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Kapitel 1

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AeNNiE




Ron Hellfuns




<<Was dich verhindert –

vernichte>>


























<< Das Leben ist ein Traumfänger,

ein Fänger der Träume

Es behält sie allesamt für sich

und nimmt dich vollends in Anspruch.

Was dir bleibt ist entweder die Flucht

oder dich ihm zu widersetzen;

es zu vernichten! >>



Ron Hellfun, 07. Februar






Ich widme dieses Buch meinem tollen Mann und unseren wunderbaren Kindern und möchte mich gleichzeitig bei ihnen für das große Verständnis, die Ruhe, und die Unmengen an Kaffee (!!!!) während der Zeit des Schreibens bedanken!

Ihr seid die Besten! Danke!


-Eine Kindheit zum Wegwerfen-


„Eines Tages werde ich ein Buch schreiben, das sich öfter verkaufen wird als die Bibel!“, rief der kleine, pummelige Junge mit den blass blonden Kringelhaaren, der dicken runden Brille und den roten Pausbäckchen durch die Klasse. Doch im Gelächter der anderen Kinder ging sein zartes, vor Wut zitterndes Stimmchen gänzlich unter. Mit Papierkügelchen bewarfen sie ihn und lachten hämisch, während die Lehrerin verzweifelt versuchte, ihre Drittklässler wieder zu bändigen. „Ronald“, sprach sie, „das war wirklich eine schöne Geschichte. Aber das nächste Mal, wenn wir eine Buchpräsentation vorführen, bitte ich dich, endlich mal eines auszusuchen, das nicht du geschrieben hast, sondern ein BEKANNTER Autor.“ Sie lächelte beinahe bettelnd zu dem kleinen, dicken Jungen herunter, in der Hoffnung, er würde verstehen, dass die anderen Kinder ihn weniger auslachten, wenn er endlich aufhören würde, sich als bisher unentdeckter Schriftsteller aufzuspielen und sich seinem Schicksal zu fügen versuchte, dass er wie alle anderen auch in der Klasse ein ganz gewöhnliches neun jähriges Kind war. Nicht mehr und nicht weniger.


Ronalds Unterlippe zitterte vor Zorn. Er war ein echter Autor! Vielleicht etwas kleiner und wesentlich jünger als seine bekannten Mitstreiter, aber seine Werke waren zweifelsohne mit denen eines Thomas Mann gleichzusetzten. Fand er zumindest. Die bekanntesten Autoren kannte Ronald allesamt beim Namen, man muss schließlich seine Konkurrenz kennen, wenn man mit ihr konfrontiert wird, begründete er sein Wissen. Zudem kam es immer äußerst intellektuell daher, wenn ein kleiner Wonneproppen, wie er es nun mal war, die großen Schriftsteller chronologisch aufzählen konnte. Man ging sofort davon aus, er interessiere sich ebenfalls für deren Bücher, was zahlreiche Erwachsene unheimlich zu begeistern schien, lesen die meisten Kinder in Ronalds Alter wenn überhaupt die Texte ihrer Apps. Ronald wurde seiner Rolle als der kleine übergewichtige Klugscheißer mehr als gerecht. Er beherrschte perfekt das nasale Gerede über den Rand seiner Brille hinwegblickend. Wenn es um Autoren ging, war er stets interessiert. Was aber keiner wusste war, Ronald ging es nicht um die Bücher als solche. Im Gegenteil, er hasste lesen! Geschichten, die spannend begannen und dann von den Schriftstellern versaut wurden mit schlechten Enden, langweiligen Passagen, dummen Charakteren. Es machte Ronald zornig, wenn er mitlesen musste, wie aus einem tollen Einstieg in eine Geschichte ein dummes Kinderbuch wurde. Nichts mit blutrünstigen Intrigen. Nichts mit Mord aus Eifersucht oder Hass. Gleiches galt natürlich auch für die Literatur der Erwachsenen. Keine Grausamkeit ging nicht einher mit einer schnulzigen Liebelei zwischendurch. Das alles waren Dinge, die Ronald kalt ließen. Er wollte Kämpfe und Scheusale. Keine doofen Mädchen, die am Ende doch nur alle wieder knutschen wollen. Deshalb schrieb er seine Geschichten lieber stets selbst, denn er wusste als Einziger, was er wirklich lesen wollte.


Seine Lehrerin hatte ihn zwar schon des Öfteren darum gebeten, ein bekannteres Exemplar für den Deutschunterricht auszuwählen, aber Ronald dachte nicht im Traum daran. Das würde ja bedeuten, er müsse sich einem anderen Werk als dem seinen widmen. Dafür war ihm seine Zeit einfach viel zu kostbar. Er würde sich ohnehin nur wieder über die Fehlbarkeiten des anderen Schriftstellers aufregen. Unnötige Energieverschwendung. Genauso gut wusste Ronald, dass die Kinder seiner Klasse nicht den Hauch einer Ahnung besaßen, was wirklich gute Literatur ausmache. Geschichten über kleine Mädchen, die ganze Kerle hochheben konnten, über Jungen, die plötzlich gegen Drachen kämpfen müssen und als tapferer Held die Prinzessin zur Belohnung bekamen. Für Ronald alles Schwachsinn. Dass niemand von ihnen merkte, dass die Welt da draußen eine andere war. Voller Hass und Gewalt, Intrigen und Heucheleien. Vollgestopft mit Dealern und Abhängigen auf den Straßen. Gut, vielleicht nicht gerade hier bei der Grundschule und auch nicht in seiner Wohngegend, aber irgendwo bestimmt. Da hebt kein kleines Kind einen 100 Kilo Mann hoch, es sei denn, man sieht derartige Dinge, weil man gerade auf einem Trip ist.


Während die anderen Kinder sich langsam wieder einbekamen und ruhiger wurden, vergrub Ronald sein Gesicht hinter seinem Rucksack, den er auf dem Schoß hatte. Er biss heimlich in seinen Schokoriegel und schmiedete finsterere Rachepläne gegen all jene, die bis eben noch so über ihn lachten. All diese Banausen, die sich schon in die Hose pieseln, wenn draußen ein einziger Blitz am Himmel zuckt. Wie würden sie dann erst reagieren, wenn man sie eines Tages in die kalte Realität wirft? Wenn sie plötzlich nicht mehr behütet in ihrem bunt gestrichenen Kinderzimmern sitzen und sich von Mami die Brote hoch bringen lassen, sondern alles selbst machen müssen, für sich selbst sorgen müssen und erkennen, dass das Leben gar nicht so schön und einfach ist wie ihre unbeschwerte Kindheit es ihnen vorgegaukelt hat!


Dann würden sie sich an Ronalds Stories erinnern, da war sich der kleine Pummel ganz sicher. Sie würden feststellen müssen, dass alle seine Geschichten das pure, das wahre Leben widerspiegelten und sie würden ihn als erwachsene Menschen aufsuchen und um Verzeihung bitten, dass sie als Kinder so töricht gewesen waren, ihn für seine frühen Werke auszulachen. Sie würden ihm Kuchen backen und um Autogramme betteln, am besten noch signiert mit einem netten, kleinen Spruch unter Ronalds Kürzel im Buchdeckel. Sie würden allen aus ihrem Bekanntenkreis sagen: „Kennst du Ronald Hollewitz, den berühmten Schriftsteller? Mit ihm war ich in einer Klasse. Er war schon immer ein kluger und weiser Mann!“ Damit würden sie sich brüsten und so tun, als seien sie wegen ihrem Verhältnis zu Ronald allein etwas Besonderes, da sie als Kinder neben ihm gesessen oder ihn regelmäßig verprügelten, was ihnen ja im Nachhinein leid tue. Sie würden ihr armseliges Leben fortsetzen, möglicherweise das Haus der Eltern erben, weil das Geld für ein eigenes bei Weitem nicht reichte. Aber eines stand für Ronald von Anfang an fest: Während sie trist vor sich hin vegetieren und von Ruhm, Reichtum und Anerkennung träumen, wird Ronald diesen Traum leben. Er wird ein Buch nach dem anderen veröffentlichen und der Nachwelt somit wertvolle Informationen seiner Epoche hinterlassen. Seine Werke werden Bestandteile des Unterrichts werden. Die Kinder seiner Klassenkameraden werden mit leuchtenden Augen vor ihren Eltern stehen und sagen: „Guck mal, das neue Buch von Ronald Hollewitz dürfen wir jetzt in der Schule lesen! Ist das nicht toll?“ Ja, eines Tages wird man sein Talent erkennen, da war Ronald sich sicher. Und solange würde er die Häme der anderen einfach weiterhin über sich ergehen lassen, schließlich war seine Haut dick genug, dass nichts davon bis in sein Herz durchdrang.


„Ronald, ich muss mit dir sprechen.“, kam seine Lehrerin auf ihn zu, als es zur Pause läutete und alle anderen schlagartig lautstark aus der Klasse rannten. Er blieb gemütlich auf seinem Platz sitzen. Immerhin kannte er diese Prozedur bereits. Sie macht sich Sorgen um ihn, weiß nicht, ob sie nicht doch einmal mit seinen Eltern reden soll. „Ich weiß langsam nicht mehr weiter mit dir. Du sprudelst so vor Energie und Schreibeifer. Du bist kreativ, keine Frage. Auch dass du deine eigenen Geschichten hier präsentierst, finde ich toll, das kann nicht jeder. Aber die Art, wie du deine Kreativität umsetzt...Warum muss alles bei dir immer so grausam sein? Hast du Probleme zu Hause oder hier in der Schule?“ Sie hockte sich neben sein Pult. Würde er jetzt hinfallen, könnte er ihr genau in den kurzen Jeansrock reinstarren, schoss es dem dicken Jungen durch den Kopf. Aber alte Frauen in knappen Schlübbern will kein neun Jähriger sehen. Der Gedanke ließ ihn kurz erschaudern und wurde ganz schnell wieder aus seinem Kopf verbannt. Selbst ein dramatischer, gequälter Charakter wie Ronald kannte eine gewisse Grenze zwischen dem Absurden und dem einfach nur Abartigem. Also blieb er lieber sitzen und lugte ein Stück weit über seinen Rucksack hervor. Er blickte in das besorgte Gesicht der Frau neben ihm, die versuchte, bei aller Sorge um ihren Klassenquerolanten freundlich zu lächeln, damit er ein Gefühl der Sicherheit verspüre und sich ihr anvertraue. Ronald studierte ihre Visage genauestens, jede einzelne Falte. Sie war eine gute Inspirationsquelle, falls er mal eine Geschichte über Frauen schreiben wolle, die verprügelt werden. Dann könnte ihr derzeitiger Gesichtsausdruck durchaus hilfreich sein.


Sie nahm vorsichtig seinen Ranzen zur Seite und stellte ihn auf den Boden. Dass Ronald während des Unterrichts gegessen hatte, sah sie nun anhand des leeren Papiers in seiner rechten. Aber sie schimpfte nicht und deutete seine Naschattacke als Frustfresserei, damit er bald einen noch dickeren Panzer bekommen würde. „Ist bei dir wirklich alles in Ordnung?“, fragte sie abermals. Ronald seufzte. Nicht, weil er etwas auf dem Herzen gehabt hätte, nein, es ging ihm eigentlich sehr gut. Aber er wusste, seufzen hilft, damit dicke Kinder, zu denen er zweifelsohne dazu gehörte, von anderen noch mehr Mitgefühl erhaschen konnten. Übergewicht in Kombination mit einer gequälten Seele verschaffte fast jedem fettleibigem Heranwachsenden quasi Narrenfreiheit.


Ronald sah sie mit rehbraunen Kulleraugen an. Der Blick funktionierte bei seiner Mutter super, warum also nicht auch bei seiner Lehrerin, schließlich waren es beides Frauen, beide also dumm, sie würde demnach garantiert genauso auf die hilfsbedürftige Masche reinfallen wie seine Erzeugerin. „Zu Hause ist alles in Ordnung.“, begann er zaghaft. „Es ist nur...“ Seine Lehrerin blickte ihn erwartungsvoll an. „Ich fühle mich so unverstanden.“ Das Gesicht der Lehrerin erschlaffte. Aus dem besorgten Ausdruck wurde ein typischer Blick, den alle Erwachsenen perfekt beherrschen, wenn sie ausholten zu langen Erklärungen und Vorträgen. Innerlich verdrehte Ronald schon die Augen. „Sieh mal, mein Kleiner. Du bist anders als die anderen. Wenn jeder ein Buch mitbringt, das von einem Verlag veröffentlicht wurde, kommst du mit deinem eigenen an. Erzählen andere von ihren Lieblingsfilmen, sagst du, du magst Filme nicht, weil es von dir noch keinen gibt. Du bist einfach zu sehr nur auf dich fixiert und gibst nichts und niemand anderem auch nur den Hauch einer Chance, an dich heran zu treten oder dich für etwas anderes als für dich zu begeistern.“ „Sie verstehen mich auch nicht!“, schrie Ronald auf und rannte zur Tür. „Ich will doch nur Anerkennung!“ Er rannte den Flur entlang, zum Ausgang, über die Straße in den Park. Hinter einer Mauer setzte er sich, um nach Luft zu schnappen. Warum er als fetter Junge keine Ausdauer haben konnte, verstand er nicht. Er konnte ja auch auf Kommando losheulen, was er eben erst wieder zweifelsfrei unter Beweis gestellt hatte.


Mit dem rechten schokoverschmierten Ärmel wischte er sich die letzten Tränen aus dem Gesicht und wartete noch einen Moment. Er hörte seine Lehrerin am Schuleingang seinen Namen rufen. Dreimal, dann gab sie auf und ging zurück. Für Ronald war das das Zeichen, nach Hause zu gehen. Er bog einige Male ab und stand schließlich vor seiner Haustür. Wild drückte er mehrmals hintereinander auf die Klingel, damit seine Mutter schon wusste, dass etwas nicht stimmte, noch bevor sie öffnete. Und natürlich bevor die Lehrerin bei ihr anrief, um zu erzählen, dass Ronald weggelaufen sei-wieder einmal. „Was ist passiert?“, fragte seine Mutter bestürzt, als sie ihrem kleinen Schatz die Tür öffnete. Er begann erneut zu schluchzten. Seine Mutter legte behutsam ihren Arm um ihn: „Komm rein und setz dich erst einmal auf das Sofa. Willst du fernsehen oder was essen?“ „Beides!“, befahl Ronald und warf die hässlichen Zierkissen von der Couch, die er noch nie ausstehen konnte. Immer dieser Weiberkram überall. Die Füße mit den dreckigen weißen Socken knallte er auf den Beistelltisch und ließ sich gerade eine große Schüssel „Trostchips“ bringen, als das Telefon klingelte. Natürlich war die dumme Kuh von Lehrerin am Apparat und das Gespräch dauerte auch nicht lange. Seine Mutter setzte sich nach dem Einhängen des Hörers zu ihrem Sohn. „Was ist schon wieder vorgefallen?“, wollte sie wissen. Aber Ronald verwies nur schmatzend auf den Fernseher. „Sie kommt nachher vorbei, um sich mit deinem Vater und mir zu unterhalten.“ Ronald nickte. „Hoffentlich denkt sie an meinen Schulranzen!“, antwortete er, denn den hatte er natürlich in der Klasse gelassen, um ihn nicht den Weg nach Hause zu schleppen und um keine Hausaufgaben machen zu müssen.


Den Rest des Tages verbrachte Ronald in seinem Zimmer. Das machte er jeden Tag ab vierzehn Uhr, denn dann kam seine ältere Schwester nach Hause. Ronald hasste diese aufgekratzte Furie eigentlich, denn sie durchschaute ihn immer. Sie wusste, dass vieles von ihm nur Show war, der reinen Bequemlichkeit halber. Sie wusste auch, dass er Mamis Liebling war, weshalb sie immer noch gemeiner zu ihm war, als Schwestern es üblicherweise zu ihren kleinen Brüdern sind. Sie nutzte jede Gelegenheit, ihm eins rein zu würgen. Oft musste sie auf ihren Bruder aufpassen, wenn die Mutter mal eben einkaufen oder zu der Nachbarin wollte. Dann sperrte Barbara den kleinen Kerl in den Keller ein, da konnte er wenigstens keinen Unfug machen und keinem auf die Nerven gehen. Vor allem aber konnte er dann nicht alles aus der Küche leer fressen. Denn wegen ihm hatte sie schon genug Ärger. Nicht nur, dass sich zu Hause alles immer nur um ihn, den armen kleinen Jungen drehte. Auch in der Schule wurde sie ständig damit aufgezogen, was für ein verzogenes fettes Schwein ihr Bruder doch sei. Und dass es kein Wunder sei, dass sie so mager ist, wenn er ihr immer alles weg frisst. Tatsächlich wollte sie gar nichts essen. Zum einen aus Angst, sie sähe eines Tages genauso aus wie Ronald, zum anderen kümmerte es auch keinen, wie viel oder in ihrem Fall wenig sie auf die Waage brachte. Schließlich ging es jeden Tag nur um den kleinen Ronald, da blieb für Barbara einfach keine Zeit mehr für Aufmerksamkeit.


Obwohl sie immer so fies zu ihm war, liebte Ronald seine Schwester insgeheim abgöttisch. Sie war die Einzige, der er nichts vormachen konnte. Außerdem war Barbara auch die Einzige, die ihm in Sachen Gemeinheiten in nichts nach stand. Es verletzte ihn zwar, dass sie kaum etwas Nettes für ihn übrig hatte. Aber andererseits war er froh darüber, dass wenigstens eine den Mut hatte, ihm die Meinung zu geigen und nicht mit dieser „Ich will dir doch nur helfen“ - Nummer daher kam. Trotzdem wich er ihr lieber so oft es ging aus, denn manchmal bekam er es auch ohne jeglichen Grund von ihr drüber. Sie schlug ihn gern grün und blau, wenn er auf leisen Sohlen versuchte, an ihrer Zimmertür vorbei zu schleichen und sie es mit bekam. Denn sie hatte überhaupt keine Skrupel, ihn zu vermöbeln, er hatte es in ihren Augen nicht anders verdient, es schadete ihm nicht und sie schlug auch nur auf die Körperstellen, für die sich ihr kleiner Bruder zu sehr schämte, als dass er sie für irgendjemanden frei machen würde, um all die blauen Flecke und Kratzer begutachten zu können. Ronald hatte sich mit seiner Rolle als so etwas wie ihr Wutablass-Ventil abgefunden. Wann immer Barbara einen beschissenen Tag hatte, musste Ronald her halten und die Schläge aushalten, anderenfalls würden sie noch heftiger und noch mehr werden. Es kümmerte Ronald nicht weiter, denn er kannte es nicht anders als so und konnte das Verhalten seiner Schwester sogar noch ein Stück weit verstehen, denn jeder ging hin und wieder nicht vorbildlich mit seinem Ärger im Bauch um. Das Einzige, was Ronald Bauchschmerzen beim Gedanken an die Schläge seiner Schwester bereitete war die Tatsache, dass sie eigentlich immer wütend oder schlecht gelaunt war. Und genau das war wohl auch das Einzige, was die beiden miteinander gemeinsam hatten, eine ungeheure Wut, die unbedingt aus den Tiefen ihres Bewusstseins heraus gelassen werden wollte.


Am Abend stand die Lehrerin auf der Matte, um mit Ronalds Eltern über ihn, seine Geschichten und sein Verhalten in der Klasse zu sprechen. Den Rucksack hatte sie mitgebracht und schon beim Eintreten erwähnt, dass er seine Hausaufgaben ausnahmsweise nicht zu erledigen brauche. Während die beiden Frauen bei einer Tasse Tee am Küchentisch saßen, hockte Ronald auf der Treppe, um zu lauschen. Er wollte um jeden Preis gewappnet sein, wenn es nachher heißen würde, er möge doch bitte einmal herunter kommen, damit sie sich auch mit ihm unterhalten können. Ronald hasste diese Gespräche. Aber was tat man nicht alles für ein verfrühtes schulfrei und keine Hausaufgaben.


Seine Mutter klang besorgt und hörte sich in aller Ruhe an, was die Lehrerin ihr mit Bestürzen erklärte. Ronalds Vater saß am PC und zockte. Ihn interessierte das Weibergewäsch nicht. Er hatte einen harten Arbeitstag und wollte Ruhe haben. Der Junge war seines Erachtens einfach nur zu fett und stelle sich an. Das wären seine einzigen Probleme. Schuld dafür gab er natürlich ausschließlich seiner Frau, die ihren Sohn stets mit Samthandschuhen anfasste. Er selbst entzog sich jeder Verantwortung. Schließlich sei er den ganzen Tag nicht da und nach Feierabend wolle er nur essen und seine Ruhe haben, das sei doch nicht zu viel verlangt.


Ronald war verwundert, als er beide Frauen im Flur stehen sah. Sie redeten immer noch, als hätte einer vergessen, ihren Sprechmotor auszuschalten. Die Lehrerin zog ihren Mantel über und verschwand durch die Haustür ins Dunkle nach draußen. Seine Mutter hatte die Hände übereinander geschlagen und sah ihn auf der Treppe sitzen. Langsam ging sie auf ihn zu. Warum wurde er diesmal nicht zum Gespräch dazu geholt? Warum musste er sich nicht rechtfertigen? Er hatte sich doch bereits so gute Ausreden einfallen lassen, sie wieder alle um den Finger zu wickeln! Erst wollte niemand seine Geschichte hören und jetzt besteht nicht mal mehr Interesse an seinen Ausflüchten? Das darf doch nicht wahr sein! Anstatt froh darüber zu sein, dass er aus der Nummer raus war, stieg wieder der Zorn in ihm auf. Seine Mutter nahm ihn an die Hand, stellte ihn auf die Beine und ging mit ihm in sein Zimmer. Sie sagte, er solle seinen Schlafanzug anziehen und dann legte er sich ins Bett, während sie ihn zudeckte. Auf seiner Bettkante nahm sie Platz. „Ronald, mein Junge. Du musst damit aufhören. Du musst aufhören, dich immer über alles hinwegzusetzen. Du musst aufhören, immer alles anders zu machen als die anderen. Vor allem aber musst du aufhören, vor deinen Problemen weg zu laufen, oder dich hinter ihnen zu verstecken. Du bist ein kleiner Junge von neun Jahren. Du bist ein Schüler. Du gehörst nicht zu den großen Schriftstellern, die die Welt verändert haben. Vielleicht bist du das eines Tages, da glaube ich ganz fest dran, aber jetzt bist du nur ein kleiner Junge. Also versuch nicht länger jemand zu sein, der du nicht bist.“ Sie drückte ihm einen saftigen Kuss auf die Stirn, der brannte wie Feuer. Dann verließ sie den Raum. Die hinterhältige Hexe war endlich weg. Nun hatte sie ihm auch den Rücken gekehrt und sich gegen ihn verschworen. Warum wollte nur niemand glauben, dass er bereits jetzt zu den Großen gehörte? Ronald musste es allen beweisen, er musste eine Geschichte schreiben, nein, er musste DIE Geschichte schreiben. Es musste etwas Einzigartiges sein, etwas, dass sich bereits in den ersten Wochen verkaufen würde wie warme Semmeln. Etwas, aus dem in ferner Zukunft eine eigene Religion entstehen könnte. Etwas, das noch nie zuvor dagewesen war.


Dann würde er sich eben mehr anpassen. Als Tarnung für sein großes Vorhaben war das sogar gar keine schlechte Idee. Am Tag würde er allen den bekehrten Ronald vorgaukeln und am Abend würde er bis tief in die Nacht an seinem Werk arbeiten. Keiner würde es merken. Und am Ende bekäme er gleich die doppelte Anerkennung, denn er hat sich der Gesellschaft angepasst, trotzdem etwas Eigenes kreiert und damit wesentlich zur Historie beigetragen. Er würde in die Geschichtsbücher dieser Welt eingehen. Dieser Ansporn reichte aus, um künftig Bücher in der Klasse von seiner verhassten Konkurrenz so zu präsentieren, als würde er sie für gut befinden.

Also begann er voller Feuereifer zu schreiben...



Ron Hellfuns

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