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Erstes Buch
V. Kapitel

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An dem hölzernen, offenen ›Salettl‹ des Wirtsgartens, das an das Haus angebaut war, brannten schon die Windlichter; Berthold saß ganz allein an einem der drei runden Tische, vor einem Fläschchen roten Tiroler Weins. So fand ihn Wittekind, als er in das Gärtchen eintrat.

»Junge, wie kommst du hierher?« fragte er. »Warum bist du unterwegs wieder umgekehrt?«

Der Jüngling ward rot, aber in sorgloser, weinfroher Heiterkeit.

»Das will ich dir sagen, Vater: weil ich Hunger hatte. Einen solchen Hunger, dass – —. Heute Abend, vor dem Schlafengehen, erzähl’ ich dir alles; komm, trink auch ein Glas!«

»Und du hast schon gegessen?«

»Ja. Die gute Kathi hielt Wort: ein Beefsteak· Sehr geschwind; und gut. Und einen Eierkuchen. Eine Weile hat sie mir zugesehen; dann verschwand sie plötzlich. Ich bin wieder ein Mensch!«

»Ich hätte dir auch gerne zugesehen«, sagte Wittekind lächelnd. »Wir wollen dich nun oft so zum ›Menschen‹ machen!«—

Auch in ihm regte sich der Hunger. Er rief eben nach dem Wirt, als vom Hause her, um die Ecke, Tilburgs und Waldenburg kamen; die Baronin frisch und freundlich und wie aufgeblüht. Es verlangte sie aber leidenschaftlich ›in die Luft hinaus‹.

»Wir haben inzwischen für die Nachtquartiere gesorgt«, sagte Waldenburg; »da in dieser Herberge nur drei Zimmer sind – von der rührendsten Unschuld und Einfachheit – so werden die Damen und der Herr Baron unten im Städtchen übernachten. Uns andern hat der kleine gute Hausgeist, die Kathi, hier oben verteilt. Du mit deinem Sohn im Hauptzimmer, das zwei Betten hat; der Riese in seinem angestammten Bett nebenan; im dritten Kämmerlein ich. So beschlossen und angeordnet, weil ich morgen in aller Frühe die Bergbesteigung nachholen und auf der ›Hedwigsruhe‹ auch meine Andacht verrichten will.«

›Wer dir das glaubt!‹ dachte Wittekind. ›Du hast irgendeinen andern Grund, in so einem unwürdigen „Kämmerlein“ zu übernachten und dich von deiner Gesellschaft zu trennen … Nun, was geht’s mich an?‹

Die Baronin fragte nach Marie; in diesem Augenblick erschien sie mit Saltner, von der Straße her, wieder mit ihrem ruhigen, verschlossenen Gesicht. Auch der Wirt kam, und eine Alte, die Getränke und Speisen brachten; Kathi ward nicht sichtbar. Man begann sich zu stärken, alle hungerten; in ihrer zarten, schmachtenden Weise griff auch die Baronin zu, die jetzt diesen ›Aufenthalt‹ sehr idyllisch fand. Nur empörte sie sich, da der Mond so herrlich herabscheine, über das ›ewige Lampenlicht‹ (es waren übrigens Kerzen), und auf ihr Verlangen wurden die Windlichter ausgelöscht. Es währte aber nicht lange, so fand sie dieses ›Halbdunkel‹ unleidlich, und die Herren zündeten die Windlichter wieder an. Die Gesellschaft saß im ›Salettl‹, an zwei Tischen; der dritte war leer. Im Gärtchen hatten sich allmählich allerlei Gäste, bäurische und städtische, eingefunden, und begnügten sich fast alle mit dem Mondlicht, das ihre Biergläser und Weinfläschchen versilberte; einige saßen auch am Fels, im tiefen Schatten, man bemerkte sie kaum, hörte nur ihr Plaudern und Lachen.

Es trat dann aber noch eine Gesellschaft ins ›Salettl‹ ein, grüßte zutraulich-linkisch und pflanzte sich breit um den dritten Tisch. Ein graubärtiger Bauer war’s, mit seiner Bäuerin, die eine Brille auf der Nase hatte, ein fast ausgewachsener Bub und ein kleinerer, alle in der landesüblichen Tracht, die Buben mit Alpenstöcken. Sie forderten zu trinken, unterhielten sich laut in breitem Dialekt; wandten sich dann auch ohne weiteres an den Nachbartisch und sprachen besonders in Saltner hinein, der ihnen zunächst saß.

»Um Gottes willen! Was ist das?« flüsterte die Baronin, der auf einmal das ›Idyll‹ hier oben shocking wurde.

»Ist das in der ›Gemse‹ Stil? Wir müssen wohl gar noch aus einem Seidel trinken?«—

Der Baron bewegte sich auf seinem Stuhl, als werde es hohe Zeit, sich zu entfernen. Indessen rückte der alte Bauer, in wachsender Zutraulichkeit, näher an Saltner heran; beklagte sich über das teure Bier und die schlechten Zeiten, in einem dumpfen Bass, der sonderbar gedrückt und heiser klang, und schlug endlich dem alten Herrn mit schwerer Hand auf das Knie.

Dies war doch auch Saltner’n überraschend; er stand auf.

»Wären wir doch in Berchtesgaden geblieben!« seufzte die Baronin.

Auf einmal schlug der Bauer eine helle, herzliche Lache auf, und drei andere helle Stimmen lachten mit.

Der Bauer zog sich den grauen Bart vom Kinn und nahm seinen Hut ab. Man erkannte Kathis braune Schelmenaugen und ihr rosiges, von kindlicher Heiterkeit strahlendes Gesicht.

»Schönen guten Abend all den verehrten Herrschaften!« sagte sie in ihrem besten Hochdeutsch, aber mit ihrer natürlichen Stimme.

»Das ist die Kathi!« rief Saltner aus, zog die Brauen auf und nieder und lachte. »Gut gespielt, Teufelsmädel du! – Wer sind denn die andern?«—

Er versuchte der Bäuerin die Brille von der Nase zu nehmen; sie trat aber zurück und zog sie sich selber ab.

»Mich kennen Sie wohl nicht mehr«, sagte sie und knixte; »bin die Wabi vom Mehlweg. Und der große dumme Bub’ da, das ist meine Schwester. Und der andere Bub’ ist der Riesenbauer-Franzi!«

»Ja freilich, ja freilich«, sagte Saltner, der sich vor jedem dieser vier Komödianten aufpflanzte und ihm in die lachenden Augen sah. »Wie das spielen kann! Ich hör’ euch alle reden und erkenn’ eure Stimmen nicht! Ich schau’ wohl sechsmal hin und bleib’ so blind wie ‘ne Schnecke! – O ihr Possenspieler! Wie kommt ihr dazu, im Juli Fasching zu machen?«

»Wie wir dazu kommen?« fragte Kathi, die nun wieder ernst und sittig dastand und in dem langen Bauernrock, den vertragenen Kniehosen, der grauen Perücke umso drolliger aussah. »Haben Sie denn vergessen, Herr von Saltner, dass Ihr Namenstag ist? Dasmal fiel uns halt nichts anderes ein, als das Bauernspielen. Die Wabi und die andern haben mitgetan mir zu Lieb’ – und weil hier alle Sie gern haben. Die Wabi ist in Sie verliebt«, setzte die Schelmin hinzu. »Geben Sie nur nichts drauf, wenn sie’s leugnen will. Schau’n Sie, wie sie rot wird! Rot werden« sie sprach jetzt in etwas gekünsteltem Hochdeutsch – »rot werden ist, wie der Herr Lehrer sagt, das erste Zeichen der Liebe. Er hat aber auch noch ein kleines Gedicht auf diesen Tag gemacht; und das möchte’ ich Ihnen aufsagen, lieber Herr von Saltner, wenn Sie nicht meinen, es schickt sich nicht vor den hohen Herrschaften!«

»Ei, es schickt sich wohl«, sagte Saltner gerührt. »Die Herrschaften werden dich und mich wohl nicht auslachen, Kathi; – na, und wenn sie’s täten, dann wären wir stolz und machten uns nichts draus. Willst du mir durchaus noch so was Zusammengedichtetes vorzwitschern, dann tu’s. Ich halte still!«

Die Baronin klatschte gnädig ermunternd in die Hände:

»Das ist ja ein allerliebstes Idyll! Nur zu, Kleine, nur zu!«

Kathi nahm sich zusammen, wollte ihre Schürze glatt streichen, merkte nun, dass sie über einen alten Bauernrock fuhr, lächelte und fing an. Es war ein Gedicht ›zur Feier des hohen Namensfestes‹, offenbar aus einem Buch für solche und ähnliche Feste entlehnt, aber für den besonderen Fall ein wenig umgedichtet. Kathi sprach es fließend, sie hatte es gewiss fleißig eingelernt; die natürliche Anmut ihrer Rede aber war wie weggewischt, sie trug die Verse, die nichts als gereimte Redensarten waren, mit einem schwerfälligen Prunk vor, den sie vermutlich herumziehenden schlechten Schauspielern einmal abgelauscht hatte. Als sie zu Ende war, atmete sie tief. Nun sah sie auch wieder den Alten mit ihrem treuherzigen, hold-guten Blick an.

»Kathi! Kind! Was hast’ da alles zusammengered’t!« rief Saltner aus, nahm sie bei den Ohren und küsste sie auf den Mund; sie hielt lächelnd still.

»Der Glückliche!« murmelte Waldenburg.

Kathi legte ihren Bart wieder an, und indem sie zum närrischsten aller Greise wurde, ward sie zugleich blutrot wie ein Kind. Nach einem offenherzig befangenen Umherblicken fing sie zaghaft an:

»Wir hatten jetzt eigentlich noch – Aber es macht sich halt nicht.«

»Was macht sich nicht?« fragte Saltner.

»Damals wollten Sie durchaus, dass wir Steirisch tanzten; dumme Mädels haben Sie uns geheißen, weil wir keine Kurasch hätten. Wir trauten’s uns halt nicht! Aber jetzt haben wir’s ordentlich gelernt. Und Sie sind so gut. Darum dachten wir – — Aber es geht nicht!«

»Warum nicht?«

»Weil hier im Salettl die hohen Herrschaften sitzen; und drin in der Wirtsstuben, da ist’s natürlich zu heiß.«

Saltner blickte stumm auf die Baronin. Die war aber schon aufgestanden, sie hatte offenbar ganz vergessen, dass sie leidend war:

»Soll hier im Salettl Steirisch getanzt werden? Dann hinaus mit uns, das versteht sich! Diesen himmlischen alten Bauer muss ich tanzen seh’n. Meine Herren, machen Sie gefälligst Platz!«

In wenigen Augenblicken waren die Tische und Stühle hinausgetragen und standen auf dem Rasen im Mondschein; dort setzten die Damen sich wieder, einige der Herren blieben steh’n. Der Wirt zündete an der Hecke bengalische Feuer an, die ihren roten und grünen Schein mit dem Mondlicht wunderbar vermischten und alle die neugierigen Gesichter der Gäste, die sich näher hinzudrängten, wie in farbige Flammen tauchten. Die ›Bauernfamilie‹ trat in das Salettl und der ›Steirische‹ begann; Kathi ganz in ihrer Rolle als bejahrter Bauer, zuerst ein wenig unsicher und schüchtern, einem Kinde ähnlich, das etwas auswendig gelernt hat, allmählich freier und bald überraschend naturwahr. Ebenso drollig war Wabi als Alte mit der Brille, die feierlich und ehrenfest mit ihrem Alten tanzte, während doch die jugendliche Lust in allen Gliedern zuweilen durch die Maske hervorzuckte. Die beiden Buben tanzten weniger kunstgerecht, aber auch im Gefühl ihrer Rollen, hinterdrein. Die Musik zum Tanz machte ein unsichtbarer Bauernknecht vom Nachbarhaus, der sich in einer holzbedeckten Laube des Gärtchens mit seiner Handharmonika versteckt hatte.

Die Baronin klatschte vor Vergnügen Beifall; die ganze Gesellschaft folgte. Vielleicht dadurch befeuert ward Kathi lustiger, toller; sie hörte auf, die wechselnden Tanzfiguren mit so sauberer altväterlicher Geschicklichkeit und Genauigkeit auszuführen, sie spielte mehr und mehr den Bauern, in dem das Bier oder der Wein tanzt, ward in ihren Bewegungen kühner, unternehmender, die ›Alte‹ mit sich fortreißend; endlich geriet sie ganz in bacchantischen Übermut hinein, der durch den Gegensatz zu ihrer Erscheinung völlig phantastisch wirkte und unbändiges Gelächter unter den Zuschauern hervorrief. Dabei war die Anmut des Mädchens erstaunlich; in ihren Armen, ihren Hüften war Rhythmus, Musik, sie schien für charaktervollen Tanz wie geboren zu sein. Ihre Augen brannten vor Lust, närrisch genug in diesem grau eingerahmten Gesicht. Wenn sie aufstampfte, zitterten die Bretter, ihre Zähne blitzten, und ihre aufgeblühten Lippen schienen in der Luft irgendeinen Wein- und Feuergeist zu trinken, der sie selig berauschte.

Sie hatte schon lange so getanzt, aber sie ward nicht müde; dass noch sonst jemand da war als sie und ihre Wabi, schien sie ganz vergessen zu haben.

»Eine richtige Alpenrose!« sagte endlich hinter Wittekind eine kalt begeisterte, gleichsam feinschmeckende Stimme. Es war Waldenburg.

»Bei alledem«, fuhr dieser fort, da Wittekind ihm zunickte, – »so ein Steirischer wiederholt sich. Ja, wenn die Mädels noch in antiken Schleiergewändern tanzten. … Wollen wir uns beiseite stehlen und auf meinem Zimmer eine stille Zigarre rauchen? Wir haben uns ja seit dem unerwarteten Wiedersehen noch nicht ausgesprochen.«

»Ja, das sollten wir tun«, sagte Wittekind zerstreut.

Er hatte grade die Augen auf Frau von Tarnow geheftet, die allen Figuren des Tanzes mit so verzehrender Aufmerksamkeit folgte, als lerne sie sie auswendig; ihre großen Augensterne leuchteten, aber ernst, nicht lustig.

Sie saß neben der Baronin. Diese stand plötzlich auf und ging auf die Tänzerinnen zu.

»Genug! Genug!« rief sie aus.

Als die Mädchen fast erschrocken stehen blieben, setzte sie sanfter, aber doch mit nervös klagender Stimme hinzu:

»Entzückend, ich danke euch; aber nun hört auf. Es war ein großer Genuss; aber ich werde krank! Mit mir dreht sich alles. Woher nehmt ihr diese Ausdauer; das ist übermenschlich!«

Kathi lächelte; auf ihrer Stirn perlten große Tropfen, sie schien’s aber nicht zu spüren. Die Baronin klopfte ihr huldvoll auf die Schulter:

»Machen Sie uns noch ein Vergnügen, mein Kind, singen Sie uns was! Einen Jodler, ein Lied!«

»Singen kann ich nicht«, antwortete das Mädchen, das seinen Bart langsam herunterzog.

»Dann spielen Sie die Zither; – die Harmonika bringt mich um. Sie haben doch eine Zither?«

»Wir haben eine im Haus, weil ich’s lernen soll. Aber ich kann noch nichts; so zum Vorspielen nicht.«

»Nicht? Das tut mir Leid. Dann bringen Sie uns die Zither; unsre liebe Marie wird singen!« fuhr die Baronin fort und wendete sich ihrem ›Leibarzt‹ zu; Kathi war in demselben Augenblick aus ihrem Gehirn gelöscht. »Und setzen wir uns wieder ins Salettl; hier auf dem Rasen wird’s kühl!«

Man trug die Tische und Stühle ins Salettl zurück.

»Beste Frau Baronin«, sagte Frau von Tarnow, ohne die philosophische Ruhe zu verlieren, mit der sie allen Launen ihrer Dame folgte: »ich tue so gern, was Sie nur wollen, aber diesmal, bitt’ ich, dispensieren Sie mich. Ich habe heute Abend gar kein Herz zum Singen; – und wir sind nicht allein«, setzte sie leiser hinzu.

»Aber was tut das, Marie?« sagte die Baronin. »Wir sind hier ja wie im Theater; alles produziert sich. Und der romantische Mondschein. … Da ist schon die Zither. Singen Sie uns dazu ein paar von Ihren amerikanischen Liedern!«

»Ich bitte Sie, das geht nicht. Diese Lieder werden zum Klavier gesungen oder zur Gitarre.«

»Ihre Gitarre«, sagte die Baronin achselzuckend, »ist mit unsern Koffern in Salzburg. Also Sie wollen nicht?«

Waldenburg war hinzugetreten, setzte sich der Amerikanerin gegenüber und blickte ihr mit seinem schmeichelnd majestätischen Lächeln in die Augen.

»Wenn man Sie nun recht schön bittet?« sagte er nachdrücklich. »Damit Sie diesem poetischen Abend seine Krone aussetzen?«

Frau von Tarnow zögerte noch einen Augenblick; dann antwortete sie aber mit einem so liebenswürdigen Lächeln, dass es Wittekind überraschte und befremdete:

»Ich möchte Ihnen nicht Nein sagen, Herr Geheimrat. Gut, ich werde singen. In Gottes Namen mit der Zither statt mit der Gitarre; es passe nun, wie es will!«

Sie legte die Zither vor sich hin, präludierte ein wenig – offenbar war sie auch mit diesem Instrument vertraut – und sang ein Lied mit englischem Text. Es war eine zarte, wiewohl nicht sonderlich originelle Melodie; die Worte waren von einem Mädchen oder einem Jüngling an den Vater gerichtet, der nicht hartherzig sein, nicht zu strenge richten, der liebend verzeihen soll. Frau von Tarnow sah zuerst vor sich hin, auf die zitternden Saiten; dann ruhte ihr Blick fast die ganze Zeit auf Waldenburg, und so warm und herzlich, dass dieser eine eigentümliche Erregung mit Anstrengung verbarg und Wittekind sich unruhig auf seinem Sessel bewegte. Er hatte sich nicht getäuscht, es war eine Altstimme; von edlem und reinem Wohllaut, und besser geschult, als man hätte erwarten dürfen. Er wäre entzückt, ja berauscht gewesen, wenn ihn nicht das Benehmen der Sängerin verstimmt und verwundet hätte. Wozu sagte sie ihm denn, dass Waldenburg kein gutes Herz habe, wozu wusste sie’s, wenn sie ihm so vertrauensvoll warme Blicke schenken konnte?

Er dachte schon daran, sich in seinem Winkel leise zu erheben und hinwegzugeh’n, da sie ein zweites Lied zu singen bereit schien, als die Baronin Tilburg aufstand und erklärte: draußen warte der Wagen, es sei spät geworden, und sie müsse zu Bett. Es mochte sie verdrossen haben, dass Waldenburgs Bitten mehr vermocht hatten, als die ihrigen.

Frau von Tarnow erhob sich stumm, mit ihrem versiegelten, marmorblassen Gesicht; auch die andern fügten sich, ohne etwas zu entgegnen. Die Baronin hatte aus der Stadt einen leichten Wagen kommen lassen, um hinunter zu fahren; der Kutscher knallte mit der Peitsche, die beiden Pferde schnoberten munter in die mondhelle Luft. Als jedoch die Damen mit Tilburg auf die Straße traten, warf die Baronin einen sorgenvollen Blick auf das Gefährt; sie sah den absinkenden Weg hinunter und schüttelte den Kopf.

»Das ist Gift für die Nerven«, sagte sie, »so einen Berg in so einer Nussschale hinabzurollen. Wir geh’n, liebe Marie, wenn es Ihnen recht ist. Fahren Sie voran, Kutscher!«

Der Wagen fuhr im Schritt hinunter, und die andern folgten. Die Männer gaben ihnen noch eine Weile Geleit; die Baronin, durch die milde, verklärte Nacht romantisch gestimmt, schwankte edel und ohne Klage dahin, und begann sogar leise zu singen. Nach einer Weile kehrten die Herren, die oben übernachteten, um; Wittekind aber blieb bald wieder steh’n, auf die Schulter seines Berthold gelehnt, und schaute still in das Tal, das so im Halbtag träumte. Seine Verstimmung schwand, er dachte an Mariens Worte von den Mondlichttagen und dem Dämmerungsfrieden; etwas von diesem Frieden kam über ihn. Er sah mit stiller Lust in das edle Angesicht seines teuren Jungen, und drückte ihn stumm an die Brust.

»Geh’n wir hinauf«, sagte er, nachdem sie beide lange geschwiegen hatten. »Du bist ja wohl ganz verzückt … Wer hat dir’s angetan: der Mond, der Tanz, oder der Gesang?«

Berthold lächelte träumerisch, ohne Antwort zu geben.

Sie gingen zur ›Gemse‹ zurück. Die Gäste im Garten waren großenteils verschwunden; Saltner und Waldenburg auch. Von den ›Bauernspielern‹ war nichts mehr zu seh’n.

Der Wirt führte Vater und Sohn zu ihrem Zimmer hinauf; denn sie wünschten nun still mit sich allein zu sein.

»Geh’«, sagte Wittekind, »ich komme dir nach. Wir haben noch viel zu reden und zu fragen! Ich versprach aber dem andern, dem Waldenburg, eine Weile mit ihm zu plaudern. Morgen reist er ab. Wenn ich von ihm zurückkomme, sind wir ganz für uns, Vater und Sohn!«

Berthold nickte zärtlich; die Augen fielen ihm aber zu, mit einem schlaftrunkenen Lächeln riss er sie wieder auf.

Wittekind ließ ihn allein, in ihrem mondhellen Zimmer, und ging über den Vorplatz bis zu Waldenburgs Tür. Als er sich näherte, hörte er leises, danach lautes Sprechen; die laute war Kathis Stimme, sie klang wie abweisend, oder gar wie empört.

»Ich muss hinunter!« sagte sie zuletzt; »gute Nacht!«—

Von innen öffnete sich die Tür, Kathi trat hastig heraus; ohne Perücke und Bart, sonst noch im Kostüm. Sie erschrak einen Augenblick, als sie so unerwartet Wittekinds Gestalt vor sich stehen sah; rief dann auch ihm »Gute Nacht« zu, und sprang die Treppe hinab.

Waldenburg stand mitten im Zimmer, dem Mädchen nachblickend. Da er Wittekind eintreten sah, richtete er seine etwas zusammengesunkene Gestalt sofort majestätisch auf, zu ihrer ganzen Länge, und fasste sich in olympischer Heiterkeit.

»Die Kleine ist sehr brav«, sagte er mit einem ruhigen, kalten Lächeln, das etwas Satanisches hatte. »Setz’ dich, nimm eine Zigarre und rauch’!«

Wittekind schwieg. Er glaubte zu erraten, weshalb Waldenburg sich in der ›Gemse‹ einquartiert hatte. Durch das kleine Zimmer ging er bis ans offene Fenster, das zu einem Kalkofen jenseits der Straße hinübersah, und horchte auf einen Jodler, den heimwandernde Bursche in die stille Nacht hinaufschickten.

»Dein Junge gefällt mir sehr«, fing Waldenburg wieder an. »Nimm doch eine Zigarre … Er gehört zu einer besonderen Gattung; nichts von der landläufigen Prosa, nichts von Trivialität. Sein Gesicht hat etwas Rafaelisches … Hoffentlich ist er nicht bloß Engel, auch ein wenig Teufel!«

»Hoffentlich wird er ein ganzer Kerl«, erwiderte Wittekind; »das meintest du ja wohl. Wo hast du denn deinen Jungen? Der muss nun ja schon vierundzwanzig alt sein. Wie viele Jahre hab’ ich nichts von dem gehört!«

Waldenburg warf sich auf einen Stuhl neben seinem Bett. Er sah seine spitzen Fingernägel an und sagte gedehnt:

»Von dem wirst du wohl auch nicht viel mehr hören, denk’ ich.«

»Wieso? Ist er – —«

»Tot? Nein, das ist er nicht. Aber fort ist er. Fort aus meinem Leben. Von der Tafel gewischt. Kurz, du kennst die Geschichte vom ›verlorenen Sohn‹; das ist unsre Geschichte – und der wunde Punkt in meinem Leben!«

Er nahm ein gefülltes Glas, von dem roten Tiroler, den Kathi vorhin gebracht hatte, und stürzte es hinunter.

»Vom ›verlorenen Sohn‹?« fragte Wittekind bestürzt.

»Du hörst. So ist es!« —

Waldenburg schenkte ein, in ein zweites Glas, und schob es dem andern hin.

»Da; trink’ wenigstens eins, wenn du nicht rauchen willst. Er ist sauer, aber echt! – Mein Sohn Eugen – um also von ihm zu reden – ist ein schmucker Mensch; er hat allerlei gute Gaben – nur nicht das goldene Band, das sie zusammenhält. Vielleicht war ich auch im Anfang nicht der richtige Lehrmeister: du weißt, ich hab’ lächerlich früh geheiratet; es kam mir so über den Hals … Kurz, er hat mein Talent, das Leben zu genießen, geerbt, aber leider nicht auch meinen Verstand. Ich liebe die Himbeeren sehr; aber die Würmer, die sich darin niederlassen, liebe ich nicht und schaffe sie beiseite. Mein Sohn gab nicht genug auf die Würmer in den Himbeeren Acht; – das ist seine Geschichte. Er wurde unreputierlich; ich musste mich seiner schämen, statt auf ihn stolz zu sein, wie ich mir’s gehofft hatte. Da schrieb ich ihm endlich: du hast genug auf meinen Namen gesündigt, sündige fortan lieber auf einen andern Namen; störe meine Kreise nicht mehr, geh’, wohin du willst!«

Waldenburg stand auf, und bewegte sich mit seinen langsamen Schritten durch das Zimmer hin. Im Geh’n, die Hände auf dem Rücken, sprach er weiter; »Eugen nahm es wörtlich. Er legte meinen Namen ab, wie ich hörte, und ging nach Amerika. Na, er wird wiederkommen, dachte ich, und wir werden dann auch die zweite Hälfte der Geschichte vom ›verlorenen Sohn‹ spielen; – aber er kam nicht wieder. Er ist mir verschollen. Lebt er noch? Ich weiß es nicht. Lassen wir dieses Thema; es greift mich an; – ich hab’ einmal viele ehrgeizige Hoffnungen auf diesen Jungen gesetzt. … Ich hatte viel Glück im Leben. Das schlug mir fehl. Was ist da zu machen? So gut, wie ich weiß: seine Mutter ist tot, so denk’ ich und sag’ ich mir: auch ihr Sohn ist tot…«

Er kam an den Tisch zurück und schenkte sich wieder ein.

»Lassen wir’s! Man lebt nur einmal; also weiterleben!«—

Er sah in das Glas, setzte es an und trank.

Wittekind zögerte eine Weile; endlich sagte er bedächtig:

»Freilich, wenn du zu seinem Namen einfach ein schwarzes Kreuz machst —«

Waldenburg unterbrach ihn:

»Du meinst, ich wünsche ihn tot? O nein, so steht’s nicht. Wenn er wiederkäme, in leidlicher Verfassung. – — Er ist ja doch mein Fleisch und Blut. Ich habe ein Vaterherz. Aber er kommt ja nicht wieder. Du kennst ihn nicht; der Junge ist stolz! Seit ich ihn verleugnet habe, verleugnet er mich!«

»Hm!« murmelte Wittekind. »Das gefällt mir an ihm.«

»Danke dir ergebenst! Du nimmst wohl gar Partei für den Sohn gegen den Vater … Aber lassen wir’s. Sprechen wir nun endlich von dir. Ich bekenne dir, ich hatte dich ganz aus dem Gesicht verloren; der Teufel soll mich holen, wenn ich weiß, was du geworden bist.«

»Geworden?« entgegnete Wittekind, der noch immer am Fensterbrett lehnte. »Ich wollte nie ›etwas werden‹; nur womöglich etwas sein.«—

Waldenburg wandte den Kopf und sah ihn durch die halbgeschlossenen Augen ironisch bewundernd an. —

»Ich meine, etwas Nützliches«, sprach Wittekind weiter; »nicht ganz überflüssig. So ein Stück vom Ganzen. – Worüber lächelst du?«

»Nur so für mich. – Und was bist du denn?«

»Bauer«, erwiderte Wittekind ruhig. »Ich hab’ mein Gut, am Wasser, nicht weit von der See; es ist gut im Stand, es ernährt mich, trotz der schlechten Zeiten für die Landwirtschaft. Ich baue auch für die Rübenzuckerfabrik, die wir uns angelegt haben; die ganze Wirtschaft gewinnt dabei. Unter unsern Landwirten gelte ich für einen weisen Mann, weil ich etwas mehr gelernt habe als sie, mich mit dem Weltverkehr beschäftige, und sie durch Vorträge, durch Flugschriften zu allerlei Nützlichem angefeuert habe, von dem sie nun Segen spüren. Sie wollen mich auch zum Abgeordneten für den Reichstag machen; kommt es einmal dazu, dann wär’ es freilich aus mit dem schönen Landfrieden, mit der Seelenruhe, meinen Büchern, meiner Musik. Aber was man für den allgemeinen Nutzen tun kann, nun, das muss man tun. … Worüber lächelst du wieder?«

Waldenburg warf seine halbverrauchte Zigarre fort und nahm eine andere vom Tisch.

»Du bist also noch immer der alte ›Idealist‹!« sagte er mit gemütlichem Spott, in behaglicher Heiterkeit. »Es macht dir noch immer Spaß, für die andern zu leben —«

»Wenigstens für irgendeine Sache, die der Mühe wert ist. Die Katze und der Pfau sind sich selbst genug; das kann ich von mir nicht sagen.«

Waldenburg streckte sich wieder auf seinem Sessel aus und begann die neue Zigarre zu rauchen.

»Lieber Freund«, sagte er in seinem schönen, reinen, etwas theatralisch ausgefeilten Hochdeutsch, – »du kommst mir vor wie einer von diesen freiwilligen Nordpolfahrern, der etwa zu einem Neapolitaner sagte: auch wir leben da auf Jan Mayen oder Spitzbergen ganz behaglich! Erst im März vereisen wir ganz; im Juni wird’s schon wieder eisfrei um uns her; im Juli haben wir ganz nette Tage, beinahe wie Sommer, und selbst im Winter kommen wir manchmal über Null! – Der Neapolitaner würde darauf antworten: Aber zum Teufel, ich will das ganze Jahr schöne Jahreszeit haben, und ich will über die Schönheit dieser schönen Welt außer mir geraten, schwelgen, wie ein Gott genießen! – Was hast du auf deinem Gut, am Wasser, mit den Zuckerrüben? Was hast du an deinen Vorträgen für diese bornierten Bauern, die sich Pächter und Gutsbesitzer nennen, und an deiner Hingebung für zehntausend oder zwanzigtausend Schafsköpfe, die dir achtungsvoll zublöken: du sollst unser Hauptkopf sein?«

»Nun ja, du bist auch der Alte«, sagte Wittekind lächelnd. »Wir reden wohl auch umsonst. … Ich auf meinem Spitzbergen halte mich eben noch immer an meinen alten Spruch: Wer sich für nichts begeistern kann, den soll man begraben!«

»Geh’ mir doch, alter Träumer«, entgegnete Waldenburg mit seinem überlegensten Lächeln. »Kinder spielen, Jünglinge begeistern sich; Männer werden etwas. So hat die Natur es gewollt. Das, wofür die Jünglinge sich begeistert haben, muss den Männern dienen und gehören: Frauenliebe, Ehre, Bacchus (er leerte sein Glas, und schenkte wieder ein), Kunst, Wissenschaft, der Staat – und so weiter. Was ich erreiche, das bin ich; und für den wahren Menschen ist nichts wahrhaft wirklich, als sein geliebtes Ich.«

»Danach lebst du also.«

»Gewiss!«

»Nun«, sagte Wittekind trocken, die Arme übereinander legend, »so ungefähr spricht man auch von dir. Du bist ja ein sogenannter berühmter Mann geworden, von dem man viel spricht; ein witziger Kopf, eine gute Feder, eine von den Säulen im Staat, vielleicht noch einmal Minister – und dann also auch Exzellenz. Außerdem ein Liebling der Frauen, gefeierter Don Juan; na, diesem Beruf ergabst du dich ja schon auf der hohen Schule, – oder vielmehr schon auf dem Gymnasium. Du bist also der ›wahre Mensch‹ und lebst für dein Ich!«

»Ja, mein Herr Idealist. Ich tue, was alle tun, nur mit mehr Geist, als die meisten; ohne all den buntscheckigen Aberglauben, der diese Narren aufhält: darum bleiben sie eben hinter uns Klügeren zurück! – Lasst euch doch nicht auslachen, ihr mit euren ›Idealen‹, die euch zum Narren halten. Die guten Köpfe haben so nach und nach alle die alten Aberglauben abgeschüttelt: Fetische, Gestirne, Feuer, gute und böse Geister, Nemesis und Vorsehung; nur der bleichsüchtige Philister-Aberglaube an das sogenannte ›Wahre, Gute, Ideale‹, der ist noch immer im Schwung. Mich narrt er nicht mehr; er liegt hinter mir. Ich bin auf der Welt, um sie zu genießen – Wohl bekomm’s! Das tut’s auch! – Es gibt Genüsse genug, wenn man nur Geist genug hat, um sie sich zu verschaffen: so eine gute Zigarre, Diners, gute Bücher, Theater, alle schönen Künste, Seebäder, Natur, Stellung und Macht, Orden und Titel; eine schöne Frau erobern, eine schöne Frau verlassen; hübsche Verse machen, angebetet werden, Befriedigung der Rache, Schadenfreude, Protegieren, den Herrgott spielen. … Alles, alles ist da! Vogue la galère

Wittekind betrachtete Waldenburg, er konnte nicht hinwegsehen; auf diesem geistreichen, beinahe schönen Gesicht schwebte ein eigentümlich teuflisches Lächeln, in das er sich mit stillem Grauen vertiefte. ›Lebten wir noch im Mittelalter‹, dachte er, ›so würd’ ich vielleicht ernstlich glauben dass da der Teufel sitzt. … Ein Teufel, der alle Formen der feinen Welt angenommen hat, der sehr einnehmende Manieren hat und Geist und Witz und sogar Poesie; aber alles, was er sagt, ist im Grunde teuflisch…‹

Mit äußerer Ruhe fragte er nach einer Weile:

»Bist du gegen jedermann so aufrichtig?«

»O nein«, sagte Waldenburg, seinen· Rauch majestätisch in die Luft blasend. »Im Gegenteil. Es ist mir zuweilen ein angenehmes Bedürfnis, ganz unverschämt offenherzig zu sein, – und dein bürgerlich-kritisches Gesicht reizt mich eben dazu; aber noch öfter ist es mir Bedürfnis, mit den lieben Mitmenschen Komödie zu spielen. Jeder tut eben, was er kann! Ich habe mehr Talent zum Schauspieler als die meisten, die sich da auf der Bühne vor die Lampen stellen; und wer sein Pfund vergräbt, der ist ein fauler Knecht. Darum spiele ich Komödie, mein Herr Sittenrichter, und mit Urbehagen; aber nur auf der großen Weltbühne, zu meinem Benefiz. Da zeigt sich erst das Genie; und was ist all das Agieren auf den hohlen Brettern gegen meines! Der Komödiant muss die Rollen spielen, die man ihm geschrieben hat; ich spiele nur Rollen, die ich mir selber erfinde, die ich selber dichte, die immer wechseln und neu sind, – mit kleinen, interessanten Gefahren ausgestattet, mit kleinen verfluchten Aufregungen gewürzt. Dazu gehört Talent! Und das ist Lebensgenuss!«

»Und was man so Wahrheit nennt?« fragte Wittekind.

»Kommt man mit Wahrheit durchs Leben? Lass’ mich doch mit diesem alten Aushängeschild in Ruh’. Wenn ich, Friedrich Waldenburg, das erreichen will, was die Dummköpfe oder Strohwische zu besitzen pflegen: Rang, Ansehen, Reichtum – kann ich das durch Wahrheit erreichen? Alle Wetter auch! Ich, der ich zum Genuss geschaffen, ich, der ich als ein echter Aristokrat auf die Welt gekommen bin – wenn auch mein Vater das bürgerliche Wappen der Laden-Elle führte – ich, der ich mich in jeder Fingerspitze, in jeder Gewohnheit des Lebens, in jedem Instinkt wie einen Freiherrn fühle, ich soll im Parterre stehen bleiben, wo die Schneider und Schuster steh’n? Nein, mein Lieber, mein Platz ist in der Loge, bei den hohen Herrschaften. Aber um da hinzukommen, um mich da einzuwohnen, muss ich hübsch mit Talent meine Rollen spielen, – zuweilen den Bedienten, zuweilen den verruchten Kerl; – nun Gott sei Dank, ich habe das Talent.«

Wittekind richtete sich auf und ging langsam vom Fenster weg, gegen die Tür. Mitten im Zimmer jedoch blieb er wieder steh’n. Er sagte dann mit etwas bewegter Stimme, doch bedächtig:

»Aber du verlangst wohl nicht, dass ich dich beneide. Was mich betrifft, so würd’ ich lieber in dem Hundestall vor meiner Haustür verfaulen, als für so eine ›Loge‹ mein bisschen Selbstgefühl, meinen alten Aberglauben an Freiheit, Wahrheit, Menschenwürde opfern. … Aber das führt zu weit. Und über den breiten Fluss hinüber, bei so ungünstigem Wind, verstünden wir uns doch nicht. Also nehmen wir einander lieber wie wir sind, und damit holla. – Nur noch eine Frage!«

»Bitte!« erwiderte Waldenburg mit vollendeter Artigkeit, und mit jenem diabolischen, behaglichen Schmunzeln, als wären sie im schönsten Einverständnis, als sagten sie sich lauter gute Dinge.

»Wenn ich nun deine Aufrichtigkeit missbrauchte?«

»Bei wem?« fragte Waldenburg zurück. »Da, wo es mir schaden könnte, da verkehrst du nicht; die andern amüsiert oder ärgert es, ohne mir zu schaden.«

Nach kurzem Schweigen erwiderte Wittekind:

»Nun, eine gewisse Größe ist in deinem Zynismus; das muss man dir lassen. – Ich fragte selbstverständlich nur so beispielsweise; denn ich missbrauche keines Menschen Aufrichtigkeit. – — Also gute Nacht. Morgen willst du fort. Wir sind dann wieder weit auseinander, wie bisher; und sehr oft werden wir uns wohl nicht seh’n!«

Waldenburg lächelte:

»Warum nicht? Als Männer von Geist können wir uns ja über hundert Dinge vortrefflich, unterhalten, wenn wir auch über das hundertunderste verschiedener Meinung sind —«

»Über das Erste, Waldenburg.«

»Nun gut, über das Erste. Dann fangen wir morgen bei dem Zweiten an, wo wir uns versteh’n. Willst du morgen in Salzburg mein Gast sein? Ich gehe ins Hotel N… . Ein sehr angenehmes Haus. Du würdest vermutlich die Gräfin Lana bei mir seh’n —«

»Die Frau des früheren Ministers?«

»Ja. Eine ausgezeichnete Frau: – sie kann dir vielleicht einmal nützlich sein —«

Wittekind musste lächeln.

»Ich danke«, sagte er. »Ich brauche sie nicht.«

»Auch fändest du mit ihren Tilburgs die Blasse, die Amerikanerin, die dir gar nicht so übel zu gefallen scheint, du tugendhaftere Mensch.«

»Warum dürfte sie einem tugendhaften Menschen nicht gefallen?« fragte Wittekind. Er kam übrigens einen Schritt zurück, da er sich der Tür schon wieder genähert hatte.

Auf seinen Hut blickend setzte er hinzu:

»Was ist sie eigentlich? Witwe oder verheiratet?«

»Baronin Tilburg versichert, dass sie Witwe ist«, antwortete Waldenburg, ohne eine Miene zu verziehen. »Infolgedessen kommst du?«

»Ich danke«, sagte Wittekind.

Ein Missgefühl schüttelte ihn plötzlich. Sie bei ihm zu seh’n … Nein! – — Er ging wieder zur Tür.

»Ich möchte jetzt mit meinem Sohn einige Tage allein sein«, setzte er darauf hinzu.

»Nun, wie du willst! – Von Salzburg zieh’n wir dann an die Ostsee, ins Bad; ganz in deine Nähe. Bist immer willkommen, alter Freund; – ich sage das nur als avis au lecteur. Denn du wirst wohl nicht kommen. Du bleibst nun also bis ans Lebensende auf dem schmalen Pfade der Tugend; und auf dem festen Land. Ich brauche mehr Platz – und ein weniger solides, ein etwas lockeres Element. Mein alter guter Wahlspruch ist halt: Vogue la galère

»Also noch einmal: wohl bekomm’s!« sagte Wittekind mit ernstem Lächeln, und bot ihm zum Abschied die Hand.

Waldenburg schlug ein.

»Leb’ wohl, Idealist! Leb’ wohl, ›wahrer Mensch‹!« – —

Wittekind verließ das Zimmer. Er sehnte und freute sich, in das seine zu kommen, und zu seinem Jungen. Leise ging er über den halbdunklen Vorplatz; nur ein Lämpchen brannte an der Wand. Im Hause war es still.

Als er aber in sein Zimmer trat, in dem der unsichtbar gewordene Mond noch durch die erhellte Luft wirkte, sah er, dass er zu spät kam. Berthold lag schon im Bett, und in tiefem Schlaf; durch die Stille horchend konnte Wittekind seine ruhigen, gleichen Atemzüge hören.

Adams Söhne

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