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2. Kapitel

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September 1993

Mathematik ist ganz einfach. Die Zahlen tanzen einen wilden Reigen auf den Rechenkästchen. Rechnen ist wie zaubern, denkt Pia fasziniert, wie neue Welten erfinden. Das Tolle ist, dass es dabei feste Regeln gibt, die keiner, keiner einfach umwirft.

In der neuen Klasse kennt Pia noch niemanden. Das ist das einzig wirklich Traurige an ihrem Klassensprung. Zu gerne wäre sie weiter mit Lotte und Sophia in eine Klasse gegangen. Und mit Max. Wenn es dort nur nicht so schrecklich langweilig gewesen wäre.

Jetzt ist sie mit zehn Jahren schon in der sechsten Klasse, und die anderen Kinder sind mindestens ein Jahr älter. Das schüchtert Pia ein. Bei ihren ersten Arbeiten hatte sie großes Herzklopfen. Sie ist nicht mehr die Beste, aber keine Arbeit ist bisher schlechter als Drei. Englisch ist am schwersten, da fehlt ihr das erste Jahr. Aber sie liebt fremde Sprachen. Am liebsten will sie ab dem nächsten Jahr auch noch Spanisch lernen. Sprachen und Mathematik – das sind ihre Steckenpferde. Die Mathearbeit findet Pia superleicht. Sie will unbedingt studieren. Das wusste sie schon mit sechs. Bloß nicht so wie Mama leben, die nur zu Hause herumsitzt und auf die Kinder aufpasst, und auch nicht wie Papa, der jeden Tag in die Fabrik und danach in die Kneipe geht. Und Mama muss dann jeden Pfennig umdrehen, weil Papa den halben Lohn versäuft.

»Pia, kommst du bitte mit mir.«

Sie sieht erschrocken hoch. Wieso steht denn der Direktor vor ihr? »Ich schreibe gerade eine Mathematikarbeit.« Hilfesuchend sieht sie ihre Lehrerin an.

»Das ist schon in Ordnung. Du kannst deine Arbeit morgen zu Ende schreiben.«

Was geht hier vor? Krampfhaft überlegt sie, was sie angestellt haben könnte. Zum Direx muss man nicht ohne Grund. Ängstlich folgt sie ihm den langen Schulflur entlang.

Eigentlich wirkt er nicht wütend. Im Gegenteil, seine Stimme klingt ganz ruhig. Pia hat das Gefühl, ein Riesenwasserfall dröhnt an ihren Ohren vorbei. Sie versteht kein Wort von dem, was der Direktor erzählt. Sie war erst einmal bei ihm. Als sie die Klasse überspringen durfte. Auch da war er ausgesprochen nett zu ihr. Er wird sie doch heute nicht noch eine Klasse überspringen lassen?

»Komm herein, Pia.« Im Zimmer des Direktors sitzen schon einige Leute, und Pia sieht ihn fragend an.

»Das ist Frau Geritz vom Jugendamt, und das sind Polizeioberkommissar Benz und Frau Hauptkommissarin Gutenberg. Setz dich doch.«

Pia wird schwindelig. Jugendamt? Polizei? Oh Gott. Mechanisch setzt sie sich auf den hingeschobenen Stuhl.

»Wir sind hier, weil wir dir sagen wollen …« Die Stimme von Frau Geritz verliert sich irgendwo auf dem Weg zu Pia. »Dein Vater …« Wieder bricht ihre Stimme ab.

»Wir mussten deinen Vater heute Morgen verhaften, Kind«, sagt nun der Polizist.

Was? Sie haben Papa mitgenommen? Das muss ein Irrtum sein. »Nein.« Sie schüttelt heftig den Kopf.

»Hör zu, wir möchten dich von einer Ärztin untersuchen lassen. Frau Geritz wird bei dir sein, und dir wird nichts passieren.«

Pia schreit. Sie ballt ihre Hände zu Fäusten. Niemand wird sie von der Schule wegschleppen.

Sie geht einige Schritte auf den Direktor zu, der bleich hinter seinem Schreibtisch sitzt. Er sieht weg, als Pia vor ihm steht. »Herr Direktor«, flüstert sie.

»Pia, bitte«, sagt er tonlos. »Bitte geh mit. Es ist wichtig.«

»Und morgen darf ich meine Mathematikarbeit zu Ende schreiben?« Das ist gar nicht echt. Nur ein Spiel, sagt sich Pia verzweifelt.

»Ja, natürlich. Du hast doch gar nichts getan.« Jetzt sieht der Direktor sie doch an. »Geh heute mit, Pia, und morgen sehen wir uns wieder. Versprochen.« Er lächelt sogar, und Pias Herz beruhigt sich langsam.

Die Ärztin stellt fest, worüber Pia niemals sprechen wollte. Nur einmal hat sie versucht, es ihrer Mutter zu sagen. Doch als sie anfing zu weinen und den Finger auf ihre Lippen legte, schwieg Pia. Der Schmerz in ihren Augen war zu entsetzlich. Die Mutter wollte es nicht wissen.

»Dein Vater, er hat dir Gewalt angetan.« Die Stimme der Ärztin klingt bestürzt und ein bisschen wütend.

»Nein«, stammelt Pia. »Das ist nicht so schlimm. Wirklich. Papa soll nicht gehen.«

»Er muss gehen. So etwas darf ein Vater nicht tun.« Die Augen der Ärztin sind gütig.

Pia weiß nicht, was sie sagen soll. »Ich habe das niemandem erzählt«, flüstert sie plötzlich, und eine dicke Träne fällt auf ihre Jeans.

»Ich weiß«, antwortet die Ärztin, »du hast es nicht erzählt. Aber zwei andere Mädchen haben ihren Eltern erzählt, dass dein Vater auch ihnen Gewalt angetan hat. Die Eltern der beiden haben deinen Vater angezeigt.«

»Welche Mädchen?«, fragt Pia, obwohl sie die Antwort schon weiß.

»Lotte Andrews und Sophia Berg …« Pia rast einen Abgrund hinunter. Es wird schwarz um sie und sie stürzt, stürzt, stürzt.

Pia wird krank. Die Mathematikarbeit schreibt sie nie zu Ende. Drei Wochen liegt sie zu Hause im Bett. Nur Schweigen um sie, Schweigen und bleischwere Leere. Die Mutter sitzt manchmal stumm bei ihr. Der Vater darf bis zum Prozess zu Hause bleiben. Pia sieht ihn nicht, aber sie hört ihn mit der Mutter reden. Manchmal hört sie die beiden auch nachts. Dann stopft sie schnell ihre Kopfhörer in beide Ohren und hört laut Musik. Dieter, ihr kleiner Bruder, fängt plötzlich an zu stottern und wieder ins Bett zu pinkeln. Dabei ist er schon neun!

Frau Geritz vom Jugendamt kommt vorbei. Pia geht es noch immer nicht besser. Die Frau spricht lange mit Mama. Und am Abend hat Mama verweinte Augen. Stumm streichelt sie Pias Arm. Immer wieder. »Piaken, et tut mir so Leid. Ach, Piaken.« Das ist alles, was die Mutter sagt.

Als Frau Geritz das zweite Mal kommt, packt Mama Pias Sachen in einen großen Koffer. Warum? Ihr geht es doch seit einer Woche viel besser! Sie ist auch wieder zur Schule gegangen. Ein bisschen hat sich alles angefühlt wie in einem Traum. Sie fühlt sich befangen in der neuen Klasse. Die Verhaftung des Vaters hat in der Zeitung gestanden. Alle wissen es jetzt, und Pia kommt sich dreckig vor. Sie schämt sich entsetzlich. Sie findet keine Freunde in der Klasse. Auch mit Lotte und Sophia kann sie nicht mehr sprechen. Ein unüberwindbarer Graben liegt zwischen ihnen. Immer, wenn ihre Klassenkameraden die Köpfe zusammenstecken, reden sie bestimmt über sie. Pia fühlt sich nackt. Niemand spricht mit ihr über das, was in der Zeitung steht. Sie hat das Gefühl, alle behandeln sie, als hätte sie eine ansteckende Krankheit.

Nicht der Vater ist ins Gefängnis gekommen. Sie ist es, die eingemauert wurde an dem Tag, an dem der Direx sie aus ihrem neuen Klassenzimmer holte.

»Pia, dat Fräulein vom Jugendamt, dat bringt dich jetzt in ein schönet neuet Zimmer«, sagt die Mutter. »Dat is nich für immer«, fügt sie beschwörend hinzu, als Pia sich entsetzt unter dem Tisch versteckt wie vor vielen, vielen Jahren, wenn sich die Eltern gestritten haben.

»Mama, ich habe doch gar nichts getan.« Pia weint.

»Nein, Kind, natürlich nich.« Die Mutter sieht hilflos aus.

»Piaken, mein Kleinet, et is ja vielleicht nich für lang, aber glaub et mir. Dat is besser im Moment. Und du besuchst uns, ja, mein Kleinet?« Wieder sieht die Mutter sie so an wie damals, als Pia versuchte, ihr zu sagen, was der Vater mit ihr tat.

Pia krabbelt unter dem Tisch hervor. Nicht dieser Schmerz. Nein, nicht dieser Schmerz. »Ist ja gut, Mama«, sagt sie leise und streicht der Mutter über die Hand. »Ich hab dich lieb, Mama.«

Die Mutter nimmt Pia in die Arme. »Ich liebe dich, Kleinet«, sagt sie.

»Ich weiß, Mama, ich weiß.«

Im Keller ist es totenstill. Pia sieht unsicher von Andrea, die sich neben sie gesetzt hat, zu Nesè und zurück.

Nesè wischt sich eine Träne aus den Augenwinkeln. »Scheiße«, murmelt sie.

Pia spürt erst jetzt, dass Andrea den Arm um sie gelegt hat und vorsichtig ihren Rücken streichelt.

»Danke für dein Vertrauen«, sagt Andrea.

Gut, dass sie es den beiden erzählt hat. Nur was hat sie eigentlich gesagt? Sie räuspert sich, und Andreas Hand auf ihrem Rücken verharrt in der Bewegung.

»Das ist komisch gewesen mit dem Erzählen«, sagt Pia und ihre Stimme krächzt.

»Was meinst du mit komisch?«, fragt Andrea.

»Es ist schwer zu erklären. Es fühlt sich an wie … wie ein Sprung zurück in meine Geschichte. Ein Zeitsprung sozusagen. Diese Zeit«, fährt sie plötzlich atemlos fort, »kommt zurück, als würde alles noch einmal geschehen, genau so wie es vor über fünf Jahren war.«

Andrea nippt an ihrem Glas. »Stimmt, jetzt wo du es sagt, fällt es mir auch auf. Ich habe die Szenen, die du beschrieben hast, ganz deutlich vor mir gesehen.«

»Ging mir genauso.« Nesè wischt sich noch einmal über die Augen. »Es dauert vielleicht, bis du mal redest. Aber wenn du es dann tust, geht es einem verdammt nah«.

»Jetzt reden wir von etwas anderem, ja? Sonst platz ich vor Verlegenheit«, bittet Pia.

»Unser Zusammenwohnen ist übrigens megaklasse, erwähnte ich das schon?«, wechselt Andrea sofort das Thema.

»Nee, tatest du nicht«, grinst Nesè. »Dann seid ihr wohl jetzt ein Liebespaar?«

Pia fährt erschrocken hoch.

»Aua.« Andrea hält sich das Kinn. »Ich hätte mir fast die Zunge abgebissen.« Tränen schießen ihr in die Augen.

»Oh, Mann, Andrea, entschuldige.« Wütend funkelt Pia Nesè an, doch die grinst weiter. »Freut dich wohl«, faucht sie und versteht selbst nicht, wieso sie so auf Nesès Provokation abfährt.

»Bleib cool«, meint Nesè. »Es gibt Schlimmeres als sich in ein Mädchen zu verlieben.«

Pia kneift die Augen zusammen. »Was soll das denn heißen?«

»Dass du manchmal ganz schön impulsiv bist, zum Beispiel.«

Pia wirft mit einer Salzstange nach ihr. Ihr Ärger ist genauso plötzlich verflogen, wie er aufgeflammt war.

»Klar sind wir ein Liebespaar«, schmunzelt Andrea. »So wie die Mädchen aus der Regenstraße.«

»Die Mädchen aus der Regenstraße sind andersrum?« Wieso wissen immer alle Bescheid, nur sie nicht? Pia rutscht unruhig auf der Couch hin und her. »Nun sag doch mal«, bohrt sie. »Woher weißt du das?«

»Erstens bin ich mit Hannelies befreundet, und die wohnt ja da, und zweitens hab ich Augen im Kopf.«

»Alle Mädchen?« Pia kann es nicht fassen.

»Nein, nicht alle Mädchen, aber mindestens zwei«, gibt Andrea bereitwillig Auskunft. »Eine ist mit einem Mädchen hier aus dem Internat zusammen und die andere hat eine Freundin in Köln.«

»Also«, sagt Pia langsam, »für mich wäre das nichts.« Die Worte tun ihr weh, aber sie muss sie sagen. Unbedingt!

»Wie spät ist es eigentlich?«, unterbricht Nesè und sieht lässig auf ihre Uhr. »Oh-oh, schon Viertel nach zehn. Ich muss mich jetzt an der ollen Libora vorbeischleichen, während ihr weit weg von Schwester Arnoldis laut pfeifend in euer gemeinsames Zimmer spazieren könnt.« Sie zieht einen Schmollmund.

»Bald kommst du auch raus aus der Horrorgruppe«, tröstet Pia sie, und Nesè steht ächzend auf.

»Okay, ich werde der Libora sagen, dass du mich dazu verführt hast, gegen die Hausordnung zu verstoßen. Dagegen spricht doch wohl nichts?« Nesè zieht die rechte Augenbraue hoch. Das kann keine so gut wie sie.

»Kein Problem«, steigt Pia ein. »Mehr unten durch kann ich bei der gar nicht sein.«

»Sie hat dich in die Psychiatrie gebracht?«, schaltet Nesè sofort.

»Wer sonst?« Pia ist aufgestanden und hält Andrea ihre Hände hin. »Na los, altes Faultier. Ich helf dir hoch.«

Als Pia im Bett liegt, geht ihr Nesès Frage durch den Kopf. Andrea und sie ein Liebespaar? Vorsichtig schielt sie zu ihrer Freundin hinüber, die tief und fest schläft.

Wie ist Nesè darauf gekommen? Und wieso hat sie darauf so heftig reagiert? Irgendwie hat sie sich ertappt gefühlt. Bescheuert, wieso ertappt? Zwischen ihr und Andrea spielt sich überhaupt nichts ab. Nichts jedenfalls, was mit Liebespaar zu tun hat. Pia schüttelt den Kopf. Und dann fällt ihr das neue Mädchen wieder ein. Phil!

Plötzlich sieht sie Phils Gesicht wieder genau vor sich, und ihr wird heiß. Erschrocken versucht Pia das Bild abzuschütteln. Katzengrüne Augen, etwas schräg gestellt, und Tausende von Sommersprossen, die einen wilden Tanz vollführen, wenn sie lacht. Und die dunkelbraunen Locken erst. Pia denkt an Phils Hände. Wie sie Brot bestreichen, eine Locke hinters Ohr stecken, einen Ball auffangen und wieder wegwerfen, wie sie ihre Worte mit Gesten untermalen.

Wie sie ihre Haut streicheln. Eine heiße Welle steigt Pia in den Kopf und sie spürt ihre Mitte feucht werden. Sie ist verwirrt. Verwirrt und glücklich. Vorsichtig tasten ihre Finger sich nach dorthin vor. Sie schließt die Augen. Stellt sich Phils Hände vor. Als sie aufstöhnt, reißt sie erschrocken die Augen auf. Hat Andrea sich gerade bewegt? Pias Herz galoppiert. Nein, Andrea atmet genauso ruhig und gleichmäßig weiter wie vorhin.

In der Bravo steht fast jede Woche irgendwas über Selbstbefriedigung. Sie betonen immer, wie normal das ist. Und wie normal erotische Phantasien sind. Pia ist sich nicht sicher, ob die Bravo das auch noch findet, wenn ein Mädchen sich vorstellt, von einem Mädchen angefasst zu werden. Sie will nicht aufhören sich zu streicheln. Vielleicht müsste sie sich mit Händen und Füßen dagegen wehren. Morgen, tröstet sie sich. Morgen kann sie immer noch darüber nachdenken, ob sie jetzt pervers ist oder einfach nur die nächste Kandidatin für die Regenstraße.

Pias Labyrinth

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