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Erstes Buch
II. Kapitel

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Man schrieb 1887, den dritten Juli. Die Tage waren lang; als die beiden Wanderer – nach etwa vier Stunden Wegs vom Wirtsgarten in Reichenhall – gegen Grödig kamen, hatten sich die Schatten noch nicht ins Abenteuerliche gestreckt, die Sonne wirkte noch kräftig. Saltner betrachtete aufmerksam eine Photographie, die Wittekind im Gespräch aus der Brusttasche gezogen und ihm hingereicht hatte; das Brustbild eines auffallend schönen, aber zarten, blonden, noch völlig bartlosen Jünglings. Die Lippen waren besonders edel geformt; der Blick der hellen Augen war nach oben gerichtet, mit einem Ausdruck weicher Schwärmerei, der lieblich und befremdend zugleich war.

»Sie haben nur diesen einzigen?« fragte der Alte.

Wittekind nickte stumm.

»Und ich auch nicht einen mehr! – — An dem da haben Sie aber nichts Gewöhnliches. Man muss immer hinschauen. Anders als die Jugend von heute. Gar romantisch; unschuldig; rührend … In Italien hab’ ich früher so alte schöne Heiligenbilder geseh’n, mit rührenden Schwärmer-Augen; an die muss ich denken.«

»Es ist ein lieber, holder Junge!« murmelte Wittekind, mit einem weichen, väterlichen Lächeln.

»Ihre Statur scheint er nicht zu haben…«

Wittekind schüttelte den Kopf.

»Er ist kleiner, und zart gebaut; aber schlank, wohlgeformt. Kurz, wie im Gesicht, so auch darin seiner Mutter Bild!«

»Ja, ja, so ein Muttersöhnchen!« sagte Saltner ernst, aber ohne jede Härte; immer die Augen auf das Bild geheftet. »Ich verschau’ mich ganz in das feine G’frieserl; – verzeihen Sie mir das österreichische Wort. So ein wenig vom Christuskopf; – aber gefährliche Augen. Gar gut; gar weich; fast wie die lieben Augen einer schönen und guten Frau.«

»Sie haben Recht«, sagte Wittekind und tat einen langen, leise seufzenden Atemzug. »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie freundlich und gut das Herz dieses jungen Menschen ist; gut bis zur Schwärmerei. Er leidet geradezu an der Menschenliebe: so nah geht ihm alles Elend, all die Ungleichheit, diese ganze Welteinrichtung, die so ungerecht aussieht.«

»Und sie wär’ es auch«, entgegnete der Alte, »wenn mit diesem einen Leben die ganze Schule schon aus wäre!«

»Wie meinen Sie das?«

Saltner antwortete nicht auf diese Frage, er sah wieder auf das Bild.

»Ach was!« sagte er plötzlich, »‘s ist ein edles Gesicht. Sie sind ein glücklicher Vater mit so einem Sohn!«

Wie es so oft ergeht, antwortete Wittekind nicht auf diese Worte, sondern auf das Unausgesprochene, das dahinter lag, das sich in dem »Ach was« leise angekündigt hatte.

»Ich bin vielleicht nicht ohne Schuld«, sagte er treu herzig, wieder leise seufzend. »Hab’ vielleicht seine Natur zu ruhig gewähren lassen; zu viel auf ihr Edles, Tüchtiges gebaut … Aber wann hatt’ ich ihn auch! Da ich auf dem Lande lebe, konnt’ ich ihn nicht bei mir behalten, denn ohne Schulkameraden wollt’ ich ihn nicht lassen; so gab ich ihn gleich weiter fort, zu meiner Schwester, die mit ihrem gelehrten Mann, dem Gymnasiums-Direktor, in einem auf blühenden, freundlichen Städtchen lebt. Aber sie ist ähnlich zart, weich und schwärmerisch, wie seine Mutter war; zu einer festen kleinen Eiche konnt’ er da nicht werden … Nun ist er ein junger Student; auf sein flehendes Bitten hab’ ich ihn nicht erst im Lande behalten, wie ich wollte, auf unserer Universität, eine Meile von meinem Gut – sondern nach Süddeutschland, nach München hab’ ich ihn ziehen lassen. Plötzlich schreibt er mir: mit seinen Nerven sei es nicht in Ordnung, sein Arzt hab’ ihn fortgeschickt, ins Gebirg’, da solle er eine Weile umherspazieren, bis er sich erholt habe. Das werde bald geschehen sein; im Übrigen fehle ihm nichts … Nach diesem Brief hatt’ ich keine Ruhe. Das einzige, letzte Kind. … Ich lasse die Ernte im Stich, helfe mir, so gut ich kann, fahre hierher ins Gebirg’, zum Berthold. Am Hintersee, von dem er mir geschrieben hatte, als von seinem Hauptquartier, – am Hintersee find’ ich nichts als einen neuen Brief: er ist nach Salzburg gegangen, will von da zu Fuß gegen Berchtesgaden, bei Grödig oder Sankt Leonhard könnten wir uns treffen. – Und so bin ich nun hier – und da ist ja Grödig; da geh’n wir ja schon ins Dorf. Aber wann kommt mein Sohn? Er ist leider ebenso unpraktisch, wie er edel und gut ist! Wer weiß, vielleicht kommt er erst bei stockdunkler Nacht. Und dabei lieb’ ich ihn so sehr, diesen – — denn ich sage Ihnen, er hat ein vornehmes, großes Herz. … Aber unpraktisch ist er. Und während ich, sein Vater, noch wie von Eisen bin, sind seine jungen Nerven ›nicht in Ordnung,‹ muss er ›spazieren gehen‹. … Da hält ein Wagen vor dem Wirtshaus; und da sitzt jemand vor der Tür. Verzeihen Sie, wenn ich etwas rascher gehe; – er könnte doch – — Zwar, im Wagen kommt er ja nicht. Was will ich. Aber wenn er etwa – — Berthold! Berthold! Bist du’s?«

Die letzten Worte rief Wittekind schon von weitem, während er mit großen Schritten durch die Dorfgasse stürmte. Es kam aber keine Antwort; die Gestalt vor der Wirtshaustür saß still, ohne sich zu rühren. Als die beiden Männer nun herankamen und die untere Hälfte dieser Gestalt nicht mehr durch ein junges Gebüsch verdeckt ward, sahen sie, dass es ein Mädchen war, das an einem Tisch saß und etwas Käse mit trocknem Brot verzehrte; ein Glas Bier stand daneben. Sie trug das schwarze Kopftuch mit den langen Zipfeln, das ›Salzburger Tüchel‹, das dort weit und breit getragen wird, sonst die gewöhnliche städtische Kleidung und eine einfache Korallenschnur um den Hals.

Von ihrem Käse aufblickend zeigte sie ein paar feurige, braune, schöngefärbte Augen und wahre Rosen von Wangen, während die Lippen in der sinkenden Sonne wie Kirschen glühten. Sie war sicher kein Kind mehr, aber sie schien noch sehr jung zu sein.

»Da kommt er ja!« rief sie auf einmal aus, sprang auf wie ein Federball und lief den Männern entgegen.

»Grüß’ Sie Gott!« rief sie dann dem überraschten Saltner zu und ergriff seine Hand, die sie küssen wollte. Der Alte aber machte sich los, nahm ihren Kopf zwischen seine Hände und küsste sie auf die Stirn.

»Dumme Kathi!« sagte er. »Lass’ doch das Händeküssen; großes Mädel du! Machst du mir das noch einmal, so werd’ ich sehr bös’ und küss’ dich ohne weiteres auf den Mund. Ei, Kathi, wo kommst du her? Oder ›wo kommen Sie her,‹ muss ich nun wohl sagen —«

Sie schüttelte hastig den Kopf.

»Nun, wo kommst denn her? Bist der ›Gems’‹ etwa durchgegangen, du Bachstelze du?«

»Aber nein! Aber nein!« rief das Mädchen in drolliger Entrüstung aus, mit einer weichen, klangvollen, eher tiefen Stimme. »Herr von Saltner! Das fragen Sie mich … Und bloß um Ihretwegen hab’ ich mich auf den Weg gemacht! Und such’ Sie und frag’ nach Ihnen, wo Sie denn wohl stecken – am hangenden Stein, und in Sankt Leonhard, und nun hier in Grödig —«

»Kind, da bin ich ja! – s’ ist ja alles in Ordnung; hab’ euren rührenden Schreibebrief erhalten, dass ihr meinen Namenstag wieder feiern wollt – hab’ vor Rührung geweint, wie sich’s gebührt, und meine Einsiedelei verlassen und mich aufgemacht —«

»Aber eine Antwort geschrieben haben Sie uns nicht!« rief das junge Mädchen.

»Hab’ ich das nicht? – Nein, das hab’ ich nicht. Nun, warum denn auch: ich war ja auf dem Weg – und vor Nacht bin ich noch oben in der ›Gemse‹!«

»Aber wir wussten halt nichts! Und weil gar kein Brief kam, hat heut’ endlich der Onkel gesagt – nein, ich hab’ gesagt: der Herr von Saltner ist doch – — Nein, ich will’s lieber nicht sagen. Und dann hat der Onkel gesagt: ›Nun, so fahr’ du mit, Kathi, der Herr Verwalter fährt nach Sankt Leonhard an die Bahn, und da herum soll der Herr von Saltner jetzt zu finden sein, der Verwalter hat ihn geseh’n‹; Na, da hab’ ich mich schnell zurechtgemacht —«

»Und bist nun hier«, fiel Saltner ein, »um den alten Mann an seinen Namenstag zu mahnen, den ihr feiern wollt…«

Er fuhr sich mit der gebräunten Hand durch den weißen Bart:

»Da bin ich aber schön zerknirscht! Ich schreibe den Brief nicht, ich kann mich nicht mehr benehmen, wie es sich gehört; diese kleine Goldkathi aber fährt in die Welt hinein, um mich wie ein verlorenes kleines Kind zu suchen. Blitz, Wetter und Mädel du! Bist doch eigentlich ein ganz süßes Geschöpf. Und dabei lächelt sie wie ein Kind. Sag’ mir zur Strafe, Kathi, dass ich ein alter Narr und ein dummer Kerl bin, und dann sei wieder gut!«

Die rosige Kathi erglühte noch rosiger, vor Vergnügen über seine Reden und dann wieder aus Zartgefühl; dabei stieß sie ein eigentümliches, zitterndes, liebliches Lachen aus.

»Was Sie alles reden«, sagte sie mit leiser Stimme. »Kommen Sie jetzt nur mit!«

»Freilich komm’ ich mit«, entgegnete der Alte, »obwohl ich dann diesen lieben Herrn verlassen muss, den ich am Untersberg in einem mörderischen Kampf mit Stechfliegen angetroffen hab’: denn diese zwei Tage bin ich da hinten herumgestiegen. Ja, sehen Sie, werter Herr, das ist die Gemsen-Kathi! Jetzt reicht sie mir an die Brust; als sie mir nur bis an die Hüften reichte, da bin ich zum ersten Mal in der ›Gemse‹ eingekehrt und sommerlang geblieben; und seitdem kam ich jedes Jahr, wenn auch nur auf Wochen, oder für einen Tag. Und der kleine Flittich von damals bringt nun den Gästen ihres Herrn Onkels das Bier und heißt Kellnerin. Ist das ein Röslein geworden, oder nicht?«·– Er legte dem Mädchen, das so klein und zierlich vor dem Riesen stand, eine Hand auf den Kopf: »Haben Sie schon viel so angenehme Kellnerinnen geseh’n? So liebe, gute und hübsche?«

Die Kathi, rot bis ans Kopftuch, sah den Alten vorwurfsvoll an; dieser aber strich ihr so herzlich und weich über die Wange, dass sie zu zittern anfing:

»Ei!«, sagte er, »die Wahrheit muss man nicht unter den Scheffel stellen. Oder kannst du’s etwa nicht vertragen, dass man dich lobt? Macht dich das eitel wie die andern dummen Mädels, denen ein gutes Wort gleich den Kopf verdreht? – Nein, das glaub’ ich nicht von unsrer kerngesunden Kathi; die ist nicht so herzschwach, was? Die ist stolz und grad’ gewachsen, und wenn man sie lobt, so gibt’s ihr nur, wie der Sonnenschein, einen frischen Mut.«

Das Mädchen lächelte flüchtig, verschämt, was sie sehr verschönte, blickte ebenso flüchtig zu Saltner auf, und nickte.

»Na, also da sind wir einig«, fuhr der Alte fort; »und wenn du mir die Dummheit mit dem Brief nun christlich vergeben hast, so bestell’ mir einen Wagen zur ›Gemse‹! – Oder nein: ich geh’ mit hinein; denn ich muss nun endlich auch ein Glas gegen meinen Durst trinken, in der kühlen Stube. Sie nicht auch, Herr? Was meinen Sie?«

»Ich danke«, sagte Wittekind, der an die Türschwelle gelehnt stand und die beiden mit stillem Vergnügen betrachtete. »Durst hab’ ich nie.«

»Sie haben nie Durst? Auch nach so einer Wanderung nicht?«

»Nein. – Ich kann nichts dafür. Ich bin so geschaffen.«

»Sie trinken also auch nie?«

»Ah«, sagte Wittekind lächelnd, »das ist etwas anderes. Einen edlen Wein oder ein edles Bier trink’ ich so, wie ich eine gute Musik höre oder ein schönes Bild sehe: aus reinem, göttlichem Vergnügen.«

»Da sind Sie also um eine Klasse weiter als ich«, entgegnete Saltner. »Ich trinke noch, weil ich muss. Na, so komm denn, Kathi!«—

Er legte ihr einen Arm auf die Schulter – nun sah sie völlig aus wie ein Kind – und sie ging in gleichem Schritt wie er, die kleine Gestalt drollig dehnend, ins Haus.

Wittekind sah ihnen nach, mit heiterem Wohlgefallen; dann blickte er wieder, nachdenklich, die Dorfgasse hinab.

Das umherschwimmende goldene Licht verklärte alles, die zerstreut stehenden Häuser, denen die Bäume über den Kopf wuchsen, die umherlungernden Kinder, geschäftige alte Weiber, ein paar Hunde, die sich in der Sonne wälzten. Der ›Salzburger hohe Thron‹ des Untersbergs zeigte auch hier, über den Dächern aufsteigend, seine Felsenstirn. Dem Wanderer erschien es auf einmal wie ein Traum, dass er aus seiner Ebene, von seiner Ostsee an diesen Märchenberg verschlagen sei; dann fuhr ihm die zurückgedrängte Sehnsucht nach seinem Jungen wie ein Pfeil durchs Herz. Er schob sich den Hut von der Stirn zurück. Wenn er nun plötzlich käme! Dort um das Haus, an der Ecke! – — Die Brust stand ihm still. Die Gasse hinunterspähend sah er etwas Staub emporsteigen; es durchzuckte ihn einen Augenblick; aber: ›nun ja!‹ dachte er dann. ›Das kann ja nicht Berthold sein. Was ist’s? Ein Wagen. Und von dort, von Süden her, käm’ er ja auch nicht…‹

Plötzlich musste er lächeln: ein so jugendlicher, romantischer Gedanke tauchte in seinem erregten Innern auf und flog wie ein Vogel vorbei. ›Nun, und wenn da mein Sohn nicht kommt, kommt vielleicht mein Schicksal…‹

Er wandte den Kopf, als blicke er diesem Vogel nach.

›Was heißt das?‹ dachte er verwundert weiter; ›mein Schicksal? Was kann mir denn kommen? Was erwart’ ich denn noch? – Mir geht’s wohl auch wie diesem Alten, diesem Theoretiker der Greisenruhe und Waldeinsamkeit: die Jugend rennt immer wieder mit mir davon. Das, was da „kommt“, ist ein Wagen; mit zwei hübschen Braunen davor. Nicht einmal Schimmel sind’s. Und er fährt vorüber … Nein; er hält hier an. Also das wäre „mein Schicksal“. Auf dem Bock oder im Wagen säß’ es. Seh’n wir zu, wie es aussieht!‹

Ein offener Wagen, die Dorfgasse herausgefahren, hielt vor dem Wirtshaus; die Pferde schwitzten stark, schnoben und schüttelten sich; der Kutscher stieg vom Bock, um sie abzusträngen. Im Wagen saßen zwei Herren auf dem Rücksitz, zwei verschleierte Damen ihnen gegenüber; die, welche Wittekind zunächst saß, war in einen hellen, eleganten Staubmantel gehüllt.

»Aber, lieber Himmel!« sagte diese Dame mit einer schmachtenden, beinahe weinerlichen Stimme; »wozu dieser Aufenthalt! Ich finde, dass es ein Unsinn ist, ein paar Minuten vor Salzburg in diesem öden Nest noch eine Rast zu machen!«

»Meine Liebe«, erwiderte der Herr, der ihr gegenüber saß, eine schlanke Gestalt mit einem aristokratischen, aber unbedeutenden Gesicht: »die Pferde haben es nötig, wie der Kutscher behauptet. Und wir sind nicht ein paar Minuten von Salzburg entfernt, sondern eine Stunde.«

»Zehn Minuten!« entgegnete die Dame, wieder mit der klagenden Stimme; ihr Gesicht konnte Wittekind durch den dichten Schleier nicht erkennen. »Was tun wir hier in – Grödig? Da wollt’ ich doch wahrhaftig, wir wären in Berchtesgaden geblieben!«

Die andre Dame – halb verdeckt durch die erste – hob eine Hand, bewegte sie ein wenig hin und her, und sagte:

»Liebste Frau Baronin, in Berchtesgaden erlaubte ich mir zu sagen: bleiben wir doch noch hier. Aber um jeden Preis wollten Sie ja fort!«

›Das ist eine merkwürdige Stimme‹, dachte Wittekind, indem er den Kopf neugierig vorstreckte. ›Was für ein edles Metall. Offenbar eine Altstimme. Und wie schön sie spricht. Das Gesicht zu dieser Stimme möchte ich wohl seh’n!‹ – Er neigte sich aber vergebens vor und zur Seite: der Schleier verhüllte auch dieses andre Gesicht, unter einem feinen Strohhut, zu sehr; er war blau und doppelt. ›Wozu denn diese dichten Schleier?‹ dachte Wittekind etwas entrüstet. ›Auf den Landstraßen ist ja fast kein Staub, nach all den Gewittern.‹

»Bei alledem sind wir hier, meine Damen«, sagte jetzt eine vierte Stimme, »und wir sollten wohl aussteigen!«—

Wittekind horchte auf. Es fiel ihm bei dieser kalten, etwas näselnden Stimme ein Knabe ein, den er einmal als Schuljunge – obgleich der andre zwei Jahre älter war – durchgeprügelt hatte. Wie kam ihm der auf einmal hier am Untersberg in den Sinn? Könnte der Herr da hinten, den der Aristokrat verdeckte, wirklich Friedrich Waldenburg sein? Die Gestalt erhob sich, lang und etwas schwerfällig, zeigte ihren breiten Rücken, stieg auf der andern Wagenseite vorsichtig aus, und wandte sich dann herum, vermutlich um den Damen beim Aussteigen zu helfen. Jetzt sah Wittekind das Gesicht dieses langen Menschen, und nach einem raschen, scharfen Blick konnte er nicht mehr zweifeln.

Es war ein Kopf, den man nicht vergaß (wenn er ihn auch vor fünfzehn Jahren, in Italien, zuletzt geseh’n hatte); ein auffallend großer, aber wohlgeformter Kopf mit bedeutender Stirn, großen, aber durch breite, schwere Lider halb bedeckten Augen, deren helles und kaltes Licht eigentümlich strahlte; unter einer starken, feingeschnittenen Nase ein geistreicher Mund, den ein schöner, lichtbrauner Bart überschattete und sich in einen ebenso schönen Backenbart verlor. Das Kinn war ausrasiert, der Kopf nur noch mit dünnem, schlichtem Haar bedeckt, der kurze Hals durch eine kropfähnliche Anschwellung entstellt. Kurz, man sah einen schönen Menschen und wusste nicht, ob man sich nicht täuschte; einen von diesen Köpfen, bei denen man sich fragt, ob mehr die Natur von vornherein, oder mehr der Geist nach und nach, und von innen heraus, ihn so gewinnend geformt hat. Und was für ein Geist? Seele oder Verstand? Wärme oder Kälte?

»Wahrhaftig, das ist Friedrich Waldenburg!« rief Wittekind unwillkürlich aus, doch mit halber Stimme. Der Angerufene horchte auf und spähte zwischen den Insassen des Wagens herüber. Dann stieß er einen hellen Ton der Verwunderung aus, und ein kaltes Lächeln lief ihm über die Lippen.

»Alle guten Geister!« sagte er, mit einem gewissen schönen Vortrag wie auf dem Theater. »Das ist ja Karl Wittekind, der ›Biedere‹, der ›Gerechte!‹«

»Jedenfalls heiße ich Wittekind«, gab dieser, etwas kühler als vorhin, zurück.

»Warte einen Augenblick, mein Teurer!« rief nun der andere etwas herzlicher aus; »bis ich die landesüblichen Ritterdienste geleistet habe!«—

Er hielt der Dame in dem blauen Schleier die Hand hin; leicht darauf gestützt sprang diese auf die Erde. Der Lange ging dann um den Wagen herum, nicht mühsam oder ältlich, aber mit einem sonderbaren Schein von Unsicherheit, wie wenn seine hohen Beine doch etwas zu schwach wären, um den breit entwickelten Oberkörper zu tragen. Ehe er an dem andern Wagenschlag angekommen war, hatte die Dame mit der schmachtenden Stimme sich erhoben und mit Hilfe des andern Herrn, nicht ohne einen leidenden Seufzer, den ›Landauer‹ verlassen.

»Komme ich zu spät?« sagte Waldenburg. »Nun, so sei mir gegrüßt, Karl Wittekind, edler Freund!« —

Mit der vornehmen Grazie eines Prinzen hielt er ihm die Hand hin, bewillkommnete ihn aber zugleich durch ein vertrauliches, behaglich schmunzelndes Lächeln.

»Meine Damen, ich stelle Ihnen hier einen Mustermenschen vor«, setzte er dann hinzu; »Herrn Wittekind, den Mann, wie er sein soll. In diesem verkommenen Zeitalter noch ein echter Idealist!«

Wittekind machte eine zuckende Bewegung; er wollte auf diese sonderbare Anpreisung, die ein kalter Spott zu begleiten schien, eben etwas erwidern, als ein unerwarteter Anblick ihn abzog. Die Dame mit der merkwürdigen Stimme war Waldenburg um den Wagen gefolgt und warf eben, gleich der andern, ihren Schleier zurück. Sie enthüllte ein Gesicht, das vielleicht weniger schön, als auffallend und bedeutend war; von herrlichem blondem Haar umrahmt, großgeformt, aber überraschend bleich und so mager, dass die großen dunkelblauen Augen übergroß und fast beängstigend wirkten. Daher erschien sie wohl auch älter, als sie war; denn die hohe Gestalt, durch ein anschmiegendes hellgraues Sommerkleid und einen Ledergürtel in all ihrer Schlankheit gezeichnet, machte einen durchaus mädchenhaften Eindruck. Ihr Blick schien aber ebenso unmittelbar zu berühren, zu treffen, wie der Waldenburgs; nur dass dieser klug und kalt, der der jungen Dame warm und zurückhaltend traurig war. Fast auf den ersten Blick dachte Wittekind: ›So jung die ist, hat sie viel gelitten!‹

Er betrachtete sie so aufmerksam, dass Waldenburg zu lächeln anfing. Dieser nahm wieder das Wort:

»Ich habe meinen alten Freund wohl zu grob angepriesen; das macht die unverhoffte Freude, und die Erinnerung an die alten Zeiten! Wir haben uns oft gesehen, aber zuerst auf dem Schulweg, und auf dem Schulhof in den Zwischenstunden; da haben wir Griechen und Trojaner gespielt und ritterlich gekämpft.«—

›Ja, ich hab’ ihn durchgeprügelt‹, dachte Wittekind.

Waldenburg unterbrach sich selbst:

»Bei alledem vergesse ich, meinen Kommilitonen auch mit den Herrschaften bekannt zu machen! – Meine werten Freunde, Baron und Baronin Tilburg; mit mir aus Wien gekommen, und für die nächsten vier Wochen noch mit mir verheiratet Frau. Marie von Tarnow (er deutete mit einer anmutigen Kopfbewegung auf die Blasse), unsre Amerikanerin, die wir der neuen Welt wieder abgerungen haben; sie bleibt nun hoffentlich in der immer noch interessanten Ruine, unserm alten Europa!«

»Der weibliche Leibarzt meiner Frau«, sagte Baron Tilburg lächelnd, und schlug mit dem abgezogenen Handschuh der rechten in die linke Hand.

»Warum sehen Sie mich so verwundert an?« fragte die junge ›Amerikanerin‹, da Wittekind sie mit neuem Erstaunen und Interesse betrachtete. »Glauben Sie nicht an den Leibarzt?«

›Ja, die Stimme ist ein schöner Alt!‹ dachte Wittekind.

»Verzeihen Sie«, sagte er dann laut, nicht ganz unbefangen: »ich hatte mir einen weiblichen Arzt nicht so – so weiblich gedacht. Mehr – wie soll ich sagen – robust, mit männlichem Stehkragen; Übergang zum Mann. Und da sah ich nun – Sie —.«

›Alle Wetter‹, dachte Waldenburg, ›wie der Herr sie anstarrt!‹

Die junge Dame erwiderte schlicht:

»Ich hab’ in Amerika etwas Medizin studiert, weil mein Vater Arzt war; es lag mir so nah. Und meinen Vater machte es so glücklich«, setzte sie zu den andern gewandt hinzu. »Übrigens brauchte man mich der neuen Welt nicht wieder abzuringen; ich kam nach Deutschland zurück, weil ich da geboren bin und dahin gehöre!«

»Ja«, sagte Frau von Tilburg, deren Klagestimme diesmal etwas herzhafter einsetzte, »meine liebe Marie hat uns nie verleugnet, ihr Herz ist deutsch geblieben – deutsch avant tout

Die Blasse errötete flüchtig, wohl wegen dieser französischen Bekräftigung.

»Ich hab’ sie immer gehasst«, sagte sie, »diese braven Landsleute, die da drüben auf einmal Eingeborne wurden und über Deutschland mit den Achseln zuckten. Sollen wir nicht auf unser Vaterland stolz sein, wohin wir auch kommen? Und ihm Ehre machen – wie Sie, Herr Geheimrat (sie wandte sich zu Waldenburg) der Sie aus Deutschland nach Österreich hinübergezogen sind, und dem Kaiser dort gewiss mit aller Hingebung dienen, aber Ihre Heimat nie verleugnen werden —«

Sie brach plötzlich ab, und auf eine Weise, die den voll Anteil beobachtenden Wittekind aufs Äußerste überraschte. Saltner trat in diesem Augenblick wieder aus der Wirtshaustür, der Alte, mit der Kathi. Frau von Tarnow warf einen verlorenen Blick zu ihm hin; auf einmal fuhr sie zusammen. Ihre Blässe ward geisterhaft. Sie hatte ihr Taschentuch in die Hände genommen und im Reden zusammengedreht; jetzt fiel es auf die Erde. Eh’ aber noch einer der Herren hinzutreten konnte, um es aufzuheben, bückte sie sich rasch, als wünschte sie ihr verändertes Gesicht zu verbergen, und hob es selber auf; blieb dann noch eine Weile gebückt, und schien ein wenig hin und her zu schwanken. Wittekind sah das alles. Nach einer Weile hatte sie sich, wie es schien, gefasst, und ging mit einer raschen Bewegung auf den Alten zu.

»Grüß’ Sie Gott!« sagte sie und streckte ihm die Hand hin. Zugleich beugte sie sich aber vor, und Wittekind glaubte zu hören, dass sie ihm etwas zuflüsterte, während die beiden Köpfe sich beinahe berührten.

Saltner machte ein betroffenes Gesicht, und mit einem verwirrten, rollenden Blick überflog er die Gesellschaft. Er fasste sich indessen geschwind, drückte die Hand der jungen Dame mit einem höflichen Lächeln und lüftete seinen Hut.

Es stieg ihm aber nachträglich eine Röte in die bronzenen Wangen, als schämte der Alte sich, eine Komödie zu spielen.

So erschien es wenigstens Wittekind. Frau von Tarnow trat dann langsam zurück, hielt aber die Augen noch auf Saltner geheftet.

Plötzlich wandte sie sich, wieder wie nach einem raschen Entschluss, und stellte ›Herrn von Saltner, einen alten Freund‹ der Gesellschaft vor. Der ›Alte vom Berge‹, der Waldmensch, verneigte sich mit einer vornehmen Würde und Anmut, die von diesem Riesen in der Lodenjoppe offenbar niemand erwartet hatte. Er trat dann auf den Baron und die Baronin zu und begann in leichtem Ton – nur dass die Stimme ein wenig zitterte oder schwankte – über Wetter und Reisen zu sprechen. Die Baronin hörte andächtig zu, stieß einmal einen sanften Reise-Seufzer aus, und betrachtete diesen ›Urmenschen‹ mit einem gewissen bangen Respekt, der Wittekind ergötzte. Bald ward es ihr aber lästig, aus ihrer zierlichen Untermittelgröße zu einem solchen Turm hinaufzusehen, der noch den langen Waldenburg überragte. Sie fühlte auf einmal, dass sie nach ›dieser endlosen Fahrt‹ völlig steif geworden sei und sich bewegen müsse; nahm Frau von Tarnows Arm, hängte sich hinein und ging mit einem etwas schleppendem, schmachtenden Gang die Dorfgasse hinunter. Saltner sah ihr und der Amerikanerin nach. Er stand still, seine Augen starrten regungslos, es schien ihm ein schmerzliches Zucken über die Wangen zu gehen.

›Was ist zwischen ihm und dieser blassen Frau?‹ dachte Wittekind. ›Was für ein Geheimnis haben sie miteinander?‹ Er sah gleichfalls den Damen nach. Der Baron Tilburg hatte sich ihnen angeschlossen; Waldenburg folgte, blieb dann aber stehen, als fiele ihm etwas Besseres ein, und zog eine Zigarre hervor, die er mit seiner etwas feierlichen Grazie in Brand setzte. Wittekind, von einem unklaren Gefühl gezogen, trat zu dem ›Jugendfreund‹.

»Ist diese junge Dame leidend?« fragte er. »Sie hat ja fast kein Blut im Gesicht.«

»Die Amerikanerin?« fragte Waldenburg zurück und blies einige zarte, blaue Ringe in die Luft. »Lieber Freund, ich wollte, ich wüsste, was ihr fehlt; – um sie zu heilen«, setzte er mit einem leichtfertigen Lächeln hinzu.

»Ich fragte nur nach ihrem körperlichen Befinden«, sagte Wittekind trocken.

Waldenburg sah ihn an:

»Ist das bei Frauen je vom seelischen zu trennen? – Sieh, wie sie geht; eine Tusnelda-Gestalt. Sie hat ihre Fülle verloren; aber das kommt wieder … Was ihr fehlt, weiß niemand. Eine verschlossene Schweigerin, die aber, wie es scheint, allerlei Interessantes zu verschweigen hat. Um den Mund lauter Geist, Übersinnliches; dagegen um die Augen – —«

Wittekind unterbrach ihn:

»Und wie kommt sie zu – euch?«

»Zu uns? Du hörtest ja: der ›Leibarzt‹. Weniger vornehm ausgedrückt: sie ist die Gesellschafterin dieser Baronin Tilburg; einer sehr gesunden Dame, die sich beständig für krank hält. Die arme Transatlantische hat offenbar kein Geld!«

»Und der Baron Tilburg?«

»Was der ist? Ein sogenannter Diplomat; ein Herr ohne Kopf, aber mit guten Beinen, auf denen er das ganze Jahr herumläuft, um sich nützlich zu machen. Einer von den kleinen Schmetterlingen der ›auswärtigen Angelegenheiten‹«.

›So spricht er von seinen „Freunden“‹, dachte Wittekind, ›mit denen er „für die nächsten vier Wochen noch verheiratet ist“. – Aber vielleicht ist er das nicht um ihretwillen, sondern wegen der Gesellschafterin der „Tusnelda“.‹

»Nun, und du?« fragte er dann. »Du bist nun ›Geheimer Rat‹?«

Waldenburg lächelte, stieß eine Rauchwolke aus und seufzte.

»Weil mich die Transatlantische so nannte?« sagte er langsam. »Die versteht das nicht. So ein bisschen Hofrat, das bin ich; und ein bisschen ›Geheimes‹ auch; aber der richtige ›Wirkliche Geheime Rat‹ – nein, das bin ich nicht. Wär’ ich das, dann wär’ ich Exzellenz. Danach tracht’ ich, mein Sohn; aber diesen großen Vogel kann ich noch immer nicht erjagen. So einem blaublütigen Dummkopf fliegt er zuletzt ganz von selbst ins Maul; uns ›Plebejern‹, uns ›Parvenus‹ schwebt er hoch überm Kopf, wie ein schwarzer Punkt, an den unsere Kugel nicht reicht, und verachtet uns. Das ist unser Martyrium; davon weißt du nichts. Ich könnte Europa regieren – Waldenburgs etwas vorgebeugte Gestalt richtete sich hoch auf – und ich bring’ es nicht einmal bis zur Exzellenz!« —

Wittekind lächelte still über diesen Kummer, den sein Herz nicht verstand. Er wollte etwas entgegnen, als er hinter sich, irgendwo im Dorf, eine jugendliche Stimme singen hörte, deren Klang ihm ins Herz schlug. Er konnte nicht irren, er kannte diese Stimme zu gut. Sie schwang sich weich und hell über die Häuser herüber.

»Das ist mein Junge! Mein Berthold!« rief Wittekind aus und stand einen Augenblick vor Freude wie angewurzelt. Dann aber, ohne weiter ein Wort zu sagen, drehte er sich um, und mehr laufend als gehend flog er der Stimme entgegen.

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