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Wolfgang Rauh – Die Alptraum-Beule

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1

Ende Mai – diesjährig Beginn der Kurze-Hosen-Zeit – segelte mein Leben aus dem bequemen Binnengewässer der Durchschnittlichkeit hinaus und erlitt irgendwo in dem Meer bizarrer Ereignisse, die folgten, Schiffbruch. Nachträglich ist es verwunderlich wie lange ich mich gegen die Erkenntnis wehren konnte, dass etwas nicht stimmte. Allerdings ist die Geschichte, die Sie gleich hören werden, bis zum Anschlag verstörend – wenn ein gesunder Verstand da die Schotten dicht macht, darf man ihm keinen Vorwurf machen.

Aber von vorn. Es begann mit einem Jucken, knapp unterhalb des Knies. Zuerst war gar nichts zu sehen, dann wurde die Stelle rot, irgendwann schwoll sie an und schließlich … aber dazu kommen wir noch.

In meinem Schlafzimmer stand ein ausladender Spiegel – groß genug um sich als ausgewachsener Mann darin vom Scheitel bis zur Sohle betrachten zu können. Ich gaffte mich darin jeden Tag an! Morgens und abends! Jetzt fragen Sie sich vielleicht, wie man so selbstverliebt und auch noch stolz drauf sein kann, aber so war es nicht. Ich hatte gerade eine schwere Trennung hinter mir, und die täglichen Sitzungen mit meinem Spiegelbild waren eine Art Meditation, die mein zerstörtes Selbstwertgefühl wieder aufpäppeln sollten.

Fakt ist: Ich hätte die Möglichkeit gehabt, zu sehen was da unter meinem Knie wucherte, wenn ich von meinem Gesicht nicht so abgelenkt gewesen wäre. Als ich Anfang Juni dann mit dümmlich gaffender Miene vor meinem Schrankspiegel stand, war der einzige, klare Gedanke, an den ich mich erinnere, dass ich dieses Jahr wohl nicht viel Zeit im Freibad verbringen würde. Zumindest nicht in kurzen Hosen.

2

„Das ist ein Auge.“ Bernd, ein Bekannter aus Kindertagen, der nach der Trennung von meiner Verlobten aus unerfindlichen Gründen zu meinem gesamten sozialen Umfeld geworden war, nannte Dinge gerne beim Namen und hob Offensichtliches auch dann hervor, wenn niemand danach fragte.

„Vielen Dank“, antwortete ich. „Gut, dass du gekommen bist, ich war mir da nicht ganz sicher.“ Natürlich war ich mir sicher. Ein verdammtes Auge wölbte sich unterhalb meines Knies aus dem Schienbein und betrachtete mit der ungetrübten Aufmerksamkeit eines Kleinkinds seine Umgebung. Es gab an der ganzen Sache nichts, bei dem man sich hätte nicht sicher sein können

Abgesehen von Bernds messerscharfer Folge-Deduktion: „Das gehört da nicht hin.“

Kennen Sie das, wenn man Freunde gerne ohrfeigen möchte, weil sie nicht die Hilfe sind, die man vorher in sie hineininterpretierte? Wäre ich ein gewalttätiger Mensch, ich hätte Bernd in diesem Moment auseinandergerissen wie ein Stück faules Obst.

„Siehst du etwas damit?“ Er wedelte vor meinem neuen Auge herum.

„Lass das.“

Ich sah nichts mit dem zusätzlichen Auge. Ob das meine Lage besser oder schlechter machte, wusste ich nicht. Es war eindeutig lebendig, und wenn ich mein Bein entsprechend verdrehte, konnten wir uns gegenseitig in die Pupillen starren. Was wir auch taten. Und ja, das war genauso verstörend, wie es sich anhört.

Ich hatte mir moralische Unterstützung von Bernd erwartet. Irgendwas in der Richtung von: Ach, davon hab ich schon gehört. Ist ein Virus, geht grad um. Haben alle erfolglosen Singles.

Klingt dämlich, ich weiß. Wären Sie mit einem dritten Auge einfach zum Arzt gegangen, ohne zuerst mit engsten Vertrauten zu sprechen?

Bernd nippte an seinem Kaffee, ohne den organischen Albtraum unter meinem Knie aus den Augen zu lassen, und dabei sah er aus wie ein schlecht besetzter Filmbösewicht, der etwas ausheckt. Ich weiß noch, dass ich begann, mich wie ein Stück Fleisch zu fühlen, und augenblicklich taten mir die Tänzerinnen in den Lokalen leid, in die mich die Zeit nach der Trennung manchmal geführt hatte. In den Gentleman-Clubs, in die keine Gentlemen gingen.

Bernd stellte die Tasse ab, kniete sich vor mich und brachte sein Gesicht ganz nah an das Auge da unten.

„Siehst du mich?“, fragte er.

„Ja“, antwortete ich.

„Nicht du, das da.“

„Es hat keinen Mund, wie soll es dir da antworten?“

Das leuchtete selbst Bernd ein. „Vielleicht kommt ja noch einer“, meinte er trocken.

Ich lachte auf – extra gekünstelt, damit selbst er merkte, dass es nicht lustig war.

Er stand auf, aber statt sich wieder hinzusetzen, beugte er sich über mich.

Überrascht – und ein wenig geschockt – wich ich zurück, weil ich dachte, Bernd hätte in mein Single-Dasein irgendwelche Signale hineininterpretiert, die definitiv nicht mitgesandt worden waren. Er wollte mich nicht küssen. Er verglich die Augen.

„Es hat eine andere Farbe“, sagte er, deutete dabei auf mein Knie und setzte sich wieder.

„Echt?“ Tatsächlich – und das meine ich völlig frei von Sarkasmus – war mir das nicht aufgefallen.

„Jap. Grün. Deine sind blau. Also, deine anderen.“

Für ein paar Atemzüge schwiegen wir.

„Macht es das jetzt besser oder schlechter?“, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. „Das weiß ich nicht.“

3

Als Bernd ging, sah er etwas blass aus. Typen wie ihm steht Blässe, insofern hielt sich mein schlechtes Gewissen da in Grenzen.

Ich zwang Bernd, mir zu versprechen, dass er die Klappe hielt. Mit Leuten wie ihm war das nicht so einfach. Man sagte nicht bitte und empfing freudig sein kein Problem. Mit Bernd war so was immer ein Eiertanz. Schlussendlich hatte ich sein Versprechen und meine Hoffnung, dass er sich dran halten würde.

Ich stand wieder mal vor dem Spiegel und begaffte das Auge unterm Knie. Es gaffte zurück.

Ich fühlte mich unhöflich, können Sie sich das vorstellen? In etwa so, wie wenn man mit jemand Fremdem allein im Raum ist und sich nicht vorstellt.

Das Auge war aus dem Schneider, es hatte ja keinen Mund um eine Konversation in Gang zu bringen. Ohren aber auch nicht.

Kann vielleicht Lippenlesen, dachte ich. Dann wurd’s mir zu viel und ich wandte mich vom Spiegel ab.

Es hatte auch kein Gehirn, und dennoch war ich davon überzeugt, dass es denken konnte. Kein eigenes Gehirn, sagte eine von da an sehr unbeliebte Stimme in meinem Kopf. Kein eigenes Gehirn zu haben, heißt nicht, dass es nicht früher oder später deins anzapft.

Prost, Mahlzeit. Einschlafen war an diesem Abend von Wunschdenken geschwängerte Sisyphosarbeit.

Als ich wach im Bett lag und an die dunkle Decke starrte, fragte ich mich, ob es nicht doch schlauer gewesen wäre, einen Profi statt Bernd anzurufen. Wen kontaktierte man in einer solchen Lage? Chirurg? Exorzist? Augenarzt?

Ich musste mich wohl damit abfinden, dass ich unversehens in eine Situation geraten war, für die es keinen for dummies Ratgeber zu kaufen gab.

Da dachte ich an die Waffe, die im obersten Fach meines Schranks unter einer Menge nutzloser Platzverschwender wie Papierschlangen, Kartonkronen von Burger King, nicht funktionsfähige Pfeifen, schillernde Clownsperücken mit Halbglatze und ähnlichem begraben war. Wie ein verschollener Schatz.

Ich hatte sie mir vor Jahren zugelegt, nachdem bei unserem Nachbarn eingebrochen wurde und meine damals noch Verlobte die Hosen voll hatte. Die Pistole lag dort oben, seit mir klar gemacht wurde, dass ich einen Einbrecher nicht einfach erschießen konnte – Verhältnismäßigkeit der Gewalt, Notwehr und dergleichen. Offensichtlich musste ich warten, ob er mich erschießen wollte, bevor ich meine Waffe zücken durfte. Naja, ich war ohnehin nie ein guter Schütze gewesen

Ich konnte meinen Körper der Wissenschaft spenden. Dafür musste ich nicht am Leben sein.

Mit der Waffe auf dem Nachtkästchen und der Überlegung, ob Selbstmord ein noch zu früher Ausweg war, schlief ich ein.

4

Das Fenster stand weit offen, die Vorhänge wehten in einer überraschend starken Brise. Nichts daran war ungewöhnlich – ich schlief bei warmem Wetter immer mit frischem Wind im Haar.

Solch ein Licht hatte ich noch nie gesehen.

Ich stand auf. Der Mond leuchtete grün. Kein schönes grün, sondern ein verblichener, kränklicher Farbton, wie verwässertes und erbrochenes Erbsenpüree. Und das war nur die Spitze des Eisbergs. Was auch immer sich da unter meinem Fenster befand – es war nicht die Straße, in der ich lebte.

Nicht mal die Stadt, in der ich lebte.

Alte Gebäude, mit verschnörkelten Fassaden, spitzen Dächern und einer Menge gebogener Brücken. Im ersten Moment erinnerte der Anblick mich an Prag, aber je länger ich hinsah, umso mehr musste ich mir eingestehen, dass es wie kein Ort aussah, den ich je gesehen hatte. Alles war in das ungesunde, grünliche Licht des Mondes getaucht.

Ich lehnte am Fenster und wartete darauf, dass der Traum sich auflöste. Den Gefallen tat er mir nicht.

Als ich mich umdrehte, um resigniert in mein Bett zurückzukehren, war der Raum hinter mir weg. Ich stand vor einer schmucklosen Wand, die mir gerade genug Platz zum Stehen ließ.

Und als ich mich verwirrt wieder zurückdrehte, befand sich das Fenster nicht mehr im vierten Stock, sondern im Erdgeschoss.

Ich sah, dass die Straßen gepflastert waren. Ich sah, dass es keine Plakate, keine Mülleimer, keinen Dreck gab.

Ich sah, dass ich nicht mehr alleine war.

Der Mann, wenn es einer war, stand auf der anderen Straßenseite unter einer gebogenen Straßenlaterne. Ausgezehrte Gliedmaßen, eine verrenkte Körperhaltung und eineinhalb Köpfe – wobei der halbe wie nutzloser, toter Anhang vor seiner Brust baumelte. Die Beine waren unterschiedlich lang. Er trug Lumpen, die vielleicht mal ein Anzug gewesen waren und als er eine Hand zum Gruß hob, sah ich, dass die Finger in verschiedene Richtungen wiesen – als wären sie einzeln gebrochen und nie geschient worden.

Ich hob ebenfalls die Hand zum Gruß, vielleicht weil ich gut erzogen bin, vielleicht weil ich zu verwirrt war, um etwas anderes zu tun.

Er kam auf mich zu – torkelnd und rotierend, als würden sich nicht alle seiner Gelenke in die Richtung bewegen, in die sie sollten. Zu gehen fiel ihm sichtlich schwer, und als ich zurückweichen wollte, hielt mich die Wand davon ab.

Wie eine Marionette, bei der die Hälfte der Fäden gerissen war, stolperte er über die Straße, und während ein Teil in mir Mitleid empfand, wünschte sich ein anderer, dunklerer, dass ein Bus daherkommen und ihn überfahren würde, bevor er mich erreichte.

„Diese Welt stirbt“, sagte er, als er vor mir stand.

Seine Augen. Vielleicht war es nur der Mond, der alles hier grün erscheinen ließ. Es fiel mir dennoch schwer, nicht daran zu denken, dass das dieselbe Farbe wie die vom Auge in meinem Knie war.

„Wir sterben auch“, fuhr er fort.

Ich wollte nicht wissen, wen er mit wir meinte. Trotzdem erfuhr ich es.

Aus den Schatten zwischen den Gebäuden tauchten weitere Stadtbewohner auf. Manche krabbelten auf allen Vieren, andere hatten drei Arme, einige zu viele Köpfe und eine handvoll spottete so sehr allem, was ich bisher gesehen hatte, dass mir beim bloßen Anblick übel wurde.

Und als der Kerl vor meinem Fenster einen seiner deformierten Finger ausstreckte und mir damit gegen die Brust pochte, wachte ich schreiend in meinem Bett auf. Die Wand war weg, ich befand mich nicht mehr im Erdgeschoss, die Nacht glänzte schwarz statt grün und abgesehen von dem offenen Fenster, sah nichts aus wie in dem Traum.

Die Stimme des kaputten Kerls hallte noch in meiner Erinnerung nach, das, was er gesagt hatte, bevor ich endlich aufwachen durfte: „Wir gehen, du bleibst.“

Ein unangenehm zittriges Schütteln ergriff mich, und mit Schlaf war es damit vorbei.

Ich schaltete die Lampe auf meinem Nachtkästchen ein. Mein Blick fiel auf die Pistole.

5

„Da hast du dir selbst ins Knie geschossen.“

Man hätte es nicht besser auf den Punkt bringen können. Dass Bernd ein Sprichwort verwendete, um Offensichtliches auszusprechen, brachte mich schon wieder auf die Palme. Ich schwöre, wenn ich jemals gewalttätig werde, dann gegen Bernd.

Um die Stelle, an der mein unheimliches Auge aus der unteren Hälfte meines Beines getreten war, hatte ich eine Mullbinde gewickelt. Blut und eine Flüssigkeit, die widerlich stank und fast so eine zähe Konsistenz wie Gelatine aufwies, hatten eine ungesunde Spur bis zu meinem Fußgelenk hinterlassen. Ich hatte den Fuß nicht gewaschen und fühlte mich unhöflich, als ich die Sauerei Bernd präsentierte.

„Hast du Schmerzen?“, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. Ein dumpfes Ziehen, mehr spürte ich nicht. Ich hatte das Auge seitlich aus der Welt gepustet. Die Kugel hatte seinen weichen Körper durchbrochen wie nix, eine höllische Sauerei auf dem Teppich hinterlassen und meinen Schlafzimmerspiegel zerfetzt. Um den tat es mir nicht leid. Wenn die Polizei käme, weil die Nachbarn wegen des Schusses vielleicht angerufen hatten, würde ich behaupten, die Waffe sei beim Reinigen losgegangen. Haben durfte ich sie ja.

„Hm“, machte Bernd. „Und jetzt?“

Ja, und jetzt. Das hatte ich mich auch schon gefragt. Abwarten und schaun, ob der Albtraum zurückkehren würde. Ich hatte Bernd nichts davon erzählt, denn in dem Fall brauchte ich keine zweite Meinung. Dass Auge und Traum irgendwie zusammenhingen, stand außer Frage. Und wenn das eine real war, dann war es vielleicht auch diese sonderbare Stadt. Und ihre noch sonderbareren Einwohner.

„Das Auge hast du ja wahrscheinlich nicht mehr, oder?“, fragte Bernd.

Ich starrte ihn völlig entgeistert an. „Nein“, sagte ich, mit einem Unterton, der kein Quäntchen meiner Abscheu ihm gegenüber kaschierte.

Bernd war allerdings immun gegen Untertöne.

„Schade.“

6

Wir tranken noch ein Bier zusammen, bevor er ging. Irgendwie kam kein richtiges Gespräch mehr zustande, und ich war froh als Bernd sich verabschiedete.

Mit der Hoffnung, dass sich die Sache nun erledigt hatte, ging ich ins Badezimmer. Vielleicht hatte sie das ja tatsächlich. Vielleicht war das eine der wenigen Schwierigkeiten, die eine Pistolenkugel aus der Welt schaffen konnte.

Als ich in mein Schlafzimmer kam, sah ich durch das offene Fenster die in grün getauchte Straße von letzter Nacht. In dem offenen Rahmen stand der ausgemergelte Mann und winkte mir mit seiner verkrüppelten Hand fröhlich zu.

Ich wich zurück, stieß gegen eine Wand und spürte Panik in mir aufsteigen.

Aber alles war genauso schnell vorbei, wie es begann. Als mir klar wurde, dass die Wand in meinem Rücken jene war, die dorthin gehörte, sah ich vor dem Fenster auch nichts anderes als den gewöhnlichen Blick auf nachbarliche Häuserfronten mehr.

Am nächsten Morgen hatte ich eine traumlose, erholsame Nacht hinter mir.

Aber als ich mich nach einer ausgiebigen, kalten Dusche im Badezimmer abtrocknete, glitt meine Hand am Schulterblatt über eine Erhebung.

Eine kleine Beule, nicht der Rede wert.

Nur ein Insektenstich, sagte ich mir. Geht vorbei.

Es fiel mir schwer das zu glauben, denn die Stelle juckte bereits..

Und ich hörte die Stimme des kaputten Mannes.

Wir gehen, du bleibst.

Zwielicht 12

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