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FEBRUAR

Freundschaft ist wie dasLand, auf dem man sät.

Griechisches Sprichwort

Apoll

I

„Oi! Oi! Oi!“, wir schreien inbrünstig, ich bin mittendrin in dem grölenden Chor vor der Bühne. Ich schreie, bis mir die Lunge aus dem Hals zu kommen scheint, bis sich mein Hals rau anfühlt. Es ist großartig! Mein ganzer Körper zuckt und zappelt. Mein Kopf auch. Ich fühle diese überwältigende positive Energie bis in den letzten Winkel meiner Knochen. Auch auf der echt winzigen Bühne des Pubs wird mehr geschrien als gesungen. Elf Leute hat die Band, die sich da oben quetscht und uns hier unten einheizt. E-Gitarre, Gitarre, zwei Schlagzeuge, ein Keyboard und der Rest sind Bläser. Ich liebe es einfach. Es gibt nichts Besseres auf der Welt! Okay, es gibt da noch eine Sache, die ich genauso liebe wie die Musik. Aber heute, heute Abend gibt es nur das hier: den ohrenbetäubenden Lärm, die stickige Luft im Pub, das kalte Bier in meiner Hand und meine Freunde. Es ist meine letzte richtige Nacht in London, Übermorgen geht es schon in aller Herrgottsfrühe zurück nach Hause.

Um mich herum zappeln sie alle. Die Punks mit den stacheligen Irokesen auf dem Kopf; Typen wie ich mit raspelkurzen Haaren und Hosenträgern. Ein paar, die so aussehen, als kämen sie gerade aus dem Broker-Büro, sind auch dabei; und dann die, deren Rasta-Zöpfe wie wildgewordene Schlangen in der stickigen Luft tanzen. Die Mischung macht’s. Die Leute sind bunt, lebensfroh und ein bisschen abgewrackt. So wie die Musik. So wie ich. Für die einen hier gilt: hart arbeiten, hart feiern. Für die anderen wohl eher: hart feiern und dann noch härter feiern. Für mich ist das völlig okay, leben und leben lassen. In dieser Szene sind alle irgendwie unterschiedlich und doch alle gleich. Wir alle sind ein Teil des Teams, keiner wird zurückgelassen. So bin ich auch. Und darum mache ich mich jetzt langsam auf den Weg ins Bett, aber ganz langsam. Ein Bier ist noch drin. Den anderen habe ich versprochen, morgen für sie zu kochen. Eine letzte gemeinsame Runde am großen Tisch, ein Abschiedsessen auf unsere Zeit in London, bevor ich meine Kochjacke und meinen Rucksack schnappe und den Heimweg antrete. Dann geht es zurück in die griechische Idylle. Zurück in mein eigenes Restaurant, an meinen eigenen Grill. Dahin, wo ich zu Hause bin.

II

Der Wecker klingelt schrill. Er ist erbarmungslos, mein Schädel brummt. Ich liege auf der dünnen Matratze in der Ecke des Wohnzimmers meines Kumpels Mikey. Seine Bude hier in Camden ist winzig. Aber er freut sich immer, wenn ich mal für ein paar Tage vorbeikomme. Und ich brauche sowieso nicht viel. Die letzten drei Wochen bin ich hier morgens aufgewacht, in meine Klamotten gestiegen und habe mich auf den Weg ins Restaurant gemacht. Zwei Sterne. Eine Offenbarung. Die Zeit ist wie immer viel zu schnell vergangen. Ich liebe meinen Beruf. Und Menschen, die ihn genauso schätzen wie ich. Ein Zwei-Sterne-Koch, der Leuten aus aller Welt für ein paar Wochen die Möglichkeit gibt, für ihn zu arbeiten. Uns die Chance gibt, von ihm zu lernen. Das ist der helle Wahnsinn! Und ich war dabei. Ich bin noch immer dabei, denn heute werde ich hier in Mikeys winziger Bude und seiner noch winzigeren Küche für die Crew kochen. Und für Mikey natürlich, den ich seit meiner Kochlehre kenne, der aber nicht mehr in unsere Heimat nach Griechenland zurückgekehrt ist. Mikey arbeitet inzwischen in London. Er ist Sous Chef in einem lässigen Laden. Er schuftet von morgens bis abends – und trotzdem geht er feiern. So wie letzte Nacht. Mikey ist auch jetzt schon wieder unterwegs. Er steht bestimmt bereits seit einigen Stunden am Herd. Darum erhebe auch ich mich schwerfällig, und denke mir, dass ich mein gemütliches Bett wirklich sehr vermisse.

Ich werde jetzt ein letztes Mal in London auf den Markt gehen, vorher vielleicht noch ein Kaffee an der Ecke trinken, da wo ich in den letzten Wochen immer vorbeigekommen bin, und wo die Studentin hinter dem Counter immer so süß lächelt. Ich sollte mich vielleicht von ihr verabschieden. Oder ich mache es wie meist, wenn es um schöne Frauen geht, ich tauche einfach nicht mehr auf. Wahrscheinlich hat sie mich schneller vergessen, als ich wieder auf der kleinen Insel und in meinem alten Leben angekommen bin. „Jetzt aber los“, treibe ich mich selbst an. Denn das Schweinefleisch, das ich für meine Freunde kochen möchte, braucht wirklich seine Zeit auf dem Herd.

CHIRINÓ ME SÉLINO (Schwein mit Sellerie)

Zutaten für 4–6 Portionen

1 kg Schweinefleisch (z. B. aus der Schulter)

2 EL Mehl | 4 große Schalotten | 2 Knoblauchzehen

1 Bund Petersilie | Olivenöl | 1 EL Tomatenmark

1 kg Staudensellerie | frischer Oregano | Salz | Pfeffer

Saft von 2 Zitronen | 2 Eigelbe

So geht’s

Das Fleisch trocken tupfen und in

mundgerechte Stücke schneiden, mehlieren.

Schalotten abziehen, in Ringe schneiden, Knoblauch

schälen, fein hacken. Die Stiele der Petersilie hacken.

Schalotten, Knoblauch & Stiele in reichlich Öl

goldbraun anbraten. Das Fleisch dazu, rundum kräftig

anbraten. Tomatenmark im Topf anrösten.

Mit Wasser aufgießen, alles gut vermischen, dann

1h sanft köcheln lassen. In der Zwischenzeit den

Sellerie putzen, in Stücke schneiden, Blätter grob

hacken. Oregano hacken. Nach 1h den Sellerie und

den Oregano dazugeben, salzen und pfeffern.

Für ca. 30 Min. kochen lassen. Dann mit dem

Zitronensaft abschmecken. Bei Bedarf nachwürzen.

Zwei Eigelbe verrühren und unter die nicht mehr

kochende Soße rühren, so wird sie schön sämig.

Mit Brot, Kartoffeln oder Reis servieren

(Foto: Seite: 178).

III

Der riesige Esstisch, den Mikey samt aller Stühle von einem seiner Nachbarn geliehen hat, nimmt fast den kompletten Raum ein. Ich habe mir den ersten Sitzplatz neben der Kochnische gesichert, sonst würde ich kaum noch an den Herd herankommen. Das Ding ist megamodern, nichts anderes habe ich von Mikey erwartet. Und doch ist er fast unbenutzt. Denn der Platz, den mein Freund in der Kochnische seiner winzigen Bude hat, reicht kaum aus, damit sich eine Maus im Kreis darin drehen kann.

Rund um den Tisch quetschen sich inzwischen drei Frauen und sieben Männer. Es ist heiß hier drin und wahnsinnig laut. Alle quatschen wild durcheinander. Lachen und stopfen sich mit dem Weißbrot und den kleinen Vorspeisen voll, die ich nebenbei vorbereitet habe. Ohne Brot und ohne Mezze, deren Rezepte ich im Schlaf beherrsche, seit ich fünf Jahre alt bin, funktioniert kein griechisches Essen. Punkt. Mit dem Wein sind gerade alle etwas vorsichtiger. Die letzte Nacht im Pub war lang und hart. Viele von uns machen sich heute noch auf den Weg in ihre Heimat. Bald ist es auch für mich so weit. Ich lächle und freue mich wahnsinnig auf Papa und Mama, auf unsere Familientaverne. Auf die frische Brise vom Meer und auf meine E-Gitarren, die ich in den letzten drei Wochen schmerzlich vermisst habe.

„Apoll! Hör auf, von Griechenland zu träumen! Wann gibt es endlich etwas zu essen?“, Mikey brüllt über die Köpfe der anderen hinweg. Er sitzt am weitesten vom Herd entfernt. Er hat von seinem Boss frei bekommen, heute kocht ein anderer für ihn. Das hat er sich redlich verdient!

„Ist ja schon gut! Noch fünf Minuten, dann geht es los.“

„Ich bin supergespannt. Nach der fantastischen Sterneküche in den letzten Wochen habe ich mal wieder richtige Lust auf etwas Bodenständiges. Und Griechisch, da kenne ich mich gar nicht aus.“ Irina ist eine der wenigen Frauen, die den Kochkurs besucht haben. Sie ist Russin, elegant bis in die geföhnten Haarspitzen, auch am Herd ist sie immer tiptop gestylt. Wie sie das Wort „bodenständig“ betont, lässt mir die Nerven flattern.

Na, es wird ihr schon schmecken, große Sorgen mache ich mir keine. Schließlich weiß ich genau, was ich hier zubereite. In dem riesigen Topf auf dem Herd köchelt das Fleisch in der Soße, die leichte Blasen schlägt und jetzt genau die richtige Konsistenz erreicht hat. Ich nehme den Topf vom Herd und stelle ihn mitten auf den Tisch. Jeder der hungrigen Köche reicht mir seinen Teller und ich schaufle ihnen Schweinefleisch und Sellerie darauf. Der würzige Duft verbreitet sich in der Luft, es riecht wie bei Papa in der Küche, wenn die Familie zusammenkommt. Wenn wir einmal nur für uns kochen und dann gemeinsam in kleiner Runde essen. Da bemerke ich, dass es ganz still im Raum geworden ist, bis auf ein paar Schmatzgeräusche und ein gelegentliches Seufzen höre ich nichts. Alle essen. Alle genießen. „Wenn du nichts hörst, ist es das beste Zeichen!“, sagt Papa immer. Und er muss es schließlich wissen.

IV

Der Rucksack drückt auf meinen Schultern, als ich am Flughafen in Athen ins Freie trete. Endlich wieder Sonne, endlich wieder griechischer Himmel über mir. Die Sonnenstrahlen kitzeln mir in der Nase. London ist geil, aber Anfang Februar ein düsteres, graues Regenloch. Hier strahlt der Himmel, einige wenige weiße Wolken ziehen in der Ferne vorüber – und ich kann spüren, wie heiß es im Sommer werden wird. Bis zur Metrostation sind es nur ein paar Schritte. Ich nehme die blaue Linie, wie immer, wenn ich von einer meiner Reisen nach Hause komme. Sie führt mich mitten hinein ins Herz von Athen. Dorthin, wo ich als Teenager die ersten Clubs besucht habe und die ersten Ska-Punk-Konzerte, die damals eine echte Seltenheit bei uns in Griechenland waren. Ich erinnere mich so genau an diese Zeit, als wäre sie erst ein paar Wochen her. Am Monastiraki-Platz, wo sich die Touristen versammeln, um den Flohmarkt zu erkunden, sich ein Restaurant zu suchen oder einen Blick von unten auf die Akropolis zu werfen, steige ich in die grüne Linie um. Doch ich bleibe gleich unter Tage, das Wahrzeichen der Stadt habe ich nun wirklich mehr als oft genug gesehen. Es interessiert mich nicht, ich will nur noch zu Hause ankommen. Meine Mama in den Arm nehmen, mit Papa einen starken griechischen Mokka trinken und dann ran an den Herd und den Grill.

In der U-Bahnstation herrscht ein irres Gedränge. Alle rennen wie wild durcheinander, schleppen schwere Koffer oder sperrige Aktentaschen mit sich herum. Die grüne Linie fährt ein, als ich gerade den Bahnsteig betrete. Perfekt! Ich setze mich auf einen freien Platz, es ist noch eine der alten Bahnen mit den lackierten Holzbänken. Sie ruckelt wild und ist furchtbar laut, aber so gehört es sich für mich. Das gehört dazu, wenn ich nach Hause komme. Wir fahren mit der Metro schnell aus dem Untergrund ans Tageslicht. Den Rest der Strecke legt die Bahn im Hellen zurück, mitten durch die uralte Stadt.

Ich krame nach einem Euro in meiner Tasche, denn eine alte Frau kommt laut klagend und lamentierend vorbei, in der Hand hält sie einen eingeschweißten Zettel. Sie ist arm, die Regierung hat sie betrogen. Die meisten Leute im Zug schauen weg oder angestrengt in ihre Zeitung. Mir schenkt auch keiner etwas, steht in den Gesichtern der meisten von ihnen geschrieben oder noch viel Schlimmeres. Mir schenkt natürlich auch niemand etwas, aber ich habe gute Laune und finde ein paar Münzen zwischen Einkaufszettel, Büroklammern und einem Plektrum. Die alte Frau lächelt, als ich ihr das Geld in die Hand drücke. An der nächsten Haltestelle steigen zwei junge Kerle ein und singen für Moneten. Ich lache laut, denn bei ihrem Gebrüll fallen mir gleich die Ohren ab. Jetzt reicht es aber wirklich mit meiner Großzügigkeit!

Je näher wir Piräus und dem Hafen kommen, desto voller wird die Metro. Ich trete meinen Sitzplatz an einen alten Opa ab, presse meinen riesigen Rucksack vor meine Brust und stelle mich in die Nähe der Wagentür. Für den Ausstieg brauche ich eine günstige Position. Es sind dann zwar nur noch ein paar Minuten bis zum Fähranleger, aber ich habe auch wirklich nicht viel Spielraum. Wenn nichts dazwischenkommt, geht mein Zeitplan punktgenau auf. Die Metrotür öffnet sich mit einem lauten Quietschen. Ich sprinte aus dem Zug, remple auf dem Bahnsteig ein paar Leute an, rufe eine Entschuldigung und renne weiter.

Hier riecht schon alles nach Ozean, nach Hafen. Die Straße ist voller Autos, ein Hupen, ein lautes Bremsen. Meine Ohren dröhnen schlimmer als im Club vorletzte Nacht. Ohne zu zögern, springe ich über die Straße, ein Taxifahrer geht in die Eisen und schreit mich an. Er wedelt wütend mit seinem Mittelfinger. Meine Laune ist bestens, also winke ich ihm freundlich zu und erreiche in allerletzter Sekunde den Fähranleger. Ein paar Leute stehen dort noch in der Schlange, jedes Ticket wird vor der Fahrt einzeln von Hand kontrolliert. Das ist mein Glück. Ich krame das Papier aus der Tasche, passiere die Kontrolle, stelle meinen Rucksack ins Gepäckfach auf dem Deck und suche meinen Platz im Bauch der Fähre. Heute ist sie nicht besonders voll, noch fehlen die Sommerurlauber.

V

Der Wind reißt wütend an meiner Jacke, die schäumende Gischt spritzt mir ins Gesicht. Es sind nur noch zehn Minuten, bis wir Poros erreichen. Ich stehe an Deck der Fähre und sehe, wie wir auf die Insel zufliegen, sehe ihre felsigen Hügel, die Strände. Das Peloponnes-Festland auf der einen und meine Heimat auf der anderen Seite des Wassers, beides direkt vor uns. Der Ozean schimmert tiefblau und weißer Schaum tanzt auf den Wellen. Sonnenstrahlen brechen sich in ihnen. Mich wundert es keine Sekunde, dass sich die Götter ausgerechnet Griechenland für ihr ewiges Leben ausgesucht haben, denke ich, während mein Herz vor Vorfreude zu platzen droht. Ich gehe zu dem Gepäckfach, quatsche mit dem Bootsmann und erkläre einer Amerikanerin, dass sie noch auf der Fähre bleiben muss, wenn sie die richtige Insel erreichen will. Sie ist ein wenig beruhigt und setzt sich wieder ins Innere. Dann schultere ich meinen riesigen Rucksack und als wir anlegen, bin ich der erste, der über das schmale, wackelige Holzbrett springt. Drei, vier Schritte, ein letzter Satz an Land. Ich bin endlich zu Hause.

Ilias

I

Ich hasse das Geschirrspülen in der Taverne fast noch mehr als die Arbeit im Olivenhain, denke ich gerade. Da wird eine neue Ladung Teller und ein völlig verkrusteter Grillrost mit einem lauten Knall direkt neben dem Waschbecken abgeladen. Der Kellner Costas, der einen leichten Silberblick hat, grinst frech an mir vorbei: „Nur nicht müde werden!“ Ich könnte den Kerl! Was denkt der sich eigentlich. Doch ich schlucke meinen Ärger hinunter, ich brauche das Geld, das ich hier verdiene. Ich brauche es dringend. Und wenn ich will, dass der alte Christos und seine Leute mich die nächsten Tage und auch über Ostern zum Aushelfen in die Taverne holen, kann ich dem Kellner nicht mitten in der Küche einen Kinnhaken versetzen. Außerdem habe ich keine Energie zu verschwenden. Heute ist Mittagsdienst angesagt, die Nacht ist für eine der heißen Städterinnen reserviert, die immer um die Karnevalszeit auf unsere kleine Insel kommen. Nicht dass man hier wüsste, wie man wild feiert, denke ich und verdrehe die Augen.

„Schau nicht so dumm, mach deine Arbeit!“ Es ist müßig, dem alten Christos zu erklären, dass ich die Augen nicht… Es ist müßig, es für mich selbst zu wiederholen.

„Mach ich doch.“

„Und wie du wieder aussiehst!“

„Bitte! Boss, mach nicht auf meine Mutter, die liegt mir damit schon genug in den Ohren. Was interessiert es das Geschirr, wie zottelig mein Bart ist. Und warum soll ich hier hinten am Waschbecken irgendetwas anderes als einen alten Jogginganzug anziehen?!“

„Ist ja schon gut, mein Junge“, Christos lacht in seinen weißen Bart und dreht sich zum Herd um. Sein Rücken ist dabei leicht gebeugt. Und ich meine, die Anstrengung zu erkennen, die er in diesem Moment bei seiner Arbeit fühlt. Es wird Zeit, dass Apoll hier mal wieder aufkreuzt, denke ich. Der Typ, auf den nie jemand sauer ist. Obwohl er andauernd unterwegs ist, Sterneküche in London oder Madrid lernt, pah. Und dann rennt der immer in diesen schrägen Ska-Klamotten durch die Gegend. Diese aufgekrempelten Jeanshosen, die schweren, schwarzen Boots, diese Mütze mit Schirm auf dem rasierten Schädel. Ich merke, wie blinde Wut in mir aufsteigt – und wie sich meine Augen in Richtung Decke rollen wollen. Ich unterdrücke den Impuls. Ich tauche beide Hände tief in das seifige Spülwasser und träume von heute Nacht. Mehr bleibt mir im Augenblick sowieso nicht übrig.

II

Es ist stockdunkel in dem geräumigen Zimmer hoch über den Dächern der kleinen Stadt. Nicht einmal das Weiße in ihren Augen ist zu erkennen. Ich rolle mich von ihr herunter und stoße dabei einen tiefen, befriedigten Seufzer aus.

„Nicht so laut!“

„Himmel, hier ist doch niemand!“

„Die Wände sind so dünn wie Papier, ich will nicht, dass meine Schwester mitbekommt, dass ich nicht alleine hier bin, du weißt doch, wie sie ist.“

„Denkst du, ich will das? Denkst du, ich will, dass wieder alle auf der Insel was über mich zu tratschen haben?“

„Himmel, dann sei nicht so laut!“

„Weißt du was? Ich haue ab“, ich steige mit Schwung aus dem Bett, das sich eben noch so gemütlich angefühlt hat. Gleichzeitig taste ich in der Dunkelheit nach meiner Unterhose, meiner Jeans, dem T-Shirt. Wo sind bloß Hoodie und Schuhe geblieben, frage ich mich, während ich auf der Bettkante sitze. Sie schmiegt sich von hinten an meinen Rücken, knabbert an meinem Ohr.

„Das war doch nicht böse gemeint. Komm wieder ins Bett, bleib noch ein bisschen hier,“ schnurrt sie wie ein Kätzchen. Doch mir ist für heute die Lust vergangen. Wenn ich eine zickige Alte wollte, dann hätte ich eine feste Freundin.

„Lass mal Süße, ich pack es jetzt. Morgen muss ich ziemlich früh wieder raus und zur Arbeit.“ Ich schnappe mir meinen Rucksack und schon fällt mit einem leisen Plopp die Tür hinter mir ins Schloss. Mein alter, rostiger Roller wartet geduldig vor ihrer auf alt getrimmten, aber ultramodernen Ferienwohnung. Die Straße davor ist schmal und liegt völlig im Dunkeln. Ab nach Hause, bevor mich noch jemand sieht!

III

Zehn Facebook-Messenger-Nachrichten, zehn Stück sind in den letzten Minuten eingegangen. Ich grinse wie ein Honigkuchenpferd. Von, „dass du einfach abhaust“ bis „lass uns das wiederholen“ steht da alles drin. Und ich bin mir sehr sicher, dass wir das wiederholen werden, aber dann nach meinen Regeln. Heute habe ich erst einmal die Abendschicht, Apoll würde wohl wieder zurück sein. Ich habe keinen Bock, nicht auf das dreckige Geschirr und nicht auf den Chef, der sogar noch ein Jahr jünger ist als ich. Fast ein Alter und ihm gehört schon eine Taverne. Ich versuche immer, Mutter zu erklären, dass er die von seinem Vater übernommen hat, quasi geerbt. Doch das Argument lässt sie nicht gelten. Ich hätte ja ebenfalls etwas aus mir machen können. Ja, verdammt. Ich weiß, dass ich etwas aus mir hätte machen können.

Versager hin oder her, ich beschließe in dieser Sekunde, den Spüljob für heute sausen zu lassen und mich mit der Süßen zu treffen. Sie ist auf einmal ziemlich redselig. Na, zumindest in der lautlosen und schriftlichen Kommunikation. Sie brauchen meine Hilfe in der Taverne an Ostern sowieso, wenn sie nicht mit ihrem dreckigen Geschirr an den Feiertagen alleine dastehen wollen. Also was soll’s, wenn ich heute nicht dort auftauche, die melden sich schon wieder. Ich streife mir den Hoodie über den Kopf und verlasse meine Wohnung. Unten auf der Straße treffe ich auf Mutter. Das war klar! Sie kommt von der Gassirunde mit unserem Hund. „Eigentlich ist das dein Hund,“ ätzt die Stimme in meinem Kopf.

„Du bist schon wieder viel zu spät dran. Gestern warst du auch viel zu spät zum Arbeiten bei Christos in der Taverne.“

„Woher weißt du das denn schon wieder? Du warst doch gar nicht dort, nicht mal in der Nähe.“

„Ich habe ihn heute Vormittag in der Stadt am Marktstand bei den Fischern getroffen. Er war sauer auf dich. Und ich bin es ebenfalls. Musst du mich immer so enttäuschen? Was soll er denn über mich denken – was er über dich denkt, das weiß ich bereits!“

Genau genommen bin ich eine halbe Stunde zu früh dran. Zu früh für mein Date. Nur für den Geschirr-Job bin ich seit zehn Minuten überfällig. Ich schaue meiner Mutter in die zornigen Augen und sehe, dass ich keine Chance gegen sie habe. Niemand hat eine Chance gegen diese Frau, die mit einem alten Seebären verheiratet ist. Er hat sie damals von einer seiner Fahrten nach Südamerika mit nach Griechenland gebracht. Und wenn er zu diesem Zeitpunkt auch nur eine Sekunde lang gehofft hatte, sich auf diese Weise ein stilles, fügsames Mädchen nach Hause geholt zu haben, hatte er sich gewaltig in Mutter getäuscht. Keine Ahnung, ob ich in einem fremden Land, mit einer mir unbekannten Sprache auch nur einen Tag so gut überleben würde wie meine Mutter. Inzwischen beherrschte sie kaum noch die Sprache ihrer Vorfahren, zumindest habe ich sie schon lange nicht mehr darin sprechen gehört.

Ich tippe die Absage an die Süße ins Handy, drücke schweren Herzens auf Absenden und fahre zur Taverne. Dann muss ich eben doch schuften!

Apoll

I

Das vertraute Knarzen der Treppe klingt wie Musik in meinen Ohren. Doch da ist noch ein anderes heimeliges Geräusch. Während ich aus der Wohnung hinunterkomme, kann ich ihn bereits bei der Arbeit hören. Und dann sehe ich ihn auch. Papa steht mit dem Rücken zu mir am Tisch und hackt etwas. Das Messer klopft gleichmäßig und zackig auf das Holzbrett. In der Luft liegt der Duft der würzigen Tomatensoße, die seit einer Weile in einem riesigen Topf auf dem Herd köchelt. Es riecht nach Rosmarin und Knoblauch. Es duftet nach meinem Zuhause.

Ich wünsche mir immer wieder von ihm, dass er sich mehr Ruhe gönnt. Aber ich weiß auch, dass er Angst hat. Angst davor, wenn er den Kochlöffel zur Seite legt, selbst den Löffel abzugeben. Das sind seine Worte, nicht meine. Vor einem Jahr hat er uns allen einen gewaltigen Schreck eingejagt. Als Mama an einem Donnerstag gegen Mittag in die Tavernenküche kam, um sich etwas Mehl für einen Kuchen zu holen, den sie in ihrer eigenen Küche im Haus nebenan backen wollte, fand sie ihn. Er lag auf dem Boden vor dem Herd. Er röchelte. Stöhnte laut. Ich werde niemals den Schrei vergessen, den Mama in diesem Augenblick ausstieß und der mich in einer Sekunde aus meinem Zimmer hinaus- und die Treppe hinuntertrieb. Später sagte sie zu mir: „Apollonios, das war der Schreck. Der Schreck davor, was ich tun soll, wenn er nicht mehr bei uns ist. Wir sind seit 35 Jahren jeden Tag zusammen. Was soll ich denn ohne deinen Papa machen?“

Mama ist gut zehn Jahre jünger als Papa. Er stand hier schon hinter dem Herd, als sie sich kennengelernt haben. Seine älteren Brüder interessierten sich nicht für die Taverne, also musste er ran. Großvater war damals weit über 70 Jahre alt und nicht bereit, das Geschäft an fremde Leute zu übergeben. Also brachte er seinem Jüngsten das Kochen bei, die Liebe für die Produkte aus dem Meer und von den Feldern unserer Heimat. Und er lehrte ihn die traditionellen Rezepte, die schon seit drei Generationen in unserer Taverne weitergegeben werden. Als er seinem Sohn alles beigebracht hatte, was er wusste und was es zu wissen gab, schloss er seine Augen. Ehrlich! An dem Tag, an dem er Christos sagte, dass es nichts mehr gab, was er ihm noch zeigen könnte, schlief er friedlich für immer in seinem Bett ein. Und mein Papa, gerade erst 19 Jahre alt, stand plötzlich mit einer eigenen Taverne da – und mit Gästen, die nur die allerbesten Speisen gewohnt waren.

Seitdem kocht Christos. Und die Menschen lieben seine Gerichte, auch heute noch. Die Touristen genauso wie die Einheimischen, die sogar im Winter dafür sorgen, dass bei uns die Tische immer gut besetzt sind. Die dafür sorgen, dass wir nicht über unser Geschäft klagen können. Niemals habe ich Papa gehört, wie er sich über sein Schicksal beschwert oder mit der Zeit, dem Geld oder – wie bei vielen seiner alten Freunde beliebt – mit der Regierung haderte. Er kocht, egal was gerade los ist, welche Partei an der Macht ist, bei Sonne oder Regen. Und genau wie bei mir gehört seine zweite große Leidenschaft der Musik. „Ach Apoll“, sagte er einmal. „Manchmal habe ich davon geträumt, mit der Gitarre und einer Band in die Welt zu ziehen. Manchmal.“

Aber dann verliebte er sich in Mama. Er kannte sie schon ewige Zeiten. Doch war sie für ihn immer ein kleines Kind gewesen. Das kleine Kind, das in der Taverne vorbeikam, Tischwäsche und Handtücher abholte und in die Wäscherei ihrer Eltern brachte. Bis sie eines Tages ganz plötzlich nicht mehr kam. Ihre Mutter hatte sie zur Tante aufs Festland geschickt. Dort sollte sie lernen, wie man einen Haushalt führt und die Tante pflegen, die alt und gebrechlich war. Es fiel ihm zwar auf, dass da jetzt ein anderes Kind kam, um die Wäsche abzuholen. Aber er hatte so viel zu tun, dass er nicht weiter darüber nachdachte. Drei Jahre später stand sie plötzlich wieder vor ihm, bei einem Fest auf der Insel. Sie war jetzt 17 Jahre alt und längst kein Kind mehr.

Die beiden tanzten die ganze Nacht und er ließ sie von diesem Moment an nie wieder gehen. Ein halbes Jahr später heirateten die beiden in der großen Kirche, die gar nicht weit von unserer Taverne entfernt in der gleichen Straße steht. Danach dauerte es ein wenig, bis wir drei Brüder auf die Welt kamen. Irgendwie wollte es erst nicht so richtig klappen. Vielleicht lag es an der vielen Arbeit in der Taverne. Vielleicht standen die Sterne nicht besonders günstig. Vielleicht war es der Druck ihrer Eltern, die sich erhofft hatten, ihre Tochter würde in Athen einen reichen Städter finden. Und jetzt war sie wieder hier auf Poros und im Handumdrehen verheiratet. Wenn sie nun doch wenigstens schwanger werden würde…

Papa kam nach seinem Zusammenbruch in der Küche in ein Krankenhaus auf dem Festland. Der Weg dorthin ist weit, auch sonst muss man hier weite Wege auf sich nehmen, wenn einem etwas Schlimmeres passiert. Doch mein Papa ist zäh. Er überlebte und stand schon wenige Wochen später wieder jeden Tag am heißen Herd. „Kochen ist doch unser Lebenselixier, Apoll“, sagt er immer.

„Wenn du nur da in der Tür herumstehst und mich anstarrst, kannst du nichts arbeiten und dann verhungern unsere Gäste“, Papa hat mich längst bemerkt und feixt in seinen weißen Bart.

„Ich komme ja schon. Und du machst erst mal eine Kaffeepause!“

„Das lass ich mir nicht zweimal sagen. Übernimmst du die Kartoffeln, die sind gleich gar?“

II

Am Nachmittag ziehen erste dicke Wolken über dem Meer auf. Es ist ruhig im Gastraum, ich nutze die Gelegenheit, um meinen Instagram-Kanal mit den Erlebnissen der letzten Wochen zu bestücken. Vater lacht immer über das neumodische Zeug – wie er es nennt. Aber ich finde die Vorstellung super, dass ich auf diesem Weg mit Leuten aus aller Welt in Kontakt bin, die meisten sind natürlich Köche. Und dass ich der Welt unser kleines Paradies hier zeigen kann. Nachdem ich ein paar Fotos aus der Londoner Küche gepostet habe, lade ich ein Bild von Papa mit einer außergewöhnlich großen Goldmakrele in der Hand hoch. Er hat das Prachtexemplar bei einem unserer Trips aufs offene Meer geangelt. Später kam der Fisch dann auf den Grill. Ein Festmahl! Die roten Instagram-Herzen fliegen Papa, dem Fisch und dem Foto nur so zu. Habe ich es doch gewusst! Bald braucht er sein eigenes Profil, weil die Leute ihn so gerne mögen.

Während ich in London gearbeitet habe, blieb kaum Zeit für Social Media, also scrolle ich ein wenig durch meine Timeline. Mal sehen, was ich verpasst habe. Auf einem Foto erkenne ich Mikey, der in Camden vor dem Restaurant sitzt, in dem er arbeitet. Er raucht eine Zigarette und grinst breit in die Kamera. Seine kleine Schwester, die gerade in der Stadt ist und die Schauspielschule besucht, wirft einen Kussmund in die Welt. Ihr Selfie hat an die 10k Likes. Das finde selbst ich ein bisschen verrückt. Das nächste Foto in der Reihe kommt mir vom Stil her bekannt vor. Das Geschirr, der Tisch, die Draufsicht auf das Essen – jedenfalls ist sie sehr konsequent in ihrer Bildsprache, denke ich lachend. Seit gut zwei Jahren folge ich ihrem Kanal nun schon. Im Gegensatz zu Mikeys Schwester macht sie fast nie Selfies. Schade eigentlich, denn das Profilfoto verspricht einiges. Leider ist es so winzig, dass ich keine Details erkennen kann. Ich weiß, dass sie in Deutschland lebt und als Job irgendetwas mit Marketing macht. Was immer das auch bedeuten soll! Und ich weiß, dass sie in ihrer Freizeit gerne kocht. Sie ist kein Profi, das sehe ich natürlich sofort. Aber ihre oft exotischen Gerichte inspirieren mich. Diesmal allerdings nicht so sehr, denn sie hat einen griechischen Klassiker zubereitet, der regelmäßig im Topf meiner Mama köchelt, wenn sie an Wintertagen ausnahmsweise einmal für die Familie kocht. Dem Foto nach hat sie das Gericht aber ziemlich gut getroffen. Wenn es nur halb so authentisch schmeckt, wie es aussieht, engagiere ich sie vom Fleck weg als Köchin für unsere kleine Taverne!

Das sieht sehr gut aus!

Ich kommentiere ihr Foto. Und muss nicht lange auf ein „Danke“ und einen lachenden Smiley von ihr warten. Mir kommt es so vor, als hielte sie ihr Handy noch öfter in der Hand als ich! Wir wechseln gleich auf die Chat-Funktion.

Ich freue mich, von dir zu hören,du warst ja lange nicht online.

Ja, ich war in Londonbei einem Kochkurs.

Bei einem Kochkurs?

Aber du bist doch schon Koch!!!

Haha, ja. Aber man kanndoch immer was lernen.

Da hast du recht! So wie ich.

Das Rezept für die Suppe habeich gerade neu gelernt…

Und sie sieht genauso aus,wie sie aussehen sollte! Schade,dass ich sie nicht kosten kann.

Jetzt werde ich aber verlegen!

Das musst du nicht.Deine Gerichte sehenimmer gut aus. Echtexotisch manchmal.

Danke, du bist lieb.

Ich würde gerne malrichtig kochen lernen.

Aber auf die Idee bin ich wohlein bisschen zu spät gekommen…

Ich könnte es dir beibringen!

Dein Ernst?

Klar, aber ich kanndir nix zahlen, haha.

Ja, das dachte ich mir schon :)

Aber für Kost und Logis kommeich vorbei. Sieh dich nur vor!

Dein Ernst?

Keine Liebe der Welt

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