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Das Angebot

Nachdem Herr Talberg Hannahs Verletzung notdürftig mit Jod und einem Pflaster verarztet hatte, nahmen sie in den einander gegenüberstehenden Sesseln Platz.

„Du solltest damit auf jeden Fall zum Arzt gehen. Nicht, dass du eine Narbe zurückbehältst und Probleme kriegst beim Modeln.“

„Ich werde nicht mehr modeln.“

Der Therapeut hob lässig die Hand, und Hannah verstand nicht ganz, warum. Aber dann musste sie daran denken, dass Herr Talberg sowieso anders zu ticken schien als die meisten Therapeuten, die sie vorher kennengelernt hatte. Der Tipp, es mit ihm zu versuchen, war von Jayes Mutter gekommen.

An einem lauwarmen Frühlingsnachmittag hatte Hannah vor dem kleinen Fachwerkhaus in der Nähe des Alzeyer Markts gewartet. Irgendwann ging die Tür auf, und ein etwa sechsjähriger Junge mit langen blonden Locken kam herausspaziert. Herr Talberg hatte freundlich gelächelt und Hannah in seine Praxis gebeten. In den folgenden zwei Stunden war Hannah zwar nicht nach Reden zumute, aber das Wenige, was sie erzählte, schien Herr Talberg nicht zu beunruhigen. Und nach ein paar Sitzungen fing sie an, mehr von sich preiszugeben. Von ihrer Familie, von Antonia, Ben und von dem Modelcasting. Und einmal war sie fast so weit, von dem merkwürdigen Traum zu berichten, in dem ein Mädchen ins Wasser sprang und sich verwandelte. Aber es war Hannah einfach nicht gelungen, Worte für diesen Traum zu finden. Erstaunlicherweise hatte der Therapeut ihr zehn Sitzungen später trotzdem mit aufmunterndem Gesichtsausdruck mitgeteilt, worin das Problem bestehen könnte. Den gleichen Gesichtsausdruck wie damals hatte Herr Talberg jetzt auch wieder. Er warf einen Blick auf die Uhr und griff zu seinem Schreibblock.

„Wie viel wiegst du denn zur Zeit?“, fragte er.

„Siebenundsechzig.“

„Dann hat sich dein Gewicht anscheinend stabilisiert. Musst du dich morgens nicht mehr so oft übergeben?“

„Nein, nur noch manchmal.“

„Das ist toll, Hannah!“

Sie nickte. Es kam ihr immer noch ungewohnt vor, wenn sie jemand mit ihrem weiblichen Namen ansprach. Ein schönes und gleichzeitig beängstigendes Gefühl, erkannt zu werden. Unruhig wanderten ihre Augen durch den gebärmutterartigen Raum. Ein Fenster. Eine Digitaluhr. Ein kleines Wandregal mit DVDs und Büchern: Im Falschen Körper, Transsexualität verstehen oder Anna wird Tom – Klaus wird Lara. Herr Talberg hatte Hannah ermuntert, sich ein paar davon auszuleihen. So erfuhr sie, dass die Veranlagung zur Transgeschlechtlichkeit ein Stück weit angeboren war, dass Jungs durch Einnahme weiblicher Hormone Brüste bekommen konnten und in Deutschland ein Gesetz die Änderung des Vornamens und des Geschlechts ermöglichte. Aber all das wirkte auf Hannah wie der Blick durch das Teleskop auf einen Lichtjahre entfernten Planeten. Bei der Haarschneideszene des Films Mein Leben in Rosarot war sie in Tränen ausgebrochen. Herr Talberg hatte das ganz normal gefunden. Er war wirklich ein ungewöhnlicher Mensch.

„Was für ein Gefühl war es, Antonia wiederzusehen?“

Ich war total – neidisch. Hannah überlegte, Herrn Talberg von Antonias Bemerkung über die Modelfotos zu erzählen. Aber sie befürchtete, der Therapeut würde das zum Anlass nehmen, nach intimen Details über ihre viermonatige Beziehung zu fragen, und darauf hatte sie keine Lust.

„Es hat mich überrascht“, antwortete Hannah.

„Ich glaube, sie hat immer noch ein schlechtes Gewissen, weil sie meine Fotos ins Netz gestellt hat.“

„Ist das verwunderlich?“

Hannah zuckte mit den Schultern. „Vermutlich nicht.“

„Letzte Woche hast du mir erzählt, du hättest dir mal das gleiche Kleid gekauft wie Antonia. Warum hast du das gemacht?“

Hannah dachte an den mit zwei Gürteln und einem Vorhängeschloss gesicherten Lederkoffer unter ihrem Bett, der als geheimes Kleidungsversteck diente. Sein Inhalt umfasste aktuell eine pinkfarbene Bluse mit Paillettenmuster, eine Vintage-Jeans mit Schmetterlingen auf den Potaschen, ein Minikleid mit Fransengürtel, ein ärmelloses T-Shirt, zwei Slips und jeweils ein Paar flache und hochhackige Riemchensandalen. Das Kleid hatte Antonia auf einer gemeinsamen Shoppingtour gekauft. Am nächsten Tag war Hannah allein in die Boutique zurückgekehrt und hatte die verwunderte Verkäuferin nach dem gleichen Modell in einer Größe kleiner gefragt.

„Es gefiel mir“, antwortete sie. „Antonia hatte Style.“

Herr Talberg nickte. Hannah musterte ihn argwöhnisch, doch es war nicht einfach, aus dem Gesichtsausdruck des Therapeuten abzulesen, worauf er hinauswollte.

„Was machst du mit deinen Mädchensachen?“, fragte er.

„Ich ziehe sie an.“

„Wann?“

„Wenn ich alleine bin“, antwortete Hannah und begann in ihrem Sessel herumzurutschen. „Manchmal tragen ich die Slips, um schlafen zu können.“

„Vor deinem Suizidversuch hast du viele Kleidungsstücke weggeworfen.“

„Ja.“

„Warum?“

„Ich wollte, dass es aufhört.“

Herr Talberg kritzelte auf seinen Notizblock. Hannah fragte sich, wie groß die Papierflut war, die sie im letzten halben Jahr verursacht hatte. Fünfhundert Seiten? Tausend? Zehntausend? Sie stellte sich drei Aktenordner vor, einen über ihre Suizidgedanken, der im Keller eines Krankenhauses verstaubte, einen über ihre angebliche Identitätsstörung, der von einem roboterhaften Berliner Psychiater als sexualwissenschaftliches Forschungsmaterial verwendet wurde, und einen mit frischer Rückenbeschriftung im Büro von Herrn Talberg, nachdem dieser vor einem Monat zum ersten Mal eine Geschlechtsinkongruenz bei Hannah vermutet hatte.

„Und wie verstehst du dich inzwischen mit deinen Eltern?“, fragte er. „Hast du ihnen von deinem Namen erzählt? Und wie du angesprochen werden möchtest?“

Hannah schüttelte den Kopf.

„Ich würde ja gerne noch mal einen Termin mit den beiden machen“, fuhr Herr Talberg fort. „Aber leider kommt bei deinen Eltern immer etwas dazwischen.“

Er blickte Hannah ratlos an. Und obwohl sie spürte, dass die Enttäuschung des Therapeuten über die mangelnde Kooperationsbereitschaft ihrer Eltern keinen Vorwurf darstellte, waren die Schuldgefühle wieder da. Sie war nicht richtig. Ihre Familie war nicht richtig. Nichts war richtig. Hannahs Gedanken rasten. Sie suchten verzweifelt nach einem Fluchtweg. Plötzlich fiel ihr etwas ein.

„Meine Mutter sagt, Sie hätten einen Vorschlag für mich?“

„Ach, ja, stimmt.“

Herr Talberg legte den Block zur Seite und griff nach einem Stapel Faltflyer, der sich auf dem kleinen Tisch neben seinem Sessel auftürmte.

„Du bist jetzt stabil genug. Das könnte etwas für dich sein.“

Er reichte Hannah den obersten Flyer. Auf der Titelseite prangte in blauen und rosafarbenen Buchstaben der Slogan „Trans* Camp Libelle – Hier kannst du sein, wie du dich fühlst!“ Die anderen Seiten zeigten eine Reihe von Fotos. Eine idyllische Bucht mit Bootssteg und Wakeboardanlage. Skandinavisch anmutende Holzhütten mit steilen, bis zum Boden reichenden Dächern. Lachende Jugendliche im Hütteneingang, mit Gitarren am Lagerfeuer, auf Pferden, in Ruderbooten und beim Bogenschießen. Teenagerglück auf Hochglanzpapier.

„Danke. Aber so was ist nicht mein Ding.“ Hannah wollte Herrn Talberg den Flyer zurückgeben, doch der Therapeut ignorierte ihre ausgestreckte Hand. Stattdessen nahm er einen zweiten Flyer vom Stapel, klappte ihn auseinander und nickte zuversichtlich.

„Ich könnte mir vorstellen, dass dir so ein Ferienlager gut tut.“

„Warum soll mir das gut tun?“

„Weil du dich dort besser kennenlernst. Und du triffst andere, denen es genauso geht wie dir.“

Hannah starrte auf den Boden. Für einen kurzen Moment war die Vorstellung, viele Gleichgesinnte zu treffen, durchaus reizvoll. Doch dann löste sie ein Horrorszenario in vier Akten aus: 1. Ferienlager, 2. Outing, 3. Ausgrenzung, 4. Leichenfund.

„Nein!“

Herr Talberg zog die buschigen Augenbrauen hoch und sah sie ernst an. „Weißt du, was, Hannah? Ich hab auf meinem Computer Fotos vom letzten Ferienlager. Die Teilnehmer haben mir erlaubt, sie zu verschicken. Aber wenn du dich anmelden willst, musst du dich beeilen. Es sind nur noch ein oder zwei Plätze frei.“

Mit leerem Blick strich Hannah mit den Daumen über das Papier. Von irgendwoher heulte eine Polizeisirene. Schließlich klappte Hannah den Flyer zusammen und steckte ihn in ihren Rucksack.

„Ein Ferienlager für transgeschlechtliche Jugendliche“, erklärte Hannah, während ihre Mutter mit dem Küchenhandtuch über der Schulter den Flyer in den Fingern wendete wie den Prospekt eines neuen und wenig Vertrauen erweckenden Spezialitätengeschäfts.

„Herr Talberg meint, ich soll daran teilnehmen.“

„Wo ist das denn?“, fragte Hannahs Mutter.

„Irgendwo an der Ostsee.“

„Und was sind das für Leute, die dieses Ferienlager veranstalten? Ärzte? Lehrer? Psychologen? Von all dem steht hier gar nichts.“

„Keine Ahnung.“ Hannah zuckte mit den Schultern. „Aber die Anmeldung ist eilig. In einer Woche geht’s los.“

Hannahs Mutter reichte den Flyer weiter an ihren Mann, der im Guns N’ Roses-Shirt auf der Couch lag und mit einem Bier in der Hand das Autorennen im Fernsehen verfolgte. Er warf einen kurzen Blick auf das Faltblatt und gab es seiner Frau zurück. „Ich finde, das ist eine ausgezeichnete Idee, Tatjana!“

Sie stieß einen Seufzer aus, drehte sich um und legte den Flyer ganz oben auf die Rechnungen im Familienbriefkorb. Hannah verdrängte den Gedanken, dass sie einmal mehr bei einer wichtigen Entscheidung, die selbst betraf, keine klare Stellung bezog, ein Verhalten, auf das Herr Talberg sie regelmäßig hinwies. Erschöpft ließ sie sich in den Sessel fallen. Odette sprang auf ihren Schoß, sodass Hannah Mühe hatte, an dem großen Hund vorbei auf den Fernseher zu schauen.

„Ja, wir laufen gleich eine Runde“, flüsterte sie. „Wer führt eigentlich?“

„Bobby Haag“, antwortete ihr Vater. „Aber Harry Martin hängt ihm an der Stoßstange. Du glaubst nicht, was in diesem Rennen abgeht!“

Er nahm einen tiefen Schluck aus seiner Bierflasche, bevor er begann, Hannah in allen Einzelheiten über den bisherigen Rennverlauf aufzuklären. Früher hatte er so etwas oft gemacht, wenn sie gemeinsam vor dem Fernseher saßen, Autorennen schauten oder Fußballspiele oder die Boxkämpfe von Wladimir Klitschko. In solchen Situationen hatte Hannah gespürt, wie stolz ihr Vater darauf gewesen war, einen Sohn zu haben, einen Verbündeten in der Familie. Jetzt blitzte dieser Stolz noch einmal auf. Es machte Hannah froh und traurig zugleich.

Lilly erschien mit einem Stapel dampfender Pfannkuchen im Wohnzimmer.

„Es gibt Abendessen, ihr Machos“, verkündete sie. „Du siehst übel aus, Koni!“

Hannah fasste sich an den neuen Pflasterverband auf ihrer Schläfe. Der Schmerz erinnerte sie daran, dass Doktor Lindner vor drei Stunden in seiner väterlichen Dorfarzt-Art erklärt hatte, Hannah würde für ein paar Tage mit einem schönen Veilchen durch die Gegend laufen. Seitdem war die Schwellung über dem Auge noch größer geworden und brannte bei der kleinsten Berührung.

„Es wird nicht besser, wenn du das ständig erwähnst, Lilly.“

„Ich hab das Attest schon für Bellinghaus kopiert“, rief Hannahs Mutter. „Die müssen diesen Schläger endlich von der Schule verweisen.“

„Braindead-muss-weg! Braindead-muss-weg!“, skandierte Lilly, während sie im Stechschritt mit den Pfannkuchen zum Esstisch marschierte, wo sie sich auf den Stuhl fallen ließ und sich dann ihrem Smartphone widmete. Hannahs Mutter folgte ihr mit dem Apfelmus. Sie warf Lilly einen mahnenden Blick zu.

„Wer hilft mir denn am Freitag beim Abbau in der Boutique?“

„Nur wenn wir nächstes Jahr wieder nach Annecy fahren“, murmelte Hannah.

„Ich wusste gar nicht, dass dir Annecy so viel bedeutet.“

„Ich auch nicht.“

Es war der heißeste Sommer in Südfrankreich seit einhundert Jahren. Im Fernsehen zeigten sie den ganzen Tag lang Bilder von den Waldbränden an der Küste, und in den Abendstunden, wenn die Sonne hinter dem Château d’Annecy versank, konnte man manchmal den Geruch von verkohltem Holz riechen, der vom See her über die Kanäle und die Häuser der Stadt zog.

Konstantins Vater kannte Annecy von den Übertragungen der Tour de France und hatte das Ferienhaus von einem Freund seiner Schwester gemietet. Am zweiten Urlaubstag fuhr ein altmodischer roter Eiswagen vor. Konstantin sprang von seinem Stuhl auf und rannte auf die Straße. Normalerweise war er um diese Zeit mit seinen Eltern am Strand. Aber weil seine Mutter schwanger war und sich nicht gut fühlte, mussten sie den Vormittag zu Hause verbringen. Vor dem Eiswagen hatte sich schon eine Gruppe von etwa zehn Kindern versammelt. Konstantin konnte es kaum erwarten, bis er endlich an der Reihe war. Erstaunlicherweise verstand der französische Eisverkäufer sogar die deutschen Wörter „Zitrone“ und „Schokolade“. Konstantin bekam die gewünschten Kugeln, und das Eis schmeckte köstlich. Die anderen Kinder schlenderten davon, und der Eiswagen fuhr weiter. Als Konstantin sich umdrehte, um ins Ferienhaus zurückzugehen, entdeckte er etwas und blieb wie angewurzelt stehen.

Das Mädchen auf der Steinmauer war in seinem Alter. Sie trug ein knielanges himbeerfarbenes Kleid, pinkfarbene Plastiksandalen und hatte eine weiße Nelke im Haar. Sie leckte ihr Pistazieneis und baumelte mit den Beinen.

„Ça va?“, sagte das Mädchen.

Konstantin verstand kein Wort, aber sie behandelte ihn, als wäre er ihre beste Freundin. Sie wohnte in einem von Palmen umgebenen Bungalow am anderen Ende der Straße. Konstantin erfuhr, dass sie Maélys hieß, und er fand diesen Namen fast genau so schön wie ihr himbeerfarbenes Kleid. Maélys zeigte ihm ihr Kinderzimmer mit dem Barbie-Dorf und den Plüschpferdchen, und sie spielten ein Computerspiel, bei dem man kranke Tiere gesund pflegen musste. Aber besonders fasziniert war er von Maélys’ Puppensammlung.

Zwei Stunden später stand Konstantin vor dem Ferienhaus. Seine Eltern hatten sich bereits Sorgen gemacht. Sein Vater öffnete die Tür. Konstantin trug Maélys’ Kleid und ihre pinkfarbenen Sandalen und hatte sich ihre Nelke ins Haar gesteckt. Maélys wiederum steckte in Konstantins T-Shirt und Hosen und kicherte vergnügt, während er voller Stolz ihre Lieblingspuppe in den Armen hielt und sie sanft hin und her wiegte.

„Bébé! Bébé! Bébé!“

Maélys durfte zum Mittagessen bleiben. Es gab Nudeln mit Tomatensoße. Vor dem Essen musste Konstantin das Kleid wieder ausziehen.

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