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Das Casting

„Ich bin unsichtbar.“

Während Konstantin im Warteraum der Modelagentur auf das tote Display seines Smartphones starrte, stürzte der Satz plötzlich aus seinem Mund. Diese drei Worte schienen alles zu erklären. Die Tatsache, dass Antonia ihm zum sechzehnten Geburtstag LED-Handschuhe und ein tailliertes T-Shirt mit Superman-Motiv geschenkt hatte. Dass er sich seit Wochen morgens übergab und ständig an Gewicht verlor. Die beiden Slips mit Schleifchen unter seinem Bett. Den Streit seiner Eltern über den Austritt aus dem Schwimmverein. Dass YouTube ihm neuerdings Schminktutorials empfahl. Die Silvesterparty einer Klassenkameradin, bei der er um Mitternacht in Lederklamotten auf einem Schneehaufen gehockt hatte, während neben ihm zwei bekiffte Filmstudenten darüber philosophierten, welche Sorte Mädchen am besten blasen konnte. Und nun vor einer Woche im „Matrix“ diese völlig bescheuerte Einladung zum Modelcasting. Drei Worte, sechzehn Buchstaben, waren der perfekte Grund dafür, dass sein Leben von allen unbemerkt aus der Spur lief.

„Sascha kommt gleich.“

Das blasse, langhaarige Mädchen mit den Okapiaugen, das ihn aus seinen Gedanken riss, war kaum älter als er. Sie trug einen Minirock und ein T-Shirt mit der Aufschrift „Ultraviolence“. Artig bedankte sich Konstantin für das große Glas Wasser, das sie mit einem kühlen Lächeln vor ihm auf den Marmortisch stellte, bevor sie auf ihren zehn Zentimeter hohen Gladiator-High-Heels zurück zum Empfang stolzierte. Er nippte an dem Wasser und lauschte, wie das Mädchen auf Englisch wegen einer Hotelbuchung für die Berlin Fashion Week telefonierte. Hinter der Fensterwand zeichnete die dunstige Januarsonne den Umriss der Skyline in den Horizont. Elf Stockwerke tiefer staute sich der Nachmittagsverkehr.

„Konstantin?“

Er fuhr herum. Vor ihm stand Sascha Petrenko.

„Schön, dass du noch gekommen bist.“

„Mein Zug ist ausgefallen. Ich hätte angerufen, aber mein Akku ist kaputt.“

„Du bist heute nicht der Einzige, der zu spät ist. Ein Scout hat sich mit der Uhrzeit vertan. Unser Fotograf hat gerade erst angefangen.“

Sie gaben sich die Hand. Sascha trug einen Designeranzug mit silberner Krawatte und bändigte seine Korkenzieherlocken mit einem Haargummi. Er wirkte älter als bei ihrer ersten Begegnung im Club und deutlich angespannter.

„Ich zeig dir erst mal ein bisschen was von Chrome. Nimm dein Wasser mit, wenn du willst.“

Konstantin steckte sein Smartphone ein, nahm das Glas und folgte Sascha durch die Agentur. Von den Wänden strahlten männliche und weibliche Models auf gerahmten Schwarz-Weiß-Postern. In Designerregalen aus Edelstahldraht stapelten sich Look-Books und Fashion-Magazine neben Jugendzeitschriften und Bekleidungskatalogen. Sascha erklärte, dass Chrome zu den jüngsten und erfolgreichsten Modelagenturen Deutschlands gehörte. Sie sei erst vor zwei Jahren gegründet worden, aber die Models seien bereits europaweit gefragt, in London, Paris und Mailand. Und bald sogar in New York.

„Komm, ich stell dir Alain und Nancy vor.“

Sascha blickte auf die Uhr und ging schneller.Konstantin hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Sie betraten einen großen Raum, der an ein Fernsehstudio erinnerte. Scheinwerfer tauchten die Wände in grelles, zuckeriges Licht, und in der Mitte erstreckte sich ein improvisierter Catwalk aus Kunststoffplatten. Eine Wand war mit anthrazitfarbener Papiertapete abgehängt. Vor der Tapete räkelten sich fünf junge Frauen und Männer in Abendgarderobe auf einem weißen Ledersofa, während sie von einem Fotografen umkreist wurden. Eine Blondine mit Schminktasche über der Schulter schaute regungslos zu.

„Habt ihr die Einzelaufnahmen der New Faces schon gemacht?“, fragte Sascha, als der Fotograf eine Pause einlegte und seine Kamera überprüfte.

„Wir sind fast fertig.“

„Aber nur fast. Das ist Konstantin.“

Die Blondine trat neben den Fotografen. Konstantin wechselte hektisch das Glas in die linke Hand, um beide zu begrüßen.

„Alain, unser Fotograf. Nancy, unsere Stylistin.“

„Du bist spät dran“, bemerkte Alain.

„Ich weiß“, sagte Konstantin. „Tut mir leid.

“ Alain blickte Sascha an. Der hob entschuldigend die Arme.

„Sein Zug ist ausgefallen.“

Konstantin befingerte sein rechtes Ohrläppchen, was er immer tat, wenn er extrem nervös war. Alle musterten ihn argwöhnisch.

„Was meint ihr?“, fragte Sascha.

Alain kratzte seinen Kinnbart. Er schien alles andere als beeindruckt zu sein.

„Du hattest mir ja von ihm erzählt.“

„Ich finde, er hat eine ganz besondere Ausstrahlung“. sagte Sascha.

„Ausstrahlung hat er zweifellos. Nur –“

„Gibst du Nancy mal das Glas, bitte!“ Konstantin reichte der Stylistin das Wasserglas. Seine Hände zitterten. Er kam sich vor wie eine Skulptur im Kunstunterricht, die von drei Lehrern begafft wurde.

„Wir testen ihn mal. Kümmerst du dich um ihn, Nancy?“, sagte Alain.

Die Stylistin führte Konstantin in einen Nebenraum voll mit fahrbaren Kleiderständern und chaotisch übereinander gestapelten Schuhschachteln. Er öffnete die beiden obersten Knöpfe seines Hemds und setzte sich vor einen mit Glühbirnen umrahmten Spiegel. Während Nancy sein Gesicht puderte und ihm Gel in die Haare schmierte, betrachtete Konstantin im Hintergrund des Spiegelbilds das Poster eines Männermodels. Turmhohe Haartolle. Breite Wangenknochen und Dreitagebart. Der entschlossene Blick eines jungen Großwildjägers, Bergsteigers oder Arktisforschers. Konstantin versuchte, eine Ähnlichkeit zwischen sich und dem Model zu finden, aber er konnte keine entdecken.

„Ich glaube, Alain ist nicht überzeugt von mir.“

„Ach, warte mal ab“, sagte Nancy mit amerikanischem Akzent und zupfte mit einem Kamm eine einzelne Strähne über seine Stirn.

„Aber ich bin nichts Besonderes“, erklärte Konstantin.

„Darling, wenn du eine Stunde zu spät kommst, und Alain schickt dich zum Stylen, ohne dir eine Standpauke zu halten, bist du was Besonderes!“

Als Nancy fertig war, griff sie zielsicher in einen der Kleiderständer und reichte Konstantin ein dunkelbraunes Sakko.

„Zieh das bitte mal über.“

Er zog das Sakko an und betrachtete sich im Spiegel. Er kam sich älter vor. Reifer. Fremder. Unsichtbarer.

Im Studio warteten alle schon auf ihn. Nachdem Alain noch mal seine Kamera kontrolliert hatte, begann das Probeshooting. Konstantin musste sich vor die Tapetenwand stellen und verschiedene Posen einnehmen. „Lazy“ sollte er sein und „genervt“ und „verführerisch“. Er bemühte sich, den Anweisungen zu folgen, aber sein Körper fühlte sich an wie ferngesteuert. Während er mit hoch gezogenen Schultern, um sich kleiner zu machen, über den Catwalk schlich, dachte er an zu Hause. Er hatte seiner Familie nichts von dem Casting erzählt. Nur Antonia wusste von seinem Entschluss, nach Frankfurt zu fahren, nachdem ihm beim Ausziehen Saschas Visitenkarte vor die Füße gefallen war. Begeistert hatte sie ihn mit Tipps aus Germany’s Next Top Model überschüttet: Sei locker! Spiel mit der Kamera! Mach große Schritte! Und während sie auf ihn eingeredet hatte, war ihm immer wieder eine Szene aus der Show durch den Kopf gegangen, in der ein großes Mädchen im roten Bikini und auf High Heels versuchte, vor der Jury auf einer rotierenden Scheibe das Gleichgewicht zu halten. Sie stellte ungelenk die Beine auseinander wie eine Giraffe am Wasserloch und ruderte mit den Armen. Das Bild hatte sich in sein Bewusstsein eingebrannt.

Antonia hatte gebettelt, ihn zum Casting begleiten zu dürfen. Aber das hatte Konstantin aus irgendeinem Grund nicht gewollt.

„Danke, das reicht mir“, sagte Alain jetzt.

Konstantin sah zu den anderen Models herüber, die sich gelangweilt vom Sofa erhoben und den Nebenraum ansteuerten. Er ahnte, was jetzt kam. Ein Händedruck. Wir rufen dich an! Was hatte er eigentlich erwartet?

„Augenblick“, rief Sascha. Er winkte Alain und Nancy herbei. Sie steckten die Köpfe zusammen. Nach einer kurzen Besprechung kam Sascha zu ihm. Er sah aus, als hätte er ein schlechtes Gewissen.

„Wir möchten etwas ausprobieren. Nancy wird dich noch mal neu stylen. Und zwar ein bisschen anders.“

„Wie – anders?“, fragte Konstantin.

„Androgyn.“

„Was heißt das?“

„Männlich und weiblich zugleich.“

Er blickte unsicher zu Nancy. Ihr Lächeln beruhigte ihn etwas. Die anderen Models nahmen wieder auf dem Sofa Platz. Konstantin fragte sich, ob sie die Anweisung bekommen hatten, ihm beim Laufen zuzuschauen.

„Du brauchst keine Angst zu haben“, erklärte Nancy, während sie Konstantin zum zweiten Mal in den Maskenraum führte. „Es passiert nichts Schlimmes.“

Durch die Tür konnte er hören, wie Alain und Sascha miteinander sprachen. Er verstand nicht, um was es ging. Aber kurz darauf richteten sie offenbar eine Frage an die anderen Models, die von allen lautstark und begeistert bejaht wurde.

„Wie groß bist du?“, fragte Nancy. Konstantin hatte nicht den Eindruck, als würde sie diese Information wirklich benötigen.

„Einsfünfundachtzig“, antwortete er.

„Gewicht?“

„Neunundsechzig Kilo.“

Nancy zog eine ärmellose schwarze Bluse und eine Skinny Jeans vom Kleiderständer und reichte sie Konstantin.

„Das soll ich anziehen?“ fragte er.

„Nur, wenn es für dich okay ist. Du musst nicht. Es ist eine Art Test.“

„Was für ein Test?“

„Ob das zu dir passt.“

Konstantin starrte auf die Kleidung. Schließlich nickte er.

„Welche Schuhgröße hast du?“, fragte Nancy.

„Zweiundvierzig.“

Sie griff in den Schuhschachtelberg und reichte Konstantin ein paar schwarze Stiefeletten. Sie waren mit Strasssteinchen besetzt, hatten einen Reißverschluss und einen etwa acht Zentimeter hohen Absatz. Vor ein paar Tagen hatte sich Antonia ein ähnliches Modell gekauft.

„Auf keinen Fall!“, sagte Konstantin.

Sofort stellte Nancy die Stiefeletten zurück.

„No problem. Das verstehe ich.“

Er legte seine Kleidung bis auf die Unterhose ab, schlüpfte in die Bluse und knöpfte sie zu. Der Stoff fühlte sich sanft und vertraut an, wie eine zweite Haut. Aber in dem Moment, als er die Jeans über seine Hüften zog und den Hosenknopf schloss, spürte er die Energie einer unsichtbaren Macht, die ein fehlendes Teil zu ihm hinzufügte, und plötzlich setzte sich alles zusammen und verschmolz von Sekunde zu Sekunde dichter miteinander. Das Gefühl durchdrang seinen ganzen Körper. Es war schön und beunruhigend zugleich. Konstantin hatte es schon früher in seinem Leben gespürt, aber noch nie so stark wie jetzt.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Nancy mit gerunzelter Stirn.

„Wo ist die Toilette?“

„Durch die Seitentür, links hinter der Rezeption.“

Er stürmte aus dem Raum. Vom Empfang lächelte Ultraviolence mit Headset auf dem Kopf. Er knallte die Toilettentür zu und stützte sich auf das Waschbecken. Sein Körper taumelte. Er hatte das Gefühl, einen Ozean in sich zu tragen. Gewaltige Wellen tobten in ihm, während sich sein Blickfeld in flüchtige Bilder teilte. Eine Duftkerze in einem Wasserteller neben dem Seifenspender. Ein Schmetterling aus Silberdraht. Zwei Ausgaben der Vogue mit Covergirls in Bikinis und Bolerojacken. Konstantin wartete, bis sich die Wellen beruhigt hatten. Als sein Körper endlich still stand, streckte er die Hand aus. Der Drahtschmetterling landete in seinen Haaren. Seine Flügel klappten auf, und Konstantin schloss die Augen.

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er seine Augen wieder öffnete, den Schmetterling aus seinen Haaren zog und in den Garderobenraum zurückkehrte. Es kam ihm vor wie Stunden.

Nancy wartete vor dem Maskenspiegel. Sie wirkte besorgt.

„Sollen wir es lassen, Konstantin?“

„Nein, ich mache es“, hörte er sich sagen. „Wo sind die Schuhe?“

Sie zögerte einen Moment, bevor sie ihm die Stiefeletten reichte. Er schlüpfte in den ersten Schuh und zog den Reißverschluss hoch. Wieder durchströmte ihn eine seltsame Vertrautheit, als ob jemand diesen Schuh extra für ihn geschaffen hätte. Er zog auch den zweiten an und richtete sich auf. Sein Körper verformte sich. Er wuchs, wurde größer. Stärker. Zerbrechlicher. Die ersten Schritte durch den Raum waren ungewohnt. Aber dann steuerte er den Stuhl an und spürte beim Hinsetzen, dass er an Sicherheit gewonnen hatte.

Erneut begann Nancy, ihn zu stylen. Sie wölbte seine Wimpern mit einer Zange nach oben und färbte sie mit Mascara, zupfte seine Augenbrauen, legte ihm Liedschatten, Puder und Rouge auf und bepinselte seine Lippen mit pinkfarbenem Gloss. Seine Haare föhnte sie diesmal als Pony tief in die Stirn. Als er sich aus dem Stuhl erhob, starrte ihm im Spiegel ein geschminktes Mädchen entgegen. Es schien ihn anzulächeln, obwohl er ernst war.

„Ready?“, fragte Nancy.

Später konnte er Antonia nicht mehr erzählen, was passiert war. Er hatte vor der Papiertapete seine Hände die Hüften gestemmt. Er hatte kleine Hüpfer gemacht und mit gesenktem Kinn abwechselnd „lazy“ und „genervt“ in die Kamera geschaut. Er war über den Catwalk stolziert auf acht Zentimeter hohen Absätzen, während Sascha jede seiner Bewegungen beobachtete und Alain den Finger nicht mehr vom Auslöser ließ. Irgendwann waren alle Models vom weißen Ledersofa aufgesprungen und hatten ihm applaudiert und ihn in den Arm genommen, und er war befreit in sich selbst hineingestürzt, wie in ein seit vielen Jahren für ihn bereit gestelltes Leben.

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