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Kapitel 2

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-Die neue Identität-


Die Jahre vergingen ohne merklichen Unterschied in Ronalds Leben und auch mit Beginn der Pubertät wurde es für den mittlerweile dreizehn jährigen Jungen nicht leichter, denn er hatte nach wie vor an seinem starken Übergewicht zu nagen und zu allem Überfluss richtete sich eine ausgeprägte Akne an seinem Körper häuslich ein. Sein verfetteter Körper war der ideale Nährboden für all diese fiesen, kleinen Eiterpickel, sodass sie sich nicht nur schlagartig in seiner gesamten Visage ausbreiteten und damit seinem mühsam angezüchteten Flaum über der Oberlippe die Schau stahlen, nein, die Akne erstreckte sich zu allem Übel auch noch von den Schultern über die gesamte Rückenpartie bis hin zum Steiß. Nun war er nicht nur fett, sondern auch noch gänzlich entstellt in den Augen seiner Mitschüler. Dafür mied man ihn, wer wollte sich schon mit dem Loser der Schule abgeben und somit zwangsläufig selbst einer werden. Er hatte also die lang ersehnte Ruhe vor den anderen, wovon er in der Grundschulzeit lange nur träumen konnte. Niemand wollte sich mit einem hässlichen Versager abgeben, das war allen, die immer nur darauf achteten, zu den Coolen oder wenigstens nicht zu Ronald zu gehören, viel zu peinlich. Keiner von ihnen hätte das Mobben lange ausgehalten, das ihnen Ronalds Gesellschaft eingebracht hätte. Doch es störte ihn nicht, nur so konnte er unbesorgt tun und lassen, was er wollte. Meistens zumindest. Denn Ronalds Körper brachte ihm in der Pubertät einen weiteren zweifelhaften Segen. Zwar machte man sich nicht mehr über ihn lustig, weil er sich selbst seit jeher als großartiger Schriftsteller feierte, das hatte er nun gekonnt verbergen können und so getan, als habe er sich den anderen seines Alters angepasst. Schließlich würden alle noch früh genug erkennen, dass er der Schriftsteller des Jahrtausends ist, wenn sie erst sein Buch ehrfürchtig in den Händen halten und sich dafür schämen, ihn als Kind zur Anpassung an die Normen der Gesellschaft gezwungen haben. Dafür galt er nun in den Pausen als Versuchsobjekt der anderen Jungs. Denn Ronalds Fettleibigkeit sorgte für eine gute handvoll Oberweite, eine pralle Brust, wie sie viele Mädchen in seinem Alter gern hätten vorweisen können. Der Streuselkuchen mit den Männertittchen, wie er liebevoll von seinen Mitschülern genannt wurde, erkannte schnell, dass sich mit seinem Busen schnelles Geld verdienen ließ. Geld, das er für seine Arbeit dringend brauchte. So ließ Ronald es Pause um Pause über sich ergehen, dass die Jungen seiner Schule mit Ronalds Brüsten „Trockenübungen“ betreiben konnten. Sie durften die Dinger anfassen, kneten, heben oder was ihnen sonst noch so damit einfiel. Für sie war es die optimale Gelegenheit zu üben, schließlich war es für sie bis dato die einzige Gelegenheit, das wohlgeformte Stück Körperfett in den Händen halten zu dürfen, ohne gleich als Lüstling oder Perverser abgestempelt zu werden, für Ronald eine gute Einnahmequelle. Zwar ließ er das Gegrapsche nur widerwillig zu, doch trotzdem stand Ronald in jeder großen Pause in der Ecke hinter den Toiletten am Ende des Schulhofes und machte obenrum blank, wenn das Geld stimmte, das man ihm hinhielt. Es war auf eine Art erniedrigend, sich den gierigen Händen ausliefern lassen zu müssen und auch ganz bestimmt nicht die Art, die Ronald sich als erste sexuelle Erfahrungen hätte wünschen können. Doch angesichts der Tatsache, dass es nur ein paar kurze Augenblicke waren, die jeder seinen fetten Körper berühren durfte, war es durchaus erträglich. Im Hinterkopf manifestierte sich der Gedanke, wie schlecht es dann wohl den Mädels gehen muss, die tagtäglich so betatscht werden und die Jungs auch noch denken, sie machten alles richtig. Ronald hielt sich an die Weisheit, dass Papier geduldig sei, also würde er es ihm gleich tun, während die anderen seines Alters ihre ersten Knetversuche an ihm übten. Es gewährte ihm zudem auch einen Freibrief, der garantierte, dass man ihn wirklich in Ruhe ließ, also selbst das Mobben hielt sich stark in Grenzen, denn anderenfalls lief man Gefahr, dass Ronald seine Dienste verweigerte und das galt es auf jeden Fall zu verhindern.


Man hätte annehmen können, mit der Pubertät sei bei Ronald auch das Interesse am weiblichen Geschlecht erwacht, doch weit gefehlt. Da er ohnehin schon mit einem halben Frauenkörper von Mutter Natur gestraft worden war, interessierte ihn auch der Rest an Mädchen nicht. Sie waren in seinen Augen nichts Besonderes, nichts, das man anhimmeln oder verehren konnte. Er empfand sie vielmehr als ungemein lästig und nervig. Ständig dieses dämliche Gekichere für jeden Mist, Getuschel über Belanglosigkeiten und Zickenkrieg, weil eine die gleiche hässliche Hose trug wie die andere. Als sei Ronald nicht schon gestraft genug damit gewesen, sich sein zu Hause mit einer anstrengenden Mutter und einer bösartigen Schwester teilen zu müssen. Nein, selbst in seiner Klasse gab es mehr Mädchen als Jungen, was zur Folge hatte, dass die Mädchen immer wieder ihre Dinge durchbringen konnten. Klassenfahrten gingen nicht zu Paintball-Schießanlagen, sondern zum Pferdehof, weil da gerade irgend so ein Gaul geworfen hatte. Wen interessierte das denn? Und auf seine Frage hin, in welchem Pferdealter das Fleisch besonders zart und saftig für Gulasch wäre, wurde er geradewegs von einer mehr als empörten Lehrerin nach Hause geschickt, während die heulenden Mädchen sich aufgrund dieser grausamen Gedanken erst einmal gegenseitig trösten mussten.


Doch nicht nur die Tatsache, dass sein reales Leben ihn von Frauen umgab und von ihnen dominiert wurde, ärgerte Ronald über alle Maßen. Selbst die Literatur bediente sich ständig der Illusion, das weibliche Geschlecht sei etwas hoch Umworbenes, Einzigartiges, Tolles, auf das man im Leben nicht verzichten konnte. Ständig wurden sie als die krönende Belohnung dargestellt, für die ein Mann tapfer sein Leben opfern musste, um die unfähige Frau, die scheinbar nie im Stande war, auf sich selbst Acht zu geben, aus den Fängen des Bösen zu retten. Und was war am Ende der Preis für all die Strapazen? Der arme Held der Geschichte bekam diese verblödete Trulla noch als Ehegattin für den Rest seines Lebens ans Bein gebunden! Hätte er sie mal besser sterben lassen, verbrennen lassen, vom Drachen auffressen lassen! Es wäre ihm besser ergangen. Aber nein, in den meisten Geschichten ging es um das bloße Verlangen nach Befriedigung. Ronald fragte sich immerzu, was der Lohn für all die Tapferkeit gewesen war, wenn nicht Anerkennung? Es konnte ja wohl kaum ein Blowjob von der hübschen Jungfrau gewesen sein! Das wäre viel zu plump. Ronald begriff nicht, wie hoch gefeierte Autoren für derartig lahme Stories, auf dieses kleine Detail der Wollust reduzierte Legenden und Sagen, über Jahrhunderte umjubelt werden konnten. Oder hatte Ronald einfach noch nicht die nötige Reife erlangt, um sich vorstellen zu können, dass es für einen erwachsenen, gestandenen Mann nichts Besseres auf der Welt gab, als sein Gesicht in das pralle Dekolleté einer hübschen Frau versinken zu lassen? Es war ihm einfach zu wider. Allein die Vorstellung rief Übelkeit bei ihm aus. All diese Körperflüssigkeiten und Säfte, über die alle Welt schwärmte, es war so ekelhaft! Ronald wusste nur zu gut, wozu ein Mann mit seinem besten Stück außer pinkeln noch im Stande gewesen war, er hatte es selbst erfahren müssen eines Nachts. Er hatte sich nie zuvor in seinem ganzen Leben selbst angewidert und beschmutzt gefühlt wie in dem Augenblick seines Erwachens im eigenen Körpersaft. Und die Vorstellung, edle Ritter oder großartige Superhelden waren nur bereit, die größten Strapazen auf sich zu nehmen und die waghalsigsten Situationen zu meistern, nur wegen eines Abspritzens, verursacht durch eine junge Schönheit? Das waren keine Helden, es waren Idioten sondergleichen! Und dann konnte angesichts dieser Tatsachen niemand verstehen, warum Ronald nicht gern las?


Aber eigentlich kümmerte es Ronald auch nicht weiter, was andere miteinander trieben oder wie die großen, bekannten Autoren mit ihren Sexgeschichten die eigentliche Handlung ihrer Story zerstörten. Zwar hatte er in Kindertagen die Werke anderer Schriftsteller verabscheut und gemieden, doch nun hatte er ihren Nutzen für sich selbst entdeckt. Er filterte aus jedem Bestseller einfach die Teile heraus, die sich nur um das Eine drehten und verschlang den des Handlungsablaufes förmlich. Dabei versuchte er, sich jede Eigenart der Schreiber einzuprägen, um sie später allesamt auf sein Schriftstück zu projizieren. Doch das reichte Ronald bei Weitem nicht aus. Sein Interesse an den Biographien der einzelnen Autoren war in ihm geweckt. Denn er wusste, bevor eine gute Geschichte entstehen kann, müssen erst die perfekten Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden. Jeder von ihnen, den Großen der Literatur, hatte eine Inspirationsquelle. Nur Ronald fehlte sie noch. Also begann er, die Gepflogenheiten der anderen zu kopieren. Sein stilvoll eingerichtetes und sorgsam babyblau gestrichenes Kinderzimmer verwandelte sich mehr und mehr in eine Art Messibude. Über die Tapeten klebte er wahllos Zeitungsartikel, die er aus dem regionalen Morgenblättchen gerissen oder geschnitten hatte. Sie waren allesamt völlig zusammenhanglos und wild durcheinander, ohne jegliche Bedeutung oder tieferen Sinn hinter dem Ganzen. Doch es schaffte eine bestimmte Atmosphäre in dem kleinen Raum, die Ronald gern mit der von Massenmördern aus Horrorfilmen verglich, die ihre spärlichen Behausungen ebenfalls mit Fotos und Berichten über ihre Opfer tapezierten. Nur hatten diese Leute dabei eben System dahinter, Ronald nicht.

Über einen Autor hatte Ronald erfahren, dass dieser sich gern auf Mülldeponien aufhielt, um sich dort inspirieren zu lassen. Da die nächste Halde aber zu weit entfernt für seine verfetteten Füße war, beschloss Ronald, die Idee einer Deponie einfach in seinem Zimmer entstehen zu lassen. Also lagerte der ganze Verpackungsmüll, den er täglich produzierte, fortan auf seinem blauen Teppichboden. Weil Goethe, der ja zu den bekanntesten Schriftstellern aller Zeiten zählt-zumindest, bis man Ronalds Talent entdeckte-, seine Ideen angeblich verdorbenen Äpfeln in seiner Schreibtischschublade zu verdanken hatte, ließ Ronald auch diese Möglichkeit der Inspirationsquelle nicht aus und warf seinen gesamten Biomüll hinter die Heizung neben seinem Schreibtisch. Doch anstelle von gesunden Äpfeln gammelten dort alte Pizzareste und Pommes vor sich hin. Ronald war sich sicher, es würde für den gleichen Effekt sorgen können.

Zugegeben, wohl fühlte er sich in seinem Kinderzimmer nun nicht wirklich, aber was tat er nicht alles für die hohe Kunst des Schreibens. Allerdings verzichtete er bald wieder auf die Sache mit dem verdorbenen Essen, nachdem er sich mehrmals hintereinander deswegen übergeben musste.


Lange fiel der Zustand seines Zimmers niemandem auf, denn Besuch bekam Ronald nicht und seine Schwester wagte keinen Schritt in das feindliche Gebiet. Ihr war es also völlig egal, ob ihr kleiner, verhasster Bruder in seinem eigenen Dreck hauste. Er war ihr sowieso gleichgültig geworden. Anstatt ihn bei jeder Gelegenheit, die sich ihr bot, zu schikanieren, bediente sie sich nun einer neuen Taktik. Sie bevorzugte die gänzliche Ignoranz ihm gegenüber. Das verletzte ihn noch mehr, als die zahlreichen körperlichen und psychischen Misshandlungen, denen er zuvor ihrer Willkür hilflos ausgeliefert war. Jedes Mal, wenn sie ihn quälte, um sich selbst ein bisschen besser zu fühlen, dachte Ronald, es könne wohl kaum noch schlimmer kommen. Aber nun wurde er eines Besseren belehrt. Wann immer er an ihrer Zimmertür vorbei ging, mit besonders lauten Schritten, damit sie wusste, dass er sich nicht in seinen vier Wänden verbarrikadiert hatte, hoffte er sehnlichst, sie würde ihren langen, dürren Arm heraus strecken, ihre Fingernägel in seinen bloßen Nacken festkrallen, die Treppe zum Keller hinab zerren und ihn dort im Dunkeln einsperren, wenn auch nur kurz. Nur ein paar Minuten würden ausreichen, Hauptsache sie zeigte ihm, dass er für sie noch existierte, in irgendeiner Form, wenn auch in ihren Augen unberechtigt. Doch das Gefühl, ihr gleichgültig zu sein, war für ihn ein Zustand tiefster Leere, die er immer wieder verzweifelt mit Essen versuchte zu füllen. Er hasste sich selbst dafür. Für alles. Für seine Fressattacken, für seine ganze Art und nicht zuletzt auch für das nicht zustande bringen seines Werkes.


Ronald hatte alles getan, was die großen Schriftsteller vergangener Tage auch taten, nur half es bei ihm rein gar nichts. Es brachte ihm weder die erhofften Ideen, noch die gewünschte Kreativität ein und erst recht nicht den regen Schreibfluss, den seine wurstigen Finger so dringend brauchten, um ihm das Gefühl innerer Ruhe zu verschaffen. Als Ronald eines Nachmittags völlig erledigt von der Schule nach Hause kam, traf ihn beim Betreten seines Zimmers der Schlag. Seine ganzen Sammlungen waren weg! Das Zimmer erstrahlte dafür in neuem Glanz, roch noch frisch nach Allzweckreiniger und bis auf ein paar Klebefilmreste an den Wänden und einigen Fettflecken hinter der Heizung sah alles aus, als sei es nie zugemüllt gewesen. Panisch rannte Ronald im Kreis seines zehn Quadratmeter großen Traums in blau, das sein Zimmer wieder zierte. Die Zeitungsausschnitte, die Bilder, der Papierkram auf dem Boden, alles weg! Auch seine Notizen? Sein Herz raste, das Blut schoss ihm in den Kopf. Hektisch rannte er auf seinen Schreibtisch zu, auf dem die Stifte sich nun der Farbe nach sortiert ordentlich in Reihe hingelegt präsentierten. Er suchte alles ab, sah unter den Schreibtisch, in die Schubladen. Tatsache, alles weg! Seine ganze Arbeit bis hierher war verschwunden! Ronald verlor den Boden unter den Füßen, ihm wurde heiß, dann wieder kalt. Ein kühler Schwall Schweiß lief ihm wie die Niagarafälle über den gesamten Körper, er zitterte, glühte aber innerlich. Hass, Wut, Zorn, Enttäuschung und dieses ohnmachtsähnliche Gefühl der Hilflosigkeit tat sich in ihm auf. Alles begann sich zu drehen, das beruhigende Blau schien sich bedrohlich über ihm aufzubäumen und jeden Moment über ihm zusammen zu brechen. Gedanken kreisten ihm durch den Kopf, wirr und wild durcheinander sprachen Stimmen, seine eigene, Geräusche, piepsen...Ronald wurde schlecht. Er suchte Halt bei seinem Stuhl und konnte nur noch eines tun: „Maaaaaamaaaaaa!“ Er brüllte aus voller Kehle, mit einer Stimme, so gequält und gedemütigt, wie er es selbst nach Barbaras Attacken nicht heraus bringen konnte. Die Frequenz seiner Stimmlage dröhnte durch das Haus, der quietschende Schall seines Stimmbruches sei Dank hätte Gläser zum zerschellen bringen können. Ronald rang nach Luft. Allmählich fasste er sich wieder, auch wenn man es seinem bleichen Gesicht und den völlig verschwitzen Klamotten noch nicht ansehen konnte. Er hörte, wie seine Mutter sich langsam von dem knarrenden Küchenstuhl erhob und mit ihren Latschen Richtung Treppe schlurfte. Sie stützte sich mit einer Hand am Geländer und blickte nach oben. „Was ist denn, mein Junge?“, rief sie zurück und atmete schwer. „Wo sind meine Sachen?“, quietschte Ronald aufgebracht zurück. Seine Panik war dem blanken Zorn gewichen. Zorn gegen seine Mutter, die sich in seiner Abwesenheit einfach in seinem Zimmer zu schaffen gemacht hatte. Aber auch Zorn gegen sich selbst. Wie konnte man nur so blöd sein und seine wichtigen Unterlagen einfach irgendwo liegen lassen? Doch für solche Gedanken war jetzt keine Zeit, er musste seine Mutter zur Rechenschaft ziehen. Sie stand noch immer am Geländer und hielt sich die schmerzende Brust. Da war es wieder, dieses unbehagliche Gefühl im Herzen, wenn sie etwas richtig machen wollte und es sich im Nachhinein als großer Fehler heraus stellte. Dieses Ziehen kam nicht oft, aber wenn, dann wurde es mit jedem Mal schlimmer. Der erste Schmerz trat damals auf, als sie kurz davor war, ihr Leben weg zu schmeißen und in die Ehe mit einem sturen, desinteressierten Tyrann einwilligte. Dann, als sie mit Barbara schwanger war und es zu spät bemerkte, denn sonst hätte es Ronalds Schwester wohl nie gegeben. Bei Ronald hatte sie noch nie die Schmerzen verspürt, er war ihr Sonnenschein, ihr ein und alles, das Kind, das sie sich immer gewünscht hatte. Wenn man sie fragte, was ihn so anders machte als seine Schwester, antwortete die Mutter immer, er sei das Geschenk des Himmels gewesen, die Tochter das des Teufels. So recht verstehen konnte sie wohl keiner, denn es war eindeutig Ronald, der als Satansbrut hätte durchgehen können. Doch in ihren Augen war er ihr kleiner Engel, ein heiliges Kind, das behutsam durch diese schreckliche Welt getragen werden müsse. Es war wohl die Angst, mit ihrem Sohn stimmte etwas nicht, die ihr Stechen in der Brust auslöste. Aber ahnungslos über den schweren Fehler, den sie in seinem Zimmer begangen hatte, rief sie zurück: „Deine Sachen sind weg!“ Ronald verdrehte die Augen und blickte von dem Türrahmen aus zum Schreibtisch. Ach was, wirklich? Das wäre ihm jetzt gar nicht aufgefallen! Wie gut, dass sie es ihm sagte. Womöglich forderte sie nun sogar noch seine Dankbarkeit ein, dass sie ihn darüber überhaupt in Kenntnis gesetzt hatte! In ihm brodelte es, das Blut kochte, sein Gesicht lief purpurrot an, die Wangen wurden dick wie zwei Luftballons, die kurz vorm Platzen standen. „Warum hast du das getan? Bist du eigentlich völlig bescheuert? Du kannst doch nicht einfach so in mein Zimmer platzen und machen, was du willst! Das hier ist MEIN Zimmer! Du hast hier gefälligst nichts zu suchen und schon gar nicht, ohne mich vorher zu fragen! Ist das klar?“ Er hätte heulen können vor Wut, doch er unterdrückte die Tränen, die schließlich einen dicken Kloß in seinem Hals verursachten. Das Schlucken brannte fürchterlich und sein speckiger Körper zitterte noch immer wie Espenlaub. Er war schon vielen Boshaftigkeiten ausgesetzt von allen möglichen Leuten, aber das hier toppte alles. Was sonst mit ihm veranstaltet wurde, war ihm egal, es prallte an ihm ab, doch die Aktion seiner Mutter traf und zwar mitten in sein kleines, dickes Herz.


Sie stand noch immer unten und wartete auf eine weitere Reaktion. Er hatte Recht, musste sie sich eingestehen. So sehr sein Zimmer auch nach einer Grundreinigung flehte, sie hätte ihn vorher fragen müssen. Schließlich vernahm sie Ronalds Schritte auf den hölzernen Stufen. Sein Gesicht wirkte schwer, die Augen hingen tief. Seine verzweifelten und hilfesuchenden Blicke trafen ihre mit Selbstvorwürfen geplagten Augen. „Warum hast du das getan?“, fragte er leise und zitternd. Sie wollte ihn in den Arm nehmen und trösten, ihm sagen, wie leid es ihr tat und sie es nicht böse gemeint hatte, doch er verweigerte es. Ihren kleinen Goldschatz so leiden zu sehen brach ihr das Herz in tausend Splitter, die sich unter ihre Haut brannten. Ronald sackte auf der ersten Stufe mit einem lauten „Plumps“ zusammen und vergrub sein Gesicht in den Händen. Nun konnte er es nicht länger zurück halten, die ersten heißen Tränen rannen ihm über die Wangen und ließen eine salzige Spur bis zur Nase zurück. Immer wieder schüttelte Ronald den Kopf. „Warum hast du das getan? Es ist alles weg!“ Sie sah ihn an. Plötzlich schreckte sie euphorisch aus ihrer Demütigung. Ungeduldig zog sie ihren Sohn am Sweatshirt. „Es ist nicht alles weg!“, tröstete sie ihn mit aufgeregter Stimme. „Komm mit in die Küche. Da lag so ein Stapel Papiere auf deinem Schreibtisch, den habe ich in die Küche gelegt, weil es wichtig aussah. Keine Sorge, ich habe nichts davon gelesen!“ Schlagartig wich Ronalds Verzweiflung. Er wischte sich die peinlichen Tränen weg und hastete in die Küche. Da lagen seine Notizen sauber zusammen gelegt auf einen Stapel und warteten nur darauf, wieder von ihm mitgenommen zu werden. Seine jahrelange Arbeit und Recherche war nicht dem Altpapier oder Kaminfeuer zum Opfer gefallen, er würde nicht wieder von vorn mit allem beginnen müssen! Als sei eine riesige Fettschicht von seinem Herzen gefallen, ging er auf den Küchentisch, wo seine Unterlagen bereit lagen, zu. Doch plötzlich hörte er, wie seine Schwester durch die andere Tür vom Flur aus die Küche betrat. Ronald erstarrte vor Schreck und Angst. Wäre er ein Tier, er würde sich schlagartig tot stellen und warten, bis der Feind vorbei gezogen war. Doch das half ihm jetzt nichts. Er stand da wie angewurzelt und lauschte. Drei Schritte würde sie von der Tür bis zum Tisch brauchen. Er hörte sie gehen. Einen Schritt, noch einen Schritt. Er lauschte weiter, doch sie schien stehen geblieben zu sein. Warum ging sie nicht weiter? „Geh weiter!“, versuchte Ronald über seine Gedanken ihr ins Gewissen zu reden. Auch seine Mutter bemerkte, dass irgendetwas nicht stimmte und blickte ebenfalls erwartungsvoll in Richtung Küchentür. Einen Moment lang war das ganze Haus in eine unerträgliche Spannung gehüllt. Alles war still. Ronald und seine Mutter lauschten gespannt, bewegten sich nicht, atmeten ruhig. Ronald betete innerlich. Doch seine Gebete wurden nicht erhört. Das Schweigen wurde durch ein lautes Gelächter gebrochen. Es erfüllte den Raum, stieg die Treppe hinauf und verursachte in Ronald ein so gewaltiges Gefühl der Scham, dass er am liebsten auf der Stelle gestorben wäre, um die nächsten Minuten nicht miterleben zu müssen. Er ahnte, was ihm nun bevorstand und jetzt noch zu versuchen, weg zu rennen, war zwecklos. Barbara hat seine Notizen gelesen! Gerade in diesem Augenblick stand sie am Küchentisch und hielt sich den Bauch vor Lachen. Man musste kein Hellseher sein, um das zu wissen. Selbst durch die geschlossene Tür konnte Ronald sehen, dass es so war. All seine Zeichnungen und Buchanfänge, die er durch die Müllberge so gut zu verstecken versucht hatte, befanden sich nun in den Händen des Feindes! Jetzt hatte sie ihn endgültig am Sack und er wollte sich nicht ausmalen, zu welchen Grausamkeiten seine Schwester nun gegen ihn im Stande war.


Als seine Mutter das laute Lachen hörte, schlug ihre Anspannung in Erleichterung um. Wenn jemand so herzlich lachte, konnte es ja nichts Schlimmes sein und sie war neugierig geworden, was Barbara in der Küche so Lustiges gefunden hatte. Also ging sie hinein, um zu sehen, was los sei. Und auch Ronald stürmte zur Küchentür, vom verzweifelten Versuch getrieben, noch retten zu können, was längst verloren zu sein schien. Wenn seine Schwester schon all seine Arbeit gesehen hatte, sollte es wenigstens vor der Mutter im Verborgenen bleiben. Aber er kam zu spät! Als er die Tür aufriss, stand sie da mit weit aufgerissenen Augen und hielt sich entsetzt die Hände vor den Mund. Sie konnte ihre Blicke nicht abwenden von dem bekritzelten Karopapier, das seine Schwester ihr triumphierend entgegen streckte. Ronalds Mutter saß der Schock in den Knochen. Was waren das für abartige Zeichnungen? Nackte Menschen, über und über mit Blut? Körperteile, die ihnen fehlten. Und erst die Texte darüber. Das konnte nicht von ihrem Sohn sein, nein, das musste Barbara unter das harmlose oberste Blatt gelegt haben, auf dem lediglich „Ronalds Arbeit-Streng geheim!“ mit dickem, schwarzem Stift geschrieben stand. Sie wollte es so gern glauben, dass es so war, doch es war alles die Handschrift ihres süßen, kleinen Engels. Sie sah ihn mit entsetztem Blick an. „Junge!“, brachte sie nur heraus, für alle weiteren Worte fehlte ihr die Kraft. Stattdessen schüttelte sie ungläubig den Kopf. Barbara nutzte die Chance. „Du hast dich so lange in deinem Zimmer verbarrikadiert für so einen lächerlichen Kurzporno? Wie erbärmlich bist du eigentlich?“,

fragte Barbara ihren Bruder und ihr gehässiges Grinsen zog sich über das ganze Gesicht. Er konnte sich nicht regen, alles in ihm war starr. Als sei die Situation nicht schon Demütigung genug, begann Barbara auch noch, die Zettel einen nach dem anderen durchzugehen und einige Passagen laut vorzulesen, damit die Mutter endlich ein Bild davon bekam, was ihr kleiner Fratz für ein grausames und verstörtes Kind war. Jetzt noch Stellung zu beziehen oder zu versuchen, die Situation zu entschärfen, war zwecklos. Deshalb entschloss Ronald sich, das zu tun, was er schon immer am besten konnte - wegrennen. Er würde so lange weg bleiben, bis alles nur noch halb so schlimm für ihn war, das hatte ihn bislang doch immer retten können. Nur würde er jetzt länger als sonst weg bleiben müssen, dessen war er sich bewusst. Es war einfach zu peinlich und er wollte nicht sehen, wie seine Mutter sich für ihn schämte. Aber erst recht wollte er nicht, dass Barbara sah, wie er weinte. So schnell seine schwabbeligen Beine sein starkes Übergewicht tragen konnten, rannte er in den Park und versteckte sich hinter der Mauer. Hier würde er bleiben für den Rest des Tages. Oder den Rest seines Lebens. So genau wusste er es noch nicht.


Ronald hasste sich selbst für sein unvorsichtiges Verhalten. Er hätte die Tür abschließen sollen. Er hätte die Skizzen besser verstecken können. Er hätte seiner Mutter auch einfach sagen können, sie solle aus seinem Zimmer bleiben, egal, wie es dort aussah. Gut, er hätte es vielleicht auch nicht so vermüllen müssen, dann wäre sie seinem Zimmer auch weiterhin fern geblieben und hätte das darin befindliche übliche Chaos als kleine Rebellion ihres Sprösslings angesehen, der nun langsam erwachsen wird. Womöglich hätte sie es dann sogar noch süß gefunden. Aber dass ausgerechnet Barbara ihm so übel an den Karren pisste, es war...es...ja, es machte ihn stolz und freute ihn regelrecht! Zum ersten Mal nach Langem hatte sie ihm wieder Beachtung geschenkt! Sie hatte ihn nicht mit Ignoranz und Gleichgültigkeit gestraft, sondern war wieder in ihr altes Muster zurück gefallen und wieder Freude daran gefunden, ihn zu schikanieren. Ronald wischte sich die Tränen mit dem Ärmel weg vom Gesicht und seinem wulstigen Stückchen Hals. Ein kleines Lächeln huschte ihm über die Lippen. „Sie hat mich wieder lieb!“, schoss es ihm freudig durch den Kopf. So gern er auch im Küchenboden versunken wäre vor Scham, ihr Verhalten hatte dennoch gezeigt, dass er ihr nicht gänzlich egal geworden war, wie er befürchtet hatte. Sie liebte ihn noch, auf ihre ganze eigene Art und Weise, da war Ronald sich sicher. Diese Erkenntnis gab ihm Kraft genug, sich aufzuraffen und mit stolz geschwellter Brust den Heimweg anzutreten, wo ihn bereits die nächste Überraschung erwartete.

Ronald zog schnell seinen Papierkram vom Tisch und klemmte ihn sogleich unter den rechten Arm. Schnellen Schrittes hastete er die Stufen hinauf in sein Zimmer. Dieses Mal dachte er daran, die Tür hinter sich zu verschließen, sicher ist sicher, das hatte er nun begriffen. Während er seine gesamten Memoiren freudig in den wurstigen Fingern hielt, vernahm er deutlich das donnernde Toben seines Vaters, das weinerliche Winseln seiner Mutter und die pädagogisch korrekten Äußerungen der Lehrerin, das alles zusammen wie eine geplatzte schwere Wolke auf die eigentlich ja unschuldige Schwester nieder regnete. All ihre Rechtfertigungsversuche wurden von jeder Partei in der Luft zerfetzt und zerschmetterten wie Hagelkörner auf hartem Asphalt, so widerstandsfähig war die Gewissheit der Erwachsenen, den Übeltäter auf frischer Tat ertappt zu haben. Wie konnte seine Schwester es nur zulassen, dass derartige Perversionen in die Hände ihres kleinen Bruders fallen konnten? Wie kam sie überhaupt auf die Idee, sich bei sexuellen Handlungen filmen zu lassen und dass sie diese auch noch völlig frei zugänglich überall herum liegen ließ? Barbaras Stimme verstummte allmählich, sie gab es auf, darauf zu beharren, dass Ronald gelogen hatte, um seinen fetten Hintern auf ihre Kosten zu retten. Nun war es also ihre Schuld, dass der Junge an Übergewicht litt, schlecht in der Schule war, sich missverstanden fühlte, gestört war und sich auf dem Schulhof hinter dem Klo als Lustobjekt verkaufte. Bei dem Gedanken schauerte es ihr. Wer zur Hölle würde Ronald ernsthaft bezahlen für das Busen anfassen? Obwohl, wenn sie genauer darüber nachdachte, die Kerle an ihrer Schule waren doch eh alle gestört, da gab es bestimmt genug Schüler, wenn nicht sogar Lehrer, die das Angebot gern dankbar annahmen. Sie konnte sich auch nicht vorstellen, dass Ronald sich der Preise, die eine gewöhnliche Prostituierte für derartige Machenschaften verlangte, auskannte. Sie unterstellte ihrem Bruder daher kurzerhand, dass er seinen Körper für Dumpingpreise verhökerte und wollte gedanklich auch gar nicht weiter ins Detail gehen, was in Ronalds krankem Kopf wohl noch so umher spukte, für das er hätte Geld verlangen können. Aber sie traute es ihm durchaus zu, darin bestand kein Zweifel.


Während aus dem Wohnzimmer die Beschimpfungen noch deutlich zu hören waren, saß Ronald auf seinem Bett und lauschte halbherzig den zornigen Anschuldigungen, die sein Vater Barbara nur so um die Ohren knallte. Ein wenig missgönnte Ronald seiner Schwester die Tatsache, dass ihr nun die ganze Aufmerksamkeit beider Eltern und der Lehrerin gewidmet wurde, während er allein in seinem Zimmer hockte. Doch er tröstete sich mit dem Gedanken, dass es bald vorbei sein würde und Barbara fortan mit Missachtung von allen Seiten gestraft wäre, während sich jeder der unten Anwesenden-mit Ausnahme von Barbara natürlich – sorgsam um den kleinen übergewichtigen Jungen kümmerten. Ronald malte sich schon aus, welche Freiheiten dies künftig mit sich führen würde, was er alles verlangen könnte, bis es eines Tages heißen wird, er habe jetzt lange genug darauf herum geritten, dass seine Schwester ihn in seiner Entwicklung so maßgeblich verstört habe. Wie er seine Eltern kannte, würde es vor allem von Seiten seiner Mutter sehr lange dauern, bis dieser Punkt schließlich endlich erreicht sei. Und bei seinem Vater? Sich darüber Gedanken zu machen war pure Verschwendung, denn es würde ihn bereits jetzt nichts mehr kümmern.


Ronald nutzte die Ruhe, die er nun genoss, während unten der verbale Sturm tobte, um sich ganz seiner Kreativität zu widmen. Wie leise Bässe dröhnte das Geschrei aus dem Wohnzimmer, das jeden Moment vollends zu eskalieren drohte. Ronald nutzte die Beflügelung der ungewohnten Melodien, um seine Gedanken schweifen zu lassen. Er saß mit dem Rücken zur Wand auf dem frisch bezogenen Bett, das nach billigem Waschpulver roch. Seine wulstigen Beine wibbelten im Takt des Stimmgewirrs aus dem Erdgeschoss. Um sich herum hatte er seine Papiere ausgebreitet und kaute geistesabwesend auf seinem Bleistift herum.


Sie fanden es obszön. Schockierend detailliert und trotzdem zu langweilig, als dass sie sich eingehender damit hätten auseinander setzten wollen. Stattdessen sorgte man sich um seinen derzeitigen Gemütszustand. Er hatte Hunger, aber ansonsten war bei Ronald alles in Ordnung und für völlig normal hielt er sich sowieso, zumindest weitestgehend. Kein Grund also, in Panik auszubrechen, der Junge brauche professionelle Hilfe, um die Pubertät halbwegs stabilisiert zu überstehen. Ronald verstand auch nicht, warum es für sein Umfeld so unbegreiflich war, dass er sich für andere Sachen interessierte als die meisten Kinder seines Alters. Er empfand, dass er sich als einer von wenigen für die wesentlichen Dinge des Lebens begeistern konnte, während die anderen sich mit lächerlichen Banalitäten wie Geschlechtsverkehr oder Beziehungen aufhielten. Es gab Wichtigeres zu erleben als das erste Abspritzen im Arsch einer Frau, so sahen es Ronalds Augen. Statt Mädchen kreisten seine Gedanken um seine Geschichte und die Anerkennung, die sie ihm eines Tages einbrächte. Und natürlich die Genugtuung, wenn all seine Widersacher und Kritiker angekrochen kämen, um ihn um Verzeihung zu bitten und womöglich noch stolz darauf wären, ihr Fett in seiner Geschichte abbekommen zu haben. Allen voran seine Schwester natürlich. Sie würde die tragischste Rolle von allen bekommen. Weil sie ihn für seine Notizen auslachte. Weil sie ihn lange ignoriert und mit Missachtung gestraft hatte. Weil sie ihm durch ihre verweigerten Boshaftigkeiten zeigte, dass sie ihn nicht mehr liebte. Der unglaubliche Held hingegen war natürlich er! Der Außenseiter, der alles heroisch bekämpft, was sich ihm in den Weg stellt, damit seine Welt eine bessere würde. Aber auch wirklich nur seine. Der ganze Dreck auf den Straßen, die Peiniger, die Kinder, die ihn auslachten, die Erwachsenen, die sich durch ihre Sorge um ihn so lächerlich machten ohne es zu bemerken. Er würde sie alle „entsorgen“.


Ein breites Grinsen huschte über Ronalds Gesicht, während er seine Story weiter spann. Er wäre der gefürchtete Antiheld, der er ohnehin längst war und er würde es allen zeigen. Sie würden ihm am Ende zu Füßen liegen und sich fragen, wie sie nur so blind sein konnten, sein unermessliches Talent und seine einzigartigen Fähigkeiten nicht zu erkennen.


In seinem Kopf war die Geschichte bereits perfekt bis ins letzte Detail. Der Ablauf, die Figuren, die einzelnen Schauplätze, jede Einzelheit hatte er in seinem Gedächtnis gespeichert. Es würde das blutrünstigste Buch aller Zeiten werden, vollends frei von Liebe - außer der, die ihm entgegen gebracht wurde – und sinnlosen Gefühlsduseleien. Alles beruhte lediglich auf der einen ernüchternden wie einleuchtenden Tatsache, dass die Welt und alles darauf Existierende seiner Ansicht nach schlecht war und beseitigt werden musste.


Während er seine Skizzen den Abläufen nach sortierte und ihm dabei die zahlreichen Demütigungen durch den Kopf schossen, die er bislang zu erleiden hatte, stieg ein unwohles Gefühl in seiner Magengegend auf. Es bahnte sich mit jedem Gedanken an bereits durchlebte Schikanen den Weg Richtung Mund ein Stückchen höher, bis er es schließlich nicht mehr zurück halten konnte. Eine große Flut halbverdauter Lebensmittel ergoss sich über den gereinigten Teppich. Der Geschmack seines Mundes war fad geworden, der säuerliche Geruch der Pfütze auf dem Boden widerlich und der bloße Anblick seiner Kotze befähigte ihn geradewegs dazu, einen weiteren Schwall darüber ergießen zu müssen. Es war ekelhaft.


Natürlich hatte Ronald keine Lust, sich ein weiteres Mal übergeben zu müssen. Es war anstrengend und danach müsse der Magen schließlich auch wieder erneut befüllt werden. Stattdessen hielt er es für angebrachter, erst einmal im Bad zu verschwinden und sich wieder frisch zu machen, während seine Mutter den Dreck im Zimmer beseitigt. Also trottete er zur Tür, schloss auf, rief die Treppe herab nach seiner Mutter, damit sie die Kotze aufwische und verschwand im Badezimmer.


Ronald betrachtete sein verpickeltes Gesicht mit den letzten kleinen Stückchen des Herausgewürgten dazwischen, die er sich noch nicht weg gewischt hatte, im Spiegel. Er war weiß Gott kein hübscher Kerl und würde es auch niemals schaffen, dass aus ihm ein schöner Mann werden würde. Aber das machte ihm nichts. Im Gegenteil, er sah es als Chance, sich voll und ganz auf seine Geschichte konzentrieren zu können, ohne dass Störfaktoren wie eine Frau zum Beispiel ihn abzulenken vermochten. Mit diesem Maß an Hässlichkeit gesegnet zu sein konnte er sich wenigstens mit seinem einzigartigen Talent als Schriftsteller einen Namen machen und Ruhm und Ehre erlangen, was ihm ohnehin längst gebühren sollte. Er musste es nur schaffen, sein Gedankenwirrwarr zu sortieren und geordnet zu Papier zu bringen.


Ronald spuckte den Zahnpastaschaum ins Waschbecken und wischte den Rest mit dem Ärmel aus seinen Mundwinkeln. Fest entschlossen, sein Vorhaben, mit dem geordneten Schreiben zu beginnen, schritt er zurück in sein Zimmer. Seine Mutter, die noch immer auf Knien über dem Fleck hing und schrubbte, zitierte er mit kurzen Worten heraus. Sie störte jetzt mehr als das sie nützlich war. Auch durch den Versuch ihres Einwandes, dass die Stelle noch nicht komplett gereinigt sei, ließ ihn nicht davon abhalten, sie kurzerhand raus zu werfen. Er packte sie an den Schultern und drückte sie in Richtung Tür. Kaum war ihr zweiter Fuß über die Schwelle, knallte er die Tür zu, riss sie erneut auf, um den Putzeimer hinter ihr her zu schmeißen und warf die Tür erneut ins Schloss. Nachdem er den Schlüssel umgedreht hatte, sprang er wieder auf sein Bett. Zu viele Neuerungen warteten nur darauf, nieder geschrieben zu werden. Weitere Notizen füllten die Zettel. Listen mit den Namen all derer, die Ronald blamiert hatten, wurden erstellt. Jeder einzelne, der Kritik an ihm oder seinem Vorhaben verübt hatte, wurde schriftlich festgehalten. Denn niemand sollte bei Ronalds literarischer Abrechnung zu kurz kommen. Akribisch und im Takt des Gebrülls aus dem Wohnzimmer folgte ein Name dem nächsten. Eine Idee reihte sich an die andere, die Roland seinen Widersachern in der Geschichte nur zu gern antun würde. Kein Kritiker sollte übrig bleiben, kein Skeptiker verschont werden. Am Ende sollte nur er da stehen als der große Held, der einzige gute unter all dem schlechten.


Stundenlang kritzelte, schrieb und malte Ronald mit großem Eifer die Seiten voll, alles zwar weiterhin auf den ersten Blick zusammenhanglose Wortfetzen und Bilder, doch für einen Anfang durchaus ausreichend. Aus vier Zetteln wurden sechs, aus sechs wurden zehn, bis schließlich das ganze Bett voller Papiere war, die in wie eine Mauer umgaben. Siegessicher überblickte er sein bis hierher vollbrachtes Werk und wog sich in der Gewissheit, alles in den nächsten Tagen so zu sortieren, dass er bald mit dem ausführlichen Schreiben seiner Geschichte starten könne, denn das Grundgerüst hatte er nun erstellt. Jetzt ging es lediglich noch darum, jedes Blatt mit dem anderen wie ein Puzzle so zusammen zu setzen, bis schließlich ein Meisterwerk daraus entstanden war. Sein Meisterwerk. Das Buch, dass jeder haben wollen wird, ohne das ein weiterleben sinnlos scheint. Aus dem in ferner Zukunft eine Religion entstehen wird mit ihm als den anbetungswürdigen Helden. Man wird seine Taten ehren, seine Geschichte von Generation zu Generation fort tragen. Sein Name wäre über die Jahrzehnte hinweg weltweit bekannt und habe neue Maßstäbe der Literatur gesetzt:


RONALD HOLLEWITZ

DER BESTE AUTOR ALLER ZEITEN!


Ronald stutzte. Mit diesem Namen würde er nicht einmal eine Banane gewinnen. Ronald Hollewitz war doch kein Name für eine Heldenfigur. Was hatten sich seine Eltern nur dabei gedacht, ihn so zu taufen? Kein Mensch würde seine Kinder nach einem Helden benennen, der Ronald heißt! Er durchforstete abermals seine Unterlagen, studierte seine Zeichnungen. Seine Stirn warf tiefe Falten. Was er brauchte, war ein Name, der einer großen Persönlichkeit wie er es war, gerecht werden würde. Es musste etwas cooles sein, etwas, mit dem man dramatische Action und lebensgefährliche Situationen in Verbindung brachte. Einen Namen, der versprach, dass es krachen würde und er daran seinen Spaß fände. Ronald überlegte. Zu weit entfernt von seinem tatsächlichen Namen sollte es auch nicht liegen, sonst würde keiner den Helden mit ihm in Verbindung bringen und man würde davon ausgehen, der Charakter seines Buches entspräche lediglich seiner Wunschvorstellung über sich und keinesfalls der Realität. Amerikanisch musste der Name sein, schließlich haben sich dort alle Millionäre der Kunst- und Filmszene angesiedelt und die sind ja auch Arten von Helden.


Doch kein Name wollte ihm einfallen. Deshalb beschloss er, seine Dokumente fürs Erste zusammen zu packen, denn er war langsam schläfrig geworden. Der morgige Tag brächte ihm noch genug Zeit zum Weiterarbeiten. Kreatives Schaffen forderte mehr Kraft, als Ronald sich erhofft hatte. Erschöpft griff er nach einer roten Pappmappe, legte seine Papiere hinein und schloss sie wieder. Einen Moment hielt Ronald inne und lauschte. Unten war alles ruhig geworden. Kein Stimmengewirr mehr. Keine Schreie mehr. Kein Gebrüll mehr. Als sei es da unten zur einer gewaltigen Explosion gekommen und nun hörte man nichts mehr. Die Ruhe nach dem Sturm. Umso besser, dachte Ronald, denn er wollte ohnehin schlafen und das konnte er bei Lärm nun mal nicht. Ein letztes Mal holte er tief Luft, um den Kopf frei zu bekommen. Gleichzeitig stieg der säuerliche Geruch des Erbrochenen wieder in seine Nase. Es war einerseits widerlich und ließ ihn sogleich erneut mit dem Würgereiz kämpfen, doch andererseits beflügelte es seinen Geist. Wieder wanderte sein Blick auf die rote Mappe und er starrte den Einband eine Weile regungslos an. Langsam wanderte sein Arm an das Fußende seines Bettes, die Hand griff nach einem Stift und mit schwarzer Tinte schrieb er seinen Namen auf den Pappdeckel:


RON HELLFUN


Sein Pseudonym als weltbester Schriftsteller war geboren. Nun fehlte nur noch die Fertigstellung seines bahnbrechenden Erstlingswerkes. Doch das sollte nun ein Leichtes für ihn werden.


Am folgenden Morgen erwachte Ronald erst spät am Vormittag. Eigentlich hätte er zur Schule gemusst, aber ihn schien niemand geweckt zu haben. Langsam erhob er sich und wischte sich die Sabber von der rechten Wange. Sein Rücken schmerzte, er hatte sehr verdreht in seinem Bett gelegen und geschlafen. Der Kopf hing halb aus dem Bett, als er die Augen das erste Mal zu öffnen versuchte. Blinzelnd sah er zum Boden und beim Anblick seiner roten Mappe stieg das Gefühl völliger Zufriedenheit in ihm auf. Er hatte es letzte Nacht tatsächlich geschafft, es war nicht bloß ein schöner Traum gewesen. Er hatte wirklich stundenlang geschrieben und seinen neuen Namen gefunden. Und schulfrei hatte er heute auch noch. Alles in allem also ein perfekter Start in den Tag.


Ronald ging runter in die Küche, wo seine Mutter wie immer fleißig zugange war. Als sie seine Schritte auf den kalten weißen Fliesen hörte, drehte sie sich um. „Ach mein Junge!“, sagte sie und nahm ihn freudig in den Arm. „Hast du die Nacht gut überstanden? Wie geht es dir? Ist alles wieder in Ordnung?“ Er setzte sich und ließ sich ein Glas Cola und Cornflakes hinstellen. „Ich habe dich heute nicht geweckt, weil ich dachte, du brauchst erst einmal etwas Zeit, um alles zu verarbeiten.“, begann sie zu erklären. Eigentlich interessierte es Ronald aber recht herzlich. Hauptsache, er würde heute genug Zeit finden, um weiter an seiner Geschichte zu arbeiten. „Wir haben gestern noch lange mit deiner Schwester, also mit Barbara gesprochen. Wir sind der Ansicht, sie tut dir nicht gut. Versteh mich nicht falsch, ich will nur dein Bestes, aber ich hatte Angst, sie würde dich zu sehr verwirren. Außerdem ist sie doch schon beinahe erwachsen.“ Mit diesen Worten drehte seine Mutter sich wieder um und vergrub ihr Gesicht in der Spülmaschine. Was wollte sie ihm jetzt damit sagen? Das Gespräch des gestrigen Abends zwischen seinen Eltern, der kompetenten, pädagogischen Fachkraft und seiner Schwester hatte er deutlich hören können. Aber was hatte das ganze Gerede letztendlich zur Folge?


„Und?“, fragte er in einem Tonfall, als sei er insgeheim gar nicht erpicht darauf, zu wissen, wie es weiter gehen würde. Seine Mutter seufzte. „Sie ist gegangen worden.“ Was? Was sollte das denn heißen? Dass seine Mutter nicht einmal Klartext reden konnte! Immer diese seltsamen Formulierungen! Von ihr hatte Ronald gewiss nicht sein Talent geerbt. „Aha“, brachte er deshalb nur heraus. Er hatte keine Lust, in ganzen Sätzen zu sprechen, die wollte er sich lieber für seine Geschichte aufheben. Aber wenn er es richtig verstanden hatte, dann war seine Schwester weg. Für immer. Und sie würde wohl auch nicht wieder zurückkommen. Und sie war wohl auch bloß nur noch Barbara und nicht mehr seine Schwester. Perfekt! Ronald stürzte nach oben und stolperte voller Euphorie in sein Zimmer. Seine Mutter ließ er in dem schuldbewussten Glauben zurück, er sei traurig über die Verbannung seiner größten Widersacherin, doch eigentlich gab es für Ronald kaum eine bessere Nachricht, als dass seine Idee bereits die ersten Früchte getragen hatte. Er musste es nur schaffen, dass nach und nach alle, die sich gegen ihn gestellt hatten im Laufe der Zeit verschwinden. Die Frage war nur, wie. Aber ihm als Genie würde schon für jeden das Richtige einfallen, da war Ronald sich sicher.

Ron Hellfuns

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