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Kapitel 3

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-Vernichtet und verloren-


Ronald vermisste seine Schwester keine Sekunde lang, seitdem seine Eltern sie ihm zuliebe aus dem Haus gejagt hatten. Vielmehr genoss er nun das behagliche Gefühl der Gewissheit, dass sich Probleme und Störfaktoren einfach beseitigen ließen, um ungestört voran zu kommen, anstatt sie lang und breit mit allen Beteiligten ausdiskutieren zu müssen. Diese Methode war für Ronald gleich in mehrfacher Hinsicht äußerst praktisch. Denn so musste er sich nicht mit seinen Widersachern unnötig auseinander setzen, es genügte, sie leise und effizient zu beseitigen. Eine derartige Beseitigung machte zwar etwas Mühe, weil man einen gut durchdachten Plan dafür brauchte, doch im Gegensatz zum ständigen Ausdiskutieren aller Diskrepanzen war es doch erheblich schneller und weniger lästig. Schließlich hasste Ronald es, sich mit etwas oder jemandem auseinander setzen zu müssen, der nichts mit ihm oder seiner Arbeit zu tun hatte oder ihr förderlich wäre. Seiner Meinung nach brachte dieses Konzept des miteinander Redens sowieso niemals eine zufriedenstellende Lösung, mit der sich beide Seiten auf lange Sicht gesehen glücklich schätzen konnten. Es war doch immer das Gleiche nach klärenden Gesprächen, die über Stunden geführt wurden. Für einen Augenblick schien alles so harmonisch und friedvoll. Doch das wirkliche Problem war damit längst noch nicht aus der Welt geschaffen, höchstens vertagt worden oder oberflächlich geregelt. Aber auf keinen Fall eine akzeptable Lösung für die Ewigkeit. Eine Beseitigung hingegen war für Ronald der einzig vernünftige Weg, Probleme für immer zu lösen. Denn wie oft kam es vor, dass etwas, das ausgelöscht wurde, plötzlich aus dem Nichts wieder auftauchte. Immerhin war seine Schwester der beste Beweis dafür, dass diese Theorie stimmte und die Vernichtungsmethode am besten wirkte. Seit ihrem Verschwinden war sie hier nicht mehr aufgetaucht, nicht mehr in der Schule gesehen worden oder gar in der Stadt. Sie war weg. Wenn es also mit ihr funktionierte, warum dann nicht auch mit allen anderen Problemen dieser Welt?


Seitdem Barbara fort war, ging es Ronald hervorragend, er fühlte sich wie von einer schweren Last befreit. So sehr er in der Vergangenheit auch ihre Pein gegen ihn genoss und rechtfertigte, hatte er nun Gefallen daran gefunden, selbst der Peiniger zu sein und alles zu attackieren, was ihm in die Quere kam. Zudem beflügelte der Gedanke daran, jemand anderem langfristig zu schaden ungemein seine Kreativität und stellte sich heraus als die beste Inspirationsquelle, die er bekommen konnte, um mit seiner Geschichte voran zu kommen. Diese neu gewonnene Erkenntnis wollte Ronald sofort am lebenden Objekt ausprobieren, um sicher zu gehen, dass nicht die bloße Verbannung seiner Schwester dafür gesorgt hatte, dass es bei ihm mit dem Schreiben besser klappte. Er wollte sicher sein, dass auch in Zukunft jede Art von Beseitigung ihm zu neuen Ideen verhelfen würde. So saß er auf seinem Bett und grübelte, wer sein nächstes Opfer werden sollte, vor sich seine Unterlagen ausgebreitet, um an seinem Roman weiter zu schreiben. Es war heiß gewesen an diesem Tag und der Schweiß tropfte in kurzen Intervallen auf das Laken, was hässliche, dunkle Flecken darauf hinterließ, die nach dem schnellen Trocknen in der Hitze lediglich das weiße Salz auf dem Stoff übrig ließen. Durch das geöffnete Fenster brummte eine dicke Fliege herein und schwirrte Ronald immer wieder um die nasse Stirn. Er hasste es! Mit den wulstigen Händen schlug er um sich, versuchte, sie zu packen, zu erschlagen oder zumindest abwimmeln zu können. Doch das Tier ließ ihm keine Chance. Völlig genervt raffte Ronald sich schließlich auf und seine Blicke verfolgten das Vieh genau. Erst flog es an seiner Stirn entlang, dann zum Fenster, zum Schreibtisch und wieder zu ihm. Immer wieder die gleiche Abfolge. Dann nahm der Brummer endlich Platz, aber das ausgerechnet auf Ronalds Unterlagen. Dort begann es auch sogleich, sich mit den Hinterbeinen gemächlich den Allerwertesten blank zu polieren. Ronalds Hand bewegte sich in Zeitlupe in Richtung Fliege. Er atmete ruhig und versuchte krampfhaft, seine langsame Bewegung unter Kontrolle zu halten. Erst als die Hand unmittelbar hinter dem Tier war, machte Ronald eine hastige Bewegung, mit der er die Fliege zu packen bekam. Sogleich verschloss er seine wulstigen Finger zu einer Faust und hörte, wie die kleine Fliege, die eben noch so unbeschwert daher flog, nun panisch immer wieder gegen die Innenseite seiner Handfläche schwirrte, in der Hoffnung, einen kleinen Spalt zu finden, durch den sie sich quetschen konnte, um die Freiheit zurück zu erlangen. Mit jedem Stoß gegen seine Haut wurde sein schadenfrohes Grinsen breiter. Er genoss die Situation, in der das arme und wehrlose Tier sich befand. Sie war ihm hilflos ausgeliefert, ihr ganzes Dasein hing nun von ihm ab. Er konnte sie fliegen lassen und sie würde es ihm damit danken, ihm weiterhin auf die Nerven zu gehen oder er könnte sie töten, dann hätte er Ruhe. Ronalds Grinsen wurde finster und kühl. Zunächst schüttelte er die geschlossene Hand kräftig, das Summen wurde sogleich noch lauter und hektischer. Die Fliege hatte Angst - Todesangst! Nun musste er sich entscheiden, ließ er sie frei oder sollte sie sterben? FLATSCH! Mit aller Wucht, die seine fetten Arme hergaben, schmetterte er die kleine, dicke Fliege auf das Papier, auf dem sie eben noch seelenruhig gesessen hatte. „Du wolltest auf das Bild? Ziel erreicht!“, lachte Ronald lautstark und bewunderte sich selbst für diesen genialen Spruch, der ihm genau im richtigen Moment durch den Kopf geschossen kam. Nur blöd, dass außer ihm niemand im Raum war, der seinen ausgeprägten Sinn für Humor hätte mitbekommen können-außer der zermatschten Fliege natürlich.


Ronald setzte sich wieder auf sein Bett, schlug die Beine übereinander und betrachtete den Fleck auf seinem Bild mit Bedacht. Es war ein dunkelroter, kleiner Klecks in der rechten oberen Ecke. Darauf ein paar verkrümmte Beinchen und in der Mitte des Flecks ein kleines schwarzes Stück, das vor wenigen Augenblicken noch der Rumpf des Tieres gewesen war. Ronald überlegte kurz, ob er den Dreck mit einem Taschentuch wieder entfernen sollte. Doch dann entschied er sich nach eingehenderem Betrachten dazu, dass es sich zusammen mit seiner Zeichnung, die wie die anderen Skizzen auch, alle für so unvorstellbar pervers gehalten hatten, zu einem harmonischen Ganzen zusammen fügte, was nicht unbedingt dazu beitrug, dass die Perversion seiner Skizze dadurch gemindert wurde. Dieses neue Kunstwerk jedoch bekam nun einen Platz ganz oben auf Ronalds Unterlagen, denn es war sein neues Meisterwerk, das ihn künftig zu vielen grandiosen Ideen verhelfen würde. Jetzt galt es lediglich noch, einen passenden Text zu dem Bild zu finden, eine Geschichte, die genau das erzählte, was diese Kadaver-Schmiererei repräsentierte. Daher lag Ronald gedankenverloren auf dem verschmierten Laken in seinen Schweißresten und grübelte. Denn um etwas zu dieser Kunst zu schreiben, musste er selbst erst einmal wissen, was es eigentlich darstellen sollte, also rein künstlerisch interpretiert versteht sich. Langsam wanderte die blaue Mine seines Kugelschreibers über das leere, karierte Blatt.


Es soll…es soll...Ja! Der Klecks ist meine Schwester, ihr zerplatzter Traum von einem Leben an der Seite ihres Ruhm erntenden Bruders! Genial! Und der gefesselte Mensch ist natürlich meine gefangene Seele, die nicht frei kam, solange dieser Schandfleck sein Leben zu überdecken drohte. Die vielen Leute drum herum sind auch meine Schwester, denn sie war einfach immer und überall, um mich fertig zu machen. Es gab kein Entkommen. Das ganze Blut und Sperma, das auf den Gefesselten - also mich - fließt, steht für all die Gemeinheiten, denen ich Zeit meines Lebens hilflos ausgeliefert war. Doch es gelang mir natürlich, mich zu befreien aus ihrer Gefangenschaft und ihrer Allgegenwärtigkeit und ich habe sie bezwungen. Von ihr übrig blieb lediglich dieser kleine schwarze scheiß Fleck da oben in der Ecke. Ohne mich und die Möglichkeit, mich permanent zu schikanieren, ist ihr Leben in ihren Augen völlig wertlos und sie musste sterben.


Ronald war von seiner Interpretation überwältigt. Sollte noch mal einer sagen, er habe kein Talent. Diese Deutung war wohl der endgültige Beweis des Gegenteils, das würde sich auch der letzte eiserne Kritiker eingestehen müssen, wenn er das zu lesen bekommen hatte. Dafür musste er sein Gedankengut aber mit all seiner Genialität erst noch zu Papier bringen. Wie immer war es der Anfang, der Ronald schwer zu schaffen machte. Sollte es überhaupt eine Einleitung geben oder sollte er vielleicht lieber direkt mitten im Geschehen beginnen? Wie sollte das Ganze überhaupt aufgebaut werden, aus welcher Perspektive geschrieben? Auf dem Cover würde später auf jeden Fall seine Zeichnung zu sehen sein und sowohl die Liebhaber der Literatur als auch die der Kunst wären allesamt begeistert von so viel kreativem Potential, das in diesem jungen Nachwuchsautor steckte. Vielleicht war es aber doch besser irgendwo im Buch aufgehoben, damit es mehr zur Geltung kam und nicht sofort der ganzen Geschichte alles vorweg nehmen konnte? Immerhin bestand die Möglichkeit, dass es den einen oder anderen geben würde, der Ronalds Bild genauso im Stande war zu interpretieren, wie Roland es beabsichtigte und dann würde sich jeder über ihn lustig machen, warum er den wichtigsten Teil seines Buches ausgerechnet als Cover wählte. Dann bräuchte ja niemand mehr seinen Roman, seine Kurzgeschichte... SEIN WERK lesen.


Wie auch immer, über Details konnte man sich später immer noch den Kopf zerbrechen. In jedem Fall würden sich die Kritiker vor Beifall überschlagen und in den Nachrichten würde er gepriesen als der geborene Millenniumsautor, der Messias des geschriebenen Wortes, der Heilige unter allen bislang da gewesenen Schriftstellern. Nein, mehr noch, er wäre der SCHRIFTKÜNSTLER unter ihnen, denn niemand würde seine Werke künstlerisch besser gestalten können als er. Seine Geschichten würden sich lesen wie Gemälde, von denen man die Blicke nicht abwenden können würde. Werke voller Farben und Tiefe, voller Schönheit und Pracht. Besser zu sein als er würde für alle nach ihm folgenden Schriftsteller ein unerreichbares Ziel darstellen...Doch bevor Ronald endgültig in Fantasien versank, musste die ganze Geschichte nun endlich zu Papier gebracht werden, danach bliebe ihm noch genug Zeit für Träumereien. Grobe Skizzen sollten für den Anfang reichen, beschloss er schließlich, denn die Hauptsache war, dass er seine Gedankengänge nicht vergaß. Dem Ausschmücken könne man sich später immer noch widmen, solange das Grundgerüst eine solide Basis bildete. So schrieb er mit kleinen Buchstaben alles Wichtige auf das Papier, was für die Geschichte von Bedeutung war, bis ihm schließlich vor Müdigkeit die Augen zu fielen.


Das Einzige, was Ronald an der neuen Situation zu Hause störte war die Tatsache, dass seine Mutter ihn nun noch mehr betüddelte, als sie es zu Barbaras Zeiten bereits getan hatte. Das machte sich vor allem an Ronalds Gewicht bemerkbar, das nun, bei seinem Alter von vierzehn Jahren, stattliche 120 kg auf die Waage brachte und das bei einer Größe von gerade mal 1,60 m. Ronald genoss zwar den Service, noch mehr zu bekommen als alles, was er wollte, immerhin sollte so etwas einem künftigen Mann von Welt durchaus gegönnt sein. Aber langsam nervte es ihn, seit einem Jahr immer wieder die gleiche Frage von seiner Mutter gestellt zu bekommen: „Fehlt dir noch etwas, mein Engelchen?“ In diesen Momenten war Ronald jedes Mal froh, keine Freunde zu haben. Wie peinlich wäre es sonst, würde sie ihm diese Frage stellen, wenn jemand zu Besuch da war? Gar nicht auszudenken! Aber allein für ihr ganzes Fehlverhalten war seiner Mutter auf jeden Fall ein Platz in seinem Buch sicher. Für jedes „Engelchen“ würde er sich literarisch an ihr rächen. Sie würde schon nicht zu kurz kommen in seiner Geschichte. Dafür hatte sie ihn viel zu sehr auf die Palme gebracht mit all ihrem dämlichen Verhalten, das sie tagein tagaus aller Welt vorspielte. Ronald konnte sich nicht vorstellen, dass es tatsächlich Menschen geben sollte, die wirklich vom Wesen her so waren wie seine Mutter, das war einfach nur absurd. Außerdem brachte ihre gesamte Fürsorge Ronald um seine Kreativität. Wie sollte er unter diesen Umständen ein Buch über Wut, Hass, Enttäuschung und Rache zustande bringen? Niemand sollte später erahnen, dass dieser Roman von ENGELCHEN verfasst wurde!


Erst im Nachhinein, drei Jahre später, wurde Ronald klar, dass seine Mutter all ihre Liebe und Zuneigung ihm gegenüber wirklich nicht mit bösen Absichten ihm zuteilwerden ließ. Es war nie ihre Absicht gewesen, ihn durch ihr Verhätscheln und das behütende Gehabe von seiner Arbeit abzulenken, fern zu halten oder gar abzubringen. Sie hatte es zwar zweifelsohne für pervers und krank gehalten, was ihr Sohn voller Stolz als sein Werk bezeichnete, doch sie hatte immer hinter ihm gestanden und versucht, ihn dabei zu unterstützen, auch wenn es ihr insgeheim widerstrebte. Denn sie war stets der Auffassung gewesen, solange ihr Junge diesen abartigen Trieben, über die er schrieb, nur mit Tinte auf Papier nachging, machte er ja nichts Unrechtes oder sogar Kriminelles. Auf diese Weise käme wenigstens niemand ernsthaft zu Schaden, versuchte sie krampfhaft ihr Gemüt zu besänftigen.


Auch waren die liebevollen Taten von Ronalds Mutter ihrem Sohn gegenüber keine Folgen eines schlechten Gewissens, das sie vielleicht hätte plagen sollen, weil sie ihre einzige Tochter, ihr erstgeborenes Kind, die verstoßene Schwester, aus der Familie verbannt hatte. Im eigentlichen Sinne war es ein durchaus trauriger Gedanke, wenn man überlegte, dass eine Mutter, die ihr Kind neun Monate unter ihrem Herz trug, es nach Jahren des Großziehens ohne mit der Wimper zu zucken von jetzt auf gleich vor die Tür setzte. Sie hatte ihrer Tochter bei deren Weg in die-wenn auch gezwungene-Selbstständigkeit keine einzige Träne nachgeweint. Auch wenn dieser Schritt nicht freiwillig gemacht wurde, so sollte doch zumindest anzunehmen sein, dass die Angehörigen diesen bis dahin geliebten Mensch würdevoll verabschieden und nicht, wie in Barbaras Fall, froh darüber sind, dass sie endlich fort war und von nun an keinen Teil der Familie mehr bildete. Nicht, dass Ronald diese Erkenntnis jemals gestört hätte, er wunderte sich nicht einmal darüber, es geisterte ihm nur gelegentlich im Kopf umher. Denn eigentlich hatte Barbara nie etwas Schlimmes verbrochen, außer ihn zu quälen, aber das war er ja selbst schuld gewesen, wie er immer glaubte. Auch fand Ronald es nie schlimm, dass seine Mutter ihm zuliebe diese drastische Maßnahme in die Tat umgesetzt hatte. Es war ja nur zu seinem Besten und da hatte sie ausnahmsweise mal Recht.



Nein, diese ganze Bemutterung, mit der Ronald sich abgeben musste, hatte einen einfachen Grund: Seine Mutter war krank. Sie kämpfte schon lange gegen ein Herzleiden an, das sie jedoch immer wieder gekonnt ignorierte. Wann immer das Herz ihr Probleme bereitete, gab sie sich selbst die Schuld daran und begründete die Schmerzen in ihrer Brust damit, dass sie noch nicht genug für ihren Sohn getan hatte und das Stechen und Ziehen sie erinnern sollte, sich mehr um ihren Sprössling zu kümmern. Deshalb gleich zum Arzt zu rennen und unnötig Panik zu verbreiten? Darin sah sie keinen Grund, solange ein deftiges Mettbrötchen für ihren strammen Jungen noch in der Lage war, jeden Schmerz in ihrer Brust wieder wett zu machen. Wenn auch nur vorüber gehend.


Es war Herbst, als Ronald am späten Nachmittag von der Schule nach Hause kam. Kaum hatte er die Haustür hinter sich mit einem lauten Knall geschlossen, damit seine Mutter sofort wusste, es war Zeit, ihm das Essen zu servieren, trugen seine dicken und geschwollenen Füße ihn in Richtung Küche, wo er seine Mutter lachend am Herd stehend erwartete. Stattdessen fand er nichts vor als ein dunkles Zimmer mit einem leeren Tisch darin. Nichts war gedeckt, kein Geruch von gebratenem Fleisch lag in der Luft. Ronald packte die Wut: „Mama!“ Immer wieder brüllte er durchs ganze Haus nach ihr. „Scheiße nochmal, Mama! Wo ist mein verdammtes Essen? Ich stehe hier in der Küche und sterbe gleich vor Hunger! Ist es das, was du willst? Dann mach nur so weiter! Mamaaa!“ Stille. Ronald war verwirrt. Manchmal war sie noch auf Toilette, wenn er nach Hause kam, dann hörte er, wie sie sich beeilte, schnell fertig zu werden, um dann mit ihren abgelatschten Hausschuhen über die Fliesen an ihm vorbei in die Küche zu huschen, um ihm schnell das Essen zu servieren. Er wartete noch einen Augenblick, doch vernahm noch immer kein Geräusch. „MAMA! Langsam werde ich echt sauer!“ Ronald wartete ab. Endlich hörte er, wie im oberen Stock eine Tür knarrte. „Na endlich“ dachte er ungeduldig. Aber was hatte sie denn da oben verloren, wo sie doch eigentlich in der Küche zu stehen hatte und warum zur Hölle antwortete sie nicht? Doch dann zuckte Ronald vor Schreck zusammen.

„Halt gefälligst deine Fresse und hör auf, wie ein Irrer hier so herum zu brüllen!“, knurrte sein Vater aus dem Türrahmen seines Arbeitszimmers. „Und wo ist sie dann? Ich sterbe hier vor Hunger!“, beklagte sich Ronald. Sein Vater lachte laut: „So fett wie du bist, überlebst du locker noch ’ne ganze Woche ohne Essen oder sogar zwei!“ Es dauerte eine Weile, bis er weiter sprechen konnte, denn zunächst musste er sich über sich selbst amüsieren. Als sein Vater sich endlich wieder beruhigt hatte, sagte er, bevor er wieder im Arbeitszimmer verschwand: „Deine Mutter ist tot. Lag da einfach so regungslos in der Küche. Wie sonst auch ’n hässlicher Anblick. Die Pizza, die sie für dich gemacht hat, hab ich gegessen. Also wenn du so hungrig bist, bestell dir was. Irgendwo da müsste auch noch ihr Haushaltsgeld rumliegen. Und mach das Licht in der Küche wieder aus, kann sich ja kein Mensch ansehen, dieses dumme Stück Scheiße da.“ Mit diesen Worten hörte Ronald die Tür im oberen Stock ins Schloss fallen, die sogleich aber wieder aufgerissen wurde. „Ach ja, Junge! Kümmer’ dich gefälligst selbst um ihre Beerdigung, ich hab von so was keine Ahnung und auch keine Zeit dafür. Außerdem hattest du mit der Alten mehr am Hut als ich.“


Thema beendet.


Ronald schaltete das Licht in der Küche ein, sah seine tote Mutter, setzte sich an den Küchentisch und war völlig überrumpelt von der ganzen Situation. Er musste erst einmal seine Gedanken sortieren und sich wieder sammeln, bevor er weitere Schritte einleiten konnte. Aber sein Kopf war völlig leer und sein Körper fühlte sich so schwer an wie nie zuvor. Ronald war sich nicht sicher, was ihn in diesem Moment mehr schockte. War es die Tatsache, dass seine Mutter gerade leblos neben seinen Füßen lag und es Ronald egal war, überhaupt nicht emotional berührte? Die schmerzliche Erkenntnis, dass es ab heute nie wieder etwas zu essen für ihn geben würde, sofern er es nicht selbst organisierte? Oder die Tatsache, dass sein Vater gerade eben mehr Sätze mit Ronald gesprochen hatte als jemals zuvor?


Die Beerdigung war so trostlos und öde wie das Leben, das seine Mutter geführt hatte. Ron überließ alle wichtigen Entscheidungen rund um die Bestattung dem dafür zuständigen Unternehmen, das er beauftragt hatte. Ihm war nicht danach, sich in großem Stil um alles zu bemühen, damit die Trauerfeier möglichst schön gefeiert werden konnte. Es war schließlich nur seine Mutter. Außerdem, da war Ron sich sicher, würde sowieso niemand zur Beerdigung kommen. Deshalb entschied er sich auch nur für die Sparversion, die erschien ihm angemessen genug.


Die Leiche wird verbrannt, in einen Topf gepackt, Deckel drauf und ab unter die Erde damit.


Das war schon kostspielig genug und Ron war sich zudem auch nicht sicher, ob sein Vater für mehr Schnick Schnack überhaupt bereit gewesen wäre zu zahlen. Aber wie sich im Endeffekt heraus stellte, war ihm seine verstorbene Frau nicht mal die 45 Minuten Zeit wert gewesen, die die Beerdigung seine Aufmerksamkeit gefordert hätte. Immer wieder starrte er auf das Display seines Handys, um nicht die Uhrzeit aus den Augen zu verlieren, denn er hatte noch Wichtiges zu erledigen, wenn dieses ganze Trauerspiel hier endlich ein Ende gefunden hatte. Der Pfarrer ließ sich davon nicht beirren. Er erläuterte den Anwesenden, nämlich Ron, einer Nachbarin -die aus Solidarität erschienen war, weil Rons Mutter ihr gelegentlich mit Zucker oder Eiern aushalf, wenn sie selbst keine mehr im Haus hatte- und seinem Vater, was für eine wunderbare Frau und Mutter Rosemarie doch gewesen war und auf welch schönes und erfülltes Leben sie zurück blicken konnte.


Ron kümmerten die geheuchelten Worte des Pfarrers ebenso wenig wie die anderen Beteiligten. Jeder wusste, dass ihr Leben ein einziges Elend war, mit dem sie sich mutlos abgefunden hatte. Sie hätte so viel machen und erreichen können. Aus ihr hätte alles werden können. Doch stattdessen entschied sie sich dazu, als Hausfrau und Mutter Karriere zu machen und sich um nichts weiter zu kümmern als um ein ordentliches zu Hause und einen satten Sohn, für dessen Wohlbefinden sie sogar ihre eigene Tochter aus dem Haus gejagt hatte. Völlig zu Unrecht. Dass Barbara nicht zur Beerdigung erschienen war, wunderte niemanden sonderlich. Sie und ihre Mutter hassten sich von dem Moment an, als Ron im Bauch seiner Mutter heran wuchs. Von dem Augenblick, als Rosemarie erfuhr, dass sie mit einem Sohn schwanger war, gab es für Barbara keinen Platz mehr in ihrem Herzen. Als die Schwangerschaft dann auch noch mit einigen Komplikationen verbunden war und Ron bei der Geburt beinahe an Sauerstoffmangel gestorben wäre, wurde er das höchste Gut der Familie - Barbara der lästige Anhang. Das Einzige, was Ron wunderte und womit er eigentlich fest gerechnet hatte, war, dass Barbara zumindest zur Beerdigung kommen würde, um ihrer Mutter ins Grab zu spucken, als Zeichen, wie sehr sie sie verachtete. Doch scheinbar war nicht mal das Barbara eine Anreise wert gewesen.


Nach der Beisetzung verschwand Rons Vater leise vor sich hin fluchend wieder direkt in seinem Arbeitszimmer. Wertvolle Zeit des Zockens ist dafür drauf gegangen, um seiner leblosen Frau einen Haufen Erde auf die Urne zu werfen. Bis zuletzt hatte er sich geweigert, mit zum Friedhof zu kommen. Seine Alte war tot, daran würde auch seine Anwesenheit nichts ändern, war sein großes Argument. Aber als schließlich die Nachbarin klingelte, um zu fragen, ob man gemeinsam zur Beerdigung gehen solle, gab er nach. Er zog sogar seinen hässlichen lila Trainingsanzug aus und tauschte ihn gegen Jeans und einen immerhin dunklen Pullover. Danach zitierte er Ron zu sich, um ihm ins Gewissen zu reden, man mache sich für das letzte Geleit eines Verstorbenen schick und laufe nicht in abgetragenen Klamotten wie ein Penner über den Friedhof. Ron wusste, dass sein Vater sich nur aufspielte, um vor der Nachbarin zu demonstrieren, dass er wusste, was sich gehörte. Und natürlich um zu zeigen, wie gut er seinen Sohn unter Kontrolle hatte, auch ohne die Hilfe seiner Frau. Ron machte den ganzen Mist nur mit, weil ihm jeder Antrieb fehlte, sich gegen seinen Vater aufzulehnen. Es war sowieso sinnlos, sein Vater war so ignorant wie eine Fliege, die auch nach dem hundertsten Mal Wegschlagen einfach nicht vom Papier verschwinden wollte.


An ein Beieinander sitzen nach der Beisetzung oder gar einen Leichenschmaus war nicht zu denken. Rons Vater hielt das alles für überflüssigen Quatsch. Dass seine Frau nun endlich tot war, sei für ihn Party genug, sagte er, da brauche er sich jetzt nicht auch noch mit seinem missratenen und völlig verzogenen Sohn und der ständig neugierigen Nachbarin, die sich immer in alles einmischte, an einen Tisch zu setzten, ekelhaften Fraß runter würgen und darüber erzählen, was seine Frau Großartiges geleistet hatte im Leben. Nichts hatte sie geleistet, rein gar nichts. Sie war eine Frau frei von Bildung, frei von Zielen, frei von Plänen. Sie lebte einfach jeden Tag vor sich hin ohne auch nur einen Funken ihrer Gedanken daran zu verschwenden, irgendwann einmal etwas Sinnvolles zu schaffen, geschweige denn arbeiten zu gehen. Was sollte man also große Worte bei Kaffee und Kuchen über sie verlieren?


Und auch Ron stand nicht der Sinn danach, mit seinem Vater oder der Nachbarin zu plaudern. Er wollte seine Ruhe haben, arbeiten und sich Gedanken darüber machen, wie es nun mit ihm weiter gehen solle, denn er würde bestimmt nicht die „Arbeit“ seiner Mutter fortsetzten. Dazu war er nicht bestimmt und mit seinem Talent des Schreibens gesegnet, um es am Herd über brutzelnden Töpfen zu vergeuden.


Die ersten Tage kam die Nachbarin noch einige Male vorbei, um nach dem Rechten im Männerhaushalt zu sehen. Sie taten ihr leid. Die Tatsache, nun alles selbst in die Hand nehmen zu müssen, Dinge erledigen zu müssen, von denen sie keine Ahnung hatten. Deshalb versuchte die Nachbarin immer wieder, Vater und Sohn unter die Arme zu greifen. Sie kochte extra mehr Mittag, um zwei volle Teller bei ihnen vorbei zu bringen. Bevor sie einkaufen ging, fragte sie bei Ron nach, ob sie ihm noch etwas mitbringen solle, mehr als nur Chips, Pizza und Cola. Einige Male sorgte sie sogar für Ordnung im Haus, lüftete durch, saugte und putzte alles. Sie wollte guten Willen beweisen und zeigen, was es alles zu erledigen gab an Alltäglichkeiten im Haushalt, doch all ihre Bemühungen wurden wie selbstverständlich hingenommen und als sie schließlich nach einem Monat nicht mehr kam, um alles in Ordnung zu halten und den Kühlschrank zu füllen, störte es auch scheinbar niemanden. Nun konnte die Nachbarin nur zu gut nachempfinden, wie mühevoll und trostlos das Leben von Rons Mutter gewesen sein musste und dass ihr Tod wohl auch gleichzeitig ihr größter Segen gewesen war, aus dieser Hölle endlich einen Ausweg gefunden zu haben.

Das Haus verkam mit jedem Tag, seitdem die Nachbarin das letzte Mal da gewesen war, ein Stückchen mehr. Anfangs fiel es noch gar nicht wirklich auf, es stapelte sich einiges Geschirr, das gespült werden wollte, irgendwann setzte sich überall Staub an, nach einigen Tagen begann es in jedem Zimmer widerlich zu riechen. Es war ein schleichender Prozess, der einfach von Vater und Sohn als nicht änderbar hingenommen wurde. Keiner von ihnen sah es als seine Aufgabe, irgendetwas am derzeitigen Zustand zu ändern. Weder am Zustand des Hauses, noch am Zustand ihres Verhältnisses.


Ron kam meist schon mittags von der Schule nach Hause und verschwand sofort in seinem Zimmer, um an seinem Buch zu arbeiten. Nachmittag für Nachmittag machte er sich ans Werk und verließ seine Zimmer auch nur noch, wenn er auf Toilette musste. Vor allem abends wagte Ron sich nicht mehr über seine Türschwelle, denn dann kam sein Vater von der Arbeit und ihm dann zu begegnen war alles andere als ein freudiges Wiedersehen. Man hörte ihn immer sofort an den schweren Schritten im Flur, wie er kurz darauf seine Schuhe von den Füßen schüttelte, die erst mit lautem Knall gegen die Wand geschleudert wurden und dann auf den kalten Fliesenboden donnerten. Einen Augenblick später hörte man die Kühlschranktür zuschlagen, gefolgt von lautem Fluchen, warum das scheiß Ding schon wieder leer war.

Ron hingegen störte der Inhalt des Kühlschranks herzlich wenig, denn seitdem niemand mehr für ihn kochte und sich um sein leibliches Wohl sorgte, hatte er den Entschluss gefasst, so gut wie gänzlich auf das Essen zu verzichten. Toastbrot, Käse und Eistee wurden zu seinen neuen Hauptnahrungsmitteln, die er sich in großen Mengen gönnte, wenn er es anderenfalls vor Hunger kaum noch aushielt. Er sah nicht ein, warum er jetzt für sich und seinen Vater die Rolle der Mutter übernehmen sollte. Diese unehrenhafte Aufgabe konnte jemand übernehmen, der dem Ganzen auch gewachsen war.


Soll der Alte sich doch eine neue Frau suchen, die sich um alles kümmert.


Doch stattdessen versuchte dieser ein ums andere Mal, Ron die Pflichten eines Hausmannes aufs Auge zu drücken. Seine Argumente waren dabei so plump und einfallslos wie er selbst. So überzeugten Ron Aussagen wie: „Du und deine Mutter haben doch die gleiche BH-Größe, also stell dich nicht so an und putz endlich!“ nicht mal annähernd. So lebten beide Männer noch eine geraume Zeit im gemeinsamen Zuhause nebeneinander her, bis Ron es schließlich nicht mehr aushielt in all dem Müll, Dreck und Gestank, der ihn umgab. Es war nicht nur der Zustand des Hauses, der ihm mittlerweile zuwider geworden war, auch sein Vater war noch unerträglicher geworden, als er es ohnehin schon immer gewesen ist. Ron hätte niemals gedacht, dass es möglich war, einen Menschen, von dem man sich nichts mehr als Aufmerksamkeit gewünscht hatte, wenn auch nur einen kurzen Augenblick lang, schließlich genau für diese Aufmerksamkeit, die einem plötzlich zuteilwurde, so sehr zu hassen. Wie sehr sehnte sich Ron nach der Zeit zurück, in der sein Vater sich nur mit sich selbst beschäftigt hatte und alle anderen in Ruhe ließ. Nun wusste Ron, was sein alter Herr in Wahrheit für ein Mensch war und er fand ihn widerwertig. Ein egozentrischer, selbstgefälliger, fieser Arsch, das war dieser Unmensch. Nicht mehr wert als der Fliegendreck auf Rons Memoiren, dafür aber umso bedeutungsloser. Er würde sich nicht länger zum Sklaven dieses Mannes machen und sich weiter seinen Schikanen aussetzen, das stand für Ron fest. Deshalb packte er alles, was er besaß in einen Rucksack und verschwand auf nimmer Widersehen.




Ron Hellfuns

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