Читать книгу Pias Labyrinth - Adriana Stern - Страница 10

4. Kapitel

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Juni 1999 – September 1998

Pia ist aufgeregt. Seit einer halben Stunde sitzt sie jetzt schon vor dem Konferenzzimmer, in dem verhandelt wird, ob sie die zwölfte Klasse wiederholen muss oder ob es für die dreizehnte reicht. Das Ergebnis kann sie nicht einschätzen. Es war fast unmöglich, den Stoff von sechs Monaten in zwei Monaten nachzuholen und gleichzeitig den neuen Stoff zu lernen. Die letzten Arbeiten waren gut, keine schlechter als vier. Sie hat gelernt wie eine Bescheuerte, um die Versetzung zu schaffen. Trotzdem. Die Fehlzeiten reichen für mindestens fünf Schuljahre.

Pia hat irgendwie ein Talent darin, zum Problemfall zu werden. Vielleicht wird man das eines Tages und bleibt es dann den Rest seines Lebens.

Sie seufzt und starrt auf die Uhr. Wieder sind fünf Minuten vergangen und nichts regt sich hinter der verschlossenen Tür. Werden die denn nie fertig da drin? Wenn sie wenigstens mit jemandem quatschen könnte, um sich die Zeit zu vertreiben. Aufs Lesen kann sie sich überhaupt nicht konzentrieren. Sie bleibt immer wieder am selben Satz hängen. Missmutig holt sie aus und –

»Pia Drews, kommen Sie bitte herein.« Tadelnd sieht der Lehrer auf das quer über den Flur fliegende Buch.

»’tschuldigung«, quetscht Pia heraus, sammelt den Roman hastig auf und folgt ihm.

»Setzen Sie sich bitte«, fordert Schwester Grisaldis sie förmlich auf. Schüler des Internats werden ab der elften Klasse normalerweise gesiezt, Schwester Grisaldis duzt sie aber immer noch und Pia würde alles andere auch komisch finden, immerhin kennt Schwester Grisaldis sie schon seit ihrem zehnten Lebensjahr. Aber heute, das ist etwas anderes. Heute ist Schwester Grisaldis die Direktorin und Pia eine junge Erwachsene.

Pia sieht über den langen Konferenztisch zu ihr hinüber. Lächelt sie nicht ein wenig? Pia schaut noch einmal hin. Nee, wohl doch nicht. Zwanzig Augenpaare folgen ihr, als sie auf dem einzigen freien Stuhl Platz nimmt.

»Wir haben hier Ihren Antrag auf Versetzung nach Klasse dreizehn vorliegen. Trotz erheblicher Fehlzeiten, die wir eigentlich nicht tolerieren dürfen. Bevor wir jedoch zu einem ablehnenden Beschluss kommen, wollen wir Ihnen Gelegenheit geben, dazu Stellung zu nehmen.« Der stellvertretende Schulleiter, Direktor Hammer, zieht die linke Augenbraue hoch.

Ablehnender Beschluss? Aber alle Arbeiten waren doch okay, viele sogar sehr gut! Pia räuspert sich. »Ja, also die Fehlzeiten …«

»Etwas lauter bitte, wir alle möchten hören, was Sie vorzubringen haben«, lässt sich Direktor Hammer vernehmen. Er klingt gereizt.

Pia räuspert sich erneut. Ihr Blick begegnet dem von Schwester Grisaldis. Na los, scheint sie zu sagen. Mach schon, das ist deine Chance.

»Mit den Fehlzeiten, das ist tatsächlich der wunde Punkt«, sagt Pia nun wesentlich lauter.

Ein Schmunzeln geht durch die Runde.

»Wie kann ich Ihnen das erklären?« Pia seufzt. Schweigend sieht sie ihre Lehrer an. Einige kennt sie nicht.

»Fräulein Drews, wir haben leider nicht den ganzen Tag Zeit. Also, wenn Sie bitte so freundlich wären …« Direktor Hammer runzelt die Stirn.

»Im letzten Schuljahr hatte ich einige Probleme«, startet Pia den zweiten Versuch. Alle Lehrer sehen sie aufmerksam an. Pia fällt der Aufsatz ein, der in allen Fächern mit Eins bewertet wurde. Verantwortung für das eigene Handeln, denkt sie. Das wollen sie hören! Wenn ich das rüberbringe, kann ich das Blatt vielleicht noch wenden. »Im letzten Schuljahr habe ich irgendwie die Kontrolle über mein Leben verloren.«

Einige Lehrer nicken. Ihr Englischlehrer beugt sich vor und betrachtet sie aufmerksam. Möglicherweise mag er mich, denkt Pia plötzlich.

»Das lag daran, dass … dass ich versucht habe, wie die anderen Mädchen zu sein.«

Schwester Grisaldis lächelt zustimmend. Alle Lehrer lauschen erwartungsvoll. Die meisten sehen wirklich interessiert aus.

»Ich bin schon seit mehr als fünf Jahren hier. In meiner Familie konnte ich nicht weiterleben. Es war zu schwierig, wegen …« Pia schluckt. »Wegen meines Vaters.«

Einige Lehrer nicken erneut. Sie kennen die Geschichte.

»Die Mädchen aus meiner Gruppe haben das herausgefunden. Sie haben mich deswegen manchmal ziemlich … gequält«, erklärt sie zögerlich. »Die anderen Mädchen sind hier, weil die Eltern eine gute Ausbildung für sie wollen oder weil sie so viel arbeiten müssen, dass sie sich um ihre Töchter nicht kümmern können. Bei mir ist das anders. Das Jugendamt hat mich hier untergebracht. Das Anderssein war sehr schwer für mich. Ich habe versucht, Freundinnen in meiner Gruppe zu finden. Ich habe versucht, ihnen zu beweisen, dass ich genauso bin wie sie, dass ich auch mit Jungen …« Sie bricht ab. »Dass ich das mit meinem Vater nicht wollte.«

Im Konferenzraum ist es so still, dass Pia kaum zu atmen wagt. Sie hat plötzlich Angst, die Stille zu durchbrechen. Aber sie muss weiterreden. Sie will mit Andrea in einer Klasse bleiben.

»Ja, und eines Abends ist das Ganze dann eskaliert.«

»Na, Pia, kommst du heute Abend mit zur Rheinparty, oder treibst du es nur mit alten Männern?« Walburga sieht provozierend auf Pia hinab, die so sehr in ihre Matheaufgaben vertieft gewesen ist, dass sie die Mitschülerin gar nicht hat kommen hören.

Pia steht instinktiv auf. Sie hasst es, wenn jemand auf sie herabsieht. »Was?« Sie hofft, dass ihre Frage drohend klingt, obwohl sie den Sinn von Walburgas Worten überhaupt nicht kapiert hat. Nur, dass sie nichts Gutes im Schilde führt.

»Kommst du mit zur Rheinparty heute Abend, hab ich gefragt«, wiederholt Walburga.

»Nee«, will Pia das Gespräch schroff beenden.

»Wusst ich’s doch. Du stehst nur auf Männer, die dein Vater sein könnten.«

Pia spürt, wie sie blass wird. Aufspringen und die Mitschülerin zu Boden reißen ist eine Bewegung. »Du Ekelpaket«, zischt sie.

»Das wissen doch alle«, verkündet Walburga, während sie sich mühsam aufrappelt.

»Was, was wissen alle?« Ihr wird schwarz vor Augen. Sie kennt die Antwort schon. Walburga hat es herausgefunden. Alle wissen es. Ihr Schädel dröhnt, als würde ein ICE mitten hindurchfahren.

»Dass du es mit deinem Vater getrieben hast.« Walburga sieht sie triumphierend an. »Genau wie deine besten Freundinnen. Was das wohl für welche gewesen sind«, ergänzt sie höhnisch.

Als Pia das nächste Mal klar sieht, heult Walburga und blutet aus Mund und Nase. Pia registriert nur, dass ihr die Hand wehtut. Hat sie so zugeschlagen? Hoffentlich.

Da kommt schon Schwester Libora. Sie ist immer da, wo Pia ist. Und es vergeht kaum eine Woche, in der sie Pia nicht bestraft.

»Drews, sag mal, du hast wohl völlig den Verstand verloren.«

Walburga flüchtet zu Schwester Libora, die ihre Lieblingsschülerin sofort liebevoll in die Arme nimmt.

»Das wird ein Nachspiel haben!«

Da ist wieder dieser Hass in den Augen der Nonne, vor dem sich Pia fürchtet. Walburga schluchzt leise, aber immer wenn die Schwester nicht hinsieht, zieht sie hämische Grimassen.

»Das war Notwehr«, verteidigt sich Pia.

»Ach, du findest es wohl auch noch gut, deine Mitschülerin zusammenzuschlagen!«, schreit Schwester Libora. Sie vergisst Walburga in ihren Armen, holt aus und packt in Pias Haare. Ihr Griff fühlt sich an wie eine Kneifzange. Es tut höllisch weh.

»Küchendienst. Allein. In allen drei Küchen. Die ganze Woche. Hast du mich verstanden, du Satansbraten?«

Walburga, die unsanft weggerutscht ist, stellt sich neben die Nonne und feixt. Deren Griff tut so weh, dass Pia nicht sprechen kann. Später im Bad stellt sie fest, dass ihr Kopf blutet. Er pocht noch Stunden danach wie verrückt.

Die Mädchen aus ihrer Gruppe lassen es sich natürlich nicht nehmen, gemeinsam in der Küche aufzutauchen und ihr beim Schuften zuzusehen. Aber dabei bleibt es nicht.

»Mit Jungs in deinem Alter machst du es wohl nicht, wie? Eigentlich müsstest du in den Knast, nicht dein Vater.« Walburga geht es schon wieder richtig gut.

»Ja«, fällt eine andere ein. »Wahrscheinlich hat sie nur deshalb die guten Noten bei den Lehrern. Weil sie denen nach der Schule einen runterholt.«

Die anderen Mädchen lachen. Schweigend und verbissen putzt Pia weiter.

»Man darf den Schwanz von seinem Vater nicht anfassen, Pia. Das gehört sich nicht«, sagt Sigrid, die sich sonst eigentlich immer zurückhält.

Pia kocht vor Zorn. Auch darüber, dass sie sich so wahnsinnig schämt. Sie fühlt sich nackt und von oben bis unten bespuckt. Am liebsten möchte sie sterben. Einfach tot sein.

Sie stellt sich die Beerdigung vor. Die Mädchen mit betroffenen Gesichtern. »Oh nein, das haben wir nicht gewollt. Wir haben doch nur Spaß gemacht.« Ihr Selbstmord, natürlich mit dem entsprechenden Abschiedsbrief, lässt die anderen bis an ihr Lebensende nicht los. – Nein, es wäre ihnen scheißegal. Sie würden wahrscheinlich noch auf ihrer Beerdigung rumerzählen, sie sei eine Hure. Vor lauter Wut und Scham fühlt sich Pia so schwach, dass sie glaubt, jeden Moment tot umzufallen. Ein Selbstmord wird gar nicht mehr nötig sein.

»Aber vielleicht …« Lauernd sieht Martina sie an.

Martina ist genauso schlimm wie Walburga, wahrscheinlich schlimmer. Ein verlogenes Miststück, die es jedes Mal schafft, andere Mädchen in den Dreck zu ziehen und selbst als Musterschülerin dazustehen. Das hat sie schon mit Pia gemacht, aber auch mit Walburga und etlichen anderen. Sie hat immer die Nase vorn, wenn es um irgendwas Verbotenes geht, und alle Mädchen tun, was sie will. Wenn Martina eine Idee ausheckt, kann Pia todsicher davon ausgehen, dass es übel für sie enden wird. Deshalb dreht sie ihr den Rücken zu und beginnt das Geschirr vom Mittagessen in die Spülmaschine zu räumen.

»Du könntest uns natürlich beweisen, dass du doch auf Jungs in deinem Alter stehst. Zeig uns, dass du drauf abfährst, dann ändern wir unsere Meinung über dich vielleicht.«

»Du bist wohl vom Affen gebissen.« Pia fährt herum und macht einen Schritt auf Martina zu. Die weicht erschrocken zurück.

Walburga schreit auf. Sie hat den Faustschlag von Pia also noch nicht vergessen.

»Ich geh doch nicht mit jedem x-beliebigen Jungen los. Du schon, das weiß ja das ganze Internat, dass du für jeden die Beine breit machst, egal wie picklig und eklig er ist.« Eigentlich will Pia es ihr nicht auf die gleiche Art heimzahlen, aber etwas Wirkungsvolleres fällt ihr nicht ein. Die anderen Mädchen stehen jetzt um Pia und Martina herum wie um einen Boxring. Sie sind voll bei der Sache. Jeder Lehrer würde sich freuen, die Mädchen einmal so konzentriert im Unterricht zu haben.

Martina ist eine Spur blasser geworden. »Ein Junge aus der Parallelklasse interessiert sich für dich, Stefan. Du findest ihn doch auch gut, oder?«

Was soll das denn jetzt? Ja, Stefan mag sie wirklich ganz gern. Sie spielen immer Schach zusammen, hören Musik, quatschen, sind gute Kumpel. Stefan erinnert Pia manchmal an ihren kleinen Bruder. Der kann keiner Fliege was zuleide tun. In seiner Klasse ist Stefan der Außenseiter wie sie in ihrer. Der schlägt sich nicht mit anderen Jungen. Gilt als versponnen und verträumt. Kein richtiger Kerl eben.

»Der würd’s mit dir machen. Also, was ist?«

»Selbst wenn ich es mit ihm machen wollte, bestimmt nicht, wenn du daneben sitzt.«

Martina lacht böse. »Komm doch mit heute Abend. Wir haben alle einen Jungen dabei.«

»Gruppensex oder was?« Die werden doch nicht ernsthaft alle gleichzeitig unten am Rhein mit ihren Typen rummachen?

»Das ist auf Feten ganz normal. Aber du ziehst wohl doch was anderes vor.«

»Und woher willst du das mit Stefan wissen?«, fragt Pia, die sich plötzlich in der Falle fühlt. Die Frage war ein Fehler, das spürt sie sofort. Jetzt hat sie sich auf ihr Scheißspiel eingelassen.

»Aha, es interessiert dich also doch.« Triumphierend sieht Martina sie an. »Er hat es mir gesagt. Uns allen. Dass er mit dir hinwill heute Abend. Dass er das schon lange will.«

Pia verschlägt es die Sprache. Verdammt, warum hat er ihr das nicht gesagt? »Das will ich dann schon selbst von Stefan hören«, sagt sie so ruhig wie möglich.

»Kannst ihn ja heute Abend fragen«, schlägt Martina vor und grinst hinterhältig.

»Das ist doch wohl meine Sache, wann ich mit ihm über was rede.« Pia stößt Martina so heftig zurück, dass sie auf den Hintern fällt. Die anderen Mädchen schließen blitzschnell den Kreis. »Lasst mich raus«, faucht Pia. »Sofort!«

»Nein, du musst noch ein paar Sachen für die Party organisieren.«

»Wie bitte? Ihr seid wirklich vom Affen gebissen, und zwar alle.« Pia schüttelt den Kopf. Wenn das Mama wüsste, denkt sie. Die würde mich sofort hier rausholen.

»Ach komm, Pia. Lass uns doch einfach mal ein bisschen Spaß zusammen haben«, schmeichelt Karin. »Nur wir fünf und fünf Jungs. Etwas Wein, ein paar Kondome, nur für den Fall. Die Musik besorgen wir.«

»Ach, und ich soll wohl den Alk besorgen und die Gummis?« Pia muss fast lachen über so viel Dreistigkeit.

»Cool, hast deine Einser ja vielleicht doch nicht ganz umsonst bekommen.« Anerkennend pfeift Martina durch die Zähne.

»Das ist eine Scheißidee«, sagt Pia. Aber in Gedanken sortiert sie schon den Nachmittag durch. Könnte klappen, gesetzt den Fall, sie schießt die Strafarbeit von Schwester Libora in den Wind. Was soll die alte Hexe schon dagegen unternehmen? Im Supermarkt kriegt sie den Wein auf jeden Fall, denen ist das Jugendschutzgesetz völlig egal. Dauert maximal ’ne halbe Stunde. Aber wo soll sie die Kondome herkriegen? Nicht schon wieder in die Apotheke. Dort ist sie schon Stammkundin für die Pille und Schwangerschaftstests.

Die Mädchen hier sind völlig durchgeknallt, denkt Pia, als sie ihre Jacke aus dem Zimmer holt. Nur auf das eine fixiert. Oder ist das normal? Wenn man die Bravo ernst nimmt, sind die anderen wohl absoluter Durchschnitt und sie ist die Irre. Wie auch immer, heute Abend muss sie es tun, sie kann nicht mehr zurück. Stefan will es auch. Oder hat sich Martina das nur ausgedacht? Pia hat Stefans Nummer nicht. Sie könnte ihn persönlich fragen. Auf dem Weg zum Supermarkt kommt sie sowieso bei ihm vorbei.

Als sie bei Stefan klingelt, hört sie ihn eilig durch den Flur zur Haustür laufen. Sie kann nicht sagen, woran sie seine Schritte erkennt. Normalerweise achtet sie gar nicht auf so was. Na ja, vielleicht mag sie ihn ja genug, um es mit ihm zu tun. Sie stellt sich nicht konkret vor, was sie tun wird und was er tut. Bloß nicht!

»Hey, Pia. Was machst denn du hier? Komm doch rein.« Stefan steht vor ihr.

Er sieht eigentlich gut aus, denkt sie, während sie »Hallo« sagt und hinter ihm die Wohnung betritt.

»Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?«, scherzt er.

»Weißt du denn gar nichts von heute …« Pia spricht den Satz nicht zu Ende.

»Du meinst die Party?«

Also hatte Martina doch Recht. Sie nickt.

»Kommst du mit zum Rhein?« Bittend sieht er sie an.

»Ich meine …«, stammelt Pia, »findest du das wirklich eine so gute Idee? Ich meine, wenn … wenn alle dabei zusehen?«

Statt einer Antwort legt Stefan seine Arme um sie. Pia lässt es erschrocken geschehen. »Ich will es, egal wo«, flüstert er dicht an ihrem Ohr und küsst sie zärtlich auf den Hals.

Merkwürdig fühlt sich das an. Abschreckend ist es eigentlich nicht. Nur ein bisschen plötzlich vielleicht.

»Na, was ist?« Er küsst sie noch einmal, zärtlich und behutsam.

Pia läuft ein angenehmer Schauer über den Rücken. Sie schmiegt sich an ihn, und er schließt seine Arme fester um sie.

»Bitte sag, dass du es auch willst.«

Sie zögert nur einen Augenblick. »Ja«, wispert sie, und er drückt sie an sich. Pia spürt seinen Körper, riecht sein Deo und noch etwas anderes, Parfüm vielleicht.

Hand in Hand gehen sie in sein Zimmer, wo Stefan Musik auflegt und Kerzen anzündet. Er ist wirklich wild darauf, es mit ihr zu tun. Pia beobachtet sein Treiben halb amüsiert und halb beunruhigt. Sie haben vorher nie darüber gesprochen, miteinander Sex zu haben, und Pia ist überrascht, dass Stefan das mit ihr will. Zwischen ihnen gab es nie eine erotische Spannung, obwohl sie schon Stunden zu zweit in dieser Bude verbracht haben. Offenbar geht es ihm doch um sie, nicht darum, den anderen seine Männlichkeit zu beweisen. Weil er sie jetzt will, ohne Zeugen.

»Komm.« Seine Stimme zittert und er drückt sie sanft auf die Couch, so dass sie halb sitzt und halb liegt. Sie lässt es aufmerksam geschehen. Spürt, dass sie neben ihrer Beklommenheit auch neugierig ist auf das, wovon alle Mädchen reden, was sie alle unbedingt tun wollen. Seine Berührungen sind sogar angenehm. Das hat sie nicht erwartet. Jungen haben sie nie gereizt. Sie hatte kein Bedürfnis danach, sie anzufassen oder gar zu küssen.

Stefan schiebt ihren Pullover hoch. Sie zuckt zusammen, als er ihren Bauch berührt. Als er ihre Brust anfasst, stöhnt sie leise.

»Komm«, sagt er wieder in diesem drängenden Ton und zieht Pia den Pullover über den Kopf, zerrt an ihrem T-Shirt und versucht fast verzweifelt, den Knopf an ihrer Jeans aufzubekommen.

»Ich helf dir, ja?«

Erleichtert lässt er sie machen. Schnell streift er alle Sachen ab und schlüpft unter die Bettdecke. Von dort sieht er Pia an. »Du bist schön«, murmelt er und schlägt die Bettdecke zurück.

Sie legt sich schweigend neben ihn. Ihr Kopf fühlt sich leer an. Die Stimmung von vorhin ist verflogen. Sie versucht, sich auf seine Hände zu konzentrieren, aber sie empfindet gar nichts mehr. Angezogen findet sie es viel erregender. Stefan wohl nicht. Er atmet schwer und legt sich auf sie. Sein Glied fühlt sich hart an, als er versucht, in sie einzudringen. Pia presst die Beine zusammen.

»Du musst ein Gummi benutzen.« Sie ist empört, weil ihm plötzlich alles egal zu sein scheint.

»Beim ersten Mal passiert nichts«, sagt er fast beschwörend.

»Das ist doch Quatsch. Steht ja sogar in der Bravo.« Ärgerlich schiebt sie ihn weg.

Mürrisch steht Stefan auf und kramt in einer Ecke herum. »Hier«, triumphiert er. »Willst du das nicht machen?«

Pia schiebt ein rosafarbenes, klebriges Kondom über sein Glied. Sie legt sich auf den Rücken und atmet ruhig ein und aus. Versucht, sich zu entspannen.

Als er in sie eindringt, fährt ein scharfer Schmerz durch ihren Körper. Sie beißt die Zähne zusammen, während er sich wild auf ihr bewegt.

»Stefan«, fleht sie, aber er hört sie nicht. Plötzlich stöhnt er laut auf und lässt sich kurz darauf auf sie fallen. Stille.

»Stefan.« Wütend schubst sie ihn von sich herunter.

Er schlägt die Augen auf. »Hey, hat es dir denn nicht gefallen?«

Pia schüttelt den Kopf.

»Gar nicht?«, fragt er.

Pia fängt leise an zu weinen. »Du hast mich überhaupt nicht beachtet«, schluchzt sie.

»Natürlich hab ich dich beachtet. Nur …« Hilflos sucht er nach Worten. »Na ja, als ich in dir drin war, da konnte ich das nicht mehr. Nicht mehr kontrollieren, weißt du. Für mich war es doch auch das erste Mal.« Entschuldigend sieht er sie an. »Wir werden es einfach noch öfter tun. Üben ist wichtig. Dann gefällt es dir bestimmt auch bald richtig gut«, versucht er sie zu trösten.

Pias Blick fällt auf die Uhr. »Scheiße, ich muss noch für die Party einkaufen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, springt sie aus dem Bett, zieht sich hastig an, schnappt ihren Rucksack und rennt auf die Straße.

Nee, das will sie bestimmt nicht noch öfter üben, überlegt Pia, während sie einen billigen Wein aussucht. Soll sich Stefan doch ’ne andre suchen. Ob sich jedes Mädchen beim ersten Mal wie ein Gegenstand fühlt, nur weil der Junge sich nicht kontrollieren kann? Das kotzt Pia echt an. Die Frauen sollen herhalten, weil die Männer sich nicht unter Kontrolle haben und ihren Trieb befriedigen müssen.

»Ich hätte gern zehn Kondome«, wendet sie sich an die weiß gekleidete Apothekerin.

»Wie bitte?«

»Ich brauch sie für den Biologieunterricht.« Pia lächelt zuckersüß.

»Ach so, ja natürlich. Müssen es bestimmte sein?«

»Gefühlsechte«, bemerkt Pia trocken und lässt eine verstörte Apothekerin im Laden zurück.

Die kann mich mal, denkt sie. Bestimmt weiß sie, dass ich zum Internat gehöre. Meinetwegen soll sie es allen Nonnen persönlich auf die Nase binden. Dann werde ich eben gefeuert! Lieber unter einer Brücke schlafen als den Horror noch länger mitmachen.

Die Party steigt um 20 Uhr. Die Nonnen kontrollieren selten, ob auch wirklich alle im Bett liegen. Das müsste schon ein blöder Zufall sein. Die Mädchen schleichen auf Zehenspitzen und barfuß durch die abendlichen Treppenhäuser des Internats. Warum Pia überhaupt mitkommt, kann sie nicht sagen. Sie ist nicht besonders scharf darauf, Stefan wiederzusehen.

»Hast du den Wein?«, flüstert Martina.

»Ja klar«, sagt Pia.

Der Vater hat ziemlich viel getrunken. Pia kann Alkohol nicht ausstehen, sie hat noch nie welchen getrunken. Vielleicht wird sie es heute tun. Sie hat gelesen, dass man dann nicht mehr viel merkt von dem, was um einen herum geschieht. Genau die Wirkung ist ihr heute Abend recht. Sie will es nur hinter sich bringen.

»Hallo, da bist du ja.« Wie aus dem Boden gewachsen steht Stefan vor ihr.

»Hey«, sagt sie verlegen.

Er küsst sie sofort auf den Mund und seine Zunge drängt gegen ihre Zähne. Pia fühlt alle Augenpaare auf sich gerichtet, also öffnet sie den Mund, umarmt Stefan und schließt die Augen. So stehen sie Ewigkeiten da.

»Komm, Alter, deine Flamme hast du noch den ganzen Abend.«

Pia kennt den Jungen nicht, aber sie weicht einen Schritt zurück. Ist er etwa auf ihrer Schule? Dass ihr so ein Ekel gar nicht aufgefallen ist. Die drei anderen Jungs sind typische Gernegroß-Machos. Harmlos, aber unangenehm. Stefan ist mit Abstand der netteste. Martina geht anscheinend mit dem Ekel. Harro heißt er, hört sie später, als alle im noch warmen Sand sitzen und die erste Flasche Wein leeren.

Weit und breit ist niemand zu sehen. Hier ist der Rhein einsam. Kein Haus im Umkreis von bestimmt drei Kilometern. Das gegenüberliegende Ufer ist bewaldet. Ein außergewöhnlich großer, orangefarbener Mond hängt in den Baumwipfeln wie eine riesige Frucht.

»Sieh mal.« Sie stößt Stefan an und zeigt in den Himmel.

Er lässt sich neben ihr nieder, legt seinen Arm um sie. »Wunderschön«, sagt er, und für einen Augenblick fühlt sich Pia richtig geborgen.

»Wollt ihr noch Wein?«

»Ja, gebt mal ’ne Flasche rüber«, antwortet Stefan für Pia mit.

Sie hört die Mädchen reden, die Jungen fangen an zu grölen. Sie benehmen sich so richtig daneben. Die anderen Mädchen scheint es nicht zu stören, aber Pia macht es nervös. Zum Glück ist Stefan nicht so drauf, versucht sie sich zu beruhigen. Sie trinkt immer wieder von dem Wein, vergisst fast, dass es Wein ist, bis ihr ein bisschen übel wird und sich alles zu drehen beginnt. Sie lehnt sich bei Stefan an.

»Alles okay?« Besorgt streicht er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Ja, geht schon«, murmelt Pia.

»Hey, Stefan, komm doch mal rüber. Martina erzählt uns grad eine nette Geschichte.«

Wieso ich nicht?, denkt Pia, aber sie will die Geschichte eigentlich gar nicht hören. Sie legt sich auf den Rücken in den warmen Sand, hört das Schlagen der Wellen an der Uferböschung und betrachtet den sternklaren Himmel. Für Sternschnuppen ist es noch etwas zu früh.

»So, Kleine, dann zeig uns mal, was dir dein Vater beigebracht hat.«

Pia schreckt hoch. Mist, sie muss eingeschlafen sein. Wo sind die anderen Mädchen? Erschrocken dreht sie sich um. Sie stehen alle im Halbkreis um sie herum. Harro kniet vor ihr und drückt sie in den Sand.

»Also, fang an.«

»Lass mich los, du Arschloch.« Pia versucht sich aus seinem Griff zu befreien, aber er kniet auf ihren Armen. »Stefan«, schreit sie und tritt um sich, die Beine hat sie noch frei.

»Los, trink das.«

Pia dreht den Kopf weg, aber Harro hält ihr die Nase zu und irgendwann muss sie den Mund aufmachen, um Luft zu holen. Ein scharfes Brennen in ihrem Mund. Harro lässt ihre Nase los, und reflexartig schluckt Pia. Sie hustet.

»Was soll das, verdammt?«

Doch da hält ihr der Typ die Nase schon wieder zu. Pia schluckt auf diese Weise fast eine halbe Flasche.

»Echter schottischer Whisky, du kleines Flittchen. Damit du dir ein bisschen Mut antrinkst.«

Pia fühlt sich total benommen. »Lass los«, keucht sie. Sie kann sich überhaupt nicht mehr bewegen.

»Harro, lass sie doch.« Angst schwingt in Martinas Stimme mit.

»Aber erst solche Geschichten erzählen«, antwortet er und lockert seinen Griff.

Stefan zieht sie hoch. »Jetzt bist du bestimmt total besoffen«, meint er, da übergibt sie sich schon. Sie hat das Gefühl, sich die Seele aus dem Leib zu kotzen, samt aller Organe.

»Hier, trink mal ’nen Schluck, ist Kaffee«, sagt Stefan.

»Warum machst du dabei mit?« Pia stürzt den Kaffee herunter. Er hilft nicht viel, nimmt aber wenigstens den ekelhaften Geschmack weg.

»Genug geplaudert.« Harro reißt sie wieder auf den Boden. »Jetzt will ich Tatsachen sehen. Hosen runter.«

Pia schreit, sie tritt, mehrere Leute halten sie fest. Sie fühlt, wie jemand den Knopf der Jeans abreißt. Jemand zieht ihr die Schuhe aus, jemand reißt an der Jeans und zieht sie ihr aus. Harro zerreißt ihren Slip unter dem Grölen der anderen.

»Na, wer will sie zuerst haben?«

»Harro, verdammt, das ist kein Spaß mehr. Das könnt ihr doch nicht machen«, kreischt Martina.

Pia ist starr vor Schreck. Selbst als sie niemand mehr festhält, kann sie nicht aufstehen.

»Guck mal, sie wartet schon«, hört sie wieder Harros Stimme. »Nee, Martina, wer’s mit dem eigenen Alten treibt, der treibt’s auch mit ’ner ganzen Gruppe.«

Pia versucht verzweifelt, sich aus der Starre zu befreien. Sie muss abhauen. Weg hier.

Doch da drückt sie schon wieder jemand zu Boden. Legt sich schwer auf sie. Pia spürt einen gleißenden Schmerz, dann versinkt sie in loderndem Schwarz.

Hat sie überhaupt irgendwas gesagt? Verunsichert schaut Pia auf. Erschrockene Augenpaare begegnen ihr. Schwester Grisaldis sieht aus, als hätte sie geweint. Pia schluckt. Wieder so ein Sprung in der Zeit, in die Vergangenheit, in der sich nichts verändert hat. Alles noch genauso ist wie damals. Genauso schrecklich, erniedrigend, verwirrend. Zitternd kauert sie auf ihrem Stuhl. Sie wagt keinen zweiten Blick in die Runde.

»Pia«, sagt der Englischlehrer nach einem Räuspern, »danke für Ihre Offenheit. Es ist entsetzlich, was dort am Rhein geschehen ist. Es tut mir sehr, sehr Leid, dass Sie das durchmachen mussten.«

Die anderen Lehrer nicken zustimmend.

»Und das konntest du uns in der Nacht oder am nächsten Tag nicht sagen?« Schwester Grisaldis’ Stimme klingt brüchig. Das Siezen hat sie völlig vergessen.

Pia schüttelt den Kopf. »Nein, es … es war unmöglich. Schwester Libora, die Mädchen – die Jungen, sie alle haben mich doch für eine Hure gehalten.«

Schwester Grisaldis zuckt zusammen.

»Aber ich wollte das mit meinem Vater nicht und auch nicht das mit den Jungs«, flüstert sie.

»Nein, natürlich nicht«, sagt die Direktorin schnell. »Das wissen wir, Pia. Ich werde mit Schwester Libora reden. Mir ist klar, dass du bei ihr keinen leichten Stand hattest.« Ganz blass ist die sonst so gesund aussehende Nonne, und ihre Hände zittern.

»Die Schule war danach nur noch ein Spießrutenlauf«, fährt Pia fort, als hätte sie die Worte der Schwester gar nicht gehört. »Sie haben ja die Kommentare der Mädchen nicht gehört, und schon gar nicht die von den Jungen.«

»Was für ein Alptraum«, fährt die Psychologielehrerin dazwischen. »Die besagten Jungen müssen der Schule verwiesen werden.«

Diesmal nickt niemand.

»Ich wollte nicht mehr reden, nicht mehr leben. Niemand hat mich gefragt, was los war.« Pia fühlt plötzlich eine Menge Wut. »Auch Sie nicht, Schwester Grisaldis. Sie wollten auch lieber glauben, dass ich gestört bin, als dass an Ihrer Schule so etwas vorkommt. Sie wollten lieber glauben, dass ich eine Hure bin, so wie Schwester Libora, nachdem die Mädchen ihre Version der Geschichte erzählt hatten.«

»Wie bitte?«, fragt die Nonne tonlos.

»Ja, dass ich es mit allen Jungen getrieben hätte, das haben die Mädchen erzählt. Und sie zum Alkohol verführt hätte. Und das hat Schwester Libora nur allzu gern geglaubt. Und Sie auch.«

»Nein, Pia, das ist nicht wahr. Schwester Libora hielt dich für gefährdet. Du hast ja nicht mehr mit ihr gesprochen. Mit niemandem mehr. Und nichts mehr gegessen. Ich habe dich schon immer für sehr klug gehalten, Pia. Und für ausgesprochen verantwortungsbewusst.«

»Und warum haben Sie mich dann nie dazu befragt? Sondern mich lieber in die Klapse überwiesen? Gut, Sie haben mich über das Thema Verantwortung schreiben lassen. Sie alle« – Pia sieht die Deutsch-, die Psychologie- und die Philosophielehrerin an – »haben mir eine Eins gegeben. Aber niemand von Ihnen hat mich zu dieser Nacht befragt. Niemand. Warum?«

Betretenes Schweigen macht sich im Konferenzzimmer breit. Wie abgesprochen starren die Lehrer auf den Tisch, als läge dort eine Antwort auf Pias Frage.

»Ich möchte«, sagt Pia langsam, »noch einmal beantragen, in die dreizehnte Klasse versetzt zu werden. Trotz meiner hohen Fehlquote, weil ich … in Notwehr gehandelt habe.« Der letzte Satz legt sich wie eine Glasglocke über die knisternde Stille des Konferenzzimmers.

»Würden Sie bitte einen Moment draußen Platz nehmen? Ich rufe Sie in wenigen Minuten wieder herein«, durchbricht der Englischlehrer die Wand aus Schweigen, und fast erleichtert verlässt Pia den Raum.

Sie setzt sich auf die Bank, wo sie vor Jahrhunderten, scheint ihr, den Roman in die Ecke gefeuert hat. Wenn doch ihre Freundinnen hier wären, dann würde sie sich sicher nicht so elend fühlen.

Mit Phil hat sich doch noch alles zum Guten gewendet. Fast alles, korrigiert sich Pia. Sie ist nämlich nach wie vor schwer begeistert von Phil. Und muss immer noch ständig gegen die Schmetterlinge im Bauch ankämpfen, wenn sie sie ansieht. Und wenn sie mit ihr allein ist. Und wenn Phil Musik macht. Sie spielt Klavier und hat sogar schon Preise gewonnen, den ersten mit sechs Jahren! Seit zwei Wochen gibt es nicht einmal mehr einen Rainer in ihrem Leben. »Der wollte immer nur Sex«, hat sie Pia gestanden und sich sogar bei ihr entschuldigt für den verpatzten Nachmittag. Wie das kam, ist Pia schleierhaft – sie hätte sich eher die Zunge abgebissen, als mit ihr darüber zu reden. Genauso wenig spricht sie mit Phil über das, was sie für sie empfindet. Lieber nicht. Im Sportunterricht duscht Pia nie mit ihr zusammen. Und auch sonst versucht sie, immer einen Tisch oder etwas Ähnliches zwischen sich und Phil zu bringen. Auch Andrea und Nesè haben sich mit Phil angefreundet, weil sie ja wirklich toll ist. Und jetzt gehört sie zur Clique dazu. Hundert Pro.

»Sie können nun hereinkommen.« Mitten in ihre Grübeleien hinein hat der Englischlehrer die Tür geöffnet. Ihm ist überhaupt nicht anzusehen, was beschlossen wurde.

Pia atmet einmal tief durch, dann erhebt sie sich und folgt dem Lehrer zurück ins Konferenzzimmer.

»Unsere Entscheidung ist uns nach dem, was wir heute von Ihnen erfahren haben, nicht schwer gefallen.« Schwester Grisaldis hat offenbar ihre Fassung zurückgewonnen und sieht wieder die junge Erwachsene mit dem schwierigen Antrag vor sich. Sie schiebt irgendwelche Papiere von einer Tischecke zur anderen.

Nervös rutscht Pia auf ihrem Stuhl herum. Dass Erwachsene es immer so spannend machen müssen!

»Sie sind Ihren Noten nach in der Lage, die Klasse dreizehn zu schaffen. Ihre Fehlzeiten haben nicht Sie allein zu verantworten. Im Gegenteil. Ihre Flucht hatte schwer wiegende Gründe, die wir alle hier nachvollziehen können. Seit Sie wieder bei uns sind, haben Sie großen Einsatz und sehr viel Bereitschaft gezeigt, sich in unseren Alltag zu integrieren. Ihre Schulleistungen sind mehr als befriedigend. Sie haben so viel Stoff nachgeholt, dass wir Ihrer Versetzung in die Klasse dreizehn bedenkenlos zustimmen können. Und noch etwas, Pia. Ich bin sehr froh, dass Sie an unserer Schule sind. Und über Ihr Vertrauen in diese Lehrerkonferenz. Wir werden das Gehörte selbstverständlich in diesem Raum lassen. Über die Konsequenzen für …«, sie stockt kurz, »einige Schüler an dieser Schule werden wir nachdenken, aber das soll Sie nicht belasten. So, das ist für den Moment alles. Gehen Sie mit Ihren Freundinnen feiern.« Schwester Grisaldis nickt ihr aufmunternd zu.

»Danke«, sagt Pia.

»Hey, wie war’s?« Mit großen Fragezeichen in den Augen sitzen Nesè, Phil und Andrea auf der Bank.

»O Gott«. Nesè schluckt. »Sie haben deine Bitte abgelehnt!«

Pia atmet tief aus. »Nein, haben sie nicht.«

»Na, und warum jubelst du dann nicht?« Phil schüttelt fassungslos den Kopf. »Lieber Himmel, Pia, die haben dir gerade ein komplettes Jahr geschenkt. Und du guckst, als hätten sie dich drei Jahre zurückgestuft.« Sie umarmt Pia stürmisch.

»Nein, Phil … Tu das nicht.« Pia stößt Phil heftig zurück. Und bevor jemand etwas tun oder sagen kann, hat sie sich umgedreht und rennt. Nur weg hier, weg.

Ihre jagenden Schritte hallen an den Wänden der langen Schulflure wider. Warum hat Phil das gemacht? Hat sie nicht mitgekriegt, dass ich immer Abstand zu ihr halte? Wie kann sie es wagen, diese Grenze zu ignorieren! Die Fragen springen in ihrem Kopf wie Pingpongbälle hin und her.

Als Pia endlich aufhört zu rennen, hat sie schon Seitenstiche. Ihr Atem geht stoßweise und ihr Herz galoppiert. Ohne es zu merken, ist sie in die Regenstraße gelaufen. So nah ist sie der WG noch nie gekommen. Bisher hat sie immer einen Riesenbogen um das Haus gemacht, jetzt sind es nur noch zwei Schritte bis zur Eingangstür.

Was, wenn sie einfach klingelt?

Pias Labyrinth

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