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Zweites Kapitel

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I

Victoria Jones saß schlecht gelaunt auf einer Parkbank in den FitzJames Gardens. Sie erging sich gerade in philosophischen – ja geradezu moralisierenden – Betrachtungen über die Nachteile, die der Einsatz besonderer Talente im falschen Augenblick mit sich brachte.

Victoria war wie die meisten von uns: ein Mädchen, das Tugenden und Fehler in sich vereinte. Auf der Habenseite waren ihre Großzügigkeit, ihre Warmherzigkeit und ihr Mut zu erwähnen. Ihr angeborener Hang zum Abenteuer konnte in dieser unserer heutigen Zeit, die den Wert der Sicherheit so hoch veranschlagt, ebenso gut als verdienstvoll wie als das Gegenteil dessen betrachtet werden. Ihr Hauptfehler aber war eine Neigung, in passenden wie in unpassenden Augenblicken Märchen zu erzählen. Dichtung übte auf Victoria stets einen stärkeren Reiz als die Wahrheit aus. Sie log mit Geläufigkeit, Unbefangenheit und künstlerischer Begeisterung. Wenn Victoria nicht ganz pünktlich zu einer Verabredung kam (was häufig der Fall war), genügte es ihr nicht, sich damit zu entschuldigen, ihre Uhr sei stehen geblieben (was tatsächlich recht häufig der Fall war) oder der Bus habe sich aus unbekannten Gründen verspätet. Vielmehr zog Victoria es vor, die erstunkene und erlogene Erklärung vorzubringen, sie sei durch einen entflohenen Elefanten aufgehalten worden, der, der Länge nach auf der Straße liegend, den gesamten Busverkehr blockierte, oder durch einen verwegenen Schaufenstereinbruch, bei dessen Aufklärung sie der Polizei behilflich sein konnte. Für Victoria wäre die beste aller möglichen Welten eine gewesen, wo auf dem Piccadilly Tiger lauerten und blutdürstige Briganten Tooting unsicher machten.

Einerseits ein schlankes Mädchen mit einer ansprechenden Figur und erstklassigen Beinen, hatte Victoria andererseits ein eher unscheinbares kleines Gesicht mit regelmäßigen Zügen. Doch tatsächlich besaß ihre Fadheit eine überraschende Würze, denn »Gummifrätzchen«, wie einer ihrer Verehrer sie getauft hatte, konnte diese Gesichtszüge nach Belieben verziehen und dadurch nahezu jedermann täuschend echt imitieren.

Gerade letztgenanntes Talent aber hatte sie in ihre gegenwärtige missliche Lage gebracht. Als Stenotypistin bei Mr Greenholtz von Greenholtz, Simmons & Lederbetter, Graysholme Street, WC2, angestellt, hatte Victoria einen öden Vormittag zum Anlass genommen, die drei übrigen Tippfräulein und den Laufjungen mit einer überzeugenden Imitation Mrs Greenholtz’ zu unterhalten, wie sie ihrem Gatten einen Besuch im Büro abstattete. Im beruhigenden Bewusstsein, dass Mr Greenholtz gerade bei seinem Anwalt war, hatte Victoria alle Zurückhaltung fahren lassen.

»Warum sagst du, wir keennen dieses Stilsofa nicht haben, Tate?«, fragte sie mit hoher, quengelnder Stimme. »Mrs Dievtakis, sie hat ejns in Atlas stahlblau. Du sagst, Geld ist sich knapp? Aber warum du dann fiehrst diese blonde Schickse zum Essen und Tanzen aus – ha! Du hast gedacht, ich wejß es nicht? Und wenn du diese Schickse ausfiehrst – dann krieg ich ejn Sofa, und ganz in Pflaume bezogen und mit Kissen aus Gold! Und wenn du sagst, ist sich ejn Geschäftsessen, du bist ein verdammter Dummkopf – ja – und kommst mit Lippenstift am Kragen vom Hemd zurück! Also krieg ich das Stilsofa, und bestell ich ein Pelzcape – ist sich sehr hiebsch, ganz wie Nerz, aber nicht richtig Nerz, und ich krieg es sehr billig, und ist sich ejn gutes Geschäft …«

Die plötzliche Fahnenflucht ihres Publikums, das zunächst wie gebannt zugehört hatte, jetzt aber jäh, in spontaner Eintracht, die Arbeit wiederaufnahm, veranlasste Victoria, zu verstummen und kehrtzumachen – um sich Mr Greenholtz gegenüberzusehen, der in der Tür stand und sie musterte.

Da ihr auf die Schnelle nichts Sachdienliches einfallen wollte, sagte Victoria lediglich: »Oh!«

Mr Greenholtz stieß einen Grunzlaut aus.

Dann warf er seinen Mantel von sich, marschierte in sein Büro und knallte die Tür hinter sich zu. Fast unmittelbar danach ertönte sein Summer, zweimal kurz, einmal lang. Das war das vereinbarte Signal für Victoria.

»Ist für dich, Jonesey«, bemerkte ganz unnötigerweise eine Kollegin, in deren Augen die Freude leuchtete, die seines Nächsten Unglück bei einem auszulösen pflegt. Im gleichen Geiste äußerten die übrigen Tippfräulein Dinge wie: »Jetzt bist du dran, Jones«, und »Zum Rapport, Jonesey!« Der Laufjunge, ein unangenehmes Bürschlein, begnügte sich damit, den Zeigefinger über seine Kehle zu ziehen und dazu ein unheilverkündendes Geräusch auszustoßen.

Victoria schnappte sich Stenoblock und Bleistift und rauschte mit so viel Selbstsicherheit, wie sie aufbringen konnte, in Mr Greenholtz’ Büro.

»Sie haben nach mir gesummt, Mr Greenholtz?«, flötete sie und sah ihn mit arglosem Blick an.

Mr Greenholtz raschelte mit drei Pfundnoten und kramte in seinen Taschen nach Münzgeld.

»Da sind Sie also«, stellte er fest. »Jetzt habe ich endgültig von Ihnen genug, junge Dame. Wissen Sie einen einzigen Grund, warum ich Ihnen nicht einfach einen Wochenlohn auszahlen und Sie fristlos vor die Tür setzen sollte?«

Victoria (eine Vollwaise) hatte gerade den Mund aufgemacht, um zu erklären, dass die Sorge um eine Mutter, die sich gerade einer schweren Operation unterziehen musste, sie nervlich zerrüttet und ihrer Urteilskraft gänzlich beraubt habe und dass ihr kleines Gehalt alles sei, wovon besagte Mutter ihren Lebensunterhalt bestreite, als ein Blick auf Mr Greenholtz’ ungesunde Gesichtsfarbe sie eines Besseren belehrte und den Mund wieder zuklappen ließ.

»Da bin ich ganz Ihrer Meinung!«, sagte sie also stattdessen in herzlichem, leutseligem Ton. »Ich finde, Sie haben absolut recht, wenn Sie wissen, was ich meine.«

Mr Greenholtz stutzte. Er war es nicht gewohnt, dass seine Kündigungen so beifällig, ja begeistert aufgenommen wurden. Um ein leichtes Unbehagen zu bemänteln, zählte er einen Stapel Münzen durch, der vor ihm auf dem Schreibtisch stand.

»Fehlen noch neun Pence«, murmelte er missmutig.

»Schon gut«, sagte Victoria zuvorkommend. »Gönnen Sie sich einen Kinobesuch, oder investieren Sie die in Süßigkeiten.«

»Briefmarken habe ich anscheinend auch keine da.«

»Macht nichts. Ich schreibe eh keine Briefe.«

»Ich könnte sie Ihnen nachsenden«, sagte Mr Greenholtz, klang aber nicht sehr überzeugt.

»Nicht nötig. Wie wär’s mit einem Arbeitszeugnis?«, sagte Victoria.

Prompt kam Mr Greenholtz die Galle wieder hoch.

»Warum zum Teufel sollte ich Ihnen wohl ein Arbeitszeugnis ausstellen?«, fragte er wutentbrannt.

»Ist so üblich«, sagte Victoria.

Mr Greenholtz zog ein Blatt Papier zu sich heran und kritzelte ein paar Zeilen darauf. Dann schob er es ihr zu.

»Recht so?«

Miss Jones war zwei Monate lang als Stenotypistin bei mir beschäftigt. Ihr Steno ist mangelhaft, und sie beherrscht keine Rechtschreibung. Sie verlässt uns wegen Zeitverschwendung am Arbeitsplatz.

Victoria verzog das Gesicht.

»Kaum eine Empfehlung«, bemerkte sie.

»War auch nicht als solche gemeint«, sagte Mr Greenholtz.

»Ich finde«, sagte Victoria, »Sie sollten wenigstens noch sagen, dass ich ehrlich bin, nüchtern und anständig. Das bin ich nämlich, wissen Sie. Und vielleicht könnten Sie noch hinzufügen, dass ich diskret bin.«

»Diskret?«, bellte Mr Greenholtz.

Victoria begegnete seinem Blick mit unschuldig aufgerissenen Augen.

»Diskret«, wiederholte sie sanft.

Als ihm allerlei Briefe erinnerlich wurden, die Victoria nach Diktat aufgenommen und ins Reine getippt hatte, entschied Mr Greenholtz, dass Vorsicht die Gouvernante des Grolls war.

Er riss das Schreiben wieder an sich, zerriss es und fasste ein neues ab.

Miss Jones war zwei Monate lang als Stenotypistin bei mir beschäftigt. Sie verlässt uns aufgrund von notwendigen Personaleinsparungen.

»Wie ist es damit?«

»Könnte besser sein«, sagte Victoria, »aber zur Not wird’s reichen.«

II

Und so kam es, dass Victoria, mit einem Wochenlohn (minus neun Pence) in der Handtasche, sinnend auf einer Bank in den FitzJames Gardens saß, bei welchen es sich um eine keilförmige Anpflanzung von mitleiderregenden Sträuchern handelt, die eine Kirche flankiert und von einem hohen Lagerhaus überragt wird.

Es war Victorias Gewohnheit, an jedem Tag, an dem es nicht direkt regnete, sich in einer Milchbar ein Käse- und ein Salat-Tomaten-Sandwich zu kaufen und diesen schlichten Lunch in dieser pseudoländlichen Umgebung zu verzehren.

Während sie meditativ vor sich hin mampfte, sagte sie sich, heute nicht zum ersten Mal, dass alles seine Zeit und seinen Ort hatte – und dass das Büro definitiv nicht der Ort für Imitationen der Gattin des Chefs war. Künftig musste sie ihren angeborenen Überschwang zügeln, der sie veranlasst hatte, die stumpfsinnige Ausführung eines öden Jobs ein bisschen aufzulockern. Einstweilen aber hatte sie Greenholtz, Simmons & Lederbetter vom Hals, und die Aussicht darauf, anderswo eine Anstellung zu bekommen, erfüllte sie mit freudiger Erwartung. Victoria war jedes Mal ganz aus dem Häuschen, wenn sie im Begriff stand, eine neue Stelle anzutreten. Man konnte nie wissen, fand sie immer, was alles passieren mochte.

Sie hatte gerade das letzte Bröckchen Brot an drei aufmerksame Spatzen gespendet, die sich sofort mit Geschrei darum zu balgen begannen, als sie einen jungen Mann bemerkte, der am anderen Ende der Parkbank saß. Vage mitbekommen hatte Victoria ihn schon vorher, aber mit einem Kopf voll guter Vorsätze für die Zukunft, hatte sie ihn bis zu diesem Augenblick nicht näher betrachtet. Was sie jetzt (aus dem Augenwinkel) sah, gefiel ihr ungemein. Es war ein gut aussehender junger Mann von cherubinischer Blondheit, aber mit einem energischen Kinn und extrem blauen Augen, die sie, wie sie fast beschworen hätte, seit geraumer Zeit mit kaum verhohlener Bewunderung gemustert hatten.

Victoria hatte keinerlei Probleme damit, sich mit fremden jungen Männern an öffentlichen Plätzen anzufreunden. Sie hielt sich für eine hervorragende Menschenkennerin und im Übrigen für vollauf imstande, jeglichen Ungezogenheiten vonseiten alleinstehender Mannsleute Paroli zu bieten.

Also lächelte sie ihn offen an, und der junge Mann reagierte wie eine Marionette, wenn man an der Strippe zieht.

»Hallo«, sagte der junge Mann. »Hübsches Plätzchen hier. Kommen Sie häufig hierher?«

»So gut wie täglich.«

»Unverzeihlich, dass ich noch nie da war. War das eben Ihr Lunch?«

»Ja.«

»Ich finde, Sie essen nicht genug. Ich wäre am Verhungern mit nichts als zwei Sandwiches im Magen. Was hielten Sie davon, mich auf ein Würstchen ins SPO auf der Tottenham Court Road zu begleiten?«

»Nein danke. Ich bin satt. Im Moment könnte ich nichts mehr essen.«

Sie erwartete halb, dass er sagen würde: »Ein andermal dann«, doch er tat’s nicht. Er seufzte lediglich – und sagte:

»Ich heiße Edward, und Sie?«

»Victoria.«

»Wie sind Ihre Eltern denn auf die Schnapsidee gekommen, Sie nach einem Bahnhof zu nennen?«

»Victoria ist nicht nur ein Bahnhof«, gab Miss Jones zu bedenken. »Es gibt ja auch noch die Königin Victoria.«

»Ah ja. Und wie heißen Sie weiter?«

»Jones.«

»Victoria Jones«, sagte Edward, so als ginge es ihm nicht leicht von der Zunge. Er schüttelte den Kopf. »Passt nicht zusammen.«

»Völlig richtig!«, sagte Victoria im Brustton der Überzeugung. »Wäre ich eine Jenny, würde es ja ganz hübsch klingen – Jenny Jones. Aber Victoria erfordert etwas ein bisschen Vornehmeres. Victoria Sackville-West, zum Beispiel. So was braucht man. Da hat man ordentlich was im Mund.«

»Sie könnten dem Jones ja vorneweg etwas anheften«, schlug Edward mitfühlend vor.

»Bedford Jones.«

»Carisbrooke Jones.«

»St Clair Jones.«

»Lonsdale Jones.«

Dieses unterhaltsame Spiel fand ein jähes Ende, als Edward einen Blick auf seine Uhr warf und einen entsetzten Ausruf ausstieß.

»Ich muss zu meinem verflixten Boss zurückdüsen – äh –, wie steht’s mit Ihnen?«

»Ich bin arbeitslos. Ich bin just heute Vormittag gefeuert worden.«

»Ach herrje, das tut mir leid«, sagte Edward aufrichtig betroffen.

»Verschwenden Sie bloß kein Mitgefühl, mir tut’s nämlich kein bisschen leid. Zum einen finde ich spielend eine neue Stelle, und zum anderen war’s eher ziemlich witzig.«

Und dann lieferte sie ihm eine mitreißende Wiedergabe der betreffenden Szene samt einer Wiederholung ihrer Imitation Mrs Greenholtz’, die Edward maßlos amüsierte und die Rückkehr zu seinen Pflichten noch weiter verzögerte.

»Sie sind wirklich umwerfend, Victoria«, sagte er. »Sie gehören auf die Bühne!«

Victoria nahm diese Anerkennung mit einem dankbaren Lächeln entgegen und gab dann zu bedenken, dass Edward besser seine Beine in die Hand nehmen sollte, wenn er nicht ebenfalls rausgeschmissen werden wollte.

»Sie haben recht – und einen neuen Job würde ich nicht so leicht wie Sie bekommen. Es muss herrlich sein, eine gute Stenotypistin zu sein!«, sagte Edward mit hörbarem Neid.

»Also, genau genommen bin ich keine gute Stenotypistin«, räumte Victoria freimütig ein, »aber glücklicherweise finden heutzutage selbst die miesesten Stenotypistinnen irgendeinen Job – jedenfalls in der Bildung oder der Wohlfahrt, die können sich keine hohen Gehälter leisten, also nehmen sie Leute wie mich. Jobs in der gelehrten Sparte sind mir am liebsten. Die ganzen wissenschaftlichen Namen und Begriffe sind schon von sich aus so fürchterlich, dass man sich nicht zu genieren braucht, wenn man sie nicht richtig schreiben kann, weil das eh keiner kann. Und was machen Sie so? Ich vermute mal, Sie waren irgendwie beim Militär. RAF?«

»Gut geraten.«

»Kampfpilot?«

»Wieder richtig. Ist zwar hochanständig von den Leuten, uns Jobs und so weiter zu besorgen, aber das Problem, wissen Sie, ist, dass wir nicht übermäßig hell im Kopf sind. Ich meine, bei der RAF brauchte man nicht gerade das Schießpulver erfunden zu haben. Sie haben mich in ein Büro gesteckt, mit einem Haufen Akten und Zahlen und so Sachen, die ziemlich viel Nachdenken erforderten, und ich hab irgendwann das Handtuch geschmissen. Die ganze Sache kam mir ohnehin völlig sinnlos vor. Aber trotzdem. Es schlägt einem schon ein bisschen aufs Gemüt zu wissen, dass man zu nichts zu gebrauchen ist.«

Victoria nickte verständnisinnig; Edward fuhr verbittert fort:

»Ausgemustert. Nicht mehr dazugehörig. Während des Krieges war’s schon in Ordnung – man hat das Seine getan und sich wacker geschlagen – ich hab zum Beispiel das DFC bekommen – aber jetzt – tja, ich könnte mich genauso gut gleich von der Landkarte streichen.«

»Aber es müsste doch …«

Victoria sprach nicht zu Ende. Sie fühlte sich außerstande, ihre Überzeugung in Worte zu fassen, dass die Qualitäten, die ihrem Träger das Fliegerkreuz eingebracht hatten, auch irgendwo in der Welt von 1950 ihre Verwendung finden müssten.

»Es hat mich ziemlich fertiggemacht«, sagte Edward. »Zu nichts zu gebrauchen zu sein, meine ich. Tja – ich sollte mich langsam auf die Socken machen – ach – hätten Sie was dagegen – ich meine – wäre es wahnsinnig ungehörig – wenn ich Sie, also …«

Und noch während Victoria überrascht die Augen aufriss, zückte Edward, stotternd und errötend, einen kleinen Fotoapparat.

»Ich hätte ganz unheimlich gern einen Schnappschuss von Ihnen. Es ist nämlich so, dass ich morgen nach Bagdad abreise.«

»Nach Bagdad?«, rief Victoria bitter enttäuscht aus.

»Ja. Ich meine, ich wollte, es wär nicht so – inzwischen. Noch heute Morgen war ich deswegen ganz aufgekratzt – deswegen habe ich den Job ja überhaupt angenommen: um aus diesem Land rauszukommen.«

»Was für eine Art Job ist es denn?«

»Ziemlich schauderhaft. Kultur – Dichtung, all so Zeugs. Mein Boss ist ein gewisser Dr. Rathbone. Hat außer dem Doktor noch einen ganzen Schwanz von Buchstaben hinter dem Namen und einen Kneifer, durch den er einen ganz seelenvoll anstiert. Ist ganz versessen auf Bildung und darauf, selbige in alle Welt hinauszutragen. Er eröffnet Buchläden an den entlegensten Orten – und jetzt macht er einen in Bagdad auf. Er lässt Shakespeares und Miltons Werke ins Arabische, Kurdische, Persische und Armenische übersetzen und hat die alle auf Lager. Eigentlich idiotisch, finde ich, wo es doch schon den British Council gibt, der überall in der Gegend so ziemlich das Gleiche macht. Aber das hält ihn nicht davon ab. Und da mir die Sache einen Job einbringt, darf ich eigentlich nicht lästern.«

»Was genau machen Sie eigentlich?«, fragte Victoria.

»Na ja, unterm Strich läuft’s darauf raus, den Hansel und Laufburschen des alten Knaben zu spielen. Die Tickets besorgen, die Reservierungen machen, die Einreiseformulare ausfüllen, darauf achten, dass diese ganzen grauenvollen poetischen Schinken auch alle richtig eingepackt sind, hierhin laufen und dorthin rennen und überhaupt. Und dann, wenn wir erst mal dort drüben sind, wird meine Aufgabe darin bestehen, mit den Eingeborenen zu fraternisieren – eine Art Jugendbewegung aufzuziehen – alle Nationen vereint im gemeinsamen Streben nach Büldung.« Edwards Ton war immer kläglicher geworden. »Mal ehrlich, das ist doch ziemlich gruselig, oder nicht?«

Victoria sah sich außerstande, nennenswerten Trost zu spenden.

»Und deswegen«, sagte Edward, »wenn’s Ihnen nicht allzu viel ausmacht – eins im Profil und eins, wo Sie mich direkt ansehen – ah, so ist’s wunderbar, wirklich …«

Die Kamera klickte zweimal, und Victoria legte diese spezielle schnurrende Selbstzufriedenheit an den Tag, die junge Frauen verraten, wenn sie wissen, dass sie auf einen attraktiven Angehörigen des anderen Geschlechts Eindruck gemacht haben.

»Aber es ist ganz schön ärgerlich, jetzt abreisen zu müssen, wo ich Sie gerade erst kennengelernt habe«, sagte Edward. »Ich hätte nicht übel Lust, die Sache zu schmeißen – aber das kann ich wohl kaum, so im allerletzten Moment – nicht nach diesen ganzen fürchterlichen Formularen und Visa und was weiß ich nicht alles. Würde sich nicht besonders gut machen, oder?«

»Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm, wie Sie glauben«, sagte Victoria tröstend.

»Ja, ja«, sagte Edward skeptisch. »Das Komische ist«, fügte er hinzu, »ich werd das Gefühl nicht los, dass da irgendwas faul ist.«

»Faul?«

»Ja. Nicht koscher. Fragen Sie mich nicht, wieso. Ich hab keinen konkreten Grund. Nur so ein Gefühl, wie man’s manchmal so hat. Hatte ich einmal wegen meiner Backbordpumpe. Hab an dem verdammten Ding rumgeschraubt, und tatsächlich, ein Dichtungsring hatte sich in der Ersatzgetriebepumpe verklemmt.«

Die technischen Termini bewirkten zwar, dass Victoria im Detail nur Bahnhof verstand, aber die Grundidee erfasste sie doch.

»Sie glauben, er ist nicht ganz koscher – Rathbone?«

»Ich wüsste nicht, wie das möglich wäre. Ich meine, er ist wahnsinnig hochachtbar und gelehrt und gehört diesen ganzen Gesellschaften an – und ist dick Freund mit Erzbischöfen und College-Rektoren. Nein, es ist nur ein Gefühl – je nun, die Zeit wird’s zeigen. Machen Sie’s gut. Ich wünschte, Sie kämen mit.«

»Ich auch«, sagte Victoria.

»Was werden Sie machen?«

»Zur St-Guildric’s-Agentur in der Gower Street tippeln und mir eine neue Stelle suchen«, sagte Victoria trübsinnig.

»Adieu, Victoria. Partihr, sä murihr an pöh«, fügte Edward mit einem sehr britischen Akzent hinzu. »Diese Franzmänner verstehen schon ihr Handwerk! Unsere eigenen Schreiber faseln bloß was von wegen, Trennung wär ein süßer Schmerz oder so – blöde Hohlköpfe!«

»Adieu, Edward, viel Glück.«

»Ich nehm nicht an, dass Sie je wieder an mich denken werden …?«

»Doch, werde ich.«

»Sie sind absolut anders als jedes Mädchen, das ich bisher gekannt habe – ich wünschte nur …« Die Glocke schlug die Viertelstunde, und Edward sagte: »Ach, verdammt – ich muss flitzen …«

Er hastete eilig davon und wurde bald vom großen Rachen Londons verschluckt. Auf ihrer Bank zurückgelassen, in tiefes Sinnen versunken, war sich Victoria zweier deutlich unterschiedener Gedankenströme bewusst.

Der eine handelte vom Romeo-und-Julia-Motiv. Sie und Edward, fand sie, steckten irgendwie in der gleichen Lage wie dieses unglückliche Liebespaar, auch wenn Romeo und Julia ihre Empfindungen möglicherweise in eine etwas schniekere Sprache gekleidet hatten. Aber die Situation, fand Victoria, war die gleiche. Begegnung, augenblickliche Anziehung – Enttäuschung: zwei liebende Herzen, brutal auseinandergerissen. Prompt fiel ihr ein Gedichtchen ein, das ihr altes Kindermädchen einst zu rezitieren pflegte:

Jumbo sprach zu Alice: Schatz, ich liebe dich!

Alice sprach zu Jumbo: Glaub ich aber nich!

Liebtest du mich wirklich, du würdest niemals dich

Nach USA verdrücken und ließest mich im Stich.

Man brauchte bloß die USA durch Bagdad zu ersetzen, und voilà!

Endlich stand Victoria auf, wischte sich Krümel vom Schoß und verließ flotten Schritts die FitzJames Gardens in Richtung Gower Street. Victoria war zu zwei Entscheidungen gelangt: Die erste lautete, dass sie (wie Julia) diesen jungen Mann liebte und fest entschlossen war, ihn zu kriegen.

Die zweite Entscheidung, zu welcher Victoria gelangt war, war die, dass, da Edward in Kürze in Bagdad sein würde, ihr nichts anderes übrig blieb, als gleichfalls nach Bagdad zu fahren. Was sie nunmehr beschäftigte, war die Frage, wie dies zu bewerkstelligen sei. Dass es, auf die eine oder andere Weise, zu bewerkstelligen war, zweifelte Victoria nicht an. Sie war eine junge Frau von großem Optimismus und ebensolcher Charakterstärke.

So süß ist Trennungswehe sprach sie persönlich als Idee kein bisschen mehr an, als sie Edward zusagte.

»Irgendwie«, sagte Victoria zu sich, »muss ich nach Bagdad gelangen!«

Sie kamen nach Bagdad

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