Читать книгу Erzähl mir von Ladakh - Adi Traar - Страница 7

218 m

Оглавление

Wiederum aus der Kategorie des neuen Wahrnehmens: Was ich niemals zuvor gesehen hatte …

Da war ein Uniformierter mit kaninchenjagdtauglichem Doppellauf-Schrotgewehr vor einem Juweliergeschäft. Englische Feudalherren konnten es weiland auf einer Kaninchenjagd verloren haben. – Ein Haus, voller unmissverständlicher Spuren des Bewohntseins, dem letzten Stock fehlte das Dach, was sich auf den Wohnkomfort niederschlagen musste. – Die unmittelbare Betrachtung der behäbig sinkenden Sonne in der Totalen, ohne Filter oder rußgetöntes Okular, dabei unterblieb das Augenflimmern – dem Smog sei’s gedankt! Alles, was unter der Leuchtkraft einer Sonne rangierte, verschwand im Morast des Großstadtdunstes, wurde von ihm verschluckt. Die Menschen hier hatten sich wohl mit dieser dauerhaften Unvollständigkeit abgefunden, fragten nicht mehr nach den fehlenden Dingen.

Ich kam aus dem Schauen und Staunen nicht mehr heraus, fühlte mich meinem Kindsein nahe. Nichts würde ich gegeben haben für diese ewige ewige Jugendhaftigkeit, dieses panische Anhaften an ihr, alles aber für das Schauen von einst und die Sammelsurium-Gefühle dahinter, absichtslos und zugleich voller Erwartungen. Dieses Kindsein holte mich beinahe ein, längst Vergessenes drängte sich vor, vermengte sich mit dem zu Sehenden, tönte, bereicherte es. Die zum Bersten gefüllte Sanduhr stob ihre Runden – am ersten Tag wähnte ich mich bereits seit Wochen hier. Indien erschien mir derartig prall gefüllt, ich übersättigte mich an ihm, bis zum Erbrechen, gleichzeitig konnte ich nicht genug davon bekommen. Eine fresslüsterne Krankheit, die niemals Erlösung fand, sie nährte und verstieß sich selbst zur gleichen Zeit.

Allein die Armut. Es machte betroffen, auf welch kümmerliche und erfinderische Weise hier manche Menschen ihr Geld verdienen mussten, wie sie es zuwege brachten, ihren Magen betriebswarm zu halten. Welten entfernt von ausufernden Essstörungen. Und dennoch – gerade deswegen – war es nirgendwo leichter, ein Lächeln zu fangen, man wurde förmlich zum Jäger des verlorenen Lachens. Dieses Lachen schien bei den Leuten irgendwo innen befestigt, vermittels Seelenverschraubungen und anderem Befestigungszeugs; den dazugehörigen Werkzeugschlüssel mussten sie, unsichtbar für uns, stets bei sich tragen. War es dieses Lächeln, wonach ich gierte? Feinkörnige Nahrung für die Seele, anstatt popcornig aufblähender Mageninhalte? War mir nach so einem Tauschhandel? – jagte ich durch die verkloakten Straßen Delhis, um einen Kuh-Coup zu landen? Um dabei den Leuten das Nichts oder das Beinahe-Nichts, ihre Armut also, die vielleicht doch etwas Essenzielles in sich barg, etwas, das mir fehlen mochte, auch noch abzuluchsen? Ich erbrach mich gedanklich an solch einem Unterfangen.

Ein kleines Kind saß in der Straßengülle, die sich teilweise bewegte, und bot sich an als Wirtstier. Das muntere, mikrobenkosmische Treiben hielt es nicht davon ab, an seinen Brotkrümeln zu nuckeln. Aus einem Gewürzladen daneben preschte eine junge Frau, wahrscheinlich die Mutter, packte ihr Wirtstier und verschwand wieder im Geschäft. Vor mir hatte sie Furcht, vor den Mikroben nicht.

Reis! Ich wolle Reis? Normalen Reis? Ja, ich wollte Reis zum südindischen Paneer Butter Masala, bestehend aus indischem Käse in Kokossoße, mit Dosai, das ist eine Art aufgeblähtes Fladenbrot aus Reismehl, gefüllt mit Kartoffelpaste, das zum Baumstamm gerollt vor mir lag, umgeben von einem Feuerkranz maxi scharfer Currys und Chutneys. Ich zerstörte ein auf Gaumenverzückung hin gearbeitetes, auskomponiertes Gericht und rüttelte gehörig an der Nobelrestaurantphilosophie.

Bereits von außen war dem Lokal seine elitäre Bestimmung anzusehen. Eine Menschenmenge, die sich ohne viel Aufhebens zu einer ansehnlichen Warteschlange zurechtgeringelt hatte, begehrte Einlass. Als ein in jeder Lebenslage zahlungspotenter Okzidentler war ich anscheinend über leidiges Kastengeplänkel erhaben und wurde vorgelassen, ohne es einzufordern. Oder sie hielten mich einer Geheimkaste zugehörig, von der ich selbst gar nichts wusste; Okzidentlerkaste oder so. Ich musste an meine Zusatzkrankenkasse denken. Ein Platzanweiser mit eigenem Standortbüro – das da war ein Schreibtisch, darauf ein imposantes Zettelwirrnis –, ein Uniformierter polizeilicher Herkunft und ein Uni-formierter fraglicher Herkunft führten eindringlich vor Augen, was Kaste ist: Sie ebneten mir den Weg durch all die reservierten und besetzten Tische bis zu einem Platz, den ich nicht reserviert hatte, dann aber trotzdem besetzen durfte. (Bei meinen exorbitanten Zusatzkrankenkassenbeitragszahlungen nur ausgleichend gerecht.)

Das Lokal war überschwemmt mit Personal. Ich rechnete hoch: Die vielen Arbeitsschritte von der Zubereitung der Speisen bis zu deren Auftafelung mochten locker ausreichen, um auf jeden Angestellten extra aufgeteilt zu werden; und selbst dann musste das noch herumstehendes Personal ergeben. Ich bangte, ob ich wohl noch für das Verspeisen alleine zuständig sei.

Während immer neue Kellner aus allen möglichen Öffnungen ins Lokal huschten, machte sich in mir eine leichte Beunruhigung breit, sie übertrumpfte gar meinen Hunger. Die Leute aßen mit der Hand. Ich saß also vor dem Baumstamm, an ein Zersägen oder wenigstens Zerteilen mit Esswerkzeug war nicht zu denken. Einer der vielen Kellner, der mir das Gericht empfohlen hatte, musste das mit Absicht getan haben; als zusätzliche Herausforderung hatte man einen einzigen Löffel aufgedeckt. Am Teller also die scharfen Currys und Soßen, ein Feuerring, der an den Baum wollte. Mit den Händen (also noch reinen Gewissens) brach ich ein Stück vom gerollten Fladenbrot ab, nahm es in die linke Hand, legte den Rest ab – vom esskulturellen Standpunkt aus wähnte ich mich gut im Rennen – nahm den Löffel in die rechte Hand, langte damit in die weiße Soße, die an einen bindungsarmen Holzleim erinnerte, träufelte sie auf das Brotstück in der linken Hand, führte es zum Mund … HALT! Umgekehrt. Ich befand mich in Indien! Hier isst man mit rechts, weil man mit links das tut, was man bei uns ganz anders macht. Damit sind wir aber ziemlich alleine; auch laut Koranauslegung ist die linke Esshand des Shaitans (»des Teufels« laut Bibelauslegung). Ich blickte mich um, niemand schien meinen Fauxpas bemerkt zu haben. Der Mann am Nachbartisch griff zwar zum Telefon, aber … kaum anzunehmen, dass ich ihm eine Denunzierung wert war.

Zweiter Anlauf. Mit den Händen brach ich ein Stück vom gerollten Fladenbrot ab, nahm es in die rechte Hand, legte den Rest ab, nahm den Löffel in die linke Hand, langte damit in die weiße Soße, die nach wie vor an einen bindungsarmen Holzleim erinnerte, träufelte diese auf das Brotstück, legte den Löffel ab und nahm das Brot in die linke Hand … NEIN, nicht schon wieder. Der Nachbar meldete sich laut brüllend am Telefon und ich erschrak ungemein.

Es schmeckte ausgezeichnet.

Als Musikbegleitung wurden einmal mehr Schlager kredenzt, geschluchzt von einer weiblichen Stimme, eng umschlungen mit einer männlichen. Das verhielt sich konträr zur Sangeskultur der westlichen Welt, die sich ja eher geschlechtssingulär zeigt. Hier wurde also Zweisamkeit demonstriert, man hatte sich gefunden. Bei uns sucht man sich noch.

Das Busticket nach Manali war unerklärlicherweise verloren gegangen; ich hatte es mir durch duldsames Zuhören quasi ersessen, Samir hatte bei der Ausstellung unaufhörlich geschwatzt. Entweder war es von selbstauflösender Konsistenz oder die Übergabe ging im Schwall der schwärmerischen Landliebesbezeugungen unter, kam nie zustande und keiner hat’s bemerkt. Anwesend war noch der Bruder Samirs. An ihn hatte ich verloren, gerne verloren:

1 000 Rupien (Bakschisch),

1 Kugelschreiber,

1 Schere.

Ehe ich mein Leben verloren hätte, hätte er seines gegeben, so hilfsbereit und aufopfernd hatte er sich gebart. Ein He-is-my-friend genügte, um dem Busfahrer ein zustimmendes Nicken abzugewinnen, und ich konnte bar jeglicher Fahrkarte vierzehn Stunden lang mit dem Bus himalajawärts fahren. Dort, von wo der Bruder herstamme – selbstredend Kaschmir –, hätten die Menschen riesige Häuser, erzählte er mir noch schnell vor der Abfahrt. Als Rechenexempel: Auf 21 Zimmer kämen sechs Personen, hier in Delhi auf drei neun. Im Kaschmir war eben alles besser, das wusste ich in der Zwischenzeit bereits. Dass Michael Jackson tot sei, hätte ich sicher schon erfahren, oder? Ja, hätte ich.

Erzähl mir von Ladakh

Подняться наверх