Читать книгу Die rastlosen Reisen des frommen Chaoten - Adrian Plass - Страница 10
Samstag, 5. Februar
ОглавлениеKam um halb drei mit Gerald im Gemeindehaus in West Hammerton an, reichlich rechtzeitig für meinen Vortrag, der für drei Uhr angesetzt war. Ging in die Halle mit meinem schüchternen Ja-ich-bin’s-Leute-aber-ich-bin-auch-nicht-andersals-ihr-Ausdruck auf dem Gesicht. Hätte mir die Mühe sparen können. Es schien sowieso niemand zu merken, wer ich war.
Als wir eintraten, kam ein elegant gekleideter, ziemlich alter Mann mit steif militärischer, aber schon etwas unsicherer Haltung auf uns zu, der sich als Mr. B. Granger vorstellte, Sekretär von Reginalds und Eileens Nachmittagstee-Club. Sagte, die Person, die mich eingeladen habe, könne leider nicht kommen, weil sie inzwischen verstorben sei (eine erbärmlich lahme Ausrede, wie Gerald später bemerkte), sodass er eigentlich nicht so recht wisse, was hier eigentlich laufe.
Erschwerend komme hinzu, erklärte er mit seiner altersdumpfen, bellenden Stimme, dass ich die Alternative zu jemandem sei, der, soweit ich es verstehen konnte, nicht hatte an die Stelle eines Mannes treten können, der nicht als Ersatz für eine Frau hatte kommen können, die abgesagt hatte, einen wunderbaren Menschen namens Mr. A. Whittle zu vertreten, der ein Experte über »West Hammerton in alter Zeit« war und dessen Erscheinen (nebst dem seiner Dias) eigentlich der allgemeine Wunsch gewesen wäre.
Ob ich auch Dias mitgebracht hätte? Nein, weniger. – Oh.
Auf eine Frage von Gerald hin erklärte Mr. B. Granger, dass
»Reginalds und Eileens Nachmittagstee-Club« seinen Namen der Tatsache verdanke, dass er vor vielen Jahren von zwei Leuten namens Reginald und Eileen ins Leben gerufen worden war, die inzwischen ebenfalls verstorben waren.
Gerald nickte verständnisvoll.
Die meisten der etwa zwanzig älteren Leute, die in Viereroder Fünfergruppen an den kleinen Tischen saßen, starrten mich an, als ich Mr. B. Granger zu der Stelle folgte, wo ein Mikrofon gestanden hätte, wenn sie eines besessen hätten.
Sie hassen mich, dachte ich, weil ich nicht Mr. A. Whittle bin und weil ich keine Dias habe.
Mr. B. Granger blickte verstohlen auf ein kleines Stück Papier, das er in der Handfläche verborgen hielt, und räusperte sich gebieterisch.
Er sagte: »Also, fangen wir an, meine Damen und Herren. Zuerst die Bekanntmachungen.« Pause. »Es gibt keine. Hat irgendein Mitglied vor der Vorstellung des Referenten etwas bekanntzugeben?«
Eine uralte, weißhaarige kleine Dame, von der Last der Jahre gebeugt, hebelte sich von ihrem Stuhl hoch und machte sich entschlossen auf den verschlungenen Weg nach vorne, von wo sie sich mit zittrig aggressiver Stimme an die Versammlung wandte.
»Ich wollte nur sagen, dass ich seit zwanzig Jahren alle sechs Club-Tischtücher mit nach Hause genommen und gewaschen habe und nicht bereit bin, das noch weiter zu tun. Es ist an der Zeit, dass mal jemand anderes an die Reihe kommt.«
»Worin genau besteht diese Aufgabe, Mrs. Lazenby?«, erkundigte sich Mr. B. Granger in ernstem, dienstbeflissenem Tonfall.
»Man muss einmal im Jahr alle sechs Tischtücher mit nach Hause nehmen und waschen«, sagte Mrs. Lazenby ziemlich erwartungsgemäß. »Aber das mache ich jetzt schon seit zwanzig Jahren, und ich glaube, ich habe meinen Teil getan. Es ist an der Zeit, dass auch mal jemand anderes drankommt. Ich bin nicht bereit, es noch weiterhin zu tun. Ich habe es zwanzig Jahre lang gemacht, und ich glaube, das reicht. Nun kann jemand anderes – «
»Mrs. Lazenby hat es zwanzig Jahre lang gemacht«, unterbrach Mr. B. Granger, der offenbar merkte, dass die ständige Wiederholung dieser Beschwerde Mrs. Lazenby enorme Befriedigung verschaffte und dass sie vermutlich bis in alle Ewigkeit fortfahren würde, ihren Standpunkt deutlich zu machen, wenn niemand sie aufhielt, »und ich glaube, sie hat ihren Teil getan. Es ist an der Zeit, dass jemand anderes an die Reihe kommt, denn sie ist nicht bereit, es auch weiterhin zu tun.« Er räusperte sich noch einmal. »Ich möchte im Namen aller Mrs. Lazenby unseren Dank und unsere Anerkennung für die Arbeit ausdrücken, die sie während der letzten zwanzig Jahre bezüglich der Tischtücher auf sich genommen hat. Drücken wir ihr wie üblich unsere Wertschätzung aus, wenn sie sich nun von dem Posten zurückzieht, auf dem sie uns so großartige Dienste geleistet hat, und das seit – «
»Zwanzig Jahren«, ergänzte Mrs. Lazenby genussvoll, »und ich bin nicht bereit – «
»Vielleicht möchte sich nach dem Vortrag, wenn die Erfrischungen gereicht werden, eine Freiwillige – oder ein Freiwilliger« – Heiterkeit an den Tischen – »melden. Nochmals vielen Dank, Mrs. Lazenby, für Ihre unschätzbaren Bemühungen um unseren Club.«
Mrs. Lazenby trat, begleitet von unverhohlen lustlosem Applaus, widerstrebend, aber triumphierend den verschlungenen Rückweg zu ihrem Tisch an, wo sie sofort mit ihren zwei unmittelbaren Sitznachbarn eine heftig geflüsterte Diskussion über die Tatsache begann, dass sie es zwanzig Jahre lang gemacht habe und nicht bereit sei, es noch weiterhin zu tun …
»Schön«, hakte Mr. B. Granger die »Bekanntmachungen« auf seinem kleinen Zettel ab, »kommen wir zu unserem Referenten. Und wir schätzen uns in der Tat sehr glücklich, heute Mr. E. Bass hier begrüßen zu dürfen, einen sehr beliebten örtlichen Laienprediger.«
(Das einzig Zutreffende an dieser Vorstellung waren die Geografie und das Geschlecht, was, wie Gerald später bemerkte, nicht viel nützt, falls man kein reisender Gynäkologe ist.)
»Mr. Bass’ Vortrag, dem wir alle mit … äh … mit großer Vorfreude entgegensehen, trägt den Titel« – ein kurzes Schielen auf den Zettel – »trägt den Titel ›Lesungen aus dem Tagebuch eines frohen Choristen‹ und wird uns bis zum Tee um fünfzehn Uhr fünfunddreißig beschäftigen. Es gibt keine Dias. Vielen Dank, Mr. Bass.«
Die einzige Person in jenem Raum, mich selbst eingeschlossen, der meine dialosen »Lesungen aus dem Tagebuch eines frohen Choristen« Spaß machten, war Gerald, der natürlich jeden Augenblick auskostete. Der Rest meines Publikums starrte mich entweder mit unverhohlener Verwirrung oder schwerhöriger Verständnislosigkeit an, während ich mich, die Oberlippe unangenehm an den Zähnen klebend, durch eine halbe Stunde völlig ungeeigneten Materials quälte, das nicht das leiseste Schimmern eines Lächelns hervorzurufen vermochte. Genauso gut hätte ich versuchen können, Pflanzen mit Sand zu gießen.
Auch nicht gerade hilfreich war die Tatsache, dass ungefähr zehn Minuten vor dem Ende des Vortrags zwei Damen an unterschiedlichen Tischen sich wie durch Zauberei in exakt demselben Moment erhoben und in der Küche verschwanden, wo sie die nächsten zehn Minuten damit verbrachten, mit allem möglichen Zeug herumzuklappern und zu klirren und zu scheppern und sich dabei so laut zu unterhalten, dass sie einander über ihr eigenes Geklapper und Geklirr und Geschepper hinweg verstehen konnten.
War hinterher total ausgelaugt. Als Mr. B. Granger dazu einlud, Fragen zu stellen, meldete sich nur ein Zuhörer.
War ich bekannt mit Mr. A. Whittle, der einen Vortrag mit höchst interessanten Dias aus dem alten West Hammerton hielt? Nein, leider war ich nicht bekannt mit Mr. A. Whittle, der einen Vortrag mit höchst interessanten Dias aus dem alten West Hammerton hielt.
Diese Information schien jedem weiteren Interesse den Garaus zu machen. Verspürte den starken Wunsch, Mr. A. Whittle den Garaus zu machen und ihn mitsamt seinen Dias zu Reginald und Eileen zu befördern.
Hatte meinen Tee dringend nötig. Gerald kam mit den alten Leuten prächtig zurecht. Brachte sie zum Lachen und verwickelte sie in lockere Plaudereien. Wünschte, er hätte den Vortrag gehalten. Ich will nie wieder einen halten – niemals.
Die Versammlung endete mit dem Absingen des Clubliedes, angeleitet von einem Klavier in der Ecke, dessen Tastatur ebenso lückenhaft zu sein schien wie das Gebiss des alten Herrn, der es mit zittriger Großtuerei bearbeitete. Der Text des Liedes, das mit großer Inbrunst zweimal gesungen wurde, lautete folgendermaßen:
Reginald und Eileen sind nicht mehr unter uns,
denn hingerafft hat sie der Tod vor langer Zeit,
doch tut’s uns auch weh, wir treffen uns zum Tee,
und alle Welt ist Zeuge uns’rer Fröhlichkeit.
Gerald fuhr uns nach Hause. Ich saß jämmerlich da, mein im Voraus geschriebenes Dankeskärtchen (»Wir alle wissen die neuen Einsichten in die Arbeit unserer Chöre, die Sie uns heute Nachmittag vermittelt haben, sehr zu schätzen«) und meinen Fünf-Pfund-Schein in der Hand umklammert, und fragte mich, wie ich es anstellen konnte, alle weiteren Termine abzusagen. Auf dem ganzen Heimweg produzierte Gerald, der immer noch das Bedürfnis hat, jeden Witz bis zur bitteren Neige auszuweiden, deprimierend akkurate Imitationen von Mr. B. Granger, wie er sagte: »Mr. E. Bass, ein sehr beliebter örtlicher Laienprediger, dessen Vortrag den Titel ›Lesungen aus dem Tagebuch eines frohen Choristen‹ trägt.«
Anne und Thynn, der auf eine Tasse Tee vorbeigekommen war, lachten Tränen, als Gerald ihnen von meinem albtraumhaften Erlebnis erzählte.
Vielleicht sollte meine Unterstützergruppe aus chronisch Depressiven bestehen; dann könnten die wenigstens zweimal im Monat auf meine Kosten herzhaft lachen.
Der arme alte Leonard ist immer noch etwas angeschlagen seit dem Tod seiner Mutter. Doch wie er heute abend sagte, kann sie jetzt unter all den himmlischen Wesen wenigstens verstehen, was die anderen sagen. Was Leonard gegen Ende ihres Lebens zur Raserei brachte, war, dass sie sich weigerte, ein Hörgerät zu tragen, weil sie ihrer Meinung nach nicht schwerhörig war, sondern nur nicht verstehen konnte, was die Leute sagten.
Wir bekommen L. T. zurzeit ziemlich häufig zu sehen.