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Geschichten Carrie Laben – Postkarten von Natalie

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Von Natalies ersten sechs Postkarten besitze ich nur drei. Mom gelang es, die anderen drei abzufangen, während ich in der Schule war, oder auf Schicht im Tractor Supply, diesem Baumarkt, in dem ich ab Juli gearbeitet habe. Ich hätte gar nichts von ihrer Existenz gewusst, wenn sie nicht absichtlich dafür gesorgt hätte; sie hob sie auf, bis ich nach Hause kam, zerriss sie in die kleinstmöglichen Stücke, die ihre steifen Fingergelenke hergaben, und zündete sie dann im Aschenbecher an. Sie war wütend auf Nat, aber musste sich damit begnügen, mich zu bestrafen.

Ich schaffte es jedes Mal, ein paar lediglich angesengte Stücke aus dem Müll zu klauben, nachdem sie ins Bett gegangen war, aber Nats Handschrift war so groß und schwungvoll, dass ich nur ein paar Buchstaben oder kurze Wörter erwischte – ein ist oder ich oder auch. Nun wünsche ich mir, ich hätte sie aufgehoben und wieder zusammenzusetzen versucht wie einer dieser Kriminaltechniker im Fernsehen, aber Mom geradeheraus die Stirn zu bieten, erschien mir damals keine gute Idee zu sein. Daher starrte ich sie an, bis ich aus den Buchstaben, und den Bildern auf der Vorderseite, so viel wie möglich in mich aufgesogen hatte, und steckte sie anschließend zurück in den Müll und wusch mir die Hände.

Die drei hingegen, die mich erreichten, während Mom spät arbeiten musste, behielt ich natürlich. Ich versteckte sie in dem Buch Betty und ihre Schwestern, das ich mal von jemandem geschenkt bekommen, aber nie gelesen hatte. Die erste bekam ich, kurz nachdem Nat abgehauen war. Sie stammte aus Ohio, von der Rock and Roll Hall of Fame, und darin stand bloß die Dinge laufen super und sind so verliebt und außerdem noch, dass Keith ihr einen Silberring mit einer Schildkröte aus Onyxsplittern besorgt hatte – also offensichtlich geklaut und nicht gekauft. Sie malte eine Zeichentrick-Schildkröte an den unteren Rand und unterschrieb mit Werd dich immer lieb haben Kleine Mandy – von Nat.

Die zweite war vom Big Bend Familiencampingplatz in Michigan. Vermutlich waren sie schon eine Weile dort, denn sie beklagte sich, dasselbe Motiv zweimal schicken zu müssen. Sie sagte, es gäbe keine besonders große Auswahl. Außerdem reimte ich mir zusammen, dass sie sich unterwegs einen Welpen angeschafft hatten, denn sie war stolz darauf, dass sie „Strider“ fast beigebracht hatte, nicht andere Leute zu bespringen, und das, obwohl Keith ihn lachend dazu animierte. Wir sind jetzt eine richtige Familie!, schrieb sie, und mir schnürte sich für einen Moment die Kehle zu, aber ich konnte doch nicht traurig darüber sein, dass sie glücklich war. So etwas taten nur Menschen wie Mom. Und da sie erneut mit Werd dich immer lieb haben Kleine Mandy unterschrieb, wobei sie das ‚a‘ in Mandy in ein Herz verwandelte, fühlte ich mich besser.

Die dritte stammte aus dem Sleeping Bear Dunes-Nationalpark in Wisconsin. Noch bevor ich die Worte las, erkannte ich, dass etwas passiert war, denn obwohl Nat noch immer eine große und zur Seite geneigte Handschrift besaß, wirkten die Buchstaben schmaler und zittriger. Ich versteckte mich im Bad und las sie bei laufender Dusche, falls ich zu abgelenkt war, um Moms Heimkehr zu hören.

Keith ist abgehauen, stand da ohne Begrüßung. Er hat es auf die mieseste Art und Weise getan, Mandy. Ich hab gestern bis zum Umfallen gefeiert und als ich aufwachte, lag ich unter einem alten umgestürzten Baum im Wald, das Feuer war aus und er war weg. Er hat das Auto mitgenommen, und Strider und meine Tasche – einfach alles. Mir war beim Aufwachen so kalt wie noch nie zuvor. Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll. Ich fühl mich wie ein Häufchen Elend.

Sie unterstrich ‚Häufchen‘ und ‚Elend‘ mit gewellten Linien. Diesmal unterschrieb sie mit Hab dich lieb und vermisse dich Kleine Mandy.

Ich verließ das Badezimmer und versteckte die Karte bei den anderen, dann ging ich zurück ins Bad und übergab mich. Ich konnte nicht sagen, warum. Ich wusste bloß, dass beim Gedanken daran, wie Keith sie einsam und allein unter einem toten Baum voller Käfer und Fäulnis zurückließ, mein Körper von Kopf bis Fuß kribbelte, und ich fühlte mich, als gäbe es auf der Welt nichts anderes als Demütigungen in der Farbe von Bleistiftstrichen. Ein Teil von mir wollte Keith finden und ihm ins Gesicht schlagen, während ich aus voller Kehle schrie, und der andere Teil wusste, dass es das nicht ungeschehen machen würde, egal wie hart ich zuschlug oder wie laut ich schrie, das Universum war aus dem Gleichgewicht geraten und würde niemals wieder eines sein, in dem die Leute meine wunderschöne große Schwester so behandelten, wie sie es verdiente. Diese zwei Teile standen im Widerspruch zueinander und ließen mir das Mittagessen hochkommen.

Direkt nachdem ich ein Glas Wasser getrunken hatte, um den Geschmack wegzuspülen, rief ich bei Tractor Supply an und kündigte fristlos. Möglicherweise zog ich in Betracht, dass Nat jetzt nach Hause käme, und dass Mom sie vielleicht nicht hereinließe – wobei Mom sie natürlich wieder aufnehmen würde, denn wie sollte sie sie sonst bestrafen? Aber der eigentliche Grund war, dass ich Mom gewiss nicht erlauben durfte, auch nur eine weitere Karte in die Finger zu bekommen.

Ich überstand das Abendessen, ohne mir etwas anmerken zu lassen, und legte mich früh schlafen. Erst nachdem ich mich im Dunkeln in meiner Zimmerhälfte eingerollt hatte und nicht daran zu denken versuchte, wie Nat völlig allein und verwirrt aufgewacht war, stieg in mir stattdessen die Frage auf, woher sie eine frankierte Postkarte hatte, schließlich hatte Keith doch ihr ganzes Zeug mitgenommen. Mit ihr ist alles in Ordnung, redete ich mir ein, immerhin hat sie eine Postkarte geschickt.

Etwa eine Woche später verriet ich Mom schließlich, dass ich gekündigt hatte. Sie wurde nicht müde zu erzählen, wie faul und verwöhnt und wertlos ich wäre, genoss es jedoch, dass ich rund um die Uhr zu Hause war. Ich hatte gewusst, dass es so sein würde. Jetzt konnte sie das Kochen komplett auf mich abwälzen, und die Wäsche und die Gartenarbeit ebenso. Außerdem schien sie seit Nats Fortgehen zu befürchten, dass ich eines Tages auch abhauen mochte, aber ohne Einkommen konnte ich das nicht tun.

Ohne Einkommen konnte ich vieles nicht tun. Außer auf die Post zu warten. Einmal ging ich in die Bibliothek und suchte dort am Computer nach Bildern von Sleeping Bear Dunes, um zu sehen, ob ich Nats Aufenthaltsort ausmachen konnte, wenn ich nur angestrengt genug drauf starrte, aber da ich nicht genau wusste, wann Mom nach Hause kam, blieb ich nicht lange. Doch bevor ich wieder ging, druckte ich für zehn Cent pro Seite die Bilder aus, die am ehesten der Postkarte ähnelten. Ich hängte sie in meinem Zimmer an die Innenseite der Tür. Ich starrte sie so lange an, dass ich sie im Dunkeln sehen konnte.

Ich gewöhne mich schnell an neue Gegebenheiten, dieses Talent habe ich schon immer besessen. Nach ein paar Wochen hatte sich mein Leben stets um das Warten auf Postkarten gedreht, einige Wochen später waren diese stets nie angekommen – selbst wenn die ersten beiden Postkarten, die Mom verbrannt hatte, und jene von der Rock and Roll Hall of Fame alle im Abstand weniger Tage eingetroffen waren. Ich kochte Mom Abendessen und packte ihr auch etwas für mittags ein – wenn man kein Auge auf sie hatte, ließ sie das Mittagessen ausfallen, und sie war so schon dünn genug –, und ich schaute dreimal am Tag nach der Post, obwohl ich durch die Huskies der Nachbarn eigentlich immer wusste, wann sie kam. Ich studierte regelmäßig die Kleinanzeigen im Wochenblatt, aber alle, die mit dem Satz GELD VON ZUHAUSE AUS warben, klangen zu gut, um wahr zu sein. Mark rief zweimal besoffen an, voller Reue, dass er mich abgesägt hatte, bevor er zu den Marines gegangen war, und einmal Nats beste Freundin Katie, die sich aus dem College erkundigte, ob wir etwas von ihr gehört hatten. Mom verneinte und legte auf, bevor ich den anderen Hörer in die Finger bekam.

Die Ahornbäume warfen ihr Laub ab und ich harkte es zusammen, doch dann fand ich das schade um all die Farben – anstatt das Laub also in Säcke zu füllen, ließ ich es auf einem Haufen liegen, damit der Wind es wieder über den Rasen verteilte. Ich erwartete, dass Mom mich deswegen anschreien würde, aber das tat sie nicht. Sie saß auf der Veranda, den Blick auf den Blätterteppich gerichtet, und als ich rauskam, um eine Zigarette mit ihr zu rauchen, sagte sie: „Sieht hübsch aus, nicht wahr? Genauso hübsch wie alles auf diesen verdammten Karten.“ Keiner von uns beiden hatte dem anderen gegenüber je die Postkarten erwähnt, mit Ausnahme der Momente, wenn sie eine vor meinen Augen zerriss. Ich erstarrte. Im Juli hätte ich stillschweigend protestiert, mir vorgestellt, was Nat laut ausgesprochen hätte: Dass die Kiefernwälder und das Seeufer und jeder Ort fern von hier grundsätzlich tausend Mal hübscher waren. Selbst die Rock and Roll Hall of Fame. Aber ich hatte lange genug an Kälte und Einsamkeit gedacht, während ich Sleeping Bear Dunes anstarrte, dass die Blätter wesentlich behaglicher wirkten.

„Ich wünschte, auf einer dieser Postkarten stünde ein Absender“, fuhr Mom nach einem weiteren Zug von ihrer Zigarette fort. „Wir könnten dem Mädel mit einem Foto antworten. Sie daran erinnern, dass es ihr früher hier gefallen hat.“ Ich hatte mir auch gewünscht, dass die Postkarten einen Absender hätten, also wusste ich jetzt nicht, was ich denken sollte.

Danach war Mom irgendwie ausgebrannt oder aufgetaut, und mehr wie die Mom, an die ich mich von früher zu erinnern glaubte – ehe Nat abgehauen war, und ehe die beiden sich jeden Tag wegen jeder Kleinigkeit in die Haare gekriegt hatten, und noch davor, ehe Dad sich verkrümelt hatte. Aber da wären wir dann bei frühen Kindheitserinnerungen angelangt, also war ich mir nicht völlig sicher. Jedenfalls nicht sicher genug, um ihr die nächste Karte von Nat zu zeigen, als diese endlich eintraf.

Sie hatte bis nach Ohio kehrtgemacht; auf der Karte war eine feuerrote gedeckte Brücke abgebildet und darüber die Aufschrift „Grüße aus Troy“. Aber falls sie erwogen hatte, nach Hause zu kommen, erwähnte sie es nicht. Stattdessen schrieb sie bloß: Hi Mandy! Ich hab ein astreines Mädel kennengelernt. Sie ist genau wie Laura aus Unsere kleine Farm, mit zwei langen Zöpfen und einer Hirschlederjacke, die sie selbst genäht hat. Sie wurde auch von ihrem Freund abserviert, darum werden wir eine Zeit lang gemeinsam reisen. Sie ist schon viel herumgekommen und weiß, wo es langgeht. Ich schätze, wir ziehen nach Westen. Hab dich lieb und vermisse dich, Kleine Mandy. Deine Nat. P.S.: Sie heißt Beth.

Ihre Buchstaben hatten den Schwung zurück und das machte mich glücklich, auch wenn sie wieder fortging. Ein Mädchen in einer selbstgenähten Hirschlederjacke klang genau wie die Sorte Mensch, die Nat aus einer Gruppe von tausend Leuten in normalen T-Shirts und Baumwollblusen herauspicken würde. Vielleicht führte sie ihr Weg gen Westen ja bis nach Kalifornien, wo es ihnen so gut gefiele, dass sie mich zum Besuch einladen würden. Vielleicht legten sie sich unterwegs noch einen Hund zu.

Mom schaffte es ebenfalls, einen Freund aufzugabeln, einen Kerl, der mit ihr im Gefängnis von Wende arbeitete, aber keinen der Wärter, sondern einer von denen, die sich um die Klimaanlage und die Elektrik kümmerten. Ich mochte ihn irgendwie oder war zumindest froh, dass er kein Wärter war, denn die Wärter, mit denen sie ausging, konnte ich nie leiden. Als sie ihn das erste Mal mit nach Hause brachte, streckte er die Hand aus und sagte: „Du musst Amanda sein“, wobei er weder zu fest zudrückte, als wäre das ein Kräftemessen, noch versuchte mir auf die Pelle zu rücken. Soweit also in Ordnung. „Ich bin Greg.“ Man sah sofort, dass er sein Sportsakko nicht oft aus dem Schrank holte, tatsächlich erinnerte es mich an ein altes Foto von Dad bei der Hochzeit einer meiner Tanten, auf dem seine ausgebeulten Ellbogen total peinlich aussahen. Dass Mom an jenem Abend nicht nach Hause kam, überraschte mich nicht.

Mom lud Greg nie dazu ein, bei uns zu übernachten, aber einmal in der Woche oder so kam er zum Abendessen. Sie kochte an jenen Abenden, was mir gut passte und vielleicht einen Schubs in die richtige Richtung gab, jedenfalls fand ich ihn zunehmend sympathischer. Wie schon bei unserem ersten Handschlag behandelte er mich immer wie eine Erwachsene, was sonst kaum jemand jemals tat. Und durch ihn wurde Mom deutlich entspannter und umgänglicher. Auch sie fing an, mich wenigstens ein kleines bisschen wie eine Erwachsene zu behandeln.

Eines Abends zum Beispiel, nachdem wir alle Lasagne gegessen hatten – ihr ganz spezielles Lieblingsgericht – und Brownies mit einer Haube Frischkäse obendrauf, öffnete sie eine Flasche Wein, die Greg mitgebracht hatte, goss sich beiden ein Glas ein, und danach auch eines für mich. Ich hatte angefangen, den Tisch abzudecken, aber sie deutete mit der Weinflasche auf mich und meinte: „Setz dich. Das rennt nicht weg.“

Ich gehorchte und nahm einen Schluck Wein. Nicht dass ich noch nie Alkohol getrunken hatte – zum Zahnen hatte ich Old-Crow-Whiskey eingeflößt bekommen, und Nat hatte mich seit der Mittelstufe an ihren Genesee-Bierdosen nippen lassen –, aber dazusitzen und aus den guten Gläsern zu trinken, verschob alles ein wenig seitwärts. Ich fühlte mich sofort beschwipst, obwohl der Wein ziemlich sauer war.

Der Wind drehte auf und das Futterhäuschen klapperte gegen das Fenster. „Is’ bald Winter“, sagte Greg, und seinem Blick nach zu urteilen, bezog sich das auf etwas, das er mit Mom besprochen hatte.

Sie nickte. „Tja, wenn man ihrem Gebrüll von damals Glauben schenkt, ist sie kein verdammtes kleines Kind mehr.“

„Sie hat bestimmt einen Platz zum Überwintern gefunden.“

„Ja, da bin ich mir absolut sicher.“ Mom nickte nachdrücklicher, als nötig gewesen wäre, und trank einen größeren Schluck Wein.

„Im Ernst, Joanne, du musst die Sorgen abschütteln. Sie ist doch sicher ein cleveres Kind. Amanda hat jetzt schon ordentlich Grips im Kopf, und sie ist zwei Jahre jünger.“ Greg schaute mir in die Augen und für einen Moment befürchtete ich, dass Mom austicken könnte, aber sie verstand, dass es keinen Grund gab, eifersüchtig zu sein, nicht bei Greg.

„Amanda war immer die Verlässliche.“ Mom stupste mich mit dem Ellenbogen an. „Ich weiß, man sollte seine Kinder nicht miteinander vergleichen, aber es stimmt und das weißt du, Mandy. Du kamst verantwortungsbewusst auf die Welt. Nat hingegen hatte eine wilde Ader.“

Mir gefiel nicht, dass sie ‚hatte‘ sagte, aber ich sagte nichts.

„Aber du hast recht, Greg. Sie ist clever. Das sind sie beide, Gott sei Dank kommen meine Mädels da ganz nach mir. Beides Einserschülerinnen, und beide wissen, wie man auf sich selbst aufpasst. Dafür hab ich gesorgt.“

„Sie hat mir beigebracht, wie man Brennholz hackt, nachdem Dad fort war“, warf ich ein, weil ich das Gefühl hatte, endlich etwas sagen zu müssen. „Sie besorgte mir ein putziges kleines Beil und übertrug mir das Feuermachen. Sie und Nat lobten mich, als hätte ich uns alle vor dem Erfrieren bewahrt. Erst Jahre später begriff ich, dass es wesentlich länger gedauert haben musste, mir dabei zuzusehen, als es selber zu machen.“

Mom kicherte und schenkte allen mehr Wein ein. „Wir haben es auf die Reihe bekommen, nicht wahr? Er rechnete vermutlich damit, dass wir ohne ihn zerbrechen würden, aber wir haben es hingekriegt.“

„Das muss hart gewesen sein“, sagte Greg.

„Oh, damals dachte jeder, dass es nicht härter ging. Überall in den Nachrichten nur Scheidungsraten und alleinerziehende Mütter. Diese mitleidigen Blicke, die mir alte Frauen im Kaufhaus zuwarfen. Als hätten Männer nicht schon seit Urzeiten das Weite gesucht.“ Mom stellte die Flasche ein bisschen zu energisch ab. „Nichts für ungut.“

„Keine Ursache“, antwortete Greg in einem überfreundlichen Tonfall. „Natalie wird schon nichts passiert sein, Joanne.“

„Ja, ihr geht’s bestimmt gut“, sagte Mom. Und dann, als wäre es ihr gerade eingefallen: „Im Frühling sehen wir sie wieder, jede Wette. Bis dahin hat sie genug von dem Elend.“

Ich dachte an Nat, das unterstrichene Häufchen Elend, und war wieder still. Ich wollte das Mom nicht sagen, aber ich wusste, dass wir sie im Frühling nicht wiedersehen würden.

Der Schnee fiel, bevor die nächste Postkarte eintraf, aber in der Nähe von Buffalo will das nicht viel heißen, nicht wahr? Mit uns reist jetzt ein Mädel namens Tammy, stand da. Sie meint, sie hätte ’ne Menge Zeit bei uns im westlichen New York verbracht, sie ist sogar in Mumford gewesen! Sie war eigentlich auf dem Heimweg nach Florida, aber hat dann ihre Meinung geändert und beschlossen, mit uns nach Westen zu ziehen. Unterwegs trafen wir dann ein Kind, das sich verlaufen hatte, einen kleinen schwarzen Jungen, vielleicht zwei Jahre alt, der bis auf ein Paar Unterhosen nichts anhatte. Ich wollte ihm helfen, aber er wollte nicht mit mir reden und rannte davon, viel schneller als ich einem Kleinkind je zugetraut hätte. Beth sagt, hier draußen würden mehr Eltern ihre Kinder verlieren, als man glaubt, und dass es nichts gebe, was ich tun könnte. Es schien ihr allerdings nahezugehen. Die Worte am Ende waren gestaucht, als hätte sie versucht, so viele wie möglich dorthin zu zwängen, und das Werd dich immer lieb haben Kleine Mandy zog sich bis in den Adressteil der Karte. Ich drehte sie um und betrachtete das Motiv, ein Dampfschiff auf dem Mississippi. Kein Wort darüber, ob es dort, wo sie war, schneite, aber auf Dampfschiffen fiel niemals Schnee, oder?

Nur für alle Fälle kaufte ich ihr zu Weihnachten ein Paar gestrickte lila Handschuhe mit knallgrünen Schildkröten darauf und eine große Stange Toblerone. Ich packte noch drei Ahornblätter aus dem Vorgarten dazu, die ich aufbewahrt hatte: ein rotes, ein orangenes und ein gelbes, an dem anfangs sogar noch ein bisschen Grün dran gewesen war. Ich wickelte das Päckchen ein und legte es unter mein Bett, nur für alle Fälle.

Natürlich verbrachten Mom und ich den Weihnachtsmorgen letzten Endes allein. Greg war bei seiner Schwester und ihrem Mann und den Kinder, hatte aber versprochen, zum Abendessen vorbeizuschauen. Er hatte uns geholfen, einen Baum aufzustellen, der uns beide überragte, aber das bedeutete bloß, dass die Geschenke zweier Leute darunter nur noch einsamer wirkten.

Die Handschuhe, die ich von Mom bekam, waren aus schwarzem Leder, mit lilafarbenem Besatz und einem Futter aus Kaschmir. Beim Anprobieren waren sie ein bisschen zu klein, aber sie fühlten sich an, als würden sie sich noch weiten. Sie hatte mir außerdem Stiefel besorgt, bei denen ich am Karton erkannte, dass sie aus dem Outlet-Store stammten, aber sie wirkten praktisch wie neu. Dazu gab’s noch eine Handtasche aus Leder, in die ein Vogelmotiv eingearbeitet war.

„Die sind umwerfend“, sagte ich, und fuhr mit den Händen zurück in die Handschuhe, um erneut das Kaschmir zu spüren. „Dankeschön.“

„Ich danke dir“, sprudelte es aus ihr heraus, bevor sie mich umarmte. „Ich weiß, ich bin ein bisschen durchgedreht, als Nat abgehauen ist.“

„Ich bin mir sicher, Nat hat auch nicht alles so gemeint, was sie gesagt hat.“

Mom schüttelte den Kopf. „Zu dir war ich ebenfalls nicht fair. Du warst mein Fels, Mandy. Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun würde.“ Sie drückte mich fester, nur für eine Sekunde, und ließ mich dann los. „Wenn du eines Tages fortgehen solltest, wüsste ich wenigstens, dass du mir weiterhin schreiben würdest.“

Ich überlegte, ihr von den Postkarten zu erzählen, die ich versteckt hatte, doch ich zauderte zu lange, und dann war der Moment verflogen. Ich glaube, am Ende hätte es aber ohnehin keinen Unterschied gemacht.

Die nächste Postkarte bewies, dass ich mir wegen des Schnees keine Sorgen hätte machen brauchen. Nat war clever, wie Mom gesagt hatte. Sie befand sich jetzt in Texas, unten an der Golfküste. Auf der Karte prangte eine Meeresschildkröte, und ich lächelte beim Gedanken daran, wie glücklich sie gewesen sein musste, als sie darauf gestoßen war. Ihre Buchstaben waren so schwungvoll wie zuvor, doch mittlerweile kleiner, da sie wohl begriffen hatte, dass sie auf diese Weise mehr mitteilen konnte.

Hab hier draußen endlich einen süßen Typen getroffen, schrieb sie, und bei meinem Glück ist er natürlich eine Riesenschwuchtel. Aber ein netter Kerl. Heißt Alejandro. Er sagte, er wäre mit knapp 30 anderen Kids unterwegs gewesen, aber sie hätten vor einer Weile einfach die Kurve gekratzt. Also wird er uns wohl eine Zeit lang begleiten. Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie Nat kicherte und ‚was für eine Verschwendung‘ seufzte, vermutlich beim Versuch, sein Haar zu tätscheln – aber ohne es fies zu meinen, einfach nur Nat in ihrer typischen Unbekümmertheit. Ich hoffte, dass sie ihn nicht zu Tode piesacken würde, aber gleichzeitig genoss ich den Gedanken an ihr Kichern, also Pech für Alejandro. Beth meint, auf der Straße würden sehr oft Leute verschwinden – am wichtigsten sei, dass wir alle zusammenhalten und nicht mit den Cops reden, sie sollen uns nicht einmal zu Gesicht bekommen, sofern es sich vermeiden lässt. Aber manchmal geht das natürlich nicht. Vor allem nie deinen Namen verraten. Verrate einem Cop niemals deinen Namen, Kleine Mandy!, waren ihre Schlussworte.

„Als würde ich das tun“, sagte ich laut zu mir selbst, und legte die Karte zu den anderen.

Der Frühling setzte in diesem Jahr zeitig ein, und Mitte März holte Greg sein Motorrad aus der Garage. Um diese Zeit holten viele Leute ihre Motorräder heraus und viele andere nahmen auf sie keine Rücksicht. Gregs Unfall war nur deshalb ungewöhnlich, weil es sich um Fahrerflucht handelte. Man hielt lange Ausschau nach einem verbeulten Auto, einem schlechten Gewissen, nach irgendetwas, doch man fand nie den Schuldigen. Der einzige Trost war, dass Mom und Greg beide praktisch auf der Stelle starben.

Ich zog einfach meinen Kopf ein, so wie damals, als Dad und Nat abgehauen waren, und anfangs dachte ich, dass es vielleicht keinen großen Unterschied machte, ob ich mit den Postkarten die ganze Zeit alleine war oder nur die meiste Zeit. Aber da lag ich falsch. Jetzt, wo ich nichts zu tun hatte und niemanden, für den ich es tat, las ich alle Postkarten zwei- oder dreimal am Tag durch, wodurch sie sich allmählich verbogen und an den Ecken abnutzten, und das war nicht in Ordnung. Abgesehen davon wusste der Teil meines Gehirns, der nicht wie benommen war, dass das Geld von Moms Versicherung nicht ewig reichen würde, selbst wenn mir nie wieder der Sinn nach Essen stand.

Meine alte Filialleiterin bei Tractor Supply hatte mich immer gemocht und bekam Mitleid mit mir. Sie setzte sich bei ihren Vorgesetzten für mich ein, pochte darauf, dass ich stets zuverlässig gewesen sei, bis zu diesem einen Tag, und ich glaube, das schob sie auf Mom, hab aber nicht nachgefragt. Moms Temperament hatte in der Stadt einen ziemlichen Ruf genossen. Auf jeden Fall hatte sie Erfolg und ich wieder einen Job, allerdings auf der untersten Stufe der Karriereleiter, wo mir Kids Anweisungen gaben, die zwei, drei Jahre jünger waren als ich. Aber das störte mich nicht. Ich kehrte ausgekipptes Vogelfutter auf, hängte die Carhartt-Jacken wieder richtig hin, arbeitete an der Kasse. Und ich konnte jeden Tag dem Moment entgegensehen, wenn ich in die Einfahrt bog und den Briefkasten öffnete, anstatt den ganzen Nachmittag auf die Huskies zu lauschen.

Die nächste Postkarte erreichte mich ungefähr eine Woche, nachdem ich wieder arbeiten ging, obwohl es mir wie die vielen Jahre vorkam, die es eigentlich brauchen sollte, um die Welt komplett aus den Angeln zu heben. Sie hatte es nach Kalifornien geschafft, das Land der Träume, über dessen Besuch wir immer gesprochen hatten, der Ort, den wir aus dem Fernsehen kannten. Die Postkarte zeigte ein Schiff der Navy im blauen Wasser mit dem Schriftzug San Diego.

Total schräg, stand auf der Rückseite. Kurz nachdem wir hier angekommen sind, entdeckte ich entlang der Straße eine Frau, die genau wie Mom aussah. Genau wie sie, Mandy. Ich starrte sie an und sie starrte zurück, aber sie drehte sich um, ohne ein Wort zu sagen. Das sähe ihr überhaupt nicht ähnlich, oder? Nicht, wenn sie etwas mitzuteilen hätte. Bei ihr war auch ein Typ, den ich nicht kannte. Also war es wahrscheinlich nicht Mom. Allerdings hoffe ich, dass zu Hause alles in Ordnung ist … Ich vermisse es zwar nicht, aber ich vermisse dich.

Nat hatte kein Datum auf die Karte geschrieben, das tat sie nie. Aber der Poststempel war von dem Tag nach Moms Beerdigung. Und sie war erst jetzt hier angekommen. Ich begann mich zu fragen, ob auf der Straße, die Nat bereiste, die Zeit völlig anders tickte.

Aber sich solche Gedanken zu machen war verrückt, und da ich jetzt ständig normalen Leuten gegenüberstand, sorgte ich mich schon ein wenig, dass ich den Verstand verlieren könnte. Menschen taten das, nach einem Trauerfall, in leeren Häusern. Die einen stapelten Bierflaschen bis unters Dach, die anderen stopften sich die Scheunen, Schuppen und Häuser voller Katzen, die nach Pisse stanken, und wieder andere fanden auf eine heftige und befremdliche Weise zu Jesus, aber darunter verbarg sich stets dieselbe Verrücktheit. Diesen Weg wollte ich nicht einschlagen. Ich nahm mir vor, die Postkarten nur jeden zweiten Tag zu lesen. Oder nur einmal pro Woche. Sie würden sich deutlich länger halten, wenn ich sie nur einmal pro Woche las, und ich mich ebenfalls. Ich übernahm jede Stunde im Tractor Supply, die ich kriegen konnte.

Deshalb arbeitete ich auch an jenem Abend die Spätschicht, als Keith fünf Minuten vor Acht aufkreuzte. Er schleppte einen halben Zentner Hundefutter und bis er begriff, an wessen Kasse er stand, war es vermutlich zu spät, um unbemerkt kehrtzumachen.

Ich ließ mir zuerst nicht anmerken, dass ich ihn erkannt hatte. Es wäre im Prinzip nicht verwunderlich gewesen, keine Notiz von ihm zu nehmen – die schwarze Farbe war aus seinen dunkelblonden Haaren herausgewachsen und er sah heute viel älter aus als damals, bevor er und Nat abgehauen waren. Vor nicht ganz einem Jahr. Bisher hatte ich es gedanklich nie mit einem konkreten Datum verknüpft. Die Zeit tickte hier ebenfalls seltsam.

Ich wartete, bis ich das Hundefutter eingescannt und sein Geld genommen hatte, und gab ihm schließlich den Kassenbon mit den Worten: „Was du Nat angetan hast, war echt nicht cool.“ Ich sagte es so leise und ruhig, wie ich konnte. Die Mädchen an den anderen Kassen sollten nicht denken, ich wäre wie Mom und würde eine Szene machen.

Er ließ den Bon fallen und rannte ohne das Futter davon. Ich quälte mich den restlichen Abend mit der Frage, ob Strider jetzt hungern musste. Das hätte Nat nicht gewollt.

Er holte es am Morgen bei der Frühschicht ab und ich rechnete nicht damit, ihm noch einmal zu begegnen. Doch die Woche darauf kam er zurück, als ich wieder die Spätschicht hatte. Er schnappte sich einen dieser Nuss-Karamel-Riegel, die wir an der Kasse verkauften – offensichtlich nur ein Vorwand. Mir war noch nie jemand begegnet, der die Dinger tatsächlich aß.

„Ich hatte nichts damit zu tun“, sagte er, während er mir einen Fünf-Dollar-Schein gab. „Der Typ, der uns die Pillen verkauft hatte, war’s; ich wusste von nichts.“

Ich verstand, dass da Worte aus seinem Mund kamen und dass er den Kopf schüttelte, doch ich hörte nicht wirklich hin. „Aber du hast sie zurückgelassen. Du hättest sie nicht dort draußen lassen sollen.“

Er schüttelte den Kopf heftiger, wobei seine schmierigen Haare gegen seine Wangen flogen. „Ich konnte absolut nichts tun, Mandy. Was hätte ich tun sollen? Keinem tut es mir leid als mir, aber was hätte ich tun sollen? Nichts konnte ich tun, gar nichts.“ Er wiederholte diesen einen Satz in abgewandelter Form, bis ich ihm den Nussriegel in die Hand drückte. Dann schaute er darauf, als hätte er noch nie einen gesehen, und ging hinaus.

Als ich um Neun den Parkplatz betrat, klemmte unter meinem Scheibenwischer die rote Verpackung des Nussriegels, zerrissen in die grobe Form eines Herzens. Ich zog sie heraus und warf sie in einen Mülleimer. Ich verstand schon; ich sollte sie mit nach Hause nehmen und für immer behalten, vielleicht ebenfalls in ein Buch stecken – und nun begriff ich, wieso Mom nichts davon hielt.

Der verrückte Teil von mir fragte sich, ob Nat irgendwie in ihrer nächsten Postkarte darüber Bescheid wusste, aber sie erwähnte nichts dergleichen. Sie kam aus San Francisco und zeigte zwei Männer mit freiem Oberkörper in Sonnenbrillen und Cowboyhüten sowie einen versauten Spruch, den ich in Gesellschaft von Mom vermeintlich nicht kapiert hätte. Ich hab Alejandro genauso einen Hut besorgt, weil er aus Texas kommt. Besorgt, also geklaut und nicht gekauft. Die gute alte Nat. Er meinte zu Beth, sie solle ihm auch ihre Wildlederjacke leihen, aber natürlich denkt sie nicht daran. Ich liebe San Francisco, Mandy. Ich wünschte, wir könnten bleiben. Wir hatten hier nur ein schlechtes Erlebnis, nämlich, dass Tammy vor ein paar Tagen verschwunden ist. Vielleicht hat sie einem Cop ihren Namen verraten? Na, jedenfalls hat das Beth natürlich mitgenommen und sie sagt, mir müssen in Bewegung bleiben, weiter Richtung Norden.

Ich bin mir nicht sicher, wieso. Aber mal Seattle zu sehen, wäre vermutlich schon klasse.

Ich weiß nicht genau, warum gerade das mein Gedächtnis ankurbelte, es war ja nicht so, dass ich die Zeitung las oder Nachrichten schaute. Aber es hatte Schlagzeilen gemacht, also hatte ich es vielleicht im Augenwinkel gesehen oder aus dem Radio eines Autos mit geöffneter Scheibe gehört, oder ein paar Frauen hatten bei McDonald’s in der Schlange darüber getratscht, während ich für meinen Kaffee anstand. Nette alte Damen unterhalten sich beim Shoppen gern über die tragischsten, ekligsten und brutalsten Kriminalfälle. Ich sagte zu mir selbst, okay das war’s, du hast den Verstand verloren, aber ging trotzdem in die Bibliothek und besorgte mir die Buffalo News von Montag vor zwei Wochen.

Noch vor meiner Geburt hatte man die verscharrte Tammy Jordan in einem Feld etwas außerhalb von Honeoye Falls entdeckt, und mein ganzes Leben lang war sie Honey Namenlos gewesen, eine vage Erscheinung, die nur Beachtung fand, wenn ein TV-Reporter gelangweilt zu neuen Hinweisen aufrief. Bis vor zwei Wochen, als sie endlich identifiziert werden konnte – eine alte Frau hatte sich eine vor Ewigkeiten aufgenommene Folge von Unsolved Mysteries angeschaut und erkannte in dem computer-rekonstruierten Bild von Honey Namenlos die schiefen Zähne und das Lieblings-Shirt ihrer ausgerissenen Nichte.

Wir kennen ihren Namen, lautete die Schlagzeile. Ihre sterblichen Überreste sollten nun exhumiert und überführt werden, um sie dort zu beerdigen, wo sie hingehörten, in einem anständigen Grab mit einer anständigen Inschrift. Es ärgerte mich, dass niemand vorhatte sie zu fragen, ob sie überhaupt zurück wollte, bis mir klar wurde, wie dumm sich das anhörte.

Ich saß in der Bibliothek, bis sie schloss, weil ich nicht allein sein wollte. Danach ging ich nach Hause und starrte auf die mittlerweile eingerollten, glanzlosen Bilder von Sleeping Bear Dunes, die noch immer an die Rückseite meiner Tür gepinnt waren. Irgendwo zwischen diesen dunklen Kiefern hatte er Nat einsam und allein zurückgelassen. Und sie hatte einen Weg dort heraus gefunden, um mir trotz allem weiterhin zu schreiben. Sie hatte mich lieb und vermisste mich.

Dieses Mal musste ich nicht einmal meinen Kopf einziehen, um weiterzumachen. Er war bereits eingezogen. Ich kündigte nicht im Tractor Supply, weinte nicht in der Dusche, vergaß nicht zu essen, denn ich hatte all diese Dinge bereits getan. An meinem Verhalten änderte sich eigentlich nur, dass ich Zuhause das Licht nicht mehr anmachte. Ich wusste, wo sich alles befand, und es gab niemanden sonst, der etwas sehen musste. Außerdem wurden die Tage jetzt länger.

Ich hatte ein wenig Angst davor, dass sie aufhören könnte mir zu schreiben, jetzt, da ich dahintergekommen war. In einem Märchen, so schien es mir, würde genau das passieren. Aber so zu denken war verrückt. Und gleich in der nächsten Woche erreichte mich eine weitere Postkarte, diesmal aus Klamath Falls. Darauf ein See, hinter dem sich ein schneebedeckter Berg erhob.

Irgendetwas geht hier vor sich, Mandy. Wir sind auf diese ganze Gruppe von Frauen gestoßen … überwiegend Frauen und junge Mädchen, dazu noch einige Kinder und Kerle. Ein paar von ihnen kannten Beth und verhielten sich so, als hätten sie ihre Ankunft erwartet. Sie stellte mich und Alejandro allen vor. Alle sind aufgeregt. Es ist, als wären wir auf dem Weg zu einem Festival oder so. Wie es scheint, hat hier eine indianische Frau namens Anna das Sagen, die musst du echt erlebt haben – sie kümmert sich um alles und jeden und bringt uns so schnell nach Norden, dass ich kaum Zeit fand, dir das hier zu schicken. Ich werd so schnell ich kann herauskriegen, was hier los ist, und dir dann wieder schreiben; ich wette, das wird großartig! Ich vermisse dich so sehr, Kleine Mandy.

Ich ging weiterhin arbeiten, aber die Leute fragten mich, ob ich geschlafen hatte. Man sah es mir an. Wenn das Telefon klingelte, nahm ich nicht ab. Ich fühlte mich, als bräuchte ich nicht einmal Kaffee, dennoch ertappte ich mich dabei, mehr zu trinken als jemals zuvor, um mich dann, so oft es nur ging, aus dem Tractor Supply an die frische Luft zu stehlen. Ich fing an, Zigaretten zu schnorren und Raucherpausen zu machen, aber Leute in der Raucherpause wollten reden, und das fiel mir schwer, wo ich doch von etwas erfüllt war, über das niemand mit mir reden konnte außer Nat. Von Bedeutung war nur noch eins, und zwar die Tage abzuhaken, bis ich die nächste Postkarte bekam.

Sie erreichte mich gerade rechtzeitig. Sie war aus Seattle und in Schwarz-Weiß, ein sonderbar altmodisches Motiv mit Pferden auf der Straße und Männern, die Hüte trugen, dazu irgendein offiziell aussehendes Gebäude. Alle hellen Bereiche, sowohl der Himmel zwischen den Gebäuden als auch das fahlere Grau der Bürgersteige, waren übersät mit auf dem Kopf stehenden Buchstaben, in einer Schrift schmaler als alles, was ich jemals von Nat gesehen hatte. Der Text quoll von der Rückseite herüber, wo sich von Rand zu Rand winzige – na ja, zumindest für Nats Verhältnisse winzige – Buchstaben drängten, wenn man von dem Kästchen mit meiner Adresse und dem kleinen Feld für die Briefmarke absah. Über einen Teil war ein Sticker mit einem Strichcode geklebt worden, aber es gelang mir, ihn vorsichtig abzuziehen, ohne dass etwas von der Tinte darunter abblätterte.

Wir steigen den Berg hinauf. Es gibt so viele von uns, dass sie uns bald nicht mehr ignorieren können, Mandy. Die indianischen Mädchen allein – nur die aus Vancouver und British Columbia – wären schon eine Armee, und dazu kommen noch so viele aus Kalifornien, so viele aus Ohio, so viele aus Michigan, wir sind von überall her, aus jedem einzelnen Bundesstaat. Jede von uns für sich ignorieren sie, mal war es eine miese Pille oder ein mieser Mann, mal sind wir ins falsche Auto eingestiegen, völlig egal. Aber zusammen, wenn man uns nicht voneinander trennt und isoliert betrachtet, sondern uns alle zusammen, sieht man, dass das nicht stimmt. Es ist viel größer. Bis gerade eben war mir das selbst nicht bewusst, Kleine Mandy. Ich dachte, es wäre mein Fehler. Ich bin so froh, dir das sagen zu können, damit du dich nicht mit diesen Gedanken belasten musst. Also wie gesagt, hier musste ich die Karte umdrehen, wir

steigen

den Berg hinauf. Wenn wir

herabkommen, wird es auf eine Weise sein,

die sie nicht ignorieren können.

Und bis dahin sind wir in Sicherheit.

Ich wünschte, es gäbe einen Weg für dich, hier zu sein, stand über den weitesten Teil des Himmels geschrieben, ohne diese Straße beschreiten zu müssen. Ich hab Dich lieb und vermisse Dich, Kleine Mandy.

Ich hatte sie gerade zu den anderen in meine Ausgabe von Betty und ihre Schwestern gelegt, als es an der Tür klingelte. Hätten sie nur eine halbe Stunde länger gewartet, wären mir die Tränen übers Gesicht geflossen und sie hätten vielleicht gewonnen. Aber als die Polizei draußen stand, konnte ich nur an eines denken: Verrate einem Cop niemals deinen Namen, Kleine Mandy!, und beherrschte mich. Ich nickte und machte sogar das Licht an, damit sie mich nicht für schrullig hielten, aber das ist nicht dasselbe. Und als sie mir den Ring mit der Schildkröte aus Onyxsplittern zeigten und mich nach Nat befragten, sagte ich, nein, meiner Schwester geht’s gut. Ich habe gerade eine Postkarte von ihr bekommen.

Originaltitel: Postcards from Natalie

Erschienen in The Dark 7/16 (Wiederveröffentlicht in The Year’s Best Dark Fantasy and Horror 2017)

Übersetzung: Sebastian Rudolph

Zwielicht 12

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