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3. Kapitel

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Ende März 1999

»Pia, wach endlich auf.« Andrea steht schon völlig angezogen vor ihr. »Das ist das dritte Mal, dass ich dich wecke. Das Frühstück hat vor fünf Minuten angefangen und ich habe mächtig Hunger.«

»Alles klar, bin schon im Bad. Reservierst du mir ’nen Kaffee, sonst steh ich den Tag nicht durch.«

Atemlos und mit nassen Haaren taucht sie zehn Minuten nach Andrea im Speisesaal auf. Hey, wieso sitzt du denn heute auf meinem Platz, will sie gerade zu Gudrun sagen, als sie bemerkt, dass der Platz neben Phil dadurch frei geworden ist. Für eine Sekunde setzt ihr Herz aus und sie beißt sich auf die Zunge. »Guten Morgen, Gudrun«, schaltet sie um. »Ich setz mich dann einfach auf deinen Platz.«

Schwester Arnoldis wirft ihr einen ärgerlichen Blick zu, und Pia lässt sich schnell auf den freien Stuhl fallen.

»Hey, hast wohl verschlafen.«

Diese Augen. Pia spürt, wie sie knallrot wird. »Ja, war ’ne anstrengende Nacht«, würgt sie hervor. Als sie sich Kaffee eingießen will, rutscht ihr die Kanne aus den schweißnassen Händen und ein Schwall ergießt sich über Pia, Phil und das weiße Tischtuch. »Oh nein, das tut mir Leid. So ein Mist.« Hektisch versucht Pia, den Schaden an Phil mit einem Tempo wieder gutzumachen. Sie bloß dabei nicht ansehen. Vor Scham würde sie am liebsten im Boden versinken. Als sich ihre Blicke doch treffen, lachen Phils Augen. Sie ist offensichtlich amüsiert. Pia setzt sich erst mal hin.

»Sehr erfreut, dich kennen zu lernen«, sagt Phil. »Diese Hose konnte ich noch nie leiden. Ich zieh sie nur an, damit sie sich nicht so schlecht fühlt, denn schließlich kann sie ja nichts für meinen Geschmack.«

Was für ein merkwürdiger Gedanke. Als könnten Gegenstände denken oder fühlen. »Ich finde, du siehst toll darin aus.« Mein Gott, was bin ich nur für ein Idiot. Erschrocken stellt Pia fest, dass sie schon wieder knallrot wird. Pia Drews, am besten, du hältst einfach deine Klappe. Redest nicht und bewegst dich nicht.

»Die Hose gefällt dir?«

Pia nickt vorsichtig. Sie steht Phil total gut, echt. Dunkelbrauner Cordstoff, unten ein Riesenschlag, aber oben hauteng.

»Willst du sie haben?«, erkundigt sich Phil.

»Nee, nee, mir steht so was nicht«, wehrt Pia ab. Sie trägt immer Bluejeans. Röhrenschnitt. Und irgendwelche langen Oberteile. Figurbetont? Nie im Leben!

»Ach, aber an mir gefällt sie dir?«

Pia nickt nochmals.

Phil beißt von ihrem Brötchen ab.

Pia weiß nicht mehr, was sie sagen soll. Sie trinkt schnell ihren Kaffee, schüttet sich noch einen zweiten ein. Hunger hat sie überhaupt nicht. Sie schmiert sich trotzdem ein Brot, nur um etwas in den Mund stecken zu können. Mit vollem Mund muss man bekanntlich nicht reden.

»Hast du heute Nachmittag schon etwas vor?«, fragt Phil, und Pia schüttelt heftig den Kopf, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken. »Spielst du Tischtennis?«, will die Neue wissen.

Pia nickt.

»Treffen wir uns heute Nachmittag?«

Wieder ein Nicken.

»Hast du irgendwie auch eine Stimme?«

»Ja, ich, klar, natürlich. Also, wie wär’s um drei?«

Phil ist einverstanden.

Pia fühlt die Blicke aller Mädchen auf sich gerichtet. Sie werden sich bestimmt das Maul zerreißen. »Unten am Portal und dann gehen wir zuerst in die Stadt. Du bist doch neu hier. Und zum Schluss gehen wir ins Jugendzentrum.« Bloß keine Zuschauerinnen im Internat. Das überlebt Pia nicht.

»Ich habe gehört, dass es hier sehr gute Platten gibt. Sowohl in der Außenanlage als auch im Keller.«

»Nee. Nee, du. Die im Jugendzentrum, die sind um Klassen besser. Und die Kellen dort sind der Hammer«, beeilt sich Pia zu versichern.

»Na ja, du wirst das beurteilen können.«

Von wegen. Die besten Platten im ganzen Ort sind genau hier im Internat, und unter Drei-Sterne-Kellen läuft gar nichts, denkt Pia. Aber das kann sie Phil irgendwann erklären.

»Warst du schon mal beim Mädchentag?« Phil hat sich noch vor Schulbeginn umgezogen. Sie trägt jetzt einen schwarzen Minirock und Turnschuhe.

Pia ist hingerissen. »Ja, zwei-, dreimal. Aber es ist echt öde. Die Mädchen sitzen nur rum und reden über Jungs oder Schminke, und die Pädagogin versucht dann, auf irgendwas anderes abzulenken. Ich meine, wer drauf steht …« Pia zuckt mit den Schultern.

»Und worüber würdest du dich gern unterhalten?«, fragt Phil. Und hat prompt Pias Schmetterball verpasst. »Das war aber nicht fair.« Richtig sauer ist sie nicht. »Cola?«, fragt sie stattdessen.

»Oh ja, Cola und kurze Pause.«

»Aber nicht umschütten, okay?«

Schon wieder wird Pia rot. Vor der Theke steht sie ganz nah neben Phil. Sie kann sie fast berühren. Pia hält sich sicherheitshalber an dem schwarz lackierten Holz fest. Ihre Beine fühlen sich wie Pudding an.

Phil scheint es nicht so zu gehen. Sie trägt beide Gläser ganz selbstverständlich zu einem der kleinen wackligen Holztische, ohne dass auch nur ein einziger Tropfen danebengeht. Und dabei hat der Junge am Tresen beide bis zum Rand gefüllt. Kein Wunder, so wie Phil ihn angeflirtet hat. Und so wie sie aussieht. Phil flirtet anscheinend gern.

Kaum sitzen sie, kommt der Thekenjunge auch schon auf sie zu. »Kann ich noch irgendwas für dich tun?«

Pia beachtet er gar nicht. Kein Junge beachtet sie. Das fällt ihr heute zum ersten Mal auf. Na ja, schließlich trägt sie keine Miniröcke. Und sie flirtet auch nicht.

Halb fasziniert und halb verärgert beobachtet Pia die beiden. Für die scheint sie überhaupt nicht mehr zu existieren. Jetzt fordert der Junge Phil auch noch zu einer Runde Tischtennis auf.

»Pia, du hast doch nichts dagegen, wenn ich mit Rainer ein Match austrage?«

Soll sie schreien, um sich schlagen, ihn zusammentreten? »Natürlich nicht«, gibt sie nervös zurück.

Pia weiß plötzlich nicht mehr, wohin mit ihren Händen, ihren Füßen. Obwohl es ihr wehtut, Phil flirten zu sehen, kann sie nicht weggucken. Und schon gar nicht gehen. Sonst ist der Laden hier immer brechend voll, und heute? Kein Schwein lässt sich sehen. Vielleicht sollte sie etwas bestellen, schließlich muss der Typ sie bedienen. Langsam schlendert sie die paar Schritte zur Tischtennisplatte. »Ich will noch ’ne Cola.«

»Bedien dich einfach selbst, okay? Du siehst ja, ich bin beschäftigt.«

Vor Wut bleibt Pia fast die Luft weg. Sie schnappt sich hinter der Theke ein Glas, überlegt kurz, alles in Schutt und Asche zu legen, bückt sich dann aber nur, um die Cola aus dem Kühlschrank zu holen. Als sie wieder hochkommt, sind Rainer und Phil verschwunden.

Wo sind die in den paar Sekunden hin? Spinnt die, sich einfach davonzumachen? Pia knallt das Glas wütend auf die Theke und die Flasche landet mit einem Knall in der Spüle. Was, wenn der Typ grade irgendwas mit ihr macht? Vielleicht hat er sie ja auch in eine dunkle Ecke gezerrt und …

Pia sieht sich beunruhigt um. Sie kann jedenfalls nicht ohne Phil zurück ins Internat. Schließlich sind sie zusammen hergekommen. Wenn sie Phil gefunden hat, kann sie ihr immer noch die Meinung sagen.

Sie versucht sich zu erinnern, wo im Jugendzentrum welche Räume liegen. Links die Mädchenklos, daneben die Disco. Pia schleicht in die Toilette. »Phil, bist du hier?«, ruft sie leise. Sie geht von Kabine zu Kabine. Im Mädchenklo ist niemand.

Sie geht weiter bis zur Disco. Ein Lichtschein fällt durch die nur angelehnte Tür. Pia hört leise Musik. Vorsichtig öffnet sie die Tür einen Spalt weiter. Da läuft ihr Lieblingsstück von Mariah Carey. Pia schlüpft schnell hinein.

Die Lichter tauchen den dämmrigen Raum in Discostimmung. Endlich erkennt sie direkt vor sich einen Pfeiler, weiter links eine Art Sitztribüne. Sie tastet sich dorthin vor und setzt sich auf die äußerste Kante. Die Tanzfläche ist leer. Seltsam, irgendjemand muss die Beleuchtung und die Anlage doch angeworfen haben? Suchend lässt Pia ihren Blick durch den Raum wandern. Nein, niemand zu sehen.

Das Stück ist zu Ende. Die plötzliche Stille ist gespenstisch, und Pia hält automatisch den Atem an. War da nicht grade ein Lachen? Ja, eindeutig. Phils Lachen. Aber von wo kommt es?

Die Musik setzt wieder ein. Noch mal das gleiche Stück. Plötzlich entdeckt Pia eine kleine Kabine hinter der Tanzfläche. Die Anlage und das Mischpult sind dort eingeschlossen. Ein Raum, gerade groß genug für zwei.

Die Tür öffnet sich und Pia rutscht instinktiv etwas weiter Richtung Ausgang. Fast verliert sie das Gleichgewicht.

Rainer und Phil gehen Hand in Hand in die Mitte der Tanzfläche. Rainer legt seinen Arm um sie und sie rückt nah an ihn heran. Er zieht sie noch näher zu sich. Die beiden Körper bewegen sich rhythmisch und eng zusammen. Phil schmiegt sich an den Jungen. Ihr Kopf ruht auf seiner Schulter. Willig lässt sie sich von ihm führen. Seine Hand gleitet langsam an ihrem Rücken hinunter. Davon, dass Phil sich wehrt, kann keine Rede sein. Im Gegenteil. Seine Hand hat jetzt ihren Po erreicht.

Pia hält sich krampfhaft an der Kante der Tribüne fest. Sie müsste verschwinden, raus aus dem Laden. Aber sie ist wie gelähmt. Sie kann ihre Augen nicht von dem Paar lassen. Widerwillen mischt sich mit Faszination. Es erregt sie, Phil so zu sehen.

Seine Hand streichelt ihren Po.

Plötzlich legt Phil ihren Kopf in den Nacken und lässt sich von ihm küssen. Sie drängt sich weiter an ihn und er küsst sie immer wilder.

Als er ein Bein zwischen ihre schiebt und sie ihn weiterküsst, stürzt Pia aus der Disco.

Tränenüberströmt rennt sie den ganzen Weg bis zum Internat. Ihr Herz rast, ihre Hände zittern, in ihr ein einziger Schrei. Es tut so weh, dass sie glaubt, in der Mitte zerrissen zu werden.

Andrea ist zum Glück nicht da, und Pia legt sich aufs Bett. Ihr Körper fühlt sich heiß an, aber sie friert. Erst als sie unter ihrer Bettdecke liegt und noch eine Wolldecke über sich geworfen hat, wird ihr langsam wärmer.

Sie ist wütend auf sich selbst, auf Phil und wieder auf sich selbst.

Natürlich will Phil, dass ein Junge sie anfasst. Das ist schließlich normal. Was ist nur in sie gefahren? Und wieso regt sie sich darüber auf? Richtig, sie war mit Phil zum Tischtennisspielen verabredet. Phil hat sie sogar dazu eingeladen. Vielleicht ja nur, um den erstbesten Typen aufzureißen. Sind eigentlich außer Andrea und Nesè alle Mädchen so?

Wieso hat Nesè sie gefragt, ob sie und Andrea ein Liebespaar sind? Pia stellt sich Andreas Gesicht vor. Ihre Hände, ihr Lachen. Wie sie den Schulflur entlangläuft. Bei schwierigen Aufgaben auf ihrem Füller kaut. Immer wieder schiebt sich das Gesicht von Phil dazwischen.

Andrea löst nicht solche Gefühle in Pia aus. Sie versucht es mit Nesè. Aber auch sie ist einfach nur eine gute Freundin, nicht mehr.

Pia ist verwirrt. Es hat sie erregt, Phil so erotisch zu sehen. Gleichzeitig schämt sie sich, eine so sexuelle Szene auch noch erregend zu finden. Und ist wütend, dass Phil sie auf diese miese Art hat sitzen lassen.

Dabei sieht der Typ nicht mal besonders gut aus. Na ja. Eigentlich, muss sie zugeben, sieht der Typ sogar ziemlich gut aus. Aber muss Phil sich deswegen so an ihn ranschmeißen? Die kennen sich doch gar nicht. Wer weiß, vielleicht haben sie es schon getan? Auf der Tanzfläche oder in der Kabine oder auf einer der Couchs. Es – das, was die Bravo jede Woche auf etlichen Seiten beschreibt. Als ob Mädchen nur im Kopf hätten, wann sie ihn wo und wie dazu kriegen, dass er dieses Ding in sie reinsteckt.

Die Nonnen halten die Bravo ja für Teufelszeug. Pia nicht. Obwohl sie gerade genauso moralisch denkt, wie die Nonnen reden. Bei den anderen Mädchen ist es ihr egal. Aber nicht bei Phil.

»Hey, worüber brütest du denn? Ich dachte, du bist mit Phil im –« Die letzten Worte bleiben Andrea im Hals stecken.

»Und ich dachte, du bist beim Basketball?«

»War ich auch. Aber jetzt bin ich hier.« Andrea setzt sich ans Fußende von Pias Bett. »Bist du krank oder was?«

»Nee, hab bloß einen beschissenen Nachmittag hinter mir.«

»Wieso? Habt ihr euch gestritten?«

»Nein.« Pia starrt die Wolldecke an.

»Was denn dann?«

Pia starrt weiter dumpf ins Leere. Sie will nicht reden. Reden macht alles nur schlimmer.

Außerdem, was ist schon dabei? Phil hat mit ’nem Jungen rumgemacht. Das ist ja wohl nicht verboten. Und geht sie im Übrigen auch gar nichts an. Schließlich kann sie nicht erwarten, dass Phil weiß, dass sie, dass sie …

»Pia, gestern hast du endlich mal was von dir erzählt. Und jetzt sitzt du schon wieder vor mir, als wärst du gar nicht richtig da. Wo bist du, wenn du Löcher in die Luft starrst?«

»Ich denke nach.« Pia setzt sich im Schneidersitz auf ihr Bett. Seit Andrea am Fußende sitzt, ist ihr wärmer geworden.

»Und worüber denkst du nach?«

»Na ja. Über mich, meine Gefühle, über andere Menschen und was sie wohl denken und fühlen. Solche Sachen halt.«

»Ganz ehrlich, damit kann ich überhaupt nichts anfangen. Geht’s auch konkreter?«

»Na, zum Beispiel frage ich mich, was du von mir hältst.«

»Das solltest du lieber mich fragen«, grinst Andrea. »Wovor hast du eigentlich solche Angst?«

»Weiß nicht«, murmelt Pia.

»Selbst wenn deine schlimmsten Befürchtungen wahr werden, ist es immer besser zu wissen, was die anderen denken, sonst kannst du doch gar nicht handeln.«

»So was Ähnliches hat mir Michael auch schon gesagt«, bemerkt Pia verblüfft.

»Wer ist denn Michael?«

»Eine lange Geschichte. Erzähl ich dir mal irgendwann.«

»Also, sind wir jetzt Freundinnen oder nicht?«

Pia nickt.

»Okay.« Andreas Stimme klingt klar, aber auch angespannt. »Schon an der Tür habe ich gesehen, dass irgendetwas mit dir absolut nicht in Ordnung ist. Und langsam fängt es an, mir wehzutun, dass du mich wie eine Feindin siehst. Wie jemand, dem du keinen Millimeter trauen kannst. Warum erzählst du mir nicht einfach, was passiert ist?«

Pia fühlt Tränen die Wange hinunterlaufen. Sie möchte sich bei Andrea anlehnen und weinen, weinen, weinen.

»Pia, was denkst du gerade? Los sag, ohne nachzudenken«, fordert Andrea.

»Dass mir zum Heulen ist und dass ich, dass ich am liebsten …« Pia verstummt.

»Dass du am liebsten was?« Andreas Stimme klingt sanft, kein bisschen mehr wütend.

»Mich bei dir ausheulen würde«, flüstert Pia.

»Also, dann komm schon her, kleine Pia.« Andrea lächelt.

Pia kuschelt sich an sie und die Tränen fließen aus ihr heraus.

Als sie anfängt zu reden, ist es draußen schon fast dunkel. Sie erzählt Andrea die ganze Geschichte vom verpatzten Nachmittag.

»Also, die kommt nicht in unseren Club, wenn sie dich so behandelt«, sagt Andrea entschieden.

Pia druckst herum.

»Ist noch was anderes passiert?« Andrea setzt sich aufrecht hin.

»Wieso hat Nesè uns gefragt, ob wir ein Paar sind?«, platzt Pia heraus.

»Weiß nicht. Hätte ja sein können, wo wir so viel zusammenstecken und in einem Zimmer wohnen. Warum nicht?«

»Na ja, das ist doch …«, Pia sucht nach Worten.

»Nicht normal?«, hilft Andrea weiter.

»Genau.«

»Pia, du denkst zu viel darüber nach, was andere Leute von dir halten könnten. Das ist doch total überflüssig. Wenn ich mich in dich verlieben würde, na und? Wäre doch klasse.«

»Du bist doch nicht wirklich in mich verliebt?«, sagt Pia erschrocken. So wollte sie es nicht rüberbringen, aber jetzt ist es passiert.

»Nein, ich bin in Ramon verliebt, schon vergessen? Und er auch in mich.«

»Hast du dich schon mal … ich meine … in ein Mädchen verliebt?«

»Nein«, sagt Andrea. »Ich glaube, ich bin einfach keine Lesbe. Ich verliebe mich in Jungs. Nicht in alle natürlich«, fügt sie scherzend hinzu. »Nur in die tollen.«

»Und wie fühlt sich das an?« Pia rückt ein bisschen von Andrea weg und macht die Nachttischlampe an. »Damit ich dich besser sehen kann«, grinst sie verlegen.

»Gut, mein Wolf.« Andrea grinst zurück. »Tja, das fühlt sich toll an.« Ein verträumtes Glitzern mischt sich in die leuchtenden Augen. »Als er vorsichtig meine Hand genommen hat, hat es bei mir gefunkt, als hätte ein Blitz eingeschlagen.«

»Wie? Gefunkt?«

»Meine Knie sind weich geworden, mein Herz begann zu rasen, meine Hände haben gezittert. Und dann dieses Ziehen im Bauch. Wie tausend Ameisen, die darin herumkrabbeln. Und schwindlig war mir. Das ist mir noch immer, wenn er mich ansieht.«

»Aha«, sagt Pia gedehnt. »Und das ist Verliebtsein?«

»Pia, jetzt sag bloß, du warst noch nie verliebt?« Überrascht mustert Andrea sie.

Pia guckt schnell weg.

»Ach so, jetzt verstehe ich. Du hast dich verliebt! Na, erzähl schon, wie heißt er, wie sieht er aus, wo und wann hast du ihn kennen gelernt?«

Pia schüttelt stumm den Kopf. Wieder rollen ihr Tränen über die Wangen.

»Unglücklich verliebt?« Andrea streichelt sanft Pias Arm.

Pia nickt.

»Dann erst recht darüber reden.«

Pia schüttelt wieder den Kopf.

»Doch, Pia, das von Phil hast du mir doch auch erzählt, obwohl du es zuerst nicht wolltest.«

Pia sieht sie entsetzt an.

»Ach du Scheiße«, entfährt es Andrea. Sie kneift die Augen zusammen und eine steile Falte bildet sich auf ihrer Stirn. »Phil! Du hast dich in Phil verliebt?«

Pia zuckt zusammen. »Ich weiß nicht. Wirklich nicht.«

»Wolltest du deshalb wissen, ob ich schon mal in ein Mädchen verliebt war?«

»Vielleicht.« Pia zögert. »Mich ödet es jedenfalls schon seit Jahren an, wie die Mädchen um die Jungen rumschleichen. Nur noch daran denken. Aber deshalb bin ich noch lange nicht andersrum«, schließt sie trotzig.

»Richtig«, stellt Andrea fest. »Ich mag auch nicht, wenn Mädchen so sind.« Nachdenklich spielt sie mit Pias kleinem Kuscheltiger. »Ich bin nicht so wie die meisten Mädchen«, fügt sie hinzu.

»Ich weiß«, sagt Pia. »Deshalb mag ich dich ja so gern. Aber warum bist du anders?«

»Na ja, ich lebe in verschiedenen Kulturen, bin keine Deutsche.«

»Ist deshalb auch Nesè anders?«

»Gut möglich. Und du, Pia, was macht dich anders?«

»Darüber denke ich schon seit unserem Kellergespräch nach. Keine Ahnung, wie die Situation in Kolumbien ist, hier in Deutschland jedenfalls werden Riesenunterschiede zwischen Menschen aus der Mittelschicht und Menschen aus der Arbeiterschicht gemacht.«

»Ich dachte mir schon, dass mehr dahinter steckt als du gestern verraten hast«, bemerkt Andrea.

»Die Mädchen hier stammen aus reichen Elternhäusern. Aus der Arbeiterschicht zu kommen bedeutet für sie wahrscheinlich so was Ähnliches wie aus der Türkei zu sein oder aus Kolumbien. Verstehst du? Sie nehmen sich das Recht heraus, auf mich runterzugucken, genauso wie bei dir und Nesè. Meine Art des Andersseins unterscheidet sich von deiner, und Nesè ist noch mal eigen. Wir alle drei sind unterschiedlich, aber von den Mädchen hier werden wir einfach in einen Topf geworfen und ausgegrenzt. Das Internat hat mich sozusagen dafür sensibilisiert, den Mist zu sehen, den sie mit Anderssein verbinden.«

»Wow«, Andrea nickt anerkennend, »hört sich verdammt plausibel an.« Nachdenklich kaut sie auf einer ihrer Haarsträhnen. »Und was machen wir mit Phil?«

»Ich werde abwarten, was sie sagt. Und dann … mal schauen«, wirft Pia vage in den Raum.

»Gehen wir essen«, entscheidet Andrea.

Im Flur zu den Esssälen kommt ihnen Nesè entgegen. »Ich hab gerade Phil getroffen, die sucht dich schon seit Stunden.«

»Da lachen ja die Hühner«, schnaubt Pia. »Sie hat sich nicht an unsere Verabredung gehalten, ich schon.«

Nesè wechselt verwirrte Blicke mit Andrea. »Bahnhof«, sagt sie.

»Kann ich dir so schnell auch nicht erklären«, sagt Andrea entschuldigend.

»Pia, setzt du dich neben mich?« Phil macht ein ernstes Gesicht.

Was soll sie tun? Sie kann den Nachmittag doch nicht einfach ignorieren? Zögernd lässt sie sich auf dem freien Stuhl nieder.

»Ich hab überall nach dir gesucht«, bemerkt Phil.

»Ich vorher nach dir«, kontert Pia und ist ganz froh, dass ihre Stimme wütend klingt.

»Ich hab mir nur mal kurz die Diskothek angesehen, war das etwa nicht erlaubt?«

»Und dein neuer Lover heißt wohl Rainer?« Pia kann sich die Bemerkung einfach nicht verkneifen.

»Und selbst wenn, das hat dich überhaupt nicht zu interessieren«, zischt Phil. »Wie kommst du überhaupt darauf? Nur weil ich ein bisschen Tischtennis mit ihm gespielt habe und mir habe die Diskothek zeigen lassen?«

»Ach so nennt man das also. Disco zeigen.« Im gleichen Augenblick verwünscht sie sich. Vorwurfsvoller hätten ihre Eltern auch nicht reagieren können.

»Du hörst dich ja schlimmer an als meine Mutter.«

»Ich weiß«, sagt Pia.

»Also willst du jetzt mit mir reden oder nicht?« Phil funkelt sie wütend an.

Und wie Pia mit ihr reden möchte. Sie sieht Phil an. Phil ist immer noch so schön, dass ihr davon ganz schwindlig wird. Sie hört Andrea Verliebtheitsgefühle beschreiben und würde Phil am liebsten gleichzeitig schütteln. Entsetzlich! Ihr Herz rast, ihre Hände zittern. Sie versteckt sie schnell unter dem Abendbrottisch. »Ich habe euch gesehen in der Disco«, sagt sie schließlich mit erstickter Stimme.

»Du hast mir nachspioniert?« Phil schreit so laut, dass alle es hören.

»Nein, verdammt, wir waren schlicht und ergreifend verabredet und ich wollte nur wissen, wo du bist«, schreit Pia zurück. »Das ist ja wohl normal, oder?« Wütend knallt sie ihr Brotmesser auf den Tisch und verlässt den Esssaal.

Pias Labyrinth

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