass das Domestikationssyndrom auf einer leichten Schädigung von embryonalen Stammzellen beruht, die man als Neuralleistenzellen bezeichnet.26Diese beeinflussen das Größenwachstum des Vorderhirns von Tieren und daneben eine bemerkenswerte Menge an Faktoren, wie Schädelform, Knorpelbildung und Fellfärbung, wenn sie während der Entwicklung des Fetus in verschiedene Körperregionen wandern. Indem Menschen bei Spezies von Karpfen bis Kühen zahmeren Tieren mit einem kleineren Vorderhirn und verminderten Schreckreaktionen den Vorzug gegeben haben, haben sie vielleicht unabsichtlich zur Selektion dieser beschädigten Neuralleistenzellen und der damit verbundenen unzähligen Auswirkungen beigetragen – eigenartige Färbungen, Schlappohren und Ringelschwänze inklusive.

Die Tatsache, dass Hauskatzen einige, aber nicht alle entscheidenden Merkmale des Domestikationssyndroms aufweisen, bedeutet möglicherweise, dass die Degenerierung ihrer Neuralleistenzellen und damit auch ihr Weg zur Domestikation noch lange nicht abgeschlossen ist. Als die Genetiker der Washington University kürzlich das Hauskatzengenom untersuchten und mit dem von lybica verglichen, stellten sie in der Tat fest, dass diejenigen Gene, die mit den Neuralleistenzellen assoziiert sind, zu den wenigen Bereichen gehörten, die eine Änderung durchlaufen haben.27 Eines Tages werden wir wohl wirklich Katzen mit Hängeohren und Ringelschwänzen bewundern können, aber leider noch nicht so bald.

Es gibt nur noch wenige andere messbare Unterschiede zwischen Hauskatzen und ihren wilden Verwandten. Die Beine unserer Stubentiger sind etwas kürzer.28 Ihr Miau klingt ein wenig niedlicher.29 Ihr Sozialleben haben sie ein ganz klein bisschen moduliert – viele Hauskatzen bevorzugen nach wie vor eindeutig ein Dasein als Einzelgänger, doch anders als die wilde lybica können sie auch familienbasierte Kolonien, ähnlich wie Löwenrudel, bilden.30 Hauskatzen bringen es fertig, mit nicht verwandten Katzen zusammenzuleben (wenn auch häufig längst nicht so harmonisch, wie wir Halter es uns wünschen), und scheinen es zuweilen sogar zu genießen: Die Burmakatze und die Siamkatze meiner Eltern liebten es, sich gemeinsam zusammenzurollen, um ein pelziges Yin und Yang zu bilden.

Und vielleicht sollte es uns auch nicht überraschen, dass Hauskatzen einen längeren Darm entwickelt haben – das Zugeständnis eines Hypercarnivoren an die vielfältigeren, schwer verdaulichen Proteinquellen, die in Menschensiedlungen zur Verfügung stehen.31

Nachdem also die ersten unerschrockenen Vertreter der Katzenfamilie ganz allmählich in unsere Gemeinschaften eingedrungen waren – viel langsamer, als es mit menschlichem Zutun über die Bühne gegangen wäre –, entwickelten sich die Nachfahren bestimmter wilder Katzen zu immer häufigeren und furchtloseren Gästen. Mit den Jahrhunderten schrumpfte ihr Gehirn, sodass sie unsere Gegenwart ertrugen, und ihr Darm vergrößerte sich, sodass sie mehr von unseren Fleischabfällen verspeisen konnten. Und im Laufe der Zeit bekamen sie ein paar hübsche weiße Flecken.

Aufseiten der Katzen war das eine außerordentliche Entwicklung: Nach nur ganz wenigen kosmetischen Operationen konnte eine Katzenart, die sich aus so vielen anderen Gründen nicht zur Domestizierung eignete, die Vorzüge der Verbrüderung mit dem Menschen genießen. Und heute kommen diese angeborenen Vorteile nicht nur den privilegierten Heimkatzen zugute, die mit uns unsere Daunenkissen und gut gefüllten Vorratskammern teilen, sondern auch den Streunern, die in dunklen Gassen, der Wildnis oder an noch schlimmeren Orten hausen und vielleicht noch nie mit einem Menschen auf Tuchfühlung gegangen sind, aber trotzdem gedeihen, weil ihre Urahnen einst beschlossen, sich an uns heranzumachen.

Abgesehen von diesen spärlichen Veränderungen haben Hauskatzen jedoch kaum einmal ein Schnurrhaar gerührt, um sich an die Menschheit anzupassen – damals nicht und ganz sicher auch nicht heute.

Und damit stellt sich erneut die Frage: Warum nur haben wir sie in unserer Nähe geduldet?


Der Tiger in der guten Stube

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