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Michael Siefener - Die Fabrik

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Zoltan Zartek lebte schon lange in dieser Stadt, aber noch nie hatte er hier etwas so Schönes gesehen. Wie jeden Morgen kam er auf dem Heimweg von seiner Arbeit an der langen Ziegelmauer der alten Fabrik vorbei, und wie jeden Morgen war es noch dunkel. Im Sommer endete seine Schicht früher, sodass er es gerade noch schaffte, im Schutz der schwarzen Nacht seine Wohnung zu erreichen. Jetzt, im späten November, arbeitete er eine Stunde länger, ging aber nach Hause, noch bevor die Stadt ganz erwachte. Er war Nachtwächter in einem Bürogebäude, und er schätzte diese Tätigkeit, da sie es ihm ermöglichte, die Stadt, in der er als Fremder unter Fremden lebte, nicht bei Tage ertragen zu müssen. Und nun, auf dem Heimweg, sah er an jener langen Ziegelmauer der alten Fabrik, benetzt vom kalten Licht einer Straßenlaterne, aus einer der zerbröckelnden Fugen etwa in Kopfhöhe eine winzige blaue Blume hervorlugen. Sie bebte in einem schwachen Luftzug, schien ihm zuzunicken, ihn wie einen Freund zu grüßen. Im späten November. Er blieb stehen und betrachtete die kleine Blume. Um was für eine Art es sich handelte, vermochte er nicht zu sagen, doch welche Blume blühte im späten November, in der Dunkelheit, umnetzt von starrem Kunstlicht? Versunken stand er da, lächelte und bemerkte kaum, wie es um ihn herum lebhafter wurde. Die Stadt, diese Bestie, erwachte. Er zwang sich weiterzugehen.

In seiner Wohnung ließ er alle Rollläden herunter, wie jeden Morgen, und legte sich sogleich zu Bett. Er träumte von der kleinen, unmöglichen Blume.

Am nächsten Abend zog er die Rollläden wieder hoch, nachdem die Sonne untergegangen war, und wartete in seinem abgeschabten Sessel auf die Stunde, in der er erneut nach draußen und zur Arbeit gehen würde. Er empfand die Nacht als angenehm, und vor den Menschen, die sich in ihr bewegten, hatte er keine Angst. Sie waren Fremde wie er selbst. Es waren jene im Tageslicht, die für ihn gefährlich waren, wie er schmerzhaft hatte erfahren müssen. Den Bestien des Tages konnte er kaum ausweichen, wenn er draußen war, jenen der Nacht blieb er fern; die Finsternis schuf einen Schutz um jedes ihrer Kinder.

Als er, erneut ins Dunkel aufgebrochen, die lange Ziegelmauer der Fabrik erreichte, sah er die kleine blaue Blume schon von Weitem. Mit schnellen Schritten näherte er sich ihr. Sie badete in dem sanften künstlichen Licht, das nichts von der grellen Zerrissenheit des Tages an sich hatte. Er hielt den Kopf nahe an die kleinen blauen Blütenblätter heran und behauchte sie. Sein Atem trieb als feuchtwarmer Dunst hervor und hüllte die Blume ein. Einige Kristalle glitzerten nun auf ihr. Er machte einen Schritt zurück, drehte sich um und ging beschwingt zu seiner Arbeit.

Als er lange vor Anbruch der Morgendämmerung und nach einer ereignislosen Nacht des Wachens und Träumens seiner Wohnung entgegenging, freute er sich darauf, die blaue Blume wiederzusehen. Wir groß war daher seine Trauer, seine Enttäuschung, als er an der Fabrikmauer anlangte und sehen musste, dass die Blume abgefallen war. Mit erstarrten, steif gefrorenen Blättern lag sie auf dem Asphalt des Bürgersteigs. Er bückte sich, nahm sie in die Hand. Unter seiner Berührung schmolz der zarte Eispanzer, doch auch das Blau der Blütenblätter löste sich auf, wurde von einer Brise fortgetragen. Zoltan Zartek sah fassungslos zu, wie der Novembertraum zerstob. Dann weinte er.

An jenem Tag, in der künstlichen Finsternis seiner Wohnung, träumte er von der Blume und von vielen weiteren Blumen, die aus den Fugen zwischen den rötlichen Ziegeln der alten Fabrikmauer hervorsprossen, und als er aufwachte, war die Trauer ein wenig besänftigt. Beinahe hoffnungsfroh wartete er auf den Beginn seiner Schicht.

Er verließ die Wohnung eine Stunde früher als gewöhnlich.

Keine neue Blume hatte sich an der Stelle angesiedelt, an der gestern die alte gestorben war, doch Zoltan gab nicht auf. Zwar sah er auf der ganzen Länge der Ziegelmauer keinen einzigen blauen Punkt, doch nun bog er in die nächste Seitenstraße ein, in die sich die Mauer im rechten Winkel fortsetzte. Hier war er noch nie gewesen; diese Straße war so fremd für ihn, dass sie in einem anderen Land, in einer anderen Welt hätte liegen können.

Es war dunkler hier, da die Laternen weiter auseinanderstanden, und beinahe hatte er den Eindruck, es sei kälter. Er zog den Kragen seines Mantels enger um sich, und sein Atem trieb als fahle Blüte vor ihm her. Die Mauer zu seiner Rechten setzte sich scheinbar endlos bis in die blasse Dunkelheit fort, und von der gegenüberliegenden Seite blickten Häuser mit leeren, lichtlosen Augen auf sie herab. Sie wirkten verlassen – oder das Leben hatte sich in ihren Kern zurückgezogen, wartete und brütete. Zoltan ging einige Schritte die Straße entlang, sah aber nirgendwo die Blumen aus seinem Traum. Bald hatte er ein gewaltiges Tor in der Mauer erreicht, das vermutlich in einen Innenhof führte, hinter dem in einiger Entfernung die riesige Fabrikhalle aufragte, gekrönt von einem Schlot, der sich in der Finsternis des schwarzen Abendhimmels verlor. Das eiserne Tor, hoch wie ein Mietshaus, war geschlossen. Er legte die Hand daran. Das Eisen wirkte warm und beinahe pelzig. Zoltan trat einen Schritt zurück, betrachtete das weiße Licht der Laterne neben dem versperrten Eingang, das sich in seiner glatten Oberfläche spiegelte, und legte dann wieder die Hand auf das Tor.

Als er sie wegnahm, sah er die undeutlichen Umrisse einer Blume auf dem Eisen, wie eingedrückt in einen Eisspiegel. Wie der Seelenabdruck einer geflohenen Hoffnung. Traurig wandte er sich von dem unnachgiebigen Tor ab und begab sich zurück zu der vertrauten Straße, zu dem vertrauten Weg, zu dem Bürogebäude, seinem Kokon in der Nacht.

Am Feiermorgen aber bog er wieder in jene Seitenstraße mit dem Tor in der Fabrikmauer ein. Und daneben, in einer Mauerritze, hatte sich in der Nacht eine Blume gebildet, eine blaue wie jene erste. Er hielt die Hand darunter, und die Blume fiel ab. Als hätte er dies erwartet, legte er die andere Hand zum Schutz darüber und trug die Blume nach Hause. Er füllte ein Trinkglas mit Wasser, stellte es auf den Tisch im Wohnzimmer und steckte die kleine blaue Blume hinein. Er lächelte sie an, wagte ob ihrer Fragilität nicht, sie zu streicheln, und hätte es doch so gern getan. In dem Bewusstsein, dass er nicht mehr allein war, ging er zu Bett.

Die Finsternis in seiner Wohnung schien der blauen Blume nicht bekommen zu sein. Nachdem Zoltan erwacht war und das Kunstlicht eingeschaltet hatte, eilte er ins Wohnzimmer, doch die Blume hatte alle Blätter abgeworfen, und der blassgrüne kahle Stängel ragte wie eine Anklage aus dem Wasserglas.

Als Zoltan das Fenster öffnete, drang eine Brise zwischen den Ritzen der alten Rollläden hindurch, und die Blütenblätter auf dem Tisch zerfielen zu Staub. Dahin war das neue Leben.

Abermals begab er sich früher nach draußen, ja, er wagte es, die Straßen schon zu betreten, als die Dämmerung gerade erst der Novemberfinsternis wich. Er verabscheute die Massen der Menschen, die ihm entgegenwogten und deren stinkender brauner Atem die Luft um ihn herum verpestete. Er wurde angerempelt, ihn schauderte, aber er stemmte sich gegen sie, gab nicht auf. Als er die Seitenstraße erreichte, schwitzte er entsetzlich. Er fühlte sich schmutzig, klebrig von all den Blicken, Berührungen, Ausdünstungen. Doch dann stand er vor dem Tor, neben dem er am Morgen die Blume gepflückt hatte, und atmete auf. Er spürte die beruhigende Leere der Häuser hinter sich, deren Leben nie nach draußen drang. Er sah niemanden auf der Straße, die der Stadt, in der sie lag, so fern zu sein schien. Aber er sah, dass das gewaltige Eisentor einen Spaltbreit geöffnet war. Der Spalt erschien zu winzig, um sich hindurchzuquetschen, aber Zoltan konnte einen Blick in den Hof dahinter werfen. Das Licht der Laterne neben dem Tor erhellte nur einen kleinen Streifen hinter der Mauer, aber schon in diesem sah er viele blaue Blumen wie jene beiden, die sich durch die Fugen der alten Mauer gebohrt hatten. Sein Herz tat einen Sprung. Er begriff nicht, wie solche Blumen in Ziegelwänden blühen konnten, und er begriff nicht, wie sie im dunklen Asphalt überlebten, zumal im kalten November, doch ihr Anblick war für ihn wie der Blick in ein Land der Verheißung. Er stemmte sich gegen das Eisentor, aber es gab keinen Millimeter nach. Schließlich musste er aufgeben.

Die ganze Nacht hindurch sann er über die Blumen hinter dem Tor nach. Wie gern würde er sie berühren, sie bewahren, sie bestaunen. Sie waren alles, was die Menschen nicht waren: schön, rein, ruhig, freundlich. Er musste sie wiedersehen.

Und er sah sie wieder, als er auf dem Heimweg einen Abstecher zum Tor der Fabrik machte. Noch immer stand es einen Spaltbreit offen; noch immer konnte er nicht in den Hof dahinter gelangen. Er kniete nieder, streckte die Hand aus, versuchte die nächste Blume zu packen, aber sie wuchs knapp außerhalb seiner Reichweite. Erst als er aufgab und in Richtung seiner Wohnung ging, wurde ihm bewusst, dass er auf dem Gelände der Fabrik keinen einzigen Menschen gesehen hatte, und auch kein Licht, und aus dem hohen Schlot war auch kein Rauch gedrungen, der von Arbeiten zeugte, und er hatte nicht das geringste Geräusch gehört. Offenbar war die Fabrik verlassen, aufgegeben und wurde allmählich von der Natur zurückerobert. Er sehnte sich dorthin.

Und im Traum schaffte er es, das Tor ein klein wenig weiter zu öffnen und in den Hof dahinter zu gelangen. Der schwarze Asphalt war mit zahllosen blauen Blumen übersät, die in einem breiten, ausgefransten Teppich zum Haupttor der Fabrikhalle führten. Dieses Tor stand weit offen, aber dahinter erkannte er nichts als Schwärze. Ein seltsamer Laut drang heraus, ein leises, feuchtes Saugen, Rascheln, Schmatzen. Als er neben den Teppich aus Blumen trat, weil er sie nicht zermalmen wollte, und einige Schritte auf die Fabrikhalle zu machte, wurden die Geräusche stärker. In ihnen schien etwas Verkapseltes zu leben, das kurz vor dem Ausbruch stand.

Und plötzlich waren die kleinen blauen Blumen neben ihm nicht mehr schön. Sie drehten ihm die Köpfe zu, und ihre winzigen schwarzen Staubbeutel pulsierten. Kleine gelbe Kapseln steckten darin, wirkten wie Augen. Sie alle sahen ihn an.

Und er erwachte.

Wieder brach er mehr als eine Stunde früher zu seiner Schicht auf. Draußen war es natürlich schon dunkel, und er ging langsamer als gewöhnlich. Als er an der langen Ziegelmauer der Fabrik ankam, blieb er stehen. Er wusste nicht, was er tun sollte. Den ganzen Tag hindurch hatte er den Traum nicht abschütteln können, der sein Paradies so unerwartet in etwas Unheimliches, Bedrohliches und Abscheuliches verwandelt hatte. Zumindest empfand er es so, wenn er an die Schlafgesichte des Tages zurückdachte.

Er sah keine der blauen Blumen mehr an der Wand, aber er beschloss weiterzugehen. Er bog in die Seitenstraße mit dem Tor ein, war auf der Suche, obwohl er es nicht wollte. Doch auch hier sah er nichts als Ziegel und starrende Häuser auf der anderen Seite, wie am vergangenen Tag.

Aber das Tor hatte sich weiter geöffnet, wie in seinem Traum.

Das Herz stockte ihm in der Brust, als er vor dem Spalt zwischen dem Tor und der Mauer stand und in den Hof dahinter schaute, der schwach von der Straßenlaterne beleuchtet wurde. Er sah die unzähligen Blumen, die einen gewundenen Teppich in eine Schwärze hinein bildeten, in deren samtener Struktur keine Umrisse mehr zu erkennen waren. Zoltan warf einen Blick die Straße hinauf und hinab; sie war so leer und tot wie immer. Er holte tief Luft und schlüpfte durch den Spalt des eisernen Tores.

Wie in seinem Traum wagte er es nicht, den Teppich aus Blumen zu betreten. Doch im Gegensatz zu seinem Traum drehten sie ihm nicht die Köpfe zu und sahen ihn nicht an. Vorsichtig ging er einige Schritte weiter auf die Schwärze zu, die ihn bald ganz einhüllte. Nur die Blumen waren als blassblaues Band links neben ihm noch undeutlich zu erkennen. Der Spalt zwischen Tor und Mauer war, als er sich kurz umdrehte, ein weißer, senkrechter, vollkommen konturloser Streifen.

Zoltan drehte sich einmal um sich selbst. Ganz schwach zeigten sich ihm die hohe Umgrenzungsmauer und das gewaltige Gebäude der Fabrikhalle; seine Augen gewöhnten sich allmählich an das dunkle Licht. Der Blumenteppich auf dem Asphalt nahm eine kräftigere Färbung an, und er führte auf ein rechteckiges Loch zu, das in der Mauer der Fabrikhalle klaffte und noch höher und breiter als das eiserne Eingangstor war. Zoltan ging darauf zu.

Es war ein weit offen stehendes Tor, das in die Halle führte. Die Blumen wuchsen nur bis an die Schwelle. Er überschritt sie, steckte den Kopf in die beinahe stoffliche Finsternis, erkannte nichts. Buchstäblich nichts. Ihm war, als sei er von der Existenz in die Nichtexistenz gewechselt. Er drehte sich um, als er ein leises Knarren und Quietschen weit, weit hinter sich hörte. Gerade noch sah er den senkrechten Lichtstreifen in der Ferne, der rasch schmaler wurde, bis er unter einem gewaltigen Donnern ganz verschwand. Das Tor in der Mauer hatte sich geschlossen. Wie sollte er jetzt wieder nach draußen kommen? Er würde bis zum Tageslicht warten müssen, er würde nicht rechtzeitig zur Arbeit erscheinen, zum ersten Mal, er würde die Tagwelt sehen, zum ersten Mal seit langer Zeit, und das war eine schreckliche, unerträgliche Vorstellung. Er machte einige Schritte in die einladende Finsternis der Fabrikhalle hinein. Vielleicht gab es hier irgendwo einen weiteren Ausgang. Aber selbst wenn er existierte, würde Zoltan ihn nicht finden; er würde blind an ihm vorbeigehen. Er streckte die Arme vor sich, damit er nicht gegen ein Hindernis stieß. Vorhin war noch ein wenig diffuses Licht vom dunklen Hof hereingedrungen, aber jetzt erkannte er nicht einmal mehr einen Umriss. Er war in der ihn umspinnenden Finsternis verloren.

Warum war er von seinen Gewohnheiten abgewichen, warum war er hierhergekommen, was hatte er erwartet? Wo war die Schönheit, wo sein kleines Paradies, das er sich erträumt hatte?

Da hörte er wieder das seltsame Saugen und Rascheln. Es kam aus der Dunkelheit vor ihm, war nun viel lauter und ekelhafter. Es schien seine Position nicht zu verändern; er selbst war es, der sich darauf zu bewegte. In diese Richtung durfte er nicht weitergehen, aber wohin sollte er sich dann wenden? Wo mochte ein zweiter Ausgang liegen?

Ihm wurde warm; er spürte, wie er schwitzte. Er atmete tief durch und roch etwas – etwas Erdiges, Reiches, Fettes. Etwas Lebendiges. Instinktiv wich er einige Schritte zurück, auch wenn er vor sich nichts erkennen konnte. Nichts, was eine Gefahr dargestellt hätte. Doch das, was undeutlich durch seine Gedanken huschte – der Ursprung der seltsamen Laute –, war schlimmer als alles, was er hätte sehen können. Er musste von hier verschwinden. Es war ein Fehler gewesen, herzukommen auf der Suche nach etwas, das es nicht gab.

Zoltan drehte sich um und ging immer schneller auf das weit offen stehende Tor der Fabrikhalle zu, das sich als dunkelgraues, riesiges Geviert in der schwarzen Wand abzeichnete. Die seltsamen Geräusche hinter ihm wurden leiser, und der Geruch zersetzte sich. Bald stand er wieder draußen im Fabrikhof, und der breite Teppich der kleinen Blumen wies zum verschlossenen Tor in der Umgrenzungsmauer. Zoltans Augen waren durch die Dunkelheit in der Halle geschärft, und er sah deutlich die unzähligen blauen Blütenblätter, die sich ihm zudrehten, als er neben sie trat. Er lief zurück zum äußeren Tor, aber es ließ sich nicht öffnen. Inzwischen war es für ihn hier draußen beinahe so hell wie am Tage. Wie mochte es erst sein, wenn die Sonne aufging? Bei diesem Gedanken raste sein Herz vor Entsetzen.

Er lief an der Mauer entlang, weil ihm nichts Vernünftigeres in den Sinn kam. Hier und da entdeckte er kleine Schutthaufen, aber abgesehen davon befand sich nichts in dem Fabrikhof, auch keine weiteren Blumen. Und vor allem weder Tor noch Tür. War da nicht bereits ein Schimmern am Himmel? Wie konnte das sein? Er befand sich schließlich noch nicht die ganze Nacht hier. Oder etwa doch? Hatte er nicht bemerkt, wie die Zeit vergangen war? Er blieb stehen, atmete heftig. Legte den Kopf in den Nacken. Dort hinten – war das Osten? – glaubte er am Himmel, hoch über der Umfassungsmauer, einen silbernen Streif auszumachen. Er rannte weiter, bis er an die Wand der Fabrikhalle stieß, die unmittelbar an die Außenmauer angebaut war und an der Querseite keine Öffnung aufwies. Also umrundete er auch diese Wand und stand bald wieder vor dem gewaltigen Eingang zur Halle. Auch in ihr schien es ein wenig heller geworden zu sein. Aber vielleicht gab es im Innern einen zweiten Ausgang, und vielleicht konnte er ihn jetzt sehen …

Als er die Halle betreten hatte, blieb er stehen, denn er wollte nicht über ein Hindernis stolpern, auch wenn sich nun bereits etliche Umrisse vor seinen Augen abzeichneten. Er glaubte große Maschinen zu sehen, gewaltige Turbinen oder Kessel, allesamt seit Langem nicht mehr in Gebrauch, und er konnte sich nicht vorstellen, was hier einmal produziert worden sein mochte. Nachdem sein Blick noch ein wenig schärfer geworden war, wagte er weitere Schritte. Und hörte bald wieder die seltsamen, reißenden und schleifenden, rauschenden und raunenden Geräusche.

In einiger Entfernung vor ihm, vor der rückwärtigen Wand, bewegte sich etwas. Etwas Gigantisches. Es reichte bis unter die Decke. Zoltan Zartek stand erstarrt da. Es schwankte sanft wie in einem bloß eingebildeten Luftzug. Und es kam auf ihn zu. Oder vielleicht ging er auf es zu. Er wusste es nicht, alles war durcheinandergeraten, Zeit, Raum, Gefühle. Er wollte weglaufen, wollte auf es zu laufen, wusste, was es war, wusste es nicht. Wusste nichts mehr …

Und dann drang ein Lichtstrahl, ein Strahl des neuen, noch so fernen Tages, des Tages aller Tage, durch eines der hohen, schmalen Fenster hinter dem bebenden Gebilde, das bis zur Decke reichte. Der Strahl fiel an dem Wesen vorbei, denn ein solches war es, und erfasste ihn. Er schloss die Augen. Aber er hatte gesehen.

Er hatte den mächtigen Stamm gesehen, dicker als jeder Baumstamm, aber auch biegsamer. Und er hatte die blauen Blütenblätter gesehen, groß wie Segel, fleischig wie Zungen, und die darin steckenden Staubbeutel mit den gelben Köpfen. Ja, es waren Köpfe, Köpfe mit schwarzen Augen und flachen Nasen und heraushängenden Zungen. Und die gesamte Blüte neigte sich ihm zu, die Köpfe trieben ihm entgegen, mit aufgerissenen Mündern, mit schwarz starrenden Augen. Dann sah er nichts mehr, und er spürte, wie hinter seinen geschlossenen Lidern das Licht erstickte. Und er hörte, und er roch … Und er spürte, wie sich etwas Gewaltiges über ihn stülpte.

Das Licht war ewiger Dunkelheit gewichen. Als ihn die zahllosen Münder erreichten, vermochte er nicht zu entscheiden, ob er von übermächtigem Grauen oder von überwältigender Ekstase zerrissen wurde.

Zwielicht 14

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