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Traumwandeln

Die Prinzessin des Reichs der Tausend Inseln wurde bei Vollmond geboren. Ihre königlichen Eltern betteten sie in eine Venusmuschel mit rotem Sand als Untergrund, und das gesamte Volk versammelte sich, um sie zu begrüßen.

„Es ist ein Mädchen!“, riefen die Priester des Tempels, und alle jubelten und schenkten der Prinzessin Ketten aus Perlmutt und Armreifen aus Korallenkalk, und die älteren Mädchen kämmten liebevoll ihr seidenweiches Haar mit Bürsten aus Stacheln von jungen Seeigeln.

Als die Prinzessin zwölf Jahre alt war, bekam sie von ihrem Vater das Stirnband der Alabasterdrachen geschenkt. Von nun an durfte sie die geflügelten Monster mit der milchigen Haut lenken, die als Boten zwischen den Inseln verkehrten. Und obwohl die Prinzessin noch nicht menstruierte, genoss sie es, auf ihren Drachen zu reiten, während unter ihr das Leben ganz normal weiterging, die Bewohner Häfen bauten, zur See fuhren und glücklich waren.

Doch mit vierzehn menstruierte die Prinzessin immer noch nicht. Auch entwickelte sie keine Brüste. Bei einer Untersuchung stellte man fest, dass sich an der Stelle, an der ihre Scham sein sollte, nichts anderes befand als nackte Haut. Das Königspaar wusste, was das bedeutete. Laut den strengen Gesetzen war ihre Tochter als Thronfolgerin ungeeignet. Sie musste ihr Drachenstirnband zurückgeben und wurde aus dem Königreich verstoßen.

Am Morgen der Verbannung schickten drei blaue Sonnen ihre Strahlen über den gewaltigen Tempel der Tausend Inseln. Vor den Augen des Königspaars legte die Prinzessin ihre Kleider ab. Anschließen wurde sie von der Priesterschaft über einen langen, von Fackeln gesäumten Gang zur Schaukel der Wahrheit geführt. Das Volk weinte und stimmte Trauergesänge an, während das Meer tobte und sich die Wellen nach dem Opfer verzehrten.

„Seid ihr willens, eure Verbannung anzunehmen?“, fragte der Hohepriester.

„Ja“, antwortete die Prinzessin und stieg auf die Schaukel. Die Priester wickelten dornenbewehrten Seetang um ihre Handgelenke. Das Volk verstummte, und der König erhob sich, um das Verbannungsritual zu eröffnen. Vor der Prinzessin lag der Ozean, und als sich die Schaukel langsam in Bewegung setzte, spürte sie bereits die Kraft des Wassers. Ihre Hände umklammerten die Seile. Die scharfen Dornen des Tangs bohrten sich in ihre Handgelenke. Blut tropfte aus den Wunden, aber sie wusste, dass sie keine Träne vergießen durfte. Immer stärker schwang die Schaukel hin und her. Bald färbte das Blut der Prinzessin den Tempelplatz rot, und das Volk befürchtete schon, dass sie vor der Verbannung sterben würde. Doch als der Hohepriester kurz davor war, das Ritual abzubrechen, sprang die Prinzessin von der Schaukel und stürzte sich in die Fluten.

Und in der Sekunde, in dem sie in den Ozean eintauchte, verwandelte sich ihr Körper unterhalb des Bauchnabels in einen prächtigen Fischschwanz, und sie wurde zu einer Meerjungfrau. Hunderte von leuchtenden Fischen kamen herbeigeschwommen, hießen die Prinzessin in ihrem neuen Reich willkommen und wollten sie beschützen. Daraufhin erschien sie zum ersten Mal an der Oberfläche, um sich ihren erleichterten Eltern und ihrem Volk zu zeigen. Sie schwamm federleicht zwischen den Wellen, die im Licht der blauen Sonnen auf und nieder wogten, und ihre Wunden waren auf wundersame Weise verheilt, und ihre Lippen funkelten, denn sie gehörte zum Geschlecht der Meerjungfrauen.

„Ich bin –“

Hannah öffnete die Augen. Ihre Hände glitten über den Bauch zum Hals, bis die Narben an den Gelenken ihre Brustwarzen berührten. An der Zimmerdecke schwebten die geisterhaften Umrisse eines nackten Mädchenkörpers mit Fischschwanz. Hannah versuchte das Gesicht zu erkennen, aber es blieb verschwommen und löste sich schließlich auf. Dafür spürte sie etwas zwischen ihren Beinen.

„Ich hasse es!“, wimmerte sie.

Hannah schleuderte das verschwitzte Kopfkissen auf ihre Morgenlatte und presste es mit den Oberschenkeln zusammen. Zu spät. Sie beugte sich über den Eimer neben dem Bett und würgte so lange, bis ein paar bittere Fäden aus Speichel und Galle heraustropften. Ihr Brustkorb schmerzte. Sie rollte auf den Rücken, umklammerte ihren riesigen Teddybären und atmete schwer.

Die Sonne fraß sich durch die Lamellen der Jalousie und bildete ein Kettenmuster von der Dachschräge bis zum GreatBarrier-Riff-Poster über dem Schreibtisch. Ein Lichtstrich traf genau die Pupille der Karettschildkröte. Der Wecker zeigte kurz nach sieben. Hannah versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Begann der Unterricht am letzten Tag vor den Sommerferien nicht erst zur zweiten Stunde? Machte es Sinn, heute in die Schule zu gehen? Machte überhaupt irgendetwas Sinn? Und warum, verflucht noch mal, war es früh morgens schon so heiß?

Ihr Blick schweifte durch den Raum, über das Regal aus Olivenholz mit den schneeweißen Buchrücken der Shojo Mangas, den Laptop, die Siegerurkunden vom Schwimmverein und die Postkarte mit der Kleinen Meerjungfrau aus Kopenhagen, die ihr Vater vor ein paar Jahren während eines Urlaubstrips aus Dänemark geschickt hatte.

Mit einem Ruck kämpfte sich Hannah aus dem Bett und stakste zum Spiegel. Der erste morgendliche Blick in ihr Gesicht war immer der schwerste. Schulterlange, sich wellende Haare. Gut. Neue Ohrlöcher. Gut. Bartschatten. Schlecht. Panisch suchte sie nach weiteren Veränderungen. Waren ihre Lippen schmaler geworden? Ihre Wangenknochen eckiger? Ihre Stirnpartie breiter? Als sie den Druck kaum noch aushielt, legte Hannah die rechte Hand auf ihr Gesicht im Spiegel und die linke auf die Beule in ihrem roten Slip und starrte regungslos auf ihren Bauchnabel. Schließlich hatte sie sich so weit beruhigt, dass sie ihr Zimmer verlassen konnte. Wahllos schnappte sie sich ein T-Shirt, eine Jeans und ein Paar Socken aus dem Kleiderschrank und eilte unter die Dusche.

Auf dem Rückweg vom Bad fiel ihr Blick in Lillys Zimmer. Zerwühlte Kissen voller Plüschtierbabys mit riesigen Augen. Puppenhaus. Rapunzelturm. Trampolin. Eine pinkfarbene Mädchenwelt im Morgenlicht. Hannah riss ihren Blick los und rannte die Kalksteintreppe hinunter.

Auf der blitzblank geputzten Kücheninsel lagen ein paar Supermarktprospekte und der Gemeindebrief der örtlichen Kirche mit dem Titel „Gottes versteckte Welt“. Odette döste im Wohnzimmer und sprang auf, als Hannah herein trat. Sie gab dem Dalmatiner einen Kuss auf die Schnauze.

„Hallo Prinzessin“, flüsterte sie. „Geht’s dir gut?"

Als Antwort begann Odette, Hannahs Gesicht abzulecken.

„Danke. Wenigstens du hast mich lieb.“

Odette ließ sich vor dem Teleskop nieder und starrte hechelnd auf den Kescher, den jemand gegen die Scheibe gelehnt hatte. Hannahs Mutter öffnete von außen die Terrassentür. Sie winkte mit dem Telefonhörer in der Hand.

„Wir sind hier draußen, Konstantin!“

„Wie stellen Sie sich das eigentlich vor, Herr Müller? Sollen meine Kundinnen in der Umkleidekabine Sandburgen bauen?“

Hannahs Mutter klemmte den Hörer zwischen Kopf und Schulter und zerrte ein paar trockene Äste aus der Bambushecke am Ende der Terrasse.

„Was hat Mama für ein Problem?“, fragte Hannah.

„Irgendwas mit der Boutique.“ Lilly fuhr sich mit der Zunge über ihre neue Zahnspange. „Gibst du mir mal den Quark, Koni?“

Hannah ignorierte ihre Schwester und blickte zu ihrem Vater hinüber, der in eine Autozeitschrift vertieft war. Es war das typische Bild. Auf der einen Seite ihre Mutter, die immer zwei oder drei Dinge gleichzeitig erledigte und bei allem eine Spur zu nervös und hektisch war. Auf der anderen Seite ihr Vater, den so schnell nichts aus der Ruhe brachte. Vermutlich wäre er sogar in der Lage, die Explosion einer Wasserstoffbombe in seinem Werkzeugkeller auszublenden.

Hannah biss in ihren Magerquarktoast. Lilly versetzte der Hollywoodschaukel einen wütenden Stoß mit den Füßen. Hannah kippte nach vorne. Ihre Nase bohrte sich in den Quark. Fluchend stemmte sie ihre Füße auf den Boden, um die Schaukel wieder zum Stehen zu bringen.

„Den Quark, Konstantin Wolf! Bist du taub?“ Hannah schleuderte ihrer Schwester die Quarkdose in den Schoß.

„Da, du Nervensäge.“

„Spinnst du?“

Lilly hob die verschlossene Dose mit zwei Fingern und inspizierte ihre Jeans. Als sie die Gewissheit hatte, dass nichts ausgelaufen war, beruhigte sie sich wieder.

„Zu gnädig, der Herr.“

Hannah wischte sich den Quark von der Nase. Ihre Mutter telefonierte immer noch.

„Wie läuft’s denn mit Mamas Boutique?“

„Komm vorbei, dann weißt du’s“, antwortete Lilly. „Ich bin total oft nach der Schule da. Mit Ronja und Nele.“

„Ich dachte, die findest du doof, weil sie ständig über Jungs reden.“

Lilly warf die Haare nach hinten und starrte auf ihr Selena-Gomez-Armband.

„Nee, jetzt nicht mehr.“

Hannah musterte ihre Schwester. Während Hannah im Krankenhaus gewesen war, hatte Lilly die Periode bekommen. Wie hatte sie sich gefühlt, als sie den ersten Blutfleck in ihrem Slip bemerkte? Hatte sie sich gefreut, weil sie auf dem Weg war, eine Frau zu werden? Hatte sie Schmerzen gehabt, wie Jaye, die ihre Periode hasste? War ihre Mutter mit Lilly zum Frauenarzt gegangen, um festzustellen, ob mit ihrer Vagina alles in Ordnung war? Hatten sie danach gemeinsam in der Drogerie extra dünne Binden für Teengirls gekauft? Mit roten Blümchen auf der Innenfläche und kleinen weißen Flügeln, die um den Steg des Slips herum geklappt werden? Unbarmherzig hörte Hannah ihre eigene Pubertätsuhr in Richtung Mann ablaufen. Tick. Tack. Tick. Tack. Tick. Tack. Sie musste schlucken.

Lillys Blick fiel auf ein Foto in der Autozeitschrift. Ein junges Mädchen im Blaumann und mit ölverschmierten Händen lächelte vor einer Hebebühne in die Kamera.

„Werden viele Mädchen Automechaniker?“

„Nein, Spatz“, murmelte Hannahs Vater.

„Deswegen gibt es ja den Girls’ Day.“

Lilly machte einen langen Hals, um das Foto besser sehen zu können.

„Girls Day? Cool! Das ist was für dich, Koni!“

Hannah verdrehte die Augen. Auf dieses Thema hatte sie gar keinen Nerv.

„Papa, darf ich am Dienstag zu Jaye?“

„Jaye ist voll der Typ!“, stichelte Lilly weiter. „Die steht sicher auf Zombies!“

„Und wenn schon“, sagte Hannah. „Ich will sie noch mal treffen, bevor wir nach Annecy fahren.“

Hannahs Vater legte die Zeitschrift zur Seite und blickte seine Töchter an. Es war offensichtlich, dass er schlechte Nachrichten hatte.

„Hat Mama euch noch nichts gesagt? Annecy fällt dieses Jahr aus. Wir sind nur zu dritt in der Werkstatt. Armin ist immer noch krank. Ich kann unmöglich Urlaub nehmen.“

Hannah starrte geschockt auf zwei Schwebfliegen, die sich in kreisenden Zick-Zack-Bewegungen den Klematisblüten an der Hauswand näherten. Seit zwölf Jahren war Annecy fester Bestandteil des Familienlebens, wie eine Wurzel, aus der heraus unzählige Kindheitserinnerungen gewachsen waren. Jetzt kam es Hannah so vor, als läge sie ausgerissen am Straßenrand.

„Heißt das, wir bleiben die ganzen Ferien zu Hause?“ Lilly stützte die Arme auf den Tisch. „Das wird ja mega öde!“

„Nein, nein“, beruhigte Hannahs Vater sie. „Mama will mit dir zu Oma und Opa ins Allgäu. Die freuen sich schon, dass du kommst.“

„Und was ist mit mir?“, fragte Hannah.

„Deine Mutter hat gestern mit deinem Therapeuten gesprochen. Herr Talberg hat einen hochinteressanten Vorschlag, über den er dringend mit dir –“

In diesem Moment trat Hannahs Mutter an den Tisch. Ihr Gesicht wirkte trotz des wie immer perfekten Make-ups müde und angespannt. Sie legte den Hörer ab und ließ sich auf den Stuhl fallen.

„Der Tag fängt ja gut an –“

„Was ist passiert?“, fragte Hannahs Vater.

„Die Handwerker haben im Ladenbüro das Waschbecken ausgetauscht. Jetzt kommen in der Umkleidekabine zwei dicke Metallschrauben aus der Wand. Und auf dem Boden liegt zentimeterhoch der Putz. Alles eine Woche vor der Präsentation.“

„Welcher Präsentation?“

„Der neuen Brautkleider.“ Sie nippte an ihrem Kaffee. „Hast du mir gestern nicht zugehört?“

„Doch“, antwortete er. „Ich hatte es nur nicht mehr auf dem Schirm.“

„Die Einladungen sind seit Wochen raus, und das Model ist fest gebucht. Ich kann den Termin unmöglich verschieben.“

„Mach dir nicht immer so viel Stress –“, begann Hannahs Vater. Dann verstummte er unter dem Blick seiner Frau wie ein kritisches Radioprogramm, dessen Übertragung abbricht, weil die Regierung droht, den Sender zu bombardieren. Er stieß ein resigniertes Brummen aus und widmete sich wieder seiner Autozeitschrift.

In den Wochen seit Hannahs Entlassung aus der Klinik schienen sich die seit Jahren schwelenden Familienkonflikte in Luft aufgelöst zu haben. Ihr Vater half bereitwillig im Haushalt und im Garten, und ihre Mutter übergab das kleine Brautmodengeschäft im Dorfzentrum an drei Nachmittagen in der Woche einer Freundin. Wenn sich Hannahs Eltern verabschiedeten und begrüßten, gaben sie sich einen Kuss wie früher. An den Sonntagen besuchten sie zu viert Volksfeste und Freizeitparks in der näheren Umgebung und gingen gemeinsam ins Kino. Aber in den letzten Tagen hatte sich die Familiendynamik wieder zunehmend auf den alten Stand zurückentwickelt, und Hannah fragte sich, warum.

„Koni trifft sich mit Jaye“, platzte es plötzlich aus Lilly heraus.

„Muss das sein?“ Hannahs Mutter bemerkte eine Blattlaus in Hannahs Nacken und wischte sie weg. „Karin Schwarz war gestern da und hat Storys von Jaye erzählt. Und von ihrer durchgeknallten Mutter –“

Hannahs Vater klappte die Autozeitschrift zu. Er sah seine Frau erstaunt an.

„Karin Schwarz? Was macht denn die Tratschtante in deinem Laden?“

„Ihr Sohn verlobt sich nächsten Monat.“ Hannahs Mutter rollte mit den Augen. „Mit achtzehn! Hat sie mir natürlich groß und breit unter die Nase gerieben. Außerdem ist er Vereinsmeister in 100 Meter Kraul geworden.“

Lilly zog ihre Beine auf die Hollywoodschaukel und prustete.

„Dennis? Der hat doch damals voll abgelost gegen Koni. Ich meine, wenn Koni nicht aus dem Schwimmverein ausgetreten wäre –“

„Was für einen hochinteressanten Vorschlag hat Herr Talberg für mich?“, unterbrach Hannah Lilly. Sie hatte es satt, wie das Schwarze Loch der Familie behandelt zu werden, das alle argwöhnisch beobachteten, während sie gleichzeitig versuchten, es großräumig zu umschiffen.

„Hat er nicht gesagt“, antwortete Hannahs Mutter. „Aber er wird es dir sicher heute Nachmittag erklären.“

Sie schenkte Hannah ein vielsagendes Lächeln, bevor sie einen Blick auf die Uhr warf und den Rest ihres Kaffees herunterkippte. „Ich muss in die Boutique. Bringst du die beiden zum Bus, Michael?“

Während Hannah darüber grübelte, was Herr Talberg ihr wohl vorschlagen würde, begannen ihre Eltern, den Frühstückstisch abzuräumen. In der Terrassentür erschien Odette. Die Hollywoodschaukel schwang sanft hin und her.

„Ist Koni eigentlich versetzt worden?“, fragte Lilly.

„Ja, ist er“, murmelte Hannah. „Und jetzt halt endlich die Klappe!“

Sina trug ein gelbes Longshirt mit Ledergürtel, Jeans und graue Stiefeletten. Leonie war mit einer orange-weiß gestreiften Bluse, einer blauen Stoffhose und weißen Ballerinas bekleidet. Hannah beobachtete jede ihrer Bewegungen, Sinas Kauen auf der vom Lipgloss glänzenden Unterlippe, das Schnippen ihres Fingers, um eine Fluse vom Ärmel zu befördern, das Drehen von Leonies Finger in einer Locke und den nervösen Gesichtsausdruck beim Aufstehen und Entgegennehmen des Zeugnisses. Wie hübsch sie waren! Alles an ihnen schien perfekt zusammenzupassen.

„Konstantin Wolf.“

Jemand boxte Hannah in die Rippen. Sie erschrak und blickte zu Aaron, ihrem Tischnachbarn, der mit dem Daumen in Richtung Lehrerpult zeigte.

„Ey, Femmy Boy. Dein Typ wird verlangt.“

Herr Peters starrte Hannah verständnislos an.

„Die Stunde ist gleich zu Ende. Holst du dein Zeugnis heute noch ab?“

„Koni träumt wieder von ihrer Catwalkkarriere“, rief jemand mit tuntigem Singsang aus der hinteren Reihe.

„Ich hab heute leider kein Foto für dich!“

„Ooooooooh!“

Einige brachen in Gelächter aus. Andere zischten sie nieder und schüttelten die Köpfe. Das war nichts Neues. So lief es seit Monaten. Hannah sah zu Ben hinüber, der teilnahmslos sein Smartphone fixierte. Bis zum Februar war Antonias Bruder ihr engster Freund gewesen. Jetzt schaute er nicht einmal auf, als Hannah zum Pult schlich und ihr Zeugnis in Empfang nahm

„Bitte noch etwas Ruhe!“

Das Gemurmel schwoll ab, und Herr Peters rief den nächsten Namen auf. Ohne auf das Blatt zu schauen, kehrte Hannah zu ihrem Platz zurück. Einen Tag nach der letzten Notenvergabe hatte sie auf sämtlichen Zeugnissen aus allen Schuljahren ihren Vornamen so fest mit Kugelschreiber durchgestrichen, dass das Papier zerfetzt war. Danach hatte sie sich so erleichtert gefühlt. Am folgenden Montagmorgen hatte auf dem Weg zur Bushaltestelle ihr Smartphone gepiept. Eine anonyme Nachricht ohne Text. Dafür mit einem Link zu einer Homepage mit Hannahs Castingfotos und der Überschrift: „Hallo, ich bin Konstantin W., ein süßer Mädchenjunge aus Rheinhessen!“

„Ich wünsche euch schöne und erholsame Sommerferien“, sagte Herr Peters. „Wir sehen uns im nächsten Schuljahr wieder.“

Angeführt von Ben, der als erster von seinem Platz aufsprang, stürmten die Schüler in lärmenden Grüppchen aus dem Klassensaal. In der Tür stießen sie mit Frau Lorenz zusammen. Die Schulsekretärin war dürr, hatte kurze knallrote Haare und trug unter den Schülern den Spitznamen Streichholz.

„Entschuldigung, Herr Peters. Wer ist Konstantin Wolf?“

Herr Peters blickte von seinem Klassenbuch auf und deutete mit dem Kugelschreiber auf Hannah.

„Kommst du bitte mit zum Direktor?“

Herr Bellinghaus strich seine marineblaue Krawatte glatt und blätterte in einem Heftordner. Hannah versuchte sich zu erinnern, wann sie den Direktor zum letzten Mal gesehen hatte. Er kam ihr wie ein blasses, trauriges Gespenst vor, das ein Mal im Jahr in der Aula des Gymnasiums erschien, um eine viel zu lange Begrüßungsrede zu halten und danach wieder für zwölf Monate hinter den undurchdringlichen Wänden der Schulverwaltung zu verschwinden.

„Ich habe unseren Schulpsychologen Herrn Hauff und Frau Tzschentke als deine Vertrauenslehrerin dazu gebeten. Ich hoffe, dass ist in Ordnung.“

Hannah nickte. Sie wusste, dass es an ihrer Schule einen Psychologen gab. Aber weil unter den Schülern die Regel galt, dass nur Nerds und Loser mit ihm redeten, war Hannah ihm immer aus dem Weg gegangen. Genau so wie Frau Tzschentke, die als Sportlehrerin für den Schwimmunterricht der Mittelstufe zuständig war und nach Hannahs Abmeldung unter dem Vorwand einer plötzlich aufgetretenen Chlorallergie ein paar Mal versucht hatte, sie auf dem Pausenhof in Gespräche zu verwickeln.

„Wir haben uns noch mal deine Zeugnisse der letzten Jahre angeschaut. Von der Fünften bis zur Siebten warst du Klassenbester. In der Achten sogar zweitbester Schüler der ganzen Schule. Du durftest die Neunte überspringen.“

„Ja, und?“, murmelte Hannah und knibbelte einen Streifen Gummi von der Sohle ihrer Stoffsneaker.

„Im ersten Halbjahr lief es noch sehr gut“, fuhr Herr Bellinghaus fort. „Dann hattest du, laut deiner Mutter, eine Depression. Angeblich nichts Ernstes. Nach deiner Genesung war deine beste Arbeit in einem Hauptfach eine Vier in Englisch. In Deutsch hast du leere Blätter abgegeben. In Mathematik hattest du zwei Mal eine glatte Sechs mit null Punkten.“

Herr Bellinghaus klappte den Heftordner zu und starrte Hannah an, als hätte er eine unlösbare Rechenaufgabe aus der Quantenphysik vor sich.

„Seit elf Jahren bin ich Direktor dieser Schule. In meiner gesamten Laufbahn ist mir so ein Fall noch nie vorgekommen.“

„Das tut mir leid“, sagte Hannah.

„Wir möchten dir helfen, im nächsten Jahr in den Schulalltag zurückzufinden“, sagte Herr Hauff und beugte sich so weit herüber, dass Hannah seine Eukalyptusfahne riechen konnte. „Dazu müssen wir allerdings wissen, was wir für dich tun können. Was belastet dich? Was ist dein Problem, Konstantin?“

Hannah zuckte mit den Schultern.

„Cybermobbing?“, antwortete sie.

„Ja, das wird von Jahr zu Jahr schlimmer.“ Herr Hauff schüttelte den Kopf. „Ich hör das gerade von so vielen Kollegen. Wir müssen dagegen wirklich was tun!“

„Wir haben doch die Fotos aus dem Netz entfernen lassen“, erklärte Herr Bellinghaus mit genervtem Unterton in Richtung des Schulpsychologen. „Die Sache dürfte damit erledigt sein.“

„Aber in Konstantins Fall steckt mehr dahinter. Richtig?“

„Ich weiß nicht, was Sie meinen“, log Hannah.

„Du hattest ein Problem mit der Jungentoilette.“

Sie starrte auf den Teppichboden. Anfang des Jahres hatte sich Hannah tatsächlich wochenlang geweigert, die Jungentoilette zu benutzen, und war stattdessen auf die Mädchentoilette gegangen. Nach Beschwerden mehrerer Mitschülerinnen hatte sie vor dem Unterricht nichts mehr getrunken und war eines Morgens an der Tafel wegen Dehydrierung zusammengebrochen.

„Das war ein Fehler. Darf ich jetzt gehen?“

Der Schulpsychologe blickte Hannah besorgt an.

„Wie können wir dir helfen, Konstantin?“

„Ich brauch keine Hilfe.“

„Bist du sicher?“

„Ja, es ist alles in Ordnung.“

„Wenn du hier nicht reden möchtest, kannst du mich jederzeit auch alleine in meinem Büro besuchen. Ich unterliege der Schweigepflicht.“

„Ich möchte gehen. Bitte!“

„Ich finde, wir sollten das jetzt erst mal respektieren“, sagte Frau Tzschentke.

Herr Hauff stieß einen Seufzer aus, als sei er persönlich getroffen von Hannahs mangelndem Vertrauen zu ihm. Herr Bellinghaus blickte auf die Uhr.

„Gut. Dann war es das für heute. Vielen Dank, Frau Tzschentke. Herr Hauff, bleiben Sie bitte noch kurz da.“

Hannah nahm ihren Rucksack und verließ den Raum. Auf dem Flur hörte sie Frau Tzschentke rufen.

„Konstantin! Warte!“

Hannah lehnte sich gegen die Wand. Sie starrte auf eine vergilbte Fotocollage, die den Neubau des Kunstpavillons in verschiedenen Phasen zeigte.

„Du warst doch mit Antonia Landau zusammen.“ Frau Tzschentke schloss die Tür des Direktorzimmers hinter sich. „Eine Mitschülerin aus ihrer Klasse hat mir erzählt, dass Antonia die Fotos verbreitet hat.“

„Wir haben uns getrennt. Antonia ist auf Schüleraustausch in England.“

„Sie ist seit einer Woche zurück. Vielleicht redet ihr mal …“

Hannah versuchte die Panik zu unterdrücken, die bei dem Gedanken an Antonia in ihr aufstieg. Sie hatten sich das letzte Mal gesehen, bevor Hannah ins Krankenhaus gekommen war. Mit Antonia zu reden war das Letzte, was sie wollte.

„Nein, das möchte ich nicht. Die Sache ist erledigt.“

„Okay, es war nur eine Idee."

Die Lehrerin zögerte kurz, dann beugte sie sich ganz nah an Hannah heran.

„Konstantin, ich habe nicht Lehramt studiert, um so eine pädagogische Handlampe wie Bellinghaus zu werden. Die Sache mit den Toiletten, die Chlorallergie – ich sehe, was los ist. Bitte komm zu mir, wenn du ein Problem hast.“

Hannah spürte, dass Frau Tzschentke es ernst meinte, und wollte etwas sagen. Doch in diesem Moment summte das Bing-Bang-Bong der Schulglocke durch den Flur, und ein gemurmeltes „Danke“ war das einzige, was Hannah herausbrachte.

„Ich wünsche dir schöne Ferien, Konstantin!“

Als Hannah die Glastür aufzog, bemerkte sie, dass die Lehrerin immer noch vor dem Direktorzimmer stand und ihr besorgt hinterherschaute.

Sie hatte sich angewöhnt, auf dem Schulgelände Kopfhörer zu tragen, um die Sprüche ihrer Mitschüler auszublenden. Aber der Hof war bereits verwaist. Nur der neue togolesische Hausmeister schlurfte einsam mit einer Plastiktüte in der Hand in Richtung Aula. Hannah überquerte den Parkplatz und quetschte sich durch die Schranke. Sie war gerade dabei, sich zu entspannen, da entdeckte sie vor dem Imbisswagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite Olli Schmidt, genannt Braindead, und seine beiden Kumpels aus der 10b. Begegnungen mit Olli bedeuteten stets vor allem eins: Ärger. Hannah wischte sich den Schweiß von der Stirn und warf einen Blick auf ihre Uhr. Durch das Gespräch beim Direktor war sie schon spät dran für ihre Therapiestunde. Sie beschleunigte ihre Schritte. Das Klacken des Smartphones unterbrach den neuen Song von Ed Sheeran.

Zwei entgangene Anrufe von Sascha Petrenko und eine Nachricht von Jaye. Sie musste ihre Verabredung auf nächste Woche verlegen, weil sie einen Termin beim Jugendamt hatte. Hannah schrieb zurück, dass sie sich später melden würde.

Sie bog um die Straßenecke und rannte beinah frontal in Antonia hinein.

„Pass doch auf, du -“

Antonia trug ein violettes T-Shirt, eine Boyfriend Jeans mit Löchern über den Knien und Ledersandalen. Sofort waren Hannahs Erinnerungen an die gemeinsame Zeit wieder da, an Antonias süßlich duftende Haare, den kleinen Orion aus Muttermalen über ihrem Bauchnabel, die Art wie sie morgens im Schlafzimmer die Arme vor ihren Brüsten kreuzte und dabei so viel unschuldige Verletzlichkeit ausstrahlte. In Antonias Gesellschaft schien sich die Welt im Kreis zu drehen, so als säßen sie gemeinsam auf einem altmodischen Kinderkarussell. Sie kamen nirgendwo an, aber sie fühlten sich immer sicher. Bis zu jenem Nachmittag, an dem Antonias Laptop kaputtgegangen war und sie wegen eines dringenden Schulprojekts Hannah um Hilfe gebeten hatte.

„Hallo, Antonia!“

Antonia blickte sich hektisch um, als suchte sie vergeblich den Notfallknopf, mit dem sie sich aus dieser Situation beamen konnte.

„Wie geht’s dir?“, fragte Hannah.

„Ganz okay.“ Antonia lächelte unsicher. „Du siehst gut aus, Konstantin.“

„Frau Tzschentke hat mir erzählt, dass du zurück bist.“

„Ja, seit einer Woche.“

„Wartest du auf deinen Bruder? Ben ist vor mir raus.“

„Ich weiß. Er holt Jonathan vom Fitnesscenter ab. Die beiden müssten jeden Augenblick kommen.“

„Wer ist Jonathan?“ fragte Hannah.

Antonia wischte sich eine Strähne aus der Stirn, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, und sah Hannah mitleidig an.

„Mein neuer Freund. Wir haben uns in England kennen gelernt.“

Hannah spürte einen Stich in ihrer Brust. Sie war sich sicher gewesen, dass es eine besondere Verbindung zwischen ihr und Antonia gegeben hatte, die durch nichts in der Welt zu ersetzen war. Sie hatte sich geirrt.

„Freut mich. Dann lass dich nicht aufhalten.“

Hannah wandte sich zum Gehen, aber Antonia fasste sie am Arm und hielt sie fest. In ihren Augen standen plötzlich Tränen.

„Koni, bitte! Es tut mir leid. Ich weiß, ich hätte deine Bilder nie weitergeben dürfen. Aber ich war total verwirrt. Ramona hat ständig behauptet, dass du schwul bist. Mein Bruder wollte von den Gerüchten nichts hören. Und du hast aus dem Casting so ein Riesengeheimnis gemacht. Wenn ich gewusst hätte, was –“

„Vergiss es“, sagte Hannah. „Die Sache ist erledigt.“

„Du sahst mega aus. Ich war total – neidisch.“

Hannah stellte ihren Rucksack ab. Hatte sie sich gerade verhört?

„Ist so – stopp!“

Antonia winkte mit beiden Armen. Bens Cabrio kam mit quietschenden Reifen und heruntergelassenem Verdeck zum Stehen. Ben starrte auf das Lenkrad. Ramona neben ihm legte ihre Hand auf seinen Oberschenkel und ließ grinsend eine Kaugummiblase platzen. Hinter ihr gähnte ein blonder Typ im Trikot des FC Liverpool.

„Lass uns nach den Ferien mal telefonieren, ja?“ Antonia sprang in den Wagen. Liverpool begrüßte sie mit einem Kuss. Ben trat aufs Gas, und das Cabrio schoss in Richtung Innenstadt davon. Ratlos blickte Hannah hinterher. Antonia hatte alles gehabt, was Hannah sich wünschte. Und jetzt offenbarte Antonia ihr, dass sie neidisch gewesen war!

„Hä? Wen haben wir denn hier?“

Sie erkannte die Stimme sofort. Ihr Magen krampfte sich zusammen.

„Ey, ich red mit dir, Missgeburt!“

Hannah drehte sich um. Olli grinste feist und fuhr sich mit den Händen über die Stirn. Seine beiden Kumpels starrten Hannah Kaugummi kauend an.

„Wo ist denn dein Bodyguard? Der sonst immer mit dir abhängt?“

„Verpiss dich, Braindead!“, antwortete Hannah.

„Machst du jetzt den Breiten oder was?“

Olli ging einen Schritt auf Hannah zu. Sie wich instinktiv zurück.

„Och, hast du Angst vor mir? Ich wette, du fängst gleich an zu heulen. Fängst du an zu heulen, du kleine Transe? Sollen wir es herausfinden?“

Hannahs Blick wanderte über Ollis linken Arm bis zur Schulter, die Ben damals so verdreht hatte, dass Olli wochenlang mit einem Verband in die Schule gekommen war.

„Wo guckst du denn hin, du Schwuchtel?“

Er versuchte, Hannah eine Backpfeife zu verpassen, aber sie schlug blitzschnell seine Hand weg. Für einen Moment wirkte Olli verunsichert, wie ein kleiner Junge, dessen neues Spielzeug ein unerwartetes Eigenleben entwickelte. Doch als Hannah sich vorbeugte, um ihren Rucksack aufzuheben, wurde sie plötzlich hart von seiner Faust auf dem rechten Auge getroffen. Sie stürzte zu Boden und krümmte sich auf dem Asphalt. Tränen liefen über ihr schmerzverzerrtes Gesicht.

„Ich wusste es, Leute! Die kleine Transe heult!“

Olli lachte und stieg über Hannah hinweg, während einer der anderen ihrem Rucksack einen Tritt verpasste, sodass dieser umkippte und in den Rinnstein rutschte.

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