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Erstes Buch
IV. Kapitel
ОглавлениеVor dem Wirtshaus in Grödig waren die Pferde wieder eingespannt; ein zweiter Wagen, auch ein viersitziger Landauer, kam vom Hof gefahren, für Saltner und Kathi bestimmt. Die Gesellschaft hatte sich versammelt, die Baronin Tilburg war schon eingestiegen. Saltner, der bei seinem Wagen stand, sah nach der Uhr.
»Der Herr Wittekind kommt nicht wieder«, sagte er ungeduldig. »Ich hätt’ ihm so gern noch die Hand gedrückt. Zum Teufel, was für eine Halluzination hat ihn denn genarrt, dass er seinem Buben so entgegenrannte, der vielleicht noch in Salzburg steckt!«
Waldenburg lächelte:
»Sie irren; da kommen sie, offenbar Vater und Sohn. Obwohl sie auch für ein paar Brüder gelten könnten; ein saftstrotzender Mann und ein feiner Jüngling. Wie dieses Landleben seine Leute konserviert! – Freilich ist’s auch nicht viel mehr als eine Räucherkammer!«
Wittekind Vater und Sohn kamen in der Tat von der Ecke, wo die Straßen zusammenliefen, langsam herangeschritten; sie gingen Arm in Arm, und sahen sich fast beständig in die Augen. Berthold erschien klein neben seinem Vater; in der Art zu gehen, die Schultern zu bewegen, zeigte sich das geerbte Blut, auch das blonde Haar und der Blick konnten darauf deuten. Die Freude hatte Berthold gerötet, man sah seine Blässe und seine Schwäche nicht. Es ward ihm nicht bewusst, dass sie sich einer ganzen Gesellschaft von zuschauenden und lächelnden Menschen genähert hatten; er umschlang den Vater plötzlich und küsste ihn auf den Mund.
»Nun ist’s aber genug!« sagte Waldenburg mit seinem gemütlichsten Lächeln, ein paar Schritte entfernt.
Berthold wandte sich überrascht herum. Wittekind lachte laut.
»Hier hat sich inzwischen der Feldzugsplan geändert«, nahm Waldenburg wieder das Wort. »Herr von Saltner hat uns so anziehend geschildert, wie es bei der ›Gemse‹ aussieht, und unsere liebe Frau von Tarnow hat so lebhaft den Wunsch geäußert, dieses Wirtshaus einmal zu seh’n, dass sich auch in der Baronin die Neugier geregt hat, die doch sonst nur bei Männern vorkommt. Kurz, wir haben Zeit, und wir fahren heute noch das Stündchen bis zur ›Gemse‹, und erst morgen nach Salzburg. Wie steht’s mit Vater und Sohn? Schließen sie sich an?«
Wittekind blickte auf Saltner und auf die blasse ›Amerikanerin‹; die beiden sahen sich eben flüchtig in die Augen, aber, wie es ihm schien, mit heimlichem Einverständnis. ›Will Frau von Tarnow auf einmal zur „Gemse“‹, dachte er, ›weil der Alte hin will?‹
Er wusste noch nicht, was er erwidern sollte, als Saltner auf ihn zutrat.
»Machen Sie uns die Freude!« sagte der Alte herzlich; »wenn Sie nicht durchaus die nächsten vierundzwanzig Stunden mit Ihrem Junker allein sein wollen, so lassen Sie mir, und uns, auch etwas davon zukommen, und fahren Sie mit! Das da ist mein Wagen. Platz genug, wie Sie seh’n. Ich müsste doch eigentlich den ›Muttersohn‹ etwas kennenlernen. Morgen sind Sie dann frei und vergraben sich mit ihm, wenn Sie wollen, in den ›Wunderberg‹!«
»Wie denkt Wittekind junior?« fragte der Vater lächelnd.
Berthold hatte mittlerweile die schöne blonde Frau und Kathis braune Augen geseh’n, fasste sich schnell und nickte.
»Aber du solltest erst etwas essen – und trinken.«—
»O nein«, sagte Berthold rasch. »Noch nicht. Ich hab’ weder Hunger noch Durst. Bin überhaupt gesünder, als du glaubst – als ich selber wusste. Fahren wir nur mit!«
»Gut; wir sind also entschlossen«, sagte Wittekind. »Heute tät’ ich nichts ohne meinen Sohn. Der will. Also die Firma will. Sind wir den Herrschaften willkommen, so sind wir bereit!«
Alles stieg in die Wagen; er selber zu seinem alten Herrn, indem er sich im Stillen sagte, dass es ihn doch auch locke, der blassen Frau und ihrem Geheimnis eine Strecke weit nachzugeh’n. Kathi, die sich bisher in bescheidener Entfernung gehalten hatte, kletterte auf den Bock.
Sowie Berthold das wahrnahm, zuckte es unwillig über seine Stirn; er hatte geseh’n, wie gut sie gekleidet war und wie herzlich der alte Saltner mit ihr geflüstert hatte; sollte sie nun als ›Paria‹ behandelt werden? Er neigte sich zu seinem Vater hinüber und sprach ihm ins Ohr.
Wittekind lächelte, blickte dann auf das Mädchen und auf Saltner.
»Was gibt’s?« fragte dieser.
»Der junge Demokrat da meint«, sagte Wittekind leise, »Ihre kleine Freundin Kathi sollte bei uns sitzen; – und ich mein’ es auch.«
»Ei, dann soll sie’s auch!« rief Saltner sogleich mit seiner Kraftstimme ans. »Kathi, komm’ herein!«
»Ich sitz’ gut auf dem Bock«, antwortete das Mädchen.
»Widerspruch und kein Ende!« rief der Alte. »Im Augenblick kommst du, oder ich hol’ dich im Namen des Gesetzes!«
Kathi kam, und nahm mit einem reizend verlegenen Lächeln neben dem schönen jungen Menschen Platz, den sie mit heimlicher Bewunderung betrachtete. Der Wagen setzte sich in Bewegung, dem andern vorauf, gegen die südlichen Berge zu. Wie in halbwachem Traum fuhr Berthold dahin; nach der taumeligen Wanderung so bequem in einem tiefen, weichen Wagensitz ausgestreckt, die teure Gestalt des Vaters sich gegenüber, neben sich das Mädchen mit den feurigen Augen, von dem ihn ein Duft der Jugend und Gesundheit anflog. Die Sonne zehrte nun nicht mehr an seinem Hirn, sie wärmte nur; das erhabene Felsenschloss des Untersbergs, unter dem sie hinfuhren, das weite leuchtende Land, alles so festlich schön, ließ ihn das ganze ›Weltelend‹ vergessen.
Wie männlich schön war sein Vater; und wie liebte er ihn … Er lächelte ihm zu, nahm seine niederhängende Hand, hielt sie in der seinen. ›Heute Abend‹, dachte er, ›sage ich ihm alles, auch dass ich gehungert habe – und noch hungere; vorhin beim Wiederseh’n konnt’ ich’s ihm nicht sagen! Da erklär’ ich ihm nur, es gehe mir schon gut; und das war keine Lüge. Wie könnt’ ich es sonst so gut ertragen, ein paar Tage zu fasten? Mir ist so wunderlich wohl.‹ Es war ihm, als sättige ihn die herrliche, reine Luft, das Gefühl der Freude, der Jugend, des Glücks, der sonnenwarme Kraftgeruch, der von den Wiesen und Getreidefeldern heraufstieg, auch dieser Lebensduft, den das junge Mädchen zu seiner Rechten auszuatmen schien. ›Und wie edel und weise ihn der Vater erzogen hatte‹, dachte er dann wieder, da es in seinem Geist immer hin und her sprang; wie er von den ersten Jahren an alles auf die Liebe und das Ehrgefühl gestellt, sich immer an das Herz, den Verstand, die Einsicht, an alles Gute und Edle in der jungen Seele gewendet, ihm die Lüge als das Erbärmlichste auf Erden von Grund auf verleidet hatte. Dafür liebte und ehrte er nun diesen Mann da gegenüber, seinen besten Freund, über alle Maßen … Und wie lieblich sie zwitscherte, da sie mit dem weißbärtigen, merkwürdigen Alten sprach, diese kleine Kathi. Wie sonderbar ihm zumut’ war, als sei er in sie verliebt. Ein anderes Gefühl aber mischte sich mit diesem; es kam nicht aus der Herzgegend, doch aus deren Nähe. Ein sehnsuchtsvolles, nagendes Gefühl … Schiller’sche Verse fingen an zu klingen, über die Mutter Natur:
– — erhält sie das Getriebe
Durch Hunger und durch Liebe…
Ja, ja, Hunger und Liebe! Auch Hunger. Da kam er wieder, und wie! – Was hatte vorhin der Weißbart zur holden Kathi gesagt, als sie einstiegen? ›Nun, kleine Kellnerin? Vorwärts!‹ Also Kellnerin. Wie gut. Ja, der alte Schiller hat Recht: Hunger und Liebe! – Mit matten, halbgeschlossenen Augen so denkend, wandte sich Berthold nach rechts, und in einem träumerischen Durcheinander zärtlicher Gefühle flüsterte er Kathi zu:
»Liebes gutes Fräulein! Gibt’s da oben auf der ›Gemse‹ auch Beefsteaks?«
Sie lächelte und nickte. ›Was für ein holdes, herzliches Lächeln!‹ dachte er und fühlte sich halb beruhigt. Er nickte wieder liebevoll dem Vater zu, dessen Augen ihn anstrahlten.
Nur reden mochte er nicht; es war ihm lieb, dass die andern miteinander sprachen. Als er die Augen, die ihm zugefallen waren, wieder öffnete, schien er eine Weile geschlafen zu haben; denn der Wagen hielt, der alte Herr stieg schon aus. Auch der andere Wagen kam heran und hielt. Sie befanden sich auf einem ansteigenden Platz in einem kleinen Städtchen, wie es schien; die Häuser standen Wand an Wand, schöne alte Wirtshauszeichen, kunstvoll aus Eisen geschmiedet, leuchteten in zierlichen Windungen in der blauen Luft. Grüne, zum Teil bewaldete Hügel erschienen oben über den Häusern.
»Warum steigen wir denn aus?« fragte die Baronin vom andern Wagen herüber. »Sind wir denn schon am Ziel?«
»Das nicht«, antwortete Saltner, fast etwas verlegen. »Aber diese großen, schweren Wagen können hier nicht weiter; der Weg zur ›Gemse‹ hinauf ist für sie zu steil. Für uns, Frau Baronin, ist’s ein Katzensprung. Zehn Minuten, so sind wir auf der Höhe!«
»Das sind merkwürdige Katzen«, sagte die Baronin leise zum Baron (doch Bertholds scharfes Ohr konnte es hören), »die zehn Minuten lang springen! – Nun, in Gottes Namen!«
Die Dame setzte sich mit elegischer Langsamkeit in Bewegung; Saltner schritt voran, die anderen folgten. Es war ein unglückliches Wort gewesen, das von den ›zehn Minuten‹; denn für rüstige Fußgänger waren es gewiss nicht mehr; aber für eine Gesellschaft, zu der die Baronin Tilburg gehörte, genügte kaum eine halbe Stunde. Der Weg wand sich in rascher Steigung an einem Hügel hinauf, den ein Bauernhaus krönte; indem er das Städtchen und den stark strömenden Fluss unter sich zurückließ, gewann er die schönsten Fernblicke ins Gebirge und nach Salzburg zu; die seufzende Baronin aber, ihr keuchender Gemahl und der zuweilen stöhnende Waldenburg hatten keine Augen dafür, sie rasteten nur – und oft – um einander klagende Blicke zuzuwerfen oder gegen den ›verrückten Riesen‹, den ›Bergfex‹ heimliche Verwünschungen auszustoßen.
Auch Berthold wusste nicht, wie ihm war; so matt, so schwer stieg er aufwärts; er, sonst ein Fußgänger und Bergsteiger wie sein Vater, elastisch wie eine Feder, er fühlte jeden Schritt. Seine Knie zitterten bald; sein Kopf war wie ausgepumpt, seine Glieder schmerzten. Er schwankte zuweilen, einer Ohnmacht nahe. Nur sein Ehrgefühl, zäher als er selbst, blieb wach und trieb ihn immer wieder eine Strecke weiter, heimlich, ohne ein Wort.
Sie hatten endlich die letzte Windung überstanden und sahen an der Straße ein sehr einfaches, unmalerisches Haus, das sich mit großen Buchstaben das ›Wirtshaus zur Gemse‹ nannte. Ein offenes Gärtchen stieß daran, und über diesem erhob sich ein kleiner, länglicher Fels, aus dessen Bäumen und Büschen ein halb steinernes, halb hölzernes, mit Schindeln gedecktes Häuschen im schlichtesten Alpenstil sehr anmutig hervorblickte.
»Das ist Ihre ›Gemse‹?« fragte die Baronin mit vernichtender Langsamkeit, und mit der klagendsten Miene der Enttäuschung.
»Treten wir in den sogenannten Garten ein, um wieder zu Menschen zu werden«, sagte Waldenburg. »Eine Flasche Champagner, wenn ich bitten darf!«
»Ein gutes Bier können Sie haben«, bemerkte Kathi schüchtern.
Waldenburg warf ihr einen Blick zu, wie wenn er sich an ihren rosigen Wangen, ihren Kirschenlippen für den mangelnden ›Sekt‹ schadlos halten wollte; die Baronin aber trat mit der Majestät einer gefangenen Fürstin in das Gärtchen ein. Über die Hecke weg sah sie in die Ferne.
»Sie haben Recht«, sagte sie zu Saltner, »Berge sieht man von hier; aber leider die unbedeutendsten, unschönsten im ganzen Salzburger Land. Wo haben Sie denn in aller Eile die herrliche Aussicht versteckt, die Sie uns von hier versprochen hatten!«
»Von dem Felshäuschen da oben, meine Gnädige«, erwiderte Saltner, der seine mächtige Gestalt etwas geknickt nach vorn hängen ließ; »oder von der ›Hedwigsruhe‹ da rechts, noch zehn Minuten höher!«
»Das gefällt mir an Ihnen«, sagte die Baronin, »dass Sie noch den Mut haben, von ›zehn Minuten‹ zu sprechen! – Nein, lieber sterben, als noch eine von Ihren zehn Minuten steigen. Hier sitz’ ich, hier bleib’ ich. Ach, meine liebe Marie, wären wir in Salzburg!«
Frau von Tarnow schwieg; sie wagte auch nicht, Saltner anzuseh’n. Tilburg nahm einen der roh gezimmerten hölzernen Stühle in die Hand, betrachtete ihn kritisch, sah wie gelangweilt umher, und gähnte.
Wittekind, den diese Gesellschaft halb verdross, halb belustigte, trat nun auch in das Gärtchen ein:
»Ich muss um Entschuldigung bitten«, sagte er, »wenn ich bei alledem dieses Plätzchen heimlich und poetisch finde. Auch bitt’ ich unsern werten Führer, noch nicht an uns zu verzweifeln: zu einer letzten kleinen Anstrengung bis zur ›Hedwigsruhe‹ raffen wir uns wohl noch auf!«
Die blasse Frau von Tarnow nickte ihm eifrig zu; ihre Wangen waren durch die Bewegung aufgeblüht, was sie sehr verjüngte.
»Ich halte ja niemand zurück«, sagte die Baronin gutmütig, wiewohl noch immer elegisch. »Steige, wer steigen kann; – Sie auch, liebe Marie, Sie auch. Man soll mich ruhig allein lassen; ich gehe ins Haus, strecke mich auf ein Sofa – wenn es hier so üppige Luxus-Artikel gibt – und entferne mich für eine Weile aus dieser ewigen Luft!«
Von Kathi geführt zog sie sich ins Haus zurück, nur noch einmal, aber tief nach ›ihrem Salzburg‹ seufzend.
Die Gesellschaft ging weiter, Saltner wieder voran; nach wenigen Schritten verließen sie die Straße und stiegen auf einem Fußpfad aufwärts, dem an der Berglehne hängenden Buchenwald zu. Die Sonne war verschwunden, aus nahen Schluchten kam eine erfrischende Kühle, die erste an diesem Tag; in dem Wald aber schien die Sonnenwärme noch ungestört zu schweben und zu brüten. Als sie ihn erreicht hatten, ging Waldenburg mit seinen schweren, majestätischen Schritten sogleich auf eine Bank zu, die unter den ersten Bäumen am Rand einer Wiese stand, setzte sich und streckte die langen Beine aus.
»Wozu weiter schweifen?« sagte er. »Auch von hier hat man ja eine wohlerzogene, stilvolle Aussicht. J’y suis et j’y reste!«
Baron Tilburg ließ sich sofort neben ihm nieder, lächelte und gähnte. Wittekind zuckte die Achseln und stieg neben Frau von Tarnow weiter in den Wald hinein.
›Entnervte Großstädter!‹ dachte er. Gleich darauf hörte er Saltner, der voraufging, murmeln:
»Verfettete Byzantiner!«
Der Fußweg schlängelte sich sehr angenehm, wohlgepflegt, zwischen den Buchen hinauf, die sich, so gut wie es ging, in den steinigen Abhang eingegraben hatten und ihn mit ihren Wurzeln bedeckten. Mit wahren Riesenschritten stieg der Alte voran; die blasse Frau folgte aber so leichtfüßig, dass Wittekind, den der lange Wandertag doch ermüdet hatte, nur mit Mühe an ihrer Seite blieb. Er erstaunte über ihre kräftige Lunge, und freute sich, wie jugendlich lebendig die schlanke Tusnelda-Gestalt dahinschritt. Es währte nicht lange, so hatten sie das Ziel, die ›Hedwigsruhe‹, erreicht: einen gelichteten und geebneten Vorsprung, den man mit Tischen und Bänken ausgestattet hatte. Rückwärts und höher, unter den Bäumen, stand eine lustige Laube oder Hütte aus Fichtenzweigen, mit Baumrinden gedeckt. Unter dem Vorsprung stürzte der Waldberg nach Osten und Süden jäh in die Tiefe; trat man an das schützende Geländer, so sah man auf den grauen Fluss und auf das Städtchen hinab, an dessen Häusern er hinfloss. Ein hochgetürmtes Kloster leuchtete auf einem sanften, grünen Hügel, von dem es die Stadt beherrschte. Fern im Norden schwamm die Salzburger Veste im letzten sonnigen Licht; im Süden aber erhoben sich lange Mauern und mächtige Gipfel felsigen Gebirgs, und die Gletscher des Dachsteins, im schönsten, rosigsten Rot, stiegen über fichtenschwarzen Bergrücken wie Grenzwächter eines fernen Landes in den erblassenden Himmel.
»Freilich ist das schön!« sagte Frau von Tarnow leise.
Sie trat dann einen Schritt zurück, denn der Blick auf den jähen Absturz schien ihre erregten Sinne doch etwas zu verwirren.
Wittekind schaute nach allen Seiten umher, und sah sich dann zu seiner Verwunderung mit der Dame allein.
Saltner war verschwunden.
»Und wo ist denn mein Sohn geblieben?« fragte Wittekind laut.
»Ich hab’ ihn nicht mehr geseh’n, seit wir aufwärts stiegen«, erwiderte Frau von Tarnow. »Übrigens hab’ ich auch nie zurückgeblickt. Was für eine merkwürdige Erscheinung, Ihr Sohn; wie zart, und wie liebenswürdig. Beinahe hätt’ ich gesagt: wie holdselig!«
»Von Ihrer Stimme gesprochen klang dieses Wort: ›holdselig‹ gar rührend und gut. Ich danke Ihnen als eitler Vater«, sagte Wittekind, der zu lächeln suchte.
»Bitte«, erwiderte sie, »sprechen Sie nicht so. Zwischen Ihnen und Ihrem Sohn ist – Ich hab’s ja geseh’n, wie Sie beide kamen; Arm in Arm, so innig, so – brüderlich, so glücklich. Ach, es muss wohl eine Wonne sein, wenn sich Vater und Sohn so von Herzen lieben!«
Wittekind erstaunte, mit welcher Bewegung die junge Frau dies sagte. Ihre Stimme erzitterte. Er stand neben ihr und sah nur ihr Profil; er glaubte aber eine Träne, einen zarten, regungslosen Tropfen in ihrem Auge zu seh’n.
›Was ist das nun wieder?‹ dachte er. ›Warum rührt es sie so, an die Liebe zwischen einem Vater und seinem Sohn zu denken?‹
Die Dame wandte sich eine Weile von ihm ab; sie schien ihre Augen wie zufällig mit den Fingern zu berühren; Wittekind sah eine nicht kleine, auch nicht sonderlich schmale, aber wohlgebildete und charaktervolle Hand. Sie hatte, während sie heraufstiegen, nur von Dingen, die nichts bedeuten, von den kleinen Reiseerlebnissen gesprochen. Jetzt sah sie ihn auf einmal mit einem ernsten Frageblick an und sagte, etwas zögernd:
»Sie sind also ein Jugendfreund des Geheimrats von Waldenburg?«
»Von der Schule her«, erwiderte Wittekind. »Das heißt, auf der Schule kamen wir einander nicht sehr nahe (außer mit den Fäusten, dachte er); Waldenburg war der Ältere und Gescheitere; unternehmend, witzig, frühreif, schon damals voll ehrgeiziger Träume und Gedanken; und was man so gewöhnlich ›Ehrgeiz‹ nennt, das hat mich nie gequält. Aber auf der Universität trafen wir uns wieder; und hernach auf Reisen. Der Unterschied der Jahre, der war ausgeglichen; der an Geist und Witz freilich, der blieb. Keiner von uns allen, die miteinander jung waren, kam ihm darin gleich; er hatte Geist für zwei, und schon als junger Mann hatte er die Kunst, die Menschen so zu führen, wie es ihm dienlich ist, und aus der Welt das zu machen, was er von ihr will!«
Frau von Tarnow erwiderte nichts, sie ließ nur einen unverständlichen, leisen Laut vernehmen und sah auf den Mond, der als blasse, noch nicht ganz gefüllte Scheibe über den östlichen Bergen schwebte. Wittekind fuhr fort von Waldenburg zu sprechen; er erzählte heitere und witzige Geschichten, die seiner Gewandtheit und Geistesgegenwart alle Ehre machten. Eine Weile hörte sie zu, ohne sich zu rühren.
Dann entfuhr ihr aber eine ungeduldige Bewegung, und mit einem eigentümlichen Ausdruck von edler Traurigkeit legte sie sich eine Hand an die Wange.
»Warum reden Sie so obenhin zu mir?« sagte sie, ihn fest anblickend. »Denken Sie, ich weiß nicht, dass er einen guten Kopf, aber kein gutes Herz hat?«
Überrascht starrte Wittekind sie an. Sie errötete leicht; sonst war ihr Gesicht wieder so blass, wie da er sie zuerst gesehen hatte. Eine Welt von Schicksalen und Schmerzen schien auf diesem jungen Antlitz zu liegen. Er wusste nicht, was er denken, was er sagen sollte. Sein Herz zog sich zusammen; – warum? – —
»Verzeihen Sie«, sagte er endlich, um etwas zu sagen. »Ich wusste nicht – — Wie lange kennen Sie ihn?«
»Kurz – und lang!« antwortete sie langsam. »Aber andre – — andre kennen ihn«, setzte sie wie sich verbessernd hinzu. »Sind Sie andrer Meinung? Glauben Sie an sein Herz?«
Sie blickte ihm in die Augen, als wünschte sie darin etwas Tröstliches zu lesen. Wittekinds Staunen und Verwirrung wuchs. Nicht weil er sich zu einer Fremden über den ›Jugendfreund‹ offen äußern sollte: er war gewohnt, aufrichtig zu reden, und diese ernste junge Frau schien ihm gar nicht mehr fremd zu sein. Es beklemmte ihn nur ein banges Gefühl: was war dieser Waldenburg ihr?
Das letzte Licht auf den Dachstein-Gletschern war unterdessen erloschen, farblos und kalt dämmerten sie aus der blassen Ferne. Wittekind hob eine Hand und deutete hinaus. Mit etwas unsicherer Stimme sagte er:
»Seh’n Sie, wie die Eisfelder kalt geworden sind. Vorhin, als sie so schön rosig beleuchtet waren, sahen sie fast warm aus. So ungefähr dachten wir auch von Freund Waldenburgs Herzen, als noch der erste Glanz der Jugend – — Sie versteh’n, wie ich’s meine. Jetzt denk’ ich: kalt wie Eis.«
Sie antwortete nicht. Ein flüchtiger Schauer schien nur über sie hinzufliegen. Sie hatte auf einer der Bänke gesessen; leise und langsam erhob sie sich und trat wieder an das Geländer, das aus Fichtenästen roh gezimmert war.
Vor sich hin murmelte sie:
»Und ich muss doch versuchen…«
Indessen wie vor ihrer eigenen Stimme erschreckend brach sie wieder ab.
›Was ist ihr Waldenburg?‹ dachte Wittekind wieder. ›Was mir da durch den Kopf fährt, das ist ja verrückt … Sagte er mir nicht selbst in Grödig: „Lieber Freund, ich wollte, ich wüsste, was ihr fehlt?“ Und „um sie zu heilen“, setzte er mit seinem Don-Juans-Gesicht hinzu. Also er wünscht etwa; weiter nichts. … Aber was fragt sie dann so? Was bewegt sie so? Was will sie „versuchen“?‹
Der Mond hatte mittlerweile, da die Nacht hereinsank, Gold und Glanz gewonnen; er schwebte höher hinauf, die Schatten, die man sah, waren Mondesschatten, die Farben der Häuser, der Dächer, der Felder, Straßen und Berge schienen die Wirkungen seines Lichts zu sein. Frau von Tarnow, beide Hände auf das Geländer gelegt, starrte in die Tiefe.
»Wie anders die Welt nun aussieht!« sagte sie nach einer Weile, offenbar um das Gespräch über Waldenburg zu beenden.
»Der Mond hat sie nun«, entgegnete Wittekind.
»Ja, nun hat sie der Mond. Wie blass, wie schwach nun da unten alle Farben sind. Das Haus da am Wasser, es erscheint wohl noch gelb, und sein Dach noch rot; und die Bäume grün; aber alles doch nur wie eine Ahnung von dem, was es war. Wie Farben ohne Körper – oder ohne Seele. Nicht wahr?«
Wittekind nickte nur. Alles, was diese Frau da sagte, ging ihm so eigen durchs Herz.
»Wenn das nun immer so bliebe«, fuhr sie leiser fort; »wenn das unser Tag wäre – unser einziger! Eine Art von Tag wäre es ja auch. Wir gingen ›im Licht‹ umher, könnten alles sehen und erkennen. Wir könnten auch sagen wie jetzt: das ist gelb, das ist rot. Und wenn wir keine Erinnerung an die Sonne hätten und all die glühenden Farben, so würden wir ja wohl auch mit diesem Dämmerlicht ganz zufrieden sein.«
»An was gewöhnte sich nicht der Mensch!« murmelte Wittekind.
»Und wenn es nun auch in uns ebenso würde, wie draußen!« fuhr sie nach kurzem, träumerischem Sinnen fort. »Alles Dämmerung, Frieden. Mondseelen, statt Sonnenseelen; ohne Sonnenschein, aber auch ohne Feuer, ohne Glut, ohne Leidenschaften. Man ginge so still dahin; etwas schattenhaft – aber man wüsste es ja nicht anders, man vermisste ja nichts. Ach, es wäre wohl —«
›Gut‹, wollte sie sagen; aber sie sprach es nicht aus, Mit einer plötzlichen Bewegung, die noch viel von der ›Sonnenseele‹ hatte, schüttelte sie sich.
»Nein, es wäre nicht gut!« sagte sie mit stärkerer Stimme. »Wozu dann noch leben? Dann lieber gleich ganz tot. Nein – es muss nun so bleiben wie es ist. … Aber ich kann den Mond nicht mehr seh’n!« setzte sie hinzu, indem sie Kopf und Schultern wieder schüttelte.
Sie wandte sich ab. Nun erblickte sie den vom Mond beleuchteten Saltner, der von der Hütte her über den schrägen, steinigen Boden langsam herunterkam, und dessen weißer Bart in diesem Licht fast geisterhaft schimmerte. Sie stieß ein paar Worte aus, die Wittekind nicht verstand.
»Ich saß da in der Hütte«, sagte der Alte ruhig; »in Erinnerungen. Ein Abend, der sich dazu eignet!«
Frau von Tarnow sah ihn schweigend an. Obwohl die beiden weder durch Worte, noch durch Gebärden ihren Gedanken verrieten, fühlte Wittekind doch, dass sie den Wunsch hätten, eine Weile allein zu sein. Er blickte in die Senkung und zum Wirtshaus hinunter, in dem nun schon Lichter glänzten, und warf wie verloren hin:
»Man muss wohl nach Hause geh’n.«
Darauf schritt er langsam auf die Bäume zu und betrat wieder den Waldweg, den der Mond beschien.
Die beiden blieben steh’n. Wittekind ging weiter. Er sah nicht zurück; in seine eigenen Gedanken über Mond und Sonnen-Seelen versinkend. Es schreckte ihn dann aber ein unerwarteter, zitternder Ton auf, der wie plötzliches Weinen klang; unwillkürlich blickte er zurück. Zwischen den Bäumen durch sah er, wie die junge Frau sich an die hohe, breite Brust des Alten warf, und er konnte sich nicht täuschen: sie schluchzte, laut und unaufhaltsam. Saltner hielt sie stumm in seinen Armen, ohne sich zu regen.
Wittekind trat geschwind tiefer in den Waldschatten, wieder abgewandt. Dann ging er mit möglichst leisen Schritten bergab; sein Herz fühlte er klopfen.