Читать книгу Keine Liebe der Welt - Adina Koch - Страница 7
ОглавлениеJANUAR
„Das Leben ist eine Komödiefür den Denkenden und eineTragödie für die, welche fühlen.“
Hippokrates von Kos (460 - 370 v. Chr.)
Sephi
I
Regen peitscht ohne Unterlass gegen das dreckige Fenster der Straßenbahn. Der Himmel ist mausgrau, genau wie die Stadt. Genau wie meine trüben Gedanken. Sie springen unaufhörlich zurück an jenen Abend vor drei Tagen. Es fühlt sich an wie ein trauriger Film in Endlosschleife in meinem Kopf: „Ich kann nicht über Nacht bleiben, das habe ich dir doch gesagt, Sephi! Und außerdem fallen mir keine Ausreden mehr ein, die ich ihr erzählen könnte!“ Seine Worte sind wie spitze Nadeln, die mich tief treffen. Es ist das erste Mal, dass er so mit mir spricht. Unbeherrscht, laut. Etwas in seiner Stimme ist kalt, so kalt wie der Januarregen. Groß wie er ist, füllt er meinen kleinen Flur fast komplett aus. Er steht gebückt und bindet sich die Schuhe. Es ist kaum fünf Minuten her, dass wir zusammen im Bett lagen. Ich fühle noch immer seinen warmen Atem auf meiner Haut, seine Erektion tief in mir. Ungeduldig stieß er immer wieder in mich. So als könne er es kaum abwarten, endlich damit fertig zu werden. Genauso wie er es zuvor kaum abwarten konnte, mich in mein Schlafzimmer zu ziehen. Dass ich extra für ihn das schwarze, fließende Kleid angezogen hatte, bemerkte er nicht einmal. Dabei hatte er es mir gekauft. Damals, als ich, naiv wie ich war, dachte, dass schon bald alles gut werden würde. Dass Liebe immer stärker ist.
Während die Bahn an immer düsterer wirkenden Straßenzügen vorbeirauscht, wird mir klar, dass es erst ein halbes Jahr her ist, als sich mein Leben wie auf den höchsten Höhen des Olymps anfühlte, voller Nektar und Ambrosia. Die Fernsicht war atemberaubend, auch wenn die dunkle Front schon in der Ferne aufzog. Ich konnte sie mehr erahnen, als tatsächlich sehen. So weit entfernt. So unwirklich. Ich ließ mich von seinen Versprechen, von seiner Leidenschaft blenden, die heiß wie die Sonne war – und von meinem unerschütterlichen Glauben an die Kraft der wahren Liebe. „Aber…“, ich komme nicht dazu, etwas zu antworten, denn er streift sich bereits die Jacke über. Die Tür fällt dumpf hinter ihm ins Schloss. Das Wort prallt von dem schweren Holz ab, schlägt direkt vor mir im Boden wieder ein wie eine Granate: Aber. Keine Umarmung. Kein Kuss. Kein Hinweis auf ein Wiedersehen. Ich breche in meinem kleinen Flur zusammen, krümme mich, weine. „Ich habe dir mein Herz auf einem Silbertablett serviert, trotz allem“, schreie ich ihm meine Verzweiflung hinterher. Auch das kann er nicht mehr hören. Das Tablett fällt mit einem lauten Poltern auf den harten Boden, darauf mein Herz. Zerquetscht von den Sohlen seiner Schuhe.
Die bloße Erinnerung lässt mir, mitten unter den Menschen in der Bahn, heiße Tränen in die Augen schießen. Ich wende mich ab, schäme mich, für den Moment, für meine Taten, für meinen unerschütterlichen Glauben an die Liebe. Krampfhaft schaue ich aus dem Fenster. Quer über den Straßen hängt noch immer die Weihnachtsdekoration, windschief inzwischen. Ihre Lichter blinken in verschiedenen Tönen, doch sie verschwimmen in den Regentropfen und hinter meinen Tränen zu einem undefinierbaren Fleck. Ich schmecke Salz auf meinen Lippen, fühle mich noch immer beschmutzt und um meine Gefühle betrogen.
Aus den Augenwinkeln erkenne ich, dass die alte Dame, die mir gegenübersitzt, mich mitleidig anschaut. Alle anderen sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um etwas zu bemerken. Die meisten starren auf die Displays ihres Handys. Musikvideos, Spiele, Nachrichten – alles flimmert, alles lenkt ab. Ich bin froh darum. Ich selbst halte auch ein Handy in meiner Hand. Sein Display ist tiefschwarz. Nur in der oberen linken Ecke blinkt ein helles Licht. Grell und ohne Unterlass macht es mich auf Neuigkeiten aufmerksam. Es will mir sagen, dass ich eine Nachricht erhalten habe, wahrscheinlich gleich mehrere. Es flackert immer wütender, scheint zu rufen: „Willst du nicht endlich nachschauen! Es ist bestimmt wichtig. Es ist von ihm!“ Nein. Ich möchte nicht nachschauen. Blinde Wut steigt in mir auf, ein Gefühl, das mir bisher im Leben noch niemals begegnet ist. Das aber seit dieser Nacht wächst, mir Halt gibt. Auch wenn noch immer Tränen der Scham fließen.
Die Straßenbahn stoppt völlig unerwartet, der Fahrer legt eine Vollbremsung hin, die sich gewaschen hat. Er lässt das Signal so laut ertönen, dass es mir in den Ohren klingelt. Menschen schwanken, abgestellte Taschen geraten ins Rutschen. Ein Kind fällt fast, ein großer Hund bellt nervös. In meinem Schoß fühlt es sich plötzlich feucht an. Erschrockene Augen hinter einer kleinen Brille mit runden Gläsern richten sich auf mich. Ein junger Typ mit Ziegenbärtchen hält einen zerquetschten Becher To Go in der Hand. Der dazugehörige Deckel rollt irgendwo über den schmutzigen Boden. Dafür läuft sein Inhalt über meinen Schritt. Nicht mehr heiß, dafür klebrig. Ich kann genau riechen, was zuvor in dem Becher war: Kaffee, einer von der günstigen Sorte, Vollmilch, Haselnusssirup und geschlagene Sahne. Die Kalorien einer Hauptmahlzeit breiten sich weiter über meinen Schoß aus, werden auf meiner Hose zu einem Fettfleck, den ich niemals mehr herauswaschen kann.
Meine Hose ist neu. Mein Glaube an Karma hingegen nicht. Also verkneife ich mir einen bitterbösen Kommentar, der gegen meine sonst so friedliche Natur, bereits auf meiner Zunge liegt. Meine fiese innere Stimme ist hingegen weniger zurückhaltend. „Du hast es verdient!“, zischt sie. Der Satz schlängelt sich durch meine Gedanken, in mein Herz. Mein Gesicht wird heiß, ich schwitze – und das liegt nicht nur an der Temperatur in dem überfüllten Waggon. Mein Pullover kratzt unangenehm auf meiner Haut. Die alte Dame kramt nun in ihrer klitzekleinen Handtasche herum. Sie reicht mir ein Tempotaschentuch, mit dem ich mir geräuschvoll die laufende Nase putze. Sie reicht mir gleich noch ein zweites. „Lieben Dank“, ich tupfe unbeholfen über den Fettfleck. Es bleibt feucht, und jetzt kleben zusätzlich weiße Papierkügelchen überall. „Es tut mir wirklich leid“, nuschelt der Ziegenbart in selbigen. In dieser Sekunde fährt die Straßenbahn mit einem Ruck wieder an. Irgendwo schimpft jemand, das Kind weint jetzt.
Mein Herz, das vor drei Tagen zu einem matschigen Brei zertreten wurde, schlägt mir heftig bis zum Hals. Es hämmert gegen meinen Brustkorb, als wolle es die Flucht daraus antreten. Die Luft in der Straßenbahn ist inzwischen zum Schneiden. Zu dem süßen Haselnussduft gesellen sich Aromen von Schweiß und einem angebissenen Döner mit vielen Zwiebeln. Noch drei Stationen, zähle ich mit. Noch zwei Stationen, noch eine. Ich stürze aus der Hitze hinaus in den eiskalten Regen. Noch eine Haltestelle weiter – und ich hätte mich übergeben müssen. Nun friere ich innerhalb von Sekunden wie Espenlaub. Meine Haare sind nass, kleben mir am Kopf. Es sind noch zehn Minuten Fußweg bis nach Hause. Meinen Schirm kann ich nirgendwo finden. Und in der Jackentasche vibriert schon wieder dieses verdammte Handy.
II
Es ist Sonntagmorgen. Ich sitze auf meinem dunkelgrauen Sofa, irgendeine TV-Krimiserie flimmert über den Bildschirm. Ich schaue gar nicht hin. Herrlicher Kaffeeduft liegt in der Luft. Noch immer trommelt Regen auf das Dach. Meine Nase läuft, ich muss niesen. „Oh, bitte nicht!“ Im Büro sind wir bereits seit Wochen unterbesetzt, da kann ich eine Erkältung gar nicht gebrauchen. Gestern hatte ich, kaum zu Hause angekommen, meine nasse Kleidung im Flur fallen lassen. Ich war direkt im Badezimmer verschwunden, musste unter die Dusche, um alles abzuspülen: den penetranten Haselnussduft, die eisige Kälte, den zu erwartenden Schnupfen. Noch mit dem Handtuchturban auf den nassen Haaren ging ich in meine kleine Küche. Dort räumte ich alle Einkäufe in die Schränke. Dann stellte ich die Zutaten für das Rezept auf der Anrichte zurecht, das ich heute zum ersten Mal kochen wollte. Ich ließ den weißen Bohnen, meiner getrockneten Hauptzutat, ein erfrischendes Wasserbad ein.
Wenn es einen Ort auf dieser Welt gibt, an dem ich Ruhe finde, dann ist es meine kleine Küche. Während andere zum Sport gehen oder Filme schauen, rühre ich lieber in einem Risotto. Am Herd kann ich entspannen, den Arbeitsstress hinter mir lassen und alles vergessen. So gut vergessen, dass ich sein WhatsApp-Dauerfeuer auf meinem Handy tatsächlich völlig ausgeblendet hatte. Darum quäle ich mich vom Sofa hoch und suche das blöde Ding. Wo habe ich mein Telefon gestern nur gelassen? Als ich es finde, steckt es noch immer in der Tasche meiner Winterjacke. Sein Akku ist fast vollkommen aufgebraucht.
„Hatschi!“ Mein gesamter Körper schüttelt sich vor Kälte. Zum Aufwärmen nehme ich erst einmal einen Schluck aus der dampfenden Kaffeetasse. Dann gehe mit dem Handy zurück aufs Sofa. Dort stöpsele ich das Gerät, das noch immer unaufhörlich blinkt, in die nächste erreichbare Steckdose und entsperre es mit meinem Daumenabdruck.
Du fehlst mir so! Wir müssen damitaufhören, aber ich will dich auchsehen. Ich weiß nicht, was ich tun soll…
Schreib mir doch bitte!Es tut mir leid.
Wirklich! Sephi! Was ist los?!?
Ignorierst du mich?
ICH MUSS DICH SEHEN
Irgendwann in der vergangenen Nacht hat es ihm wohl keine Ruhe mehr gelassen, dass ich nicht auf seine Nachrichten vom Nachmittag geantwortet hatte. Ganz gegen meine sonstige Gewohnheit. Also schrieb und schrieb er. Doch er konnte sich offensichtlich nicht entscheiden, ob er sauer auf mich sein oder sich Sorgen um mich machen wollte. Wie kommt er auf die Idee, dass ich ihn nach unserer letzten Begegnung noch einmal wiedersehen möchte, ihn noch einmal in mein Bett lassen würde? „Weil du ein dummes Huhn bist!“, meine innere Stimme kennt mich einfach ziemlich gut. Aber diesmal würde ich ihr das Gegenteil beweisen, das hatte ich mir fest vorgenommen! Ja, ich liebe diesen Mann. Ja, ich will ihn nicht verlieren. Aber ich bin völlig machtlos, wenn es um uns als Paar geht. Nach unserer letzten Nacht denke ich nämlich nicht mehr, dass alles gut werden und er je ganz zu mir kommen wird. Darum werde ich mich von ihm zurückziehen, schon um mich selbst vor weiteren Verletzungen zu schützen. So wie ich es gleich zu Beginn unserer unglückseligen Affäre hätte tun sollen…
III
Es begann im letzten Sommer, wir kannten uns gerade erst vier Wochen, hatten uns bisher nur selten gesehen. Wir saßen auf meiner gemütlichen Terrasse, die Sonne ging langsam unter. Wir tranken kühlen Weißwein. Und er würde zum ersten Mal über Nacht bei mir bleiben. Ich war nervös, so verknallt. So naiv. Da platzte es aus ihm heraus. Er sei verheiratet, er habe einen Sohn, den er über alles liebt. Und er habe nicht kommen sehen, was mit ihm, was mit uns, passieren würde. Dass er sich noch einmal in seinem Leben so verlieben könne. Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Verheiratet und verliebt in einem Satz, aber nicht über eine Frau, sondern über zwei? Während ich die ganze Zeit dachte, dass wir uns so selten sehen, weil er weit weg wohnt, viel arbeitet und ich ohne Auto verdammt unflexibel bin, saß er abends bei seiner Frau und seinem kleinen Kind?
„Du bist verheiratet…?“, flüsterte ich kaum hörbar. Ich konnte es kaum glauben. Hatte er mich nicht letzte Woche erst eingeladen, ihn auf seine nächste Geschäftsreise nach Mailand zu begleiten?
„Ja, ich bin verheiratet.“
„Und das sagst du mir heute?!“
„Ich wusste nicht, wann der richtige Zeitpunkt dafür ist…“
„Der Moment, in dem wir uns kennengelernt haben?“
„Du hast so süß ausgesehen, so liebevoll…“
„Liebevoll?“, mir schossen heiße Tränen in die Augen. Ich war sauer auf ihn. Verletzt. Und wütend auf mich, weil das erneut mir passierte. Warum treffe ich andauernd Männer, die mich ausnutzten oder nach angenehmen Treffen auf Nimmerwiedersehen verschwanden? Warum zog ich diese Typen an, die zweigleisig fuhren oder einfach nie wieder von sich hören ließen? Dieser hier hatte sich nach dem ersten Date sofort bei mir gemeldet, dann immer und immer wieder. Sehr oft, um genau zu sein. Jedes Wort eine kleine Hoffnung auf mehr, jeder Satz ein süßes Versprechen.
„Du schreibst mir am laufenden Band Nachrichten, gleich morgens zum Aufstehen und auch spät abends noch, wenn ich schon im Bett liege?!“
„Ja.“
„Wie geht das? Sitzt deine Frau währenddessen daneben, kuschelt ihr gleichzeitig auf dem Sofa oder geht gerade zusammen schlafen?“, meine Stimme zitterte und überschlug sich fast.
„Ich gehe immer raus in den Garten. Wir verbringen die Abende nicht zusammen vor dem Fernseher beim Kuscheln oder so. Diese Zeiten sind längst vorbei.“
„Welche Zeiten?“
„Die, in denen ich glücklich verheiratet war, in denen meine Frau und ich…“
„…“
„Es gibt da keine Zärtlichkeiten zwischen uns mehr. Wir haben keinen Sex oder knutschen wie Teenager. Wir sind wie Freunde, ein gutes Team. Mehr nicht. Aber wenn ich bei dir bin, will ich dich immer nur berühren, dich küssen. Dieses Gefühl erlebe ich zu Hause nicht mehr.“
„Zu Hause…“
„Ja. Es ist mein Zuhause. Aber ich fühle mich dort nicht mehr wohl. Abends wenn alle zum Essen um den Tisch sitzen, dann fühle ich mich irgendwie ausgeschlossen von ihren Gesprächen. Als würde ich nicht dazugehören.“
„Alle?“
„Meine Frau hat eine Tochter aus einer früheren Beziehung. Wir sind zu viert.“
„Eine heile und glückliche Familie“, ich flüsterte immer noch.
„So ist es nicht…“
„Wie ist es dann? Dann sei doch offen, trenne dich – bevor du dir was Neues suchst.“
„Dann verliere ich mein Kind. Und wahrscheinlich auch meine Firma…“
Wir redeten bis tief in die Nacht, im Schutz der Dunkelheit auf meiner Terrasse war es einfacher. Ich musste nicht in sein schönes Gesicht schauen. Und er nicht in mein trauriges, das tränennass war. Es dauerte nicht sehr lange bis seine Worte erreichten, dass ich nicht mehr böse auf ihn war. Je deutlicher er mir seine ausweglose Lage beschrieb, desto mehr glaubte ich ihm. Desto mehr fühlte ich mit ihm, fühlte die Falle, in der er gefangen saß, seine aussichtslose Situation. In dieser Nacht schliefen wir zum ersten Mal miteinander. Er war zärtlich, sorgte sich, dass auch ich auf meine Kosten kam. Das fand ich wunderbar und, ehrlich gesagt, auch ungewohnt. Sein seliger Gesichtsausdruck, als er in mir zum Höhepunkt kam, hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt und wird mir von nun an für immer wehtun. Am Morgen verabschiedete er sich mit einer Umarmung, die so fest war, dass ich seine immense Verzweiflung darin zu spüren glaubte. Er küsste mich, setzt sich in sein Auto, streifte den schmalen Ehering über und fuhr zurück zu seiner Familie. Ich weiß, ich hätte es besser wissen müssen. Doch meine Sehnsucht nach Nähe war so groß, ist immer noch so groß, sie ließ mich ausschließlich auf mein Herz hören, mein Kopf mit der flüsternden, zischenden inneren Stimme war für eine Zeit lang wie abgemeldet.
IV
Zum hundertsten Mal lese ich seine Nachrichten, die von gestern und auch die aus den letzten Wochen. Seit dieser ersten Nacht ist ein halbes Jahr vergangen. Und es hat sich nichts geändert. Rein gar nichts. Im ersten Moment wollte ich ihn nicht mehr sehen. Doch er ließ sich nicht so leicht abwimmeln, zudem sehnte ich mich sehr nach seiner Zärtlichkeit. Vielleicht würde meine Liebe ihm ja die Kraft für eine Entscheidung geben, für einen Neuanfang mit mir? Oder mir die Kraft, eine Geliebte zu sein…
Der bitterböse Erinnerungsfilm an unsere letzte Begegnung spult in diesem Augenblick zurück, um erneut vor meinem inneren Auge abzulaufen: Ich in dem schwarzen Kleid, das er mir während der Geschäftsreise in Mailand gekauft hat. Er, der nur in einem ausgeleierten T-Shirt und einer alten Jeans in meiner Wohnungstür steht und zur Begrüßung nuschelt: „Hi. Der Weg zu dir ist immer so verdammt weit.“ Auch da schaut er mich schon kaum an. Sein Kuss ist flüchtig. Um so fester sein Griff, der mich packt und zielstrebig in mein abgedunkeltes Schlafzimmer führt. Später dann seine niederschmetternden Worte: „Du weißt, dass ich nicht über Nacht bleiben kann, Sephi!“
Aber ich möchte nicht schon wieder an das Danach erinnert werden. Ich möchte nicht daran denken und nicht diese Kälte in seiner Stimme heraufbeschwören. Ich möchte mich nicht schon wieder selbst am Boden kauernd sehen. Das Karussell der Erinnerungen. Es muss endlich aufhören, sich zu drehen.
Energisch wische ich mir neue heiße Tränen aus dem Gesicht. Schluss! Selbst meine fiese innere Stimme bleibt stumm. Sie beschimpft mich sonst abwechselnd, weil ich es nicht besser verdienen würde, wenn ich mich auf einen verheirateten Mann einlasse. Oder tröstet mich einlullend, dass man sich die Liebe einfach nicht aussuchen könne und dass er mich mit seinen Geschichten verführt und letztlich betrogen hatte. Was von dem, was er mir in jener Nacht im Sommer erzählt hat, wahr ist, weiß ich bis heute nicht. Ich habe nicht versucht, es herauszufinden. Denn unter keinen Umständen würde ich aus Eifersucht zu seinem Zuhause fahren, seine Familie belauern oder seine Frau anrufen, seinem Kind wehtun oder irgendetwas in dieser Art. So tief werde ich niemals hinabsinken: „Auch wenn du Scheißkerl es nicht verdient hast, mit heiler Haut davonzukommen!“, sage ich laut zu mir selbst. Und weiß tief in meinem Inneren, dass da auch diese furchtbare Angst lauert, die mich davon abhält, genauer nachzuforschen. Die Angst davor, das ganze Ausmaß seiner Lügen zu erkennen.
Ich ziehe geräuschvoll die Nase hoch und mache mich auf den Weg in meine kleine Küche. Während sich andere in Rache üben, stelle ich mich lieber an den Herd. Der ist mein Hort, hier finde ich meinen Seelenfrieden, ganz egal was zuvor geschehen ist. Und heute finde ich zusätzlich die eingeweichten weißen Bohnen, die ich fast vergessen hätte! Das Rezept hat mir auf dem Papier so gut gefallen. Und heute würde es perfekt zu diesem trüben Tag passen, es ist echtes Soulfood – gegen die Januarkälte da draußen vor dem Fenster und auch gegen die Eiseskälte, die sich weit, weit in mir ausgebreitet hat.
FASOLADA (Weiße Bohnensuppe)
Zutaten für 4–6 Portionen
500 g getr. weiße Bohnen | 2 Karotten
1 St. Knollensellerie | etwas Lauch | 2 rote Zwiebeln
2 Knoblauchzehen | 1 rote Chili | 2–3 EL Olivenöl
1 EL Tomatenmark | 1 kl. Dose Tomaten
Salz | Pfeffer | Oregano | Petersilie
So geht’s
Die Bohnen mind. 12 h in Wasser einweichen,
anschließend in gesalzenem Wasser für 30 Min. fast
gar kochen. Das Kochwasser aufheben.
Karotten, Knollensellerie, Lauch, Zwiebeln,
Knoblauch & Chili putzen. Alles fein würfeln, in Öl für
ein paar Minuten leicht anschwitzen. Tomatenmark am
Topfboden anrösten. Alles miteinander verrühren. Die
Dosentomaten dazugeben und kurz dünsten lassen.
Jetzt etwas vom Kochwasser auffüllen. Ein paar
Minuten köcheln lassen, dann die Bohnen in den Topf.
Restliches Kochwasser angießen, bis sie gut bedeckt
sind. Mit Salz, Pfeffer, Oregano & Petersilie würzen.
30 Min. sanft köcheln lassen.
Als Topping bietet sich Schafskäse an, der mit der
Gabel zerdrückt und mit Salz, Pfeffer, Chili, Thymian
& Olivenöl abgeschmeckt wird (Foto: Seite 178).
Ilias
I
Mein Rücken tut weh wie der eines alten Packesels, der auf der Nachbarinsel die Koffer der Touristen durch die Gegend schleppt… Ich strecke mich stöhnend, es knackt bedrohlich, dann drehe ich die Hüfte zur Seite und schaue meine Silhouette im Fenster an, das blitzeblank geputzt ist. Mutter war hier. Sie ist eine sehr gründliche Frau. Bei allem, was sie tut. Bestimmt hat sie sich ganz genau umgeschaut. Auch das ist nichts Neues für mich: Ich bin ihr ältester Sohn und eine einzige Enttäuschung, die man unter Kontrolle behalten muss. Hinter dem blitzeblanken Glas sehe ich die Straße, den schmalen Streifen grober Strand und die Bucht. Das Meer ist heute sehr dunkel und ungewöhnlich unruhig, weißer Schaum tanzt auf den Wellen, die an Land rollen. Am Ufer gegenüber suche ich den Berg, der sich dort normalerweise gen Himmel erhebt. Heute kann ich ihn kaum erkennen, auch nicht die wenigen Villen, die sich an seinen Hang schmiegen. Eine dicke, schwarze Wolke hat sich über alles gesenkt. Es regnet nicht, aber das wird schon noch geschehen.
Ich strecke mich noch einmal. Es knackt wieder. Alles, was ich will, ist, zurück in mein Bett zu gehen. Ich will mich tief unter der Daunendecke vergraben und alles um mich herum vergessen. Für Daunen ist es jetzt gerade noch kalt genug. Sobald es Frühling wird, schlafe ich lieber unter einem dünnen Laken oder gleich ganz ohne. Lediglich die weiche Haut eines Mädchens an meiner. Im blitzeblanken Fenster sehe ich, wie sich mein Gesicht zu einem breiten Grinsen verzieht. Doch es bleibt nicht genug Zeit, um mein Schicksal zu betrauern oder mich wieder hinzulegen und von vorletzter Nacht zu träumen. Als sich eine wunderbar warme Decke und eine Frau mit samtweicher Haut gleichzeitig an meinen Körper geschmiegt hatten. Nicht hier, natürlich. Nicht in meinem Bett, das in meiner Wohnung steht, die meinen Eltern gehört.
In dieser Sekunde kann ich den strengen Blick meiner Mutter in meinem Rücken direkt fühlen. Ich drehe mich erschrocken um. Haben sich ihre blitzenden Augen gerade im Fenster gespiegelt? Oder spielt mir mein Kopf einen üblen Streich? Da ist niemand, beruhige ich mich selbst. Da ist niemand, der sich in der Scheibe spiegelt – außer mir. Es war nur ein Flackern aus der Vergangenheit. Ein heller Blitz, wie aus meiner Kamera. Es war die Erinnerung an diesen einen Moment, als ich meiner Mutter das Herz brach. Und wenn ich sie nicht immer und immer wieder wütend auf mich machen wollte und enttäuschen, dann sollte ich jetzt in meine Hosen steigen und losfahren.
Es ist ein echter Jammer, dass meine Familie nicht wenigstens ein wenig größer ist. Mutter und Vater sind alt, und meine Schwester ist zu ihrem Mann nach Thessaloniki gezogen. Ja, prima! Immer bleibt alles an mir hängen. Seit vielen Jahren versorge ich den Olivenhain, der unserer Familie gehört, nun schon ganz alleine. Und ich hasse es aus tiefster Seele, jeden Winter aufs Neue. Seit der Woche vor Weihnachten schlage ich mich mit den reifen Früchten herum, die dringend geerntet und zur Ölmühle gebracht werden müssen. Inzwischen sind fast alle von den knochigen Bäumen herunter. Ihr Öl wird uns einen kleinen Zusatzverdienst einbringen.
Das Geld ist mir ganz egal. Wilder Zorn wütet in meinem Kopf, da ich meinen Rücken kaum spüre, mir die Arme unendlich schmerzen. Auch wenn sich, zugegeben, die zusätzlichen Muskeln in meinem Körper gut anfühlen. Meine Hände haben üble Schwielen bekommen, die brennen, und meine Nase läuft ununterbrochen. Denn entweder regnet es andauernd in diesem verdammten Winter oder es ist viel zu kalt. Ich habe mir eine Erkältung eingefangen – wie jedes verdammte Jahr. Doch Mutter würde sich durch meine laufende Nase nicht erweichen lassen. Sie würde mir die Arbeit nicht ersparen.
II
„Du bist heute spät dran!“ Ich rolle mit meinen Augen, als ich Mutter unten an der Treppe treffe. Sie und Vater wohnen im selben Haus, in einer eigenen Wohnung unter meiner. Separat zwar, aber immer noch sehr nah.
„Dir auch einen guten Morgen. Es ist gerade 9.30 Uhr“, antworte ich und bin schon genervt.
„Und dieser schreckliche Bart. Wie lang soll der noch werden?“
„Mama, niemanden interessiert die Länge meines Bartes. Die Oliven am allerwenigsten!“
„Mich interessiert es, wie du herumläufst! Und Christos auch!“
„Was um alles in der Welt, hat der alte Christos mit meinem Bart zu schaffen?“ Inzwischen wünschte ich wirklich, ich wäre etwas früher aufgestanden und so der elenden Standpauke meiner Mutter entgangen.
„Ich habe ihn gestern zufällig getroffen. Und er hat bald wieder Arbeit in der Taverne für dich.“
„Da spüle ich die dreckigen Teller und Schüsseln. Und dem Geschirr ist es ebenfalls komplett egal, wie ich dabei aussehe“, murmele ich in meinen in der Tat zotteligen Winterbart. Die anschmiegsame Süße von vorletzter Nacht steht auf die störrischen Haare, denke ich und grinse.
„Sei nicht so frech zu deiner Mutter!“
„Mama, ich bin 29 Jahre alt!“
„Eben darum. Und jetzt mach, dass du in die Oliven kommst, bevor dein Vater sich wieder aufregt. Du weißt, dass es ihm schlecht geht.“
Meinem Vater, dem seit einem Unfall auf See der linke Arm fehlt, geht es gesundheitlich wirklich nicht besonders gut. Aber er hat sich noch niemals in seinem ganzen Leben über irgendetwas aufgeregt. Was mein großes Glück ist! Denn ohne seine ruhige, besonnene Art hätte Mutter mich wahrscheinlich damals rausgeworfen und aus der Familie verstoßen. Ich atme tief ein, lasse mich auf meinen alten Roller fallen und fahre los. Ich kenne den Weg zum Olivenhain blind. Jedes Schlagloch, jede Kurve. Ich könnte ihn mit verbundenen Augen fahren, wären da nicht die dämlichen Streuner von Katzen überall. Deren Leben ist mir zwar herzlich egal. Aber meines nicht, auch wenn es momentan nicht wirklich richtig gut für mich läuft.
Ihr könnt mich alle mal gerne haben, denke ich trotzig. Ich werde euch schon noch zeigen, dass ich nicht der Versager bin, für den ihr mich alle haltet! Bevor ich die schmale Straße ins Inselinnere nehme, fahre ich beim Café kurz vorm Kanal vorbei. Hier teilt sich die Insel, die mein Zuhause ist, in einen kleineren Part, der sich rund um den Berg befindet, den ich von meinem Fenster aus sehen kann. Und in einen größeren Teil, auf dem ich wohne. Eine Insel, in zwei Teile getrennt. So wie ich. Ein Mann, in zwei Personen geteilt. Der eine nur noch blasse Erinnerung an eine vergangene Zeit, in der die Zukunft durch und durch rosig schien. Der andere im Hier und Jetzt – angeschlagen, aber längst noch nicht k. o., das werdet ihr schon alle sehen.
Vanessa erkennt mich durchs Fenster. Und bis ich bei ihr am Tresen angekommen bin, hat sie Kaffee, viel Milch und drei Löffel Zucker bereits in einen Becher gefüllt, alles mit einem Deckel verschlossen und in eine kleine Tüte gestellt. Ich lege ihr das abgezählte Geld auf den Tresen und gehe direkt zurück zu meinem Roller. Dort hänge ich die Tüte an den rostigen Lenker und fahre los. Die feuchte, kühle Luft wirkt belebend auf mich. Und die Aleppo-Kiefern entlang des Weges verströmen diesen betörenden Duft, den es nur hier gibt. Und der mich dieses tiefe Heimatgefühl spüren lässt. Auf zu den Oliven, den verhassten Oliven.
III
Unser Hain liegt im Inneren der kleinen Insel. Hier reiht sich ein Gemüsefeld an das nächste, eine Reihe Olivenbäume an die folgende. Hin und wieder hat jemand Zitronen angebaut. Bevor ich mit meiner Arbeit beginne, setze ich mich auf die kleine Steinmauer, die unseren Abschnitt markiert, und lasse die Füße hinunterbaumeln. Ich nehme meinen Kaffeebecher, mache den Deckel ab und genieße den ersten heißen Schluck. Süß und stark. So mag ich meinen Kaffee am liebsten. Hinter den dicken Wolken linst tatsächlich die Sonne hervor. Ihre Strahlen wärmen mein Gesicht und tauchen alles in dieses Zauberlicht, das es nur hier gibt. Ich hole meine Kamera aus dem Rucksack und schieße ein paar Fotos: Wolken, Sonne, die Hügel, frisch sprießendes Grün. Später werde ich zu Hause am Computer nachschauen, ob ich damit etwas anfangen kann. Ob ich noch ein bisschen mehr daraus machen kann.
Unter meiner schwarzen Wollmütze wird mir langsam heiß. Wenn alles gut geht, werde ich heute die Ernte abschließen und dann damit beginnen, die Bäume für die nächste Saison vorzubereiten. Sie müssen kontrolliert und ausgeschnitten werden. Das wird wahrscheinlich den Rest der Woche, höchstens aber bis Mitte der nächsten dauern. Dann bin ich endlich fertig – zumindest für dieses Jahr. Dann werde ich nicht mehr jeden Abend riechen, als wäre ich selbst einer dieser knochigen, alten Olivenbäume. Erdig, bitter, dumpf und nach Harz. Ihr hat es gefallen, träume ich mich in die vorletzte Nacht zurück. Da schreckt mich eine laute Autohupe auf. Jemand fährt vorbei und winkt, und ich weiß, der gemütliche Teil des Morgens ist vorüber.
IV
Ich komme aus der Dusche und bin froh, dass der Tag im Olivenhain ohne weitere Zwischenfälle vergangen ist. Da piepst mein Handy. Eine neue Nachricht ist über Facebook eingegangen. Das konnte nun wirklich nur die Süße mit der weichen Haut sein.
Sehen wir uns heute Nacht?
Touristinnen, die ich auf der Insel kennenlerne und auf die ich Lust habe, gebe ich niemals meine Telefonnummer. Ich kontaktiere sie lieber über Facebook, per Messenger. Inklusive separatem Piepton, man weiß ja nie! Und wenn sie wieder abreisen oder sich mir eine bessere Option bietet, ist die Verbindung easy gelöscht. Nervt eine trotzdem, blockiere ich sie. Ende. Aus.
Um diese frühe Zeit im Jahr bin ich bei den Ladys allerdings weit weniger wählerisch als im Hochsommer, wenn ich mich jeden Tag um Frauen im Bikini kümmere. Jetzt gibt es hier kaum Fremde, höchstens ein paar asiatische Tagestouristen, die mit der Fähre aus Piräus kommen und direkt weiter auf eine der Nachbarinseln reisen. Oder was weiß ich, wohin die fahren. Wenn doch einmal eine, meist eine der Städterinnen aus Athen, die sich daheim langweilt und hier ein Wochenendhäuschen besitzt, für ein paar Tage vorbeikommt, bleibe ich natürlich am Ball.
Und diese eine Athenerin ist wirklich besonders sexy. Langes blondes Haar, schlanke Taille, trotzdem sehr weiblich. Obwohl mir alle Knochen im Leib wehtun, regt sich etwas unter dem Handtuch, dass ich mir beim Verlassen des Badezimmers um die Hüften geschlungen habe. Ich lasse mir noch ein paar Minuten Zeit mit meiner Antwort. Ich ziehe mir erst einmal etwas Bequemes an, anschließend bringe ich meine dunklen, störrischen Haare in Form – und natürlich meinen Bart.
Klar, ich bin in zwei Stunden bei dir!
Ich tippe die kurze und knappe Nachricht in mein Telefon und drücke auf Absenden. Dann strecke ich alle viere auf dem Sofa von mir und entspanne erst einmal. Sie wird auf mich warten, das ist wirklich keine Frage! Ich lege mir meinen Laptop auf den Schoß, überspiele die Fotos von der Kamera und werfe einen Blick auf die Aufnahmen vom heutigen Morgen. Sie sind mir richtig gut gelungen! Das Zauberlicht habe ich perfekt eingefangen. Die Fotos glänzen durch Tiefe. Die Kontraste und einzelne Farben kann ich später noch ein wenig stärker hervorholen. Einige der Fotos zeigen die Landschaft, andere die Details der knochigen Olivenbäume, die dicken Äste, vereinzelt hängende Früchte, die Blätter in diesem besonderen Grünton. Ich finde, dass die Bäume in meinen Bildern etwas Geheimnisvolles ausstrahlen, fast schon etwas Mystisches.
Jetzt muss ich aber aufpassen, dass ich mich nicht darin verliere und mein Date heute Abend vergesse. Wenn ich an meinen Bildern arbeite, kann mir das schon einmal passieren. „Nein, kann es nicht!“, witzelt meine innere Stimme und treibt mich wie ein Kumpel vom bequemen Sofa hoch.