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2. Kapitel

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»Es reicht, Frau Lucy«, sagte Klopfer, »ich warte jetzt seit einer halben Stunde darauf, dass Sie mit Ihrem Privatgespräch zu einem Ende kommen. Genau dort ist meine Geduld: Zu Ende!« Polizeichef Alois Klopfer hatte, wie stets, wenn er sich aufregen durfte, sehr leise und eindringlich zur Büroperle gesprochen, während Lucys Augen immer größer und runder wurden.

»Das war meine Mutter, Chef. Die hat das Gegenteil von Alzheimer. Die merkt sich alles und vergisst nichts«, bemerkte Lucy, als sie das Telefonat hastig beendet hatte.

»Wenn das eine Drohung sein soll, dann würde ich Ihre Mutter gerne einmal kennenlernen.« Lucy schüttelte den Kopf und öffnete eine Schublade.

»Ich fürchte, das würde zu einem unvergesslichen Erlebnis ausarten.« Klopfer nahm sie ins Visier.

»Fürchten Sie eher für Ihre Mutter oder für mich?«

»Weder noch«, sagte Lucy ungerührt und nahm einen Schokoriegel in Augenschein, »ich fürchte, ich wäre die Leidtragende. Zwischen zwei Stühlen zu sitzen, ist schlecht fürs Rückgrat, hab ich irgendwo gelesen.«

»Apropos irgendwo – müssen wir heute eine Suchmeldung für Zweifel rausjagen oder darf ich darauf hoffen, ihn bald zu Gesicht zu bekommen?« Lucy hatte sich die Inhaltsstoffe des Schokoriegels genau durchgelesen und beschlossen, ihn vorerst zu verschonen.

»Friseur«, sagte sie und schloss die Schublade wieder.

»Was soll das heißen? Will er sich eine Perücke machen lassen?« Sie schüttelte den Kopf.

»Kann ich mir nicht vorstellen, wo ihm doch seine Glatze so glänzend steht.« In diesem Moment meldete sich ihr Telefon und Klopfer verdrehte genervt die Augen. »Oh, hallo Mel, ich dachte du bist im Urlaub. Wie – abgesagt? Aber warum …? Was? Nein, bei uns hat niemand angerufen. Was für ein Anschlag denn? Wo denn? Ist ja nicht zu fassen. Nein, den kannst du nicht sprechen, der ist noch nicht da. Versuch’s auf seinem Handy. Ja – ich geb’s weiter.«

»Was ist passiert?«, fragte Klopfer, als sie aufgelegt hatte.

»Die Therme. Da soll’s einen Anschlag gegeben haben, sagt Kollegin Zick. Mit Gas, wenn ich’s richtig verstanden habe.« Klopfer reagierte sofort und stürmte in sein Büro. »Aber wieso rufen die denn nicht bei uns an?«, konnte sie ihm noch hinterherrufen. »Ist doch nicht zu glauben. Wenn ich daran denke, wegen was sonst hier …« In diesem Moment klingelte es erneut. »Ah, Kommissar Zweifel, schön dass Sie anrufen.« Klopfer kam aus seinem Büro und fuchtelte wild mit seinem Arm. »Moment, ich geb’ Sie mal weiter an den Chef.«

»Zweifel! Wo zum Teufel sind Sie? Ach, Sie sind schon dort? Was genau ist passiert?« Klopfer lauschte einige Minuten hochkonzentriert, dann traf er seine Anweisungen. »Gut, ich schicke die ganze Mannschaft raus, alle verfügbaren Krankenwagen und Notärzte, und ich informiere das BKA für alle Fälle. Sind Sie sicher, dass es kein Giftgas war? Also müssen wir keine Warnung herausgeben? Gut, ich verlass mich auf Sie. Übrigens ist Kollegin Zick wohl schon auf dem Weg. Sie melden sich bitte in fünfzehn Minuten wieder und geben mir den neuesten Status durch.« Klopfer reichte Lucy den Hörer zurück. »Finden Sie raus, wer bei der Therme das Sagen hat und wem die ganze Chose gehört. Und dann verbinden Sie mich bitte mit beiden, in dieser Reihenfolge. Aber erst in fünf Minuten. Vorher rede ich mit dem Polizeipräsidenten.« Lucy konnte sehr schnell sein, wenn es um solche Dinge ging. Klopfer war schon in seinem Büro verschwunden, als er nochmal den Kopf herausstreckte. »Wie kommen Sie überhaupt auf die Idee, Zweifel sei beim Friseur. Fürs Köpfe waschen bin immer noch ich zuständig.«

Melinda Zick war nicht wütend. Das beunruhigte sie selbst am meisten. Da gefällt es dem Universum, ihr ausgerechnet an ihrem ersten Urlaubstag seit einer halben Ewigkeit einen Strich durch die Rechnung zu machen, und sie nimmt es hin, ohne mit Schuhen zu schmeißen oder ihr Rad zu malträtieren. »Was geht da schief?«, dachte sie, als sie sich auf ihr Rad schwang, nachdem sie mit Lucy telefoniert hatte. »Hat mir Zack da gestern mit seinem neuen Nachtisch was untergejubelt?« Zacharias war ihr Bruder, der ein veganes Bistro eröffnet hatte und eine Vorliebe für originelle Zutaten hegte, die durchaus besänftigend wirken konnten. Als sie die Stadtgrenze Richtung Norden erreichte, versperrten ihr zwei Senioren mit unhandlichen E-Bikes den Weg. Wenig später blickten sie ihr empört und fassungslos nach. Melzick hatte sich den Weg wütend freigeklingelt. »Bingo«, dachte sie erleichtert und atmete tief durch, »doch keine Drogen im Dessert.«

Kommissar Adam Zweifel rieb sich mit beiden Händen den kahlen Schädel trocken. Fischli, dem die Erleichterung ins Gesicht geschrieben stand, reichte ihm ein weißes Handtuch.

»Wo ist der Tote jetzt?«, fragte Zweifel und wischte sich mit dem Handtuch über sein Gesicht. »Verdammt warm hier drin.« Sie waren in Fischlis Büro. Es war ein kleiner Raum mit Metallspinden an den Wänden und einer Reihe von Monitoren auf einem weißen Metalltisch. Fischlis Erleichterung darüber, dass die Massenpanik glimpflich abgegangen war, wich purem Entsetzen, als ihm schlagartig die Stollensauna wieder einfiel.

»Das ist ein Katastrophentag«, stöhnte er. »Die ganze blödsinnige Elektronik spielt verrückt. Die Klimaanlage streikt, die Türen lassen sich nicht entriegeln, die Entlüftung stinkt zum Himmel und in der Stollensauna liegt … aber woher wissen Sie von dem Toten, wenn doch angeblich niemand die Polizei gerufen hat?« Zweifel warf das Handtuch auf einen Stuhl.

»Jemand hat mich auf meiner privaten Handynummer angerufen, anonym. Es hörte sich nicht nach einem Scherz an, auch wenn es sich nach einer Kinderstimme anhörte.« Fischli starrte ihn an.

»Und was sagte die Stimme?« Zweifel zuckte mit den Schultern.

»›Sie werden gebraucht. In der Therme gab es einen Toten.‹ Die Stimme war sicher elektronisch verzerrt, warum auch immer. Wer kam denn auf die Idee mit dem Bagger?« Fischli machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Nicht der Rede wert. Die Panik war in vollem Gange. Die Leute kannten nur eins: Raus hier. Da ist mir gottseidank der Bagger eingefallen.« Er machte eine Pause um nachzudenken. »Ob so etwas von der Versicherung abgedeckt ist?« Zweifel schüttelte den Kopf.

»Darüber würde ich mir an Ihrer Stelle keine Sorgen machen. Also, wo ist er?«

»Ja, äh, er liegt immer noch in der Stollensauna. Ich hab einen Kollegen davor postiert, damit niemand auf die Idee kommt …«

»Sind Sie denn sicher, dass keiner der Badegäste etwas bemerkt hat?«, unterbrach ihn Zweifel. Fischli verschränkte seine muskulösen Arme.

»Wenn ich Badegast bin und entdecke neben mir in der Sauna eine Leiche, was tue ich dann? Ich schreie um Hilfe, ich informiere das Personal, ich beschwere mich. Sehen Sie und all das ist nicht passiert.«

»Aber erwähnten Sie selbst vorhin nicht einen Schrei?« Fischli winkte ab.

»Der hat damit nichts zu tun. Irgendein blöder Scherz von ein paar Halbwüchsigen. Als Bademeister lernen Sie im Laufe der Jahre zwischen echten Schreien und hysterischem Getue zu unterscheiden. Wobei die lebensgefährlichen Situationen oft genug lautlos ablaufen.« Zweifel ließ sich das durch den Kopf gehen. Ein paar Minuten zuvor war er angekommen. Vor dem Haupteingang, auf den Parkplätzen und auf der Grünfläche rings um den Thermenkomplex wimmelte es von Menschen in höchst unterschiedlicher körperlicher und emotionaler Verfassung. Abgesehen von Schnittwunden und Kreislaufzusammenbrüchen, Prellungen, Quetschungen und zerkratzten Gesichtern, Augenreizungen und Atembeschwerden, war niemand ernstlich verletzt. Fassungslos und entsetzt, empört und verschreckt, versuchten die Menschen, das Erlebte zu verarbeiten. So unterschiedlich die Leute auch damit umgingen, alle einte das Gefühl, nochmal davongekommen zu sein. Als Zweifel sich einen Weg durch die Menge bahnte, hörte er mehrfach, wie über einen Schrei debattiert wurde, der offensichtlich von niemandem als so harmlos empfunden worden war, wie Fischli ihn glauben machen wollte. Doch vorerst beließ er es dabei. Sie hatten Fischlis Büro verlassen und gingen durch die menschenleere Saunawelt. Mehrere große Badetücher trieben im Vitalbecken. Die zerborstene Scheibe hinter dem als Frühlingsgarten bezeichneten Bereich, durch die alle endlich ins Freie gelangt waren, machte einen abenteuerlichen Eindruck. Der Bagger stand führerlos davor. Im Restaurant wurden sie von einem Mann aufgehalten. Er trug einen erstklassigen, hellen Leinenanzug, eine randlose Brille, hinter der schwarze Augen funkelten und eine kleine, halbvolle Flasche eisgekühlten Wassers. Ohne Zweifel eines Blickes zu würdigen, deutete er mit dem Zeigefinger auf Fischli.

»Das wird ein Nachspiel haben, John, das kann ich Ihnen garantieren. Ein sehr teures Nachspiel.« Damit leerte er die Flasche auf einen Zug und stellte sie auf dem Tresen ab. Dann erst wandte er sich Zweifel zu, dem er nicht mal bis zur Schulter reichte. Er blickte ihn von unten her abschätzig an. »Und Sie sind?«, fragte er mit einem Lächeln, das viele Zähne freilegte.

»Jemand, der gerne ein Wasser hätte«, konterte Zweifel trocken. Das Lächeln verdunstete im Nu.

»Mein Name ist Schilling. Ich bin hier der Geschäftsleiter«, sagte er und machte keine Anstalten, Zweifels Bitte zu erfüllen.

»Adam Zweifel, Kriminalhauptkommissar. Herr Fischli wollte mir gerade Ihren toten Badegast zeigen.« Schilling warf dem Bademeister einen missbilligenden Blick zu, der ihn ungerührt erwiderte. Zweifel blieb dies nicht verborgen. »Hier scheint heute ja einiges schief gegangen zu sein, wie ich höre, vor allem auch, was Ihre Haustechnik betrifft. Mit Ausnahme Ihres Kühlschranks, wie mir scheint«, ergänzte Zweifel mit einem Blick auf die leere Wasserflasche, an der einige Wassertropfen herabperlten. Schilling richtete seine schwarzen Augen auf den Kommissar und versuchte, die Situation abzuschätzen. Wie gewöhnlich überschätzte er dabei seine eigene Position. Fischli kannte seinen Chef zur Genüge und war daher auch nicht sonderlich von Schillings Antwort überrascht.

»Ich fürchte, das war die letzte Flasche«, sagte dieser mit einem Achselzucken. Zweifel wollte gerade etwas erwidern, als er aus den Augenwinkeln bemerkte, wie sich jemand mit roten Dreadlocks durch die Trümmer im Frühlingsgarten kämpfte.

»Schon wieder eine Gafferin. Jagen Sie die weg«, herrschte Schilling seinen Bademeister an.

»Ich würde nur ungern auf meine Assistentin verzichten«, sagte Zweifel seelenruhig, bevor Fischli reagieren konnte.

»Ihre was?«, fragte Schilling und nahm seine Brille ab. Melzick war jetzt bei ihnen angekommen. Etwas außer Atem nickte sie Zweifel zu.

»Schöner Schlamassel, was Chef? Das Südseeparadies stell ich mir eigentlich anders vor.« Schilling hustete und rümpfte die Nase. Fischli zog die Augenbrauen hoch und kratzte sich am Kopf.

»Sie haben Urlaub, Melzick. Was tun Sie hier?«

»Ich suche Erholung und Entspannung«, sagte sie und streifte die beiden teils ärgerlichen, teils verblüfften Männer mit einem raschen Blick. Fischli fasste sich als erster.

»Dafür haben Sie sich den falschen Tag ausgesucht, junge Frau«, knurrte er.

»Ach, wenn ich schon mal da bin, da …«

»Ich dachte bei der Polizei gibt es auch so etwas wie einen Dresscode oder besser gesagt: Haircode«, unterbrach sie Schilling süffisant. Melzick schaute ihn ruhig an.

»Davon ist mir nichts bekannt«, erwiderte sie. »Allerdings sollte man eine gewisse Körpergröße haben.« Die Gesichtsfarbe des Geschäftsleiters wurde einen Hauch dunkler. Fischli konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

»Na schön«, meinte Zweifel, »nachdem wir jetzt alle vollzählig sind, wäre es wohl an der Zeit für einen Besuch bei dem Toten.« Schilling holte tief Luft und stürmte wortlos voran, gefolgt von Fischli.

»Wer ist das eigentlich?«, raunte Melzick ihrem Chef unauffällig zu, während sie den beiden nachliefen.

»Oh, nur der Geschäftsleiter«, raunte der zurück. »Schilling heißt er und der andere ist sowas wie der oberste Bademeister hier, Fischli.«

»Wie bitte?«

»Das ist sein Name. Fischli, John Fischli. Wie sind Sie denn auf die Idee gekommen, ausgerechnet heute ins Paradies zu wollen?«

»Wollt’ ich ja gar nicht. Erzähl ich später.« Der junge Bademeister hielt immer noch Wache vor der Stollensauna. Zweifel konnte beobachten, wie er Schilling etwas ins Ohr flüsterte und dann die Glastür freigab.

»Stopp!«, rief Zweifel, als Schilling sie betreten wollte. »Ich will keinen Ärger mit der Spurensicherung. Niemand betritt die Sauna!« Schilling hob reflexhaft beide Hände, als würde er mit einer Waffe bedroht. »Sie waren hoffentlich auch nicht drin«, sagte Zweifel zu dem Jungen, der ihn mit großen Augen verwundert ansah.

»Natürlich war ich drin.«

»Er hat ihn ja entdeckt«, mischte sich Fischli ein.

»Ich hab aber sofort gesehen, dass da nichts mehr zu machen war.«

»Fußspuren haben wir jedenfalls keine hinterlassen«, meinte Fischli.

»Da wär’ ich mal nicht so sicher«, warf Melzick ein. Zweifel hatte inzwischen einen der dünnen Handschuhe angezogen, die er immer bei sich trug, und öffnete die Glastür, indem er sie ganz oben anfasste. Ein eigenartiger Geruch stieg ihnen in die Nase, eine Mischung aus nassem Laub, Moder und trockenem Holz. Melzick schaute ihm über die Schulter.

»Oh fuck«, stieß sie hervor, »der ist ja kaum so alt wie ich!«

»Nie wieder, dit sarick dir!« Fred schwitzte. Er saß hinter dem Steuer seines Wohnmobils. Johanna wartete stumm auf dem Beifahrersitz ab, bis sich das Unwetter gelegt hatte. Abgesehen davon war sie unglücklich, weil sie sich von ihrer alten Freundin nicht mehr hatte verabschieden können. Nicht einmal telefonisch. Fred war so Hals über Kopf losgefahren, nachdem Elias aufgetaucht war, dass sie gar keinen klaren Gedanken fassen konnte. Erst auf der Autobahn fiel ihr Katharina wieder ein, die sie am Tag zuvor so großzügig mit Kuchen bewirtet hatte, dass sogar Fred beim dritten Nachschlag abwinken musste. Als Johanna sie anrufen wollte, um ihr das Ganze zu erklären, merkte sie, dass ihr Handy weg war. In dem riesigen Durcheinander und in der überstürzten Eile musste sie es verloren haben. Fred wollte von einem eigenen Handy nichts wissen und Elias sollte nach ihrer Meinung von einem eigenen Handy noch nichts wissen. So blieb ihr also nichts Anderes übrig, als bis zur nächsten Raststätte zu warten, in der Hoffnung, dass Fred sich bis dahin beruhigt haben würde. Elias war in sein Buch vertieft. Es lag auf dem rückwärtigen Tisch zwischen seinen Ellenbogen. Sein blasses Gesicht hatte er in seine Fäuste gebettet. Fred saß der Schrecken in den Gliedern. Ursprünglich hatte er vorgehabt, in einem Rutsch nach Berlin zu fahren, wo er sich für den Rest des Urlaubs auf seinem Balkon erholen wollte. Doch jetzt beschloss er kurzerhand, auf dem nächsten Parkplatz eine Pause einzulegen. Das Zittern in seinen Händen war zu stark geworden. Was er genau mit seinem in regelmäßigen Abständen wiederholten »nie wieder« meinte, ließ er offen. Johanna war es ohnehin klar: Nie wieder Bayern, nie wieder Bad Wörishofen, nie wieder Therme, nie wieder Sauna. Der Junge hielt sich die Ohren zu. Er hatte etwas Anderes herausgehört: Nie wieder Elias.

»Ich hab euch gleich gesagt, dass es ganz großer Mist ist, was ihr da vorhabt!« Carla ließ Zornesfunken aus ihren dunklen Augen sprühen. »Wie kann man so naiv sein, so gotteserbärmlich naiv? Genauso gut könnt ihr eine Lawine lostreten und hoffen, dass Schneebälle unten ankommen!« Sie warf ihre schwarze Haarmähne mit der Hand wild zurück. Ihr Zorn war echt. Er war echt und mit Angst unterfüttert. Angst davor, was ihnen jetzt bevorstehen könnte.

»Jetzt mach mal halblang, Carla«, brummte Melchior, »es ist doch gut ausgegangen, außer den paar leichten Verletzungen. Dafür sind die Aufnahmen erstklassig.« Carla schnaubte vor Empörung und klatschte die Hände zusammen.

»Halt einfach die Klappe, Melchior«, fuhr ihn Lukas, der dritte im Bund, an. »Carla hat Recht. Wir haben einen Wahnsinnsdusel gehabt. Ich hätt’ mich nie darauf einlassen sollen.« Melchior schaute ihn spöttisch von der Seite an. Er saß auf der roten Mauer, die sein elterliches Anwesen großzügig einfasste. Lukas saß neben ihm, Carla tigerte vor den beiden auf und ab. Plötzlich schien ihr etwas einzufallen.

»Gib mal her«, sagte sie zu Melchior. Er reichte ihr wortlos und mit einem Schulterzucken sein Smartphone. Sie setzte sich im Schneidersitz auf den Gehweg und startete noch einmal das Video, das sie sich an diesem Tag bestimmt schon fünfmal angesehen hatte. Aus dem winzigen Lautsprecher kamen verzerrte Geräusche, eine Kakophonie aus Schreien, Rufen, Protesten, Schlägen aufs Wasser, Schlägen auf Glas und, darüber liegend, in größeren Abständen gemurmelten Kommentaren von Melchior: » … jetzt kommt gleich die erste Durchsage …; einige haben es gemerkt …; Vorsicht, die Treppe, der Bademeister …«; an dieser Stelle wackelte kurz das Bild, was daran lag, dass Melchior den Standort gewechselt hatte, um nicht in Fischlis Blickfeld zu kommen. Auf dem kleinen Display waren sehr deutlich die Gesichter konfuser Menschen zu erkennen, die in der Schleuse zum Außenbecken feststeckten. Carla starrte auf das Gedränge an den Glasscheiben und auf die Menschenmenge, die von der gegenüberliegenden Seite her ins Innere drängte, auf der Flucht vor dem vermeintlichen Giftgas. Lukas’ Stimme war ganz kurz zu hören, dann konnte man sehen, wie er am Bademeister vorbei die Treppe hinuntereilte und mit einem riesigen Satz ins Becken sprang, wo er einen kleinen Jungen, mit dem Gesicht nach unten treibend, entdeckt hatte. Carla stoppte das Video, sprang auf und funkelte erneut ihre beiden Kommilitonen an.

»Drei Fragen«, sagte sie betont langsam und deutlich, »erstens: Was ist mit dem kleinen Jungen passiert? Wieso wusstest du, Melchior, dass gleich eine Durchsage kommt? Und vor allem: Wo habt ihr die Gasgranaten her? Und wer hat die gezündet? Ihr beide wart ja wohl die ganze Zeit im Saunabereich, oder?«

»Das sind jetzt aber vier Fragen«, meinte Lukas.

»Es sind immer noch viel zu wenige Fragen«, fauchte sie ihn wütend an.

»Schon gut, schon gut, jetzt beruhig dich mal. Also: Dem Jungen geht’s gut«, erwiderte Lukas, »der ist gleich wieder zu sich gekommen. Ich hab sogar seine Mutter gefunden. Die hatte in dem Tumult noch gar nicht mitbekommen, dass ihr Sohn ›toter Mann‹ spielen wollte.« Er lächelte gequält und schaute Melchior von der Seite an, doch der schwieg. Er hatte sich einen Kaugummi in den Mund gesteckt und wich Carlas Blick aus. Melchior wusste, sie würde keine Ruhe geben, auch wenn sie jetzt ebenfalls schwieg. Ihr Schweigen konnte sehr herausfordernd sein. Das hatte er in den letzten beiden Jahren, seit sie gemeinsam in München Psychologie studierten, oft genug erlebt. Schließlich nahm er den Kaugummi raus und klebte ihn demonstrativ an die Mauer.

»Ach weißt du, Carla,« sagte er obenhin, »das mit der Durchsage und so, glaub’ mir, es ist besser, wenn du nicht alles weißt.«

»Besser für dich oder für mich?« Er schaute ihr in die Augen.

»Für dich«, und damit sprang er von der Mauer. »Übrigens war das kein Giftgas, nur ein paar harmlose Nebelgranaten.«

»Weißt du was«, giftete Carla ihn an, »sag das doch mal den Leuten ins Gesicht, die sich hier quälen.« Sie hielt ihm das Display vor die Augen. Das Standbild zeigte deutlich die verzerrten und verstörten Gesichter der Menschen aus dem Eingangsbereich. »Aber dazu fehlt dir einfach die Courage, Melchior.« Sie warf ihm das Smartphone voller Verachtung entgegen. Melchior fing es lässig auf. Lukas schaute angestrengt in eine andere Richtung. Carla hatte einen Entschluss gefasst. Sie hängte sich ihre Büchertasche um und holte tief Luft.

»Mit euch bin ich fertig«, sagte sie leise und ging. Lukas schaute ihr erschrocken nach. Melchior hielt ihn am Arm fest.

»Komm mit rein«, sagte er zu ihm, »wir müssen uns was überlegen.«

Mord aus kühlem Grund

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