Читать книгу Mein langer Weg zur fleischlosen Ernährung - Adam Fischer - Страница 6
ОглавлениеMit Tieren leben
Meine Entwicklung zur fleischlosen Ernährung vollzog sich über lange Zeiträume hinweg und erfolgte auf unterschiedlichen Wahrnehmungs- oder Bewusstseinsebenen. Hineinspielten einerseits die angesprochenen feinen Impulse meines Gewissens, andererseits handfeste medizinische Erwägungen. Für mich besteht kein Zweifel daran, dass dieser gesamte Entwicklungsprozess einer der entschiedensten in meinem Leben war, denn dabei ging es nicht einfach nur um die praktische Nahrungsumstellung auf fleischlose Kost.
Da – wie bei jedem Menschen – mein persönlicher Entwicklungsverlauf in meine Familiengeschichte eingewoben war und ist, sehe ich meinen Werdegang nicht erst mit meinem Eintritt in dieses Erdenleben beginnend, sondern begreife auch frühere Einflüsse als maßgeblich, beispielsweise die Jahre des 1. Weltkriegs:
Am 30. Oktober 1914 fiel mein leiblicher Großvater, Konrad Fischer, im Alter von 35 Jahren bei Morsan in Nordfrankreich – so wurde es seiner Frau, meiner Großmutter, durch den Kommandanten des Reserveinfanterieregimentes Nr. 32 mitgeteilt. Wie meine Nachforschungen ergeben haben, sollten in jenen Tagen dort heftige Kämpfe getobt haben. Der Moloch Krieg hatte der Frau den Ehemann, zwei kleinen Söhnen den Vater und dem Hof den Bauern weggenommen – einfach so, „nachmittags um 17: 15 Uhr“ stand in dem Mitteilungsschreiben und „Gefallen für das Vaterland“, wie es damals hieß, und „Auf dem Felde der Ehre!“
Die kleinen Söhne hießen Heinrich und Hans. Heinrich, der Ältere, der 25 Jahre später mein Vater werden sollte, wurde vier Tage nach diesem Ereignis, am 3. November, fünf Jahre alt. Ob er es wohl begriff, als man ihm sagte: „Dein Vater kommt nicht wieder!“? Wie war wohl seiner Mutter zumute, die in die Familie ihres Mannes eingeheiratet hatte und nun mit dem Hof und den beiden Kleinkindern alleine dastand? Nur ihre Schwiegermutter war noch da, um mitzuhelfen – sie starb erst 1926. Der Schwiegervater war bereits 1908, im Alter von 50 Jahren, an einer Lungenentzündung gestorben. Die drei Brüder ihres gefallenen Mannes waren alle im Krieg – und kein Mann konnte die schwere Feldarbeit mit den Pferden leisten. Welch eine Katastrophe für die beiden Frauen! Nie habe ich meine Großmutter gefragt, wie sie das damals alles bewältigt hat und wie ihr zumute war – warum bloß nicht?
So trug der Krieg Zerstörung und Elend von den Schützengräben bis in die zurückgebliebenen Familien hinein. Bis heute sind die Menschen daraus nicht klüger geworden: Sie rüsten und rüsten auf, immer noch! Das Schlimme dabei ist, dass die meisten Verantwortlichen sich „christlich“ nennen oder sich zu einer Kirche bekennen, die sich christlich nennt. Unbegreiflich angesichts dessen, dass der große Menschheitslehrer, Jesus Christus, der vor 2.000 Jahren durch den Sand von Galiläa schritt, die vollkommene Gewaltlosigkeit lehrte und vorlebte. Ist das alles in Wahrheit nicht ein riesiger Etikettenschwindel?
Die drei Brüder meines zurückgebliebenen Großvaters hatten die Weltkatastrophe, zwar teils mit erheblichen Verwundungen, aber doch lebend, überstanden. Die beiden Älteren waren bereits bei Kriegsbeginn verheiratet gewesen und kehrten 1918 zu ihren Familien zurück. Als nun der Jüngste, Johannes Fischer, im Alter von 23 Jahren ebenfalls zurückkam und feststellen musste, dass ihm seine Jugendliebe nicht die Treue gehalten hatte, heiratete er die Witwe, seine 15 Jahre ältere Schwägerin. So wurde der einstige Onkel den Kindern Heinrich und Hans zum Vater. Eine Liebesheirat war das vermutlich nicht, eher eine Entscheidung der Vernunft. Aber so konnte der Hof weiter bestehen und die Halbwaisen hatten wieder einen Vater. Dieses ungleiche Ehepaar bekam noch den gemeinsamen Sohn, Georg. Mein eigentlicher Großonkel Johannes war durch diese Heirat zu meinem Großvater geworden – ein besser Großvater hätte er nicht sein können.
Heinrich Fischer heiratete zu Silvester 1938 Maria Glebe und zog in das Haus ihrer Familie ein, zu dem eine Nebenerwerbslandwirtschaft in Aua gehörte, an der Landstraße gelegen. Am 11. Oktober 1939 wurde ich als deren Sohn geboren.
Über Europa hatten sich schon wieder dunkle Wolken ausgebreitet: Sechs Wochen bevor ich zur Welt kam, war Hitler in Polen einmarschiert und hatte damit die zweite große Katastrophe des 20. Jahrhunderts in Gang gesetzt. Es waren gerade einmal 21 Jahre vergangen, seitdem die erste Katastrophe beendet worden war. Wieder mussten die jungen Söhne von Müttern, die um deren Leben bangten, zwangsweise hinaus – aber nicht, um das Vaterland zu verteidigen, sondern es war vielmehr der Größenwahn eines Einzelnen und seiner Gefolgschaft, der ein ganzes Volk terrorisierte. Der Krieg weitete sich aus, und bald wurde auch mein Vater eingezogen.
Im Sommer 1941 starb die Mutter meiner Mutter im Alter von 60 Jahren. Die Todesursache war nicht bekannt, sie hatte ihr Leben lang nie einen Arzt aufgesucht. Wie ich den späteren Erzählungen meiner Mutter entnehmen konnte, hatten sie sich gut verstanden. Diese Großmutter hatte auch ihren Schwiegersohn liebevoll in die Hausgemeinschaft aufgenommen – zu dieser Zeit lebten normalerweise alle Menschen in einer Großfamilie zusammen.
Wieder brachte ein mörderischer Krieg großes Chaos und Leid in das Leben vieler Menschen – so auch in das Leben meiner Mutter, die obendrein den frühen Tod ihrer eigenen Mutter zu betrauern hatte und mit mir, einem Kleinkind von nicht einmal zwei Jahren, und der kleinen Landwirtschaft praktisch alleine dastand. Das hieß, fast jeden Tag Kühe anschirren, anspannen, auf eine Wiese fahren, mit der Sense frisches Gras für die Tiere mähen und wieder nach Hause fahren. Zwei Milchkühe und etliche Schweine mussten täglich versorgt werden, von der anstehenden Feldarbeit gar nicht zu reden: mit den Fahrkühen stundenlang pflügen! Wo sollte in dieser Zeit das kleine Kind bleiben? Zwar lebte mein Großvater noch, aber wegen seines stets kränkelnden Zustandes war er eher eine zusätzliche Last als eine Hilfe.
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as für die Tiere mähen und wieder nach Hause fahren. Zwei Milchkühe und etliche Schweine mussten täglich versorgt werden, von der anstehenden Feldarbeit gar nicht zu reden: mit den Fahrkühen stundenlang pflügen! Wo sollte in dieser Zeit das kleine Kind bleiben? Zwar lebte mein Großvater noch, aber wegen seines stets kränkelnden Zustandes war er eher eine zusätzliche Last als eine Hilfe.
Im darauffolgenden Sommer machte Johannes Fischer, der Schwiegervater meiner Mutter, das Angebot, zu ihnen ins Dorf zu ziehen, samt allen Tieren. Er könnte es nicht mit ansehen, wie sie sich alleine abquälte. Er schlug vor, alles gemeinsam zu bewirtschaften. So wurde das große, alte Bauernhaus in der Dorfmitte, mit der Hausnummer 3, welches das Elternhaus meines Vaters war, auch zu meinem, erstmals bewusst erlebten Zuhause.
Meinem Vater gelang es, sich der weiteren amerikanischen Kriegsgefangenschaft, während eines Gefangenentransportes, bei einem Halt im Bahnhof Bebra, durch Flucht zu entziehen. Auf verschlungenen Wegen kam er eines Nachts 1945 nach Hause. Unsere kleine Familie war wieder komplett, doch wir blieben noch weitere zwei Jahre im Haus der Fischers. Durch die Zerstörungen in den Städten, infolge alliierter Fliegerbomben, bestand große Wohnungsnot. Hinzu kamen noch die Heimatvertriebenen aus dem Osten. Infolgedessen war das verlassene Glebe´sche Haus, das unten an der Landstraße lag, von ausgebombten Familien aus dem Ruhrgebiet belegt. Als meine Eltern 1947 dahin zurückkehren wollten, hatten sie Mühe, wenigstens die untere Etage wieder für sich freizubekommen.
In diesem Herbst wurde ich schon 8 Jahre alt. Für mich war diese Rückkehr auf den kleinen Glebe’schen Hof sehr befremdlich, denn ich fühlte mich dem Dorf verbunden, dort fühlte ich mich zu Hause. Ich vermisste meinen Großvater. Das, was Kindheit ausmacht, hatte ich alles dort erlebt – dass dies nicht mein wirkliches Zuhause war, wusste ich bis dahin gar nicht. Ich konnte es auch nicht begreifen. Der Umzug war für mich schmerzlich.
In meinem Buch „Behütete Kindheit in dunkler Zeit“3 habe ich diese Kindheit in dem Dorf, das noch diesen Namen verdiente, ausführlich beschrieben. Hier möchte ich nur das erwähnen, was zu meinem Grundanliegen dieses Buches führt: Die Haltung von Tieren aller Art war auf einem Bauernhof mittlerer Größe in der damaligen Zeit selbstverständlich. Eine Idee von Optimierung, sowohl der Haltung als auch der Erträge, existierte noch nicht. Kaninchen, Hühner, Gänse, Schafe, Schweine, Rinder, Pferde – alles war bei uns vertreten. Die Pferde waren reine Arbeitspferde – schwere Kaltblüter. Im ganzen Dorf gab es zu der Zeit meiner frühen Kindheit nicht einen einzigen Traktor. Hühner und Gänse genossen stets völlig freien Auslauf auf allen Hofflächen und den angrenzenden, eingezäunten Weiden, auf denen auch die Schafe standen – wegen der Wolle waren die Schafe unentbehrlich. Die Kühe dienten der Milchwirtschaft, die monatlich einen festen Betrag einbrachte. Die nachwachsenden Kälber wurden meist verkauft, nur gelegentlich schlachteten wir eines für den Eigenbedarf. Die großen Kühe und Pferde wurden von uns nicht geschlachtet, sondern blieben für die Arbeit und die Zucht am Leben – alle anderen Tiere standen auf unserem Speiseplan.
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Der jüngste Bruder meines Vaters, Georg, kehrte kurz nach Kriegsende zurück. Aus Italien hatte er sich bis zu uns durchgeschlagen, ohne gefangen genommen zu werden. Mein Onkel Hans wurde erst 1948 aus französischer Gefangenschaft entlassen. Die bei uns lebenden Geflüchteten zogen nach und nach wieder in ihre Heimat, ins Ruhrgebiet, zurück, bis auf eine alleinstehende Frau, die bei uns blieb.
Letztlich saß eine stattliche Anzahl von Essern um unseren Bauerntisch, und dafür mussten eine Menge Lebensmittel herbeigeschafft werden. Glücklicherweise litten wir nie akute Not, im Gegensatz zu den vielen Menschen in den Städten – wo, wenn nicht auf einem gut bewirtschafteten Bauernhof, war genug Nahrung vorhanden! Aufgrund der allgemeinen, miserablen Versorgungsnotlage kamen jedoch regelmäßig staatlich bevollmächtigte Kontrolleure auf den Hof und beschlagnahmten einen Teil unserer Vorräte. Noch heute habe ich Begebenheiten in Erinnerung, bei denen es die Bauern geschafft hatten, der Kontrolle geschickt zu entgehen. Wir litten also nicht Hunger.
Was den Fleischverzehr betraf: Braten gab es meist nur sonntags, während an den Wochentagen meist Suppe gekocht wurde. Die Suppen enthielten stets einen Anteil Fleisch oder ein ordentliches Stück Wurst – ohne tierisches Fett waren Suppen gar nicht denkbar. Auch zum morgendlichen Frühstück und auf jeden Fall zum Abendessen gehörte fast immer Wurst dazu. Kaninchen, Hühner und Gänse wurden nach Bedarf ganzjährig geschlachtet, Schweine nur immer Winter – meist zwei, die übrigen wurden verkauft.
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Im Winter, wenn in der Natur Ruhe eingekehrt war, zog sich die Arbeit in die Ställe und Höfe zurück. Es wurde alles etwas beschaulicher. Mein Großvater beispielsweise betätigte sich in der kalten Jahreszeit als Hausmetzger im Dorf. Ich habe ihn nie gefragt, wo er das gelernt hatte, doch er besaß alle notwendigen Gerätschaften dafür. Selbstverständlich erledigte er auch unsere eigenen Schlachtungen, inklusive der Weiterverarbeitung des Fleisches.
Soweit ich zurückdenken kann, war es für mich selbstverständlich, dass er über den Winter bei vielen im Dorf diese Arbeiten erledigte. Vor meiner Schulzeit ging ich jeweils am späten Vormittag zum Hof einer Schlachtung, um auf keinen Fall das Mittagsmahl zu verpassen – wo mein Großvater war, wurde ich selbstverständlich nicht fortgeschickt. Diese Schlachttage waren für mich immer Festtage. Die frischen Frikadellen waren eine Delikatesse – nie wieder in meinem späteren Leben haben sie so geschmeckt wie in meiner Kindheit. Fragte mich einmal jemand nach meiner Leibspeise, so war meine Antwort ohne zu zögern: „Was Opa macht!“ Wurde bei uns zu Hause geschlachtet, halfen Verwandte aus dem Nachbarort mit, denn es war harte Arbeit. Zum Abendessen kam noch die Nachbarschaft hinzu, und es wurde alles aufgetischt. Dann konnte es richtig spät werden, bis die Letzten gingen.
Diese Festmahle waren kaum zu überbieten, und von Not war für mich nichts zu spüren. Auch wenn das Schicksal in manchen Häusern unerbittlich zugeschlagen hatte und die Nachricht kam, der Sohn oder der Ehemann würde nicht mehr zurückkehren – „auf dem Felde der Ehre …“, zu wessen Ehre? – wusste ich, als kleines Kind, nichts von dieser Art Not.
Ich erinnere mich noch gut an die erste von mir bewusst miterlebte Tötung eines Schweins: An diesem Tag stand ich früh auf, um dabei zu sein. Man hatte mir am Abend vorher gesagt, ich sollte das Schwein am Ringelschwanz festhalten, und ich hatte es als eine mir zugewiesene, notwendige Aufgabe angesehen und rechtzeitig geweckt werden wollen. Man würde schon beginnen, kaum dass es hell genug wäre. Alles spielte sich auf unserem Hinterhof ab, zwischen dem Wohnhaus und den Wirtschaftsgebäuden. Ein Bolzenschussgerät zum Betäuben der Tiere besaß mein Großvater damals noch nicht, daher erfolgte das Betäuben durch einen wuchtigen Schlag gegen den Tierschädel mit dem Rücken einer schweren Axt. Ich hielt das Schwein fest am Schwanz, der mächtige Schlag saß, und das Tier fiel betäubt um. Jetzt wurde es „abgestochen“, wie Metzger es nannten, das hieß, die Halsschlagader wurde durchtrennt und das Tier blutete aus. Danach erfolgte das Abbrühen und Entfernen der Borsten, anschließend die Entnahme der Eingeweide.
Wir alle aßen Fleisch und Wurst – eine Selbstverständlichkeit, die von niemandem infrage gestellt wurde, von mir schon gar nicht. Keiner von uns hatte je von der Möglichkeit einer anderen Ernährungsweise gehört. Für mein damaliges, kindliches Verständnis kam der Umstand verstärkend hinzu, dass mein Großvater die entscheidende, prägende männliche Bezugsperson meiner ersten Lebensjahre war – vermutlich auch dann noch, als mein Vater schon heimgekehrt war. Alles, was mein Großvater tat, war aus meiner Sicht gut, richtig und notwendig. Dass dieser Mann auch Tiere schlachtete, damit wir Fleisch und Wurst hatten, war in meinem Empfinden ein ganz und gar natürlicher Vorgang. Forsche ich heute in meiner Erinnerung, beispielsweise an die eben beschriebene Tötung des Schweins, kann ich nicht feststellen, dass das Erlebnis mich innerlich bewegt oder meine Abscheu erregt hätte. Das Tier war ja schließlich zu diesem alleinigen Zweck, uns als Nahrung zu dienen, gemästet worden. Ich sah es als den Lebenszweck und die Bestimmung des Tieres an. Und der Mensch, der es tötete, besaß mein unerschütterliches Vertrauen.
3 tao.de 2017