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Kapitel 2 Medeas Verjüngungskessel

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Auch bei den weiteren Abenteuern von Iason und den Argonauten kam die Zauberin Medea zu Hilfe. Nachdem sie das Goldene Vlies erbeutet und Talos auf Kreta überwältigt hatten, segelten die Argonauten mitsamt dem kostbaren Vlies heim nach Griechenland. Iason freute sich auf die Heimkehr nach Iolkos, seine Heimatstadt in Thessalien. Deren König Aison war sein Vater, sodass er der rechtmäßige nächste König dieser Stadt war. Doch in Iolkos angekommen, musste Iason feststellen, dass das ihm zugesprochene Königreich nun in der Hand seines Onkels Pelias lag. Dieser machtbesessene Onkel hatte Iason überhaupt erst befohlen, seine Expedition anzutreten. Er hatte dies in der Annahme getan, dass Iason nicht lebend zurückkehren und den Thron beanspruchen würde. Nun, zurück in Iolkos, musste Iason bestürzt feststellen, wie gebrechlich sein Vater Aison geworden war.

Iason bat Medea, die jugendliche Kraft seines Vaters wiederherzustellen, indem sie einige der ihm selbst gewährten Jahre auf diesen übertrug. Doch Medea wies den Wunsch zurück, Iasons Lebensspanne zu verkürzen und dafür diejenige Aisons zu verlängern. Sie tadelte Iason, ein solcher Tausch wäre unehrlich, unvernünftig und von den Göttern verboten. Stattdessen beschloss sie, den alten Mann durch ihre eigenen geheimen Künste zu verjüngen.1

Medeas Unterfangen, Aison neu zu beleben, ist ein typisches Beispiel für mythische Biotechne, die auf unnatürliche Weise das Leben verlängern soll, eine Form von künstlicher Verbesserung des Menschen. Die vielen verschiedenen Versionen dieses Mythos erzählen in volkstümlicher Sprache davon, wie man den Alterungsprozess umdrehen und die natürliche Lebenserwartung verlängern kann – nicht nur durch einen Zauberspruch, sondern auch durch bestimmte Techniken, Verfahren, besondere Geräte, Pharmaka (Drogen) und therapeutische Infusionen.

Die Geschichte von Aisons wundersamer Verjüngung durch Medeas Zauberei und Pharmaka ist sehr alt. Wir wissen, dass diese Episode in den Nostoi (Heimkehr) beschrieben wurde. Diese griechische Sagensammlung beruht auf mündlichen Überlieferungen über die Heimkehr der griechischen Helden nach dem Trojanischen Krieg. Diese alten Erzählungen wurden in epischer Form zuerst im 7. oder 6. Jh. v. Chr. niedergeschrieben. Leider ist das Gedicht nicht vollständig auf uns gekommen. Aus den Fragmenten erfahren wir aber, dass Medea Aison „zu einem jungen Mann in den besten Jahren machte, sein Alter von ihm abstreifen ließ …, indem sie Mengen von Pharmaka in goldenen Kesseln kochte“. In anderen Versionen des Mythos setzte Medea Aison selbst in den Kessel.2

Nach einem Fragment eines verlorenen Aischylos-Dramas (Ammen des Dionysos) verjüngte Medea auch die menschlichen Ammen von Dionysos und ihre Ehemänner, indem sie sie in ihrem goldenen Kessel kochte. Im 4. Jh. v. Chr. versuchte ein Zeitgenosse von Aristoteles namens Palaiphatos (Unglaubliche Geschichten Nr. 43 zu Medea), die Mythen um die Verjüngung von Aison, Pelias und anderen durch Medea, wenn auch mühsam, praktisch und „rational“ zu erklären. Er meinte, Medea sei ganz real eine Frau gewesen, die neue und geheimnisvolle Wege ersonnen hätte, um Männer jünger aussehen zu lassen. Sie erfand belebende Dampfbäder in kochendem Wasser, doch der heiße Dampf erwies sich für schwächliche alte Männer als verhängnisvoll. Laut Palaiphatos’ Theorie begründete das Geheimnis um Medeas Jugend spendende Therapie die mythischen Erzählungen über ihren wundersamen Kessel.3 Jedenfalls haben viele Autoren und Künstler von der Antike bis heute diesen populären Mythos in dramatischen Bildern nacherzählt, und in ihren Schilderungen verbindet die Hexe Medea magische Rituale mit mysteriösen biomedizinischen Methoden, um alte Männer neu zu beleben.

In der um 43 v. Chr. von Ovid verfassten Version dieses Mythos ersinnt Medea das Verjüngungsexperiment als einen tollkühnen Test ihrer eigenen Kräfte als Zauberärztin. Sie benutzt eine geheime Biotechne-Prozedur, die an den Aderlass erinnert, den sie am Bronzeroboter Talos vornahm (siehe Kapitel 1). Doch nun lässt Medea sämtliches Blut aus den Adern des alten Aison fließen und ersetzt es durch eine geheime Mischung gesundheitsspendender Pflanzensäfte und anderer Zutaten, die sie in ihrem speziellen goldenen Kessel gebraut hat. Gold galt in der Antike als nicht anlaufendes Metall, nicht verunreinigt durch chemische und metallische Mischungen.

Nach Medeas Operation sind alle von Aisons neuer Energie und glühender Vitalität verblüfft. Medizinhistoriker haben darauf hingewiesen, dass Medeas imaginäres Experiment ein heutiges Verfahren bei Bluttransfusionen vorwegnahm, bei dem der Patient von seinem eigenen Blut befreit wird und stattdessen Spenderblut erhält. Seit 2005 haben beispielsweise Blutaustausch-Experimente bei jungen und alten Mäusen gezeigt, dass bei den älteren Tieren Muskeln und Leber dadurch verjüngt werden.4

Im Mythos um Iason und Medea in Iolkos folgt auf Aisons Verjüngung die Ermordung von Mitgliedern von Iasons Familie durch den Usurpator Pelias. Dieser kehrt Medeas restaurative Blutauffrischung um und befiehlt Aison, das Blut eines Stieres oder Ochsen zu trinken und auf diese Weise Selbstmord zu begehen. In der Antike hieß es von mehreren historischen Gestalten – einschließlich des athenischen Politikers Themistokles (gest. 459 v. Chr.), des ägyptischen Pharaos Psammetich III. (gest. 525 v. Chr.) und König Midas’ (gest. ca. 676 v. Chr.) –, sie hätten sich durch das Trinken von Stierblut das Leben genommen.

Warum Stierblut? Vor allem in seinen Abhandlungen zur Anatomie schreibt Aristoteles, dass Stier- oder Ochsenblut verglichen mit anderem Tierblut am schnellsten gerinnt. Aristoteles meinte auch, dass Blut, das vom Unterkörper eines alten Ochsen stamme, besonders dunkel und dick sei (Geschichte der Tiere 3.19; Teile der Lebewesen 2.4). Es scheint, dass der antike Mythos von Aisons Tod und historische Berichte über den Tod nach dem Trinken von Stierblut traditionelles volkstümliches Wissen um dessen hohen Gerinnungsfaktor aufgriffen, wie es später von Aristoteles bestätigt wurde. Das antike Motiv des Erstickens an geronnenem Ochsenblut hat eine interessante moderne Parallele: Rinderthrombin (ein Blutgerinnungsenzym) wurde ab dem späten 19. Jh. bei Operationen eingesetzt. Es birgt jedoch bei Menschen das Risiko tödlicher Kreuzallergien.5

Nachdem Pelias Aison beseitigt hatte, fasste er den Entschluss, auch Iason und dessen Gefährten zu töten. Die Argonauten und ihre Verbündeten, zahlenmäßig Pelias’ Armee deutlich unterlegen, waren verunsichert. Wie konnten sie ihren Tod verhindern und die Morde an Iasons Vater und Familie rächen?

Medea trat vor und erklärte, sie selbst würde König Pelias wegen seiner Verbrechen töten. Der Erfolg dieses Vorhabens hing von ihrer Zauberei ab, von ihren Pharmaka mit ihrer unglaublichen Wirksamkeit, von einem meisterlichen Trick und Medeas Fähigkeit, Feinde von ihrer Fähigkeit zu überzeugen, Leben und Tod zu ihren Gunsten zu manipulieren. Zu Medeas Methode gehörte auch der Aderlass. Ihr Plan war in der Tat gerissen und umfasste mehrere schwierige Schritte. Auch die antiken Versionen dieses Mythos um Medeas Plan, Pelias zu töten, gestalten sich kompliziert. Um sie zu verstehen, müssen wir die Fragmente zusammenfügen und versuchen, Ungereimtheiten in den literarischen Quellen und verschiedenen künstlerischen Darstellungen zu erklären. Nicht immer stimmen die Details überein, was ein Beleg dafür ist, dass einst verschiedene Versionen im Umlauf waren. Doch der Haupterzählstrang über Medeas Verjüngung von Aison und weiterer mythischer Gestalten beweist, dass die Vorstellung von einer Umkehrung des normalen Alterungsvorgangs und einer Lebensverlängerung durch die Kombination magischer Künste und Medizin schon sehr früh aufkam.

Medeas Mordkomplott basierte auf Pelias’ Überzeugung, dass sie diese Fähigkeiten tatsächlich besäße und Iasons Vater verjüngt hätte. Der erste Schritt des Plans bestand darin, dass Medea eine hohle Bronzestatue der Göttin Artemis mit unterschiedlichen Wirkstoffen füllte. Medea hatte von ihrer Tante Kirke, der Hexe aus Homers Odyssee, und von Hekate, der Göttin der schwarzen Magie, einen geheimen Vorrat an starken Pharmaka erhalten.6 Dieses Unternehmen sollte zu einem weiteren Test für Medeas Fähigkeiten werden: Sie offenbarte nämlich Iason, dass sie diese Drogen noch nie zuvor bei einem Menschen ausprobiert hätte.

Anschließend verwandelte sich Medea dank einiger Drogen in eine gebeugte, runzlige Artemis-Priesterin. Derart verkleidet, schleppte sie die Artemis-Statue im Morgengrauen auf den öffentlichen Platz von Iolkos. Medea gab vor, in Trance und unter dem Einfluss der Göttin zu sein, und erklärte, dass Artemis gekommen sei, um dem König Ehre zu erweisen und Glück zu spenden. Nachdem sie polternd den Weg in den königlichen Palast geschafft hatte, täuschte Medea König Pelias und seine Töchter und überzeugte sie davon, dass die Göttin Artemis persönlich gekommen sei, um Pelias „für immer und ewig“ zu segnen. Medea setzte entweder Drogen und Hypnose ein, um bei den Anwesenden eine Halluzination der Göttin Artemis hervorzurufen, oder sie hatte, wie Christopher Faraone vermutet, die tragbare Statue irgendwie mit Leben erfüllt.7 Der König und seine Töchter hörten, wie die alte Priesterin rief: „Artemis befiehlt mir, meine ungewöhnlichen Kräfte zu benutzen, um dein hohes Alter zu bannen und deinen Körper wieder jung und kräftig zu machen!“

Pelias und seine Töchter wussten um die magische Verjüngung von Iasons Vater, und nun schien die Göttin auch Pelias immerwährende Jugend zu versprechen. Um ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, verlangte die alte Priesterin nach einem Becken mit reinem Wasser, zog sich zurück und schloss sich in einer kleinen Kammer ein. Zur Verwunderung der Anwesenden hatte sich die hässliche Alte, als sie wieder aus der Kammer trat, in eine schöne junge Frau verwandelt. Medea versprach, Pelias’ Töchtern zu zeigen, wie sie etwas Ähnliches für ihren Vater erreichen könnte.8

Gebannt von ihrem Zauber, wies Pelias seine Töchter an, alles zu tun, was immer Medea ihnen mit seinem Körper zu tun befahl – wie seltsam es ihnen auch erscheinen möge. Medea forderte die jungen Frauen auf, der Demonstration ihrer Geheimformel zu folgen, denn diesen Vorgang sollten sie mit ihrem Vater exakt wiederholen. Im Palast rezitierte Medea Zauberformeln in ihrer exotischen Sprache. Sie goss die Pharmaka aus der hohlen Artemis-Bronzestatue in ihren besonderen Kessel, schlitzte im Beisein der Töchter die Kehle eines alten Steinbocks auf, trennte den Körper ab und legte ihn in ihren kochenden Kessel. Auf magische Weise erschien ein munteres junges Lamm!

Die leichtgläubigen Töchter eilten fort, um diese beeindruckende Magie auch bei ihrem alten Vater Pelias anzuwenden. Sie wiederholten die Zauberworte, schnitten ihrem Vater die Kehle durch, zerhackten seinen Körper und tauchten ihn in einen Kessel mit kochendem Wasser. Natürlich tauchte Pelias nicht wieder daraus auf.9

Böcke, Lämmer und Kessel kommen in allen Versionen von Medeas Verjüngungstaten vor, in Text und Bild. Die Beliebtheit dieses Motivs in griechischer, römischer und späterer europäischer Kunst zeigt, wie verbreitet die Faszination gegenüber dem Verjüngungsthema war. Im 5. Jh. v. Chr. stellte der berühmte Künstler Mikon Pelias’ grauenhaften Tod durch die Hand seiner Töchter im Anakeion genannten Tempel von Kastor und Polydeukes in Athen auf großen Wandgemälden dar (Pausanias 8.11.3).

Doch die Geschichte von Medeas wundersamem Kessel war schon davor, ab dem 6. Jh. v. Chr., bei den Vasenmalern und ihren Käufern beliebt gewesen.10 Mehrere Vasenbilder aus der Zeit um 510 – 500 v. Chr. zeigen, wie Medea einen Schafbock wieder zum Leben erweckt, während Pelias und seine Töchter zuschauen. Auf einem besonders lebendigen Beispiel (Abb. 2.1) sehen wir Medea, wie sie mit der Hand über dem Bock im großen Kessel wedelt. Sie blickt zurück zu Pelias mit seinem weißen Bart, der einen Stab hält und aufmerksam zusieht. Wir sehen, wie Iason ein Stück Holz unter den Kessel legt, während eine von Pelias’ Tochter verwundert dreinschaut und gestikuliert.

In einer ähnlich typischen Szene, zu sehen auf einem großen Weinkrug (5. Jh. v. Chr.), führt Pelias’ Tochter ihren Vater an der Hand zu Medea und ihrem Kessel, in dem ein Schafbock steckt. Auf einer weiteren Vase (470 v. Chr., Abb. 2.2) sehen wir den Bock im Kessel zwischen Medea und Pelias. Die römische Kopie eines griechischen Marmorreliefs aus der Zeit um 480–420 v. Chr. zeigt, wie Pelias’ Töchter den Kessel für Medea vorbereiten, die gerade ihr Kästchen mit den Pharmaka öffnet (Abb. 2.3).


Abb. 2.1: Medea blickt zurück zum alten Pelias (links) und wedelt mit ihrer Hand über dem Bock im Kessel; Iason legt ein Holzscheit ins Feuer, und Pelias’ Tochter, rechts, gestikuliert verwundert; attisch-schwarzfigurige Hydria, Leagros-Gruppe, 510–500 v. Chr.).


Abb. 2.2: Medea demonstriert Pelias die Verjüngung eines Schafbocks; rotfigurige Vase, ca. 470 v. Chr., aus Vulci.


Abb. 2.3: Medea mit Pelias’ Töchtern, die den Kessel vorbereiten; römische Kopie eines griechischen Marmorreliefs aus dem 5. Jh. v. Chr.


Abb. 2.4: Medea und Iason beruhigen einen alten Mann mit Stab (Pelias?), während ein jüngerer Mann (der verjüngte Aison?) dem Kessel entsteigt; etruskischer Bronzespiegel, 4. Jh. v. Chr.

Auch die Etrusker waren von dieser Verjüngungsgeschichte fasziniert: Auf einem Bronzespiegel aus dem 4. Jh. v. Chr. (Abb. 2.4) sehen wir, wie Medea beruhigend die Hand eines alten Mannes ergreift, der sitzend mit einem Stab dargestellt ist (Pelias?), während Iason ermutigend seinen Arm um ihn legt. Ein junger Mann (der verjüngte Aison, Iasons alter Vater?) entsteigt dem Kessel. Eine weitere Frau (Pelias’ Tochter?) beugt sich über Medeas Schulter und blickt dem alten Mann in die Augen.

In einer unheilvollen Szene, die um 440 v. Chr. entstand, blickt eine der Töchter nachdenklich, eine zweite hilft dem gebrechlichen Pelias, sich von seinem Stuhl zu erheben, und eine dritte Tochter hinter einem großen Kessel winkt den Vater heran und verbirgt dabei seitlich ein großes Messer.11 Ein weiterer Künstler malte eine spannende Szene, die wie ein Filmstreifen um die Seiten eines rotfigurigen Schmuckkästchens verläuft (Abb. 2.5). Dreht man die Schachtel in der Hand, sieht man, dass Medea ein Schwert trägt und einen Schafbock zu ihrem Kessel führt, während Pelias’ Tochter ihrem weißhaarigen Vater ein Zeichen gibt, sich dem Kessel von der anderen Seite zu nähern; er geht an einem Stock.


Abb. 2.5: Der alte Pelias nähert sich Medeas Kessel, von seiner Tochter ermuntert; Medea gibt ein Zeichen und trägt ein Schwert an ihrer Seite; rotfigurige Pyxis, spätes 5. Jh. v. Chr.

Das Motiv von Schafbock und Lamm aus Medeas wissenschaftlichem Vorgehen im Mythos nimmt eine wichtige moderne wissenschaftliche Errungenschaft vorweg, bei der ebenfalls Schafe eine Rolle spielten: Medea brachte ein junges Lamm dazu, ihrem Bottich mit Pharmaka zu entsteigen, die mit der DNA eines alten Schafbocks vermischt worden waren. Erstaunlicherweise war das erste geklonte Säugetier, das in unserer Kultur populär wurde, ebenfalls ein Schaf. Dolly entstand 1996 im Rahmen eines Laborexperiments gentechnisch in einem Röhrchen und anschließend in einem Nährmedium. Das Tier starb mit sechs Jahren. Natürlich gezeugte Schafe werden im Durchschnitt doppelt so alt – aber das Zellalter von Dollys genetischer Mutter und die sechs Lebensjahre zusammengenommen ergeben dieselbe Lebensdauer. Das ließ die Besorgnis aufkommen, dass geklonte Tiere das Schicksal hätten, vorzeitig zu altern und zu sterben. 2017 stellten Wissenschaftler künstlich eine Gebärmutter her und füllten sie mit ebenso künstlichem Fruchtwasser, damit sie einen lebenden Lammfötus aufnehmen konnte. 2018 ließen sie menschliche Zellen in genetisch veränderten Schafembryos wachsen.12

Klonen, Gentechnik und Systeme zur künstlichen Erhaltung des Lebens haben seit Dolly große Fortschritte gemacht. Im Mythos begann Medea mit Schafen und ging zu Versuchen mit Menschen über: Auch dies eine Parallele zur Entwicklung der modernen Wissenschaft. (Das Herz und die Lungen von Schafen haben ungefähr die gleiche Größe wie beim Menschen – das wussten die alten Griechen.)

Bis heute halten sich Zweifel, was das Manipulieren von grundlegenden natürlichen Lebensprozessen, gerade beim Menschen, anbelangt. Die antike Botschaft von Medeas verwegenen Plänen, in natürliche Alterungsprozesse und das Sterben einzugreifen, wird über die Jahrhunderte hinweg auch heute noch gehört. Pelias’ Töchter erwarteten, die Jugend ihres Vaters zurückzugewinnen, wie es Medeas Experiment zu versprechen schien. Doch es misslang ihnen katastrophal, sie erreichten die ersehnten Resultate nicht, weil Medea absichtlich den wesentlichen Schritt ausgelassen hatte: Pelias’ Blut zu ersetzen. Die blutrünstige antike Erzählung verwischt die Grenzen zwischen Scharlatanerie und Wissenschaft und verbindet geschickt die widerstreitenden Gefühle Hoffnung und Entsetzen. Auch bei den heutigen Versuchen in der westlichen Wissenschaft, „Gott“ zu spielen, gibt es dieses Nebeneinander der beiden Gefühle noch immer.13

Die Beziehung von Iason und Medea endete tragisch. Iason brach seinen Schwur ihr gegenüber, und sie tötete ihre gemeinsamen Kinder. Medea verließ Iason und machte sich in ihrem von Drachen gezogenen Streitwagen furchtlos auf zu weiteren Abenteuern. Wenn auch nicht unsterblich, so wurde Iason doch sehr alt. Obwohl er ein Held war, starb er einen einsamen Tod: Er wurde im Schlaf von einem herabstürzenden Balken seines verrottenden Schiffes, der Argo, erschlagen.

Was war Medea? War sie sterblich oder unsterblich? Ein Blick auf ihre Vorfahren könnte einen vermuten lassen, dass sie die Sterblichkeit überwand. Als Enkelin des Sonnengottes Helios und einer Meeresnymphe konnte Medea sich einer halbgöttlichen Herkunft rühmen. In der Welt der Mythen scheinen Halbgötter, Nymphen, Nereiden, Monster, Titanen, Riesen und Zauberinnen wie Medea und Kirke in einer jenseitigen Welt zwischen Unsterblichkeit und Sterblichkeit angesiedelt zu sein. Zuweilen wurde Medea als sterblich angesehen, doch sie wurde auch als unsterblich und alterslos bezeichnet. Mythen über ihren Tod gibt es keine.14

Im griechischen Mythos konnten Gottheiten mit Menschen Nachfahren zeugen, doch diese waren meist dem Untergang geweiht. Wie viele andere Mütter in der griechischen Mythologie versuchte auch Medea, ihre eigenen Kinder unsterblich zu machen (Pausanias 2.3.11), was ihr aber nicht gelang. Doch die Götter hatten die Macht, besonderen Menschen ewiges Leben zu schenken. Der trojanische Knabe Ganymed wurde beispielsweise von Zeus’ Adler entführt und auf den Olymp gebracht, den Sitz der Götter, wo er dank einer Kost aus Ambrosia und Nektar für immer jung blieb. Und Zeus gestattete dem sterbenden Helden Herakles – seinem Sohn mit der Sterblichen Alkmene –, in den Himmel aufzusteigen, wo er, mit Ambrosia genährt, unsterblich wurde und Hebe heiratete, die Göttin der Jugend (siehe Kapitel 3). In einem weiteren Mythos bat Herakles’ Neffe, der Held und Argonaut Iolaos, Hebe und Zeus, seine Jugend für einen Tag wiederherzustellen, damit er seinen Feind im Kampf schlagen könne. Eine ähnliche Erzählung gab es auch über den Krieger Protesilaos, dem gestattet wurde, für einen Tag zur Erde zurückzukehren, damit er seine Frau lieben konnte (siehe Kapitel 6).15

Götter starben nie und wurden auch nicht alt. Alterslosigkeit und Unsterblichkeit sind zwar dicht miteinander verwoben, konnten in der Mythologie aber dennoch unterschiedlich betrachtet werden. Wie wir in Kapitel 1 gesehen haben, gab Hephaistos Talos Ichor, doch auch dieser garantierte ihm keine Unsterblichkeit. Im Mythos konnte die göttliche Macht des Ichor auch lebenden Kreaturen, beispielsweise Pflanzen und Menschen übertragen werden, doch seine besonderen Wirkungen hielten nur vorübergehend an (siehe Kapitel 3).

In Ovids Nacherzählung der Verjüngung Aisons belehrt Medea Iason, dass seine Bitte, Jahre seines eigenen Lebens auf seinen Vater zu übertragen, unvernünftig und verboten sei.16 Doch zu Iasons Bitte gab es bereits einen Präzedenzfall. In Mythen konnte Unsterblichkeit geteilt, und es konnte sogar darüber verhandelt werden. Herakles wollte beispielsweise die Unsterblichkeit des Kentauren Chiron gegen das Leben des Prometheus eintauschen. Dieser war für die Ewigkeit an einen Felsen gekettet, weil er das göttliche Feuer gestohlen hatte.17

Wir können auch an die verworrene Situation der Dioskuren denken, der Zwillinge Kastor und Polydeukes, die Iason auf der Argo bei der Suche nach dem Goldenen Vlies begleiteten. Die Mythographen konnten sich nicht entscheiden, ob die Brüder unsterblich oder „halbsterblich“ waren. Diese Unsicherheit hatte einen guten Grund, denn Leda, die Mutter der beiden, war menschlich, Polydeukes wurde von Zeus gezeugt, aber Kastors Vater war Tyndareos, ein spartanischer König. Die ungewöhnliche Vorstellung, dass Zwillinge zwei verschiedene Väter haben, war hier verwirrend: sterbliche gegenüber unsterblicher Abstammung. Erstaunlicherweise war die Abstammung von unterschiedlichen Vätern an sich aber keine bloße Phantasie oder ein Kunstgriff innerhalb des Handlungsverlaufs. Der wissenschaftliche Fachausdruck dafür, dass zwei verschiedene Männer bzw. Männchen während desselben Menstruationszyklus mit einer Frau bzw. einem Weibchen Zwillinge zeugen, ist „heteropaternale Superfekundation“ („Überschwängerung“). Dies kommt bei Hunden, Katzen und anderen Säugetieren vor, selten auch bei Menschen. Säugetiere können auch eine zweite Empfängnis während einer Schwangerschaft haben, eine sogenannte Superfötation. Dass auf diese Art gezeugte Menschen geboren werden, ist aufgrund der unterschiedlichen Entwicklung der Embryonen jedoch extrem selten. In der Antike kannte man diesen Vorgang aber durchaus. Er wurde u.a. von Herodot (3.108) und Aristoteles (Geschichte der Tiere 585a3–9, 579b30–43) beschrieben.18

Als Kastor im Dioskuren-Mythos getötet wurde, bat Polydeukes darum, seine Unsterblichkeit mit seinem Bruder teilen zu dürfen. Zeus gewährte seinen Wunsch, und die Zwillinge verbrachten abwechselnd eine bestimmte Zeit im Himmel.

Hinter vielen biotechnischen „Wundern“, die von Medea und anderen mythischen und historischen Schöpfern künstlichen Lebens gewirkt wurden, verbirgt sich ein zeitloses Thema: die Suche nach ewigem Leben. Die Sehnsucht nach der Überwindung des Todes ist so alt wie das menschliche Bewusstsein. Jedes Lebewesen wird ohne ein Verständnis vom Tod geboren: Alle Menschen kommen auf die Welt und glauben, sie würden für immer leben und jung bleiben. Die bittere Wahrheit dämmert ihnen erst später. Diese allgemeine Desillusionierung wurde in Mythen auf der ganzen Welt in Worte gefasst und dadurch kompensiert. Der Jungbrunnen, das Lebenselixier, Wiedergeburt, Auferstehung, ewiger Ruhm, die Fortsetzung des Stammbaums durch Nachkommen, Streben nach Unverwundbarkeit, grandiose Bauten und Monumente, sogar Vampire, Zombies und die Untoten – all das bezeugt die Sehnsucht der Menschen, Wege zu finden, dem Tod zu trotzen. Das ist das Thema des nächsten Kapitels.

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