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Sechstes Kapitel

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Richard Baker saß im Vorzimmer des britischen Konsulats und wartete darauf, dass der Konsul ihn empfing.

Er war an diesem Vormittag von der Indian Queen an Land gekommen und hatte sein Gepäck durch den Zoll gebracht. Es bestand fast ausschließlich aus Büchern. Zwischen diese waren, wie aus einem nachträglichen Einfall heraus, leichte Baumwollhosen und Hemden gestopft worden.

Die Indian Queen war pünktlich eingelaufen, und weil Richard einen zeitlichen Spielraum von zwei Tagen eingeplant hatte, da es bei kleinen Frachtschiffen wie der Indian Queen häufig zu Verspätungen kam, hatte er jetzt zwei Tage zur freien Verfügung, bevor er, über Bagdad, zu seinem eigentlichen Ziel würde weiterfahren müssen: Tell Aswad, Stätte der frühgeschichtlichen Stadt Murik.

Hinsichtlich der Nutzung dieser zwei Tage standen seine Pläne schon fest. Ein Hügel nahe der Küste von Kuwait, von dem man vermutete, dass er frühzeitliche Ruinen enthielt, hatte seine Neugier schon vor langem geweckt. Jetzt bot sich ihm die Gelegenheit, ihn zu untersuchen.

Er war zum Airport Hotel gefahren und hatte sich nach Möglichkeiten erkundigt, nach Kuwait zu gelangen. Ein Flugzeug, hatte er erfahren, startete am folgenden Morgen um zehn, und er konnte am darauffolgenden Tag wieder zurückfliegen. Soweit war also alles ganz unkompliziert. Natürlich gab es die unvermeidlichen Formalitäten, Ausreisevisum und Einreisevisum für Kuwait. Für die würde er sich an das britische Konsulat wenden müssen. Den Generalkonsul in Basra, Mr Clayton, hatte Richard ein paar Jahre zuvor in Persien kennengelernt. Es würde nett sein, dachte Richard, ihn wiederzusehen.

Das Konsulatsgelände besaß mehrere Eingänge. Ein Haupttor für Autos. Ein zweites, kleineres Tor, das vom Garten auf die Straße führte, die entlang des Schatt al-Arab verlief. Der Eingang für den Publikumsverkehr schließlich lag an der Hauptstraße. Richard trat ein, gab dem Mann am Empfang seine Visitenkarte, erfuhr, dass der Generalkonsul momentan beschäftigt sei, aber bald zu sprechen sein würde, und wurde in ein kleines Wartezimmer links des Korridors geführt, der in gerader Linie vom Eingang zum rückwärtigen Garten verlief.

Im Wartezimmer saßen bereits mehrere Personen. Richard würdigte sie kaum eines Blickes. Er brachte überhaupt selten Interesse für Angehörige der menschlichen Spezies auf. Eine antike Scherbe war für ihn immer spannender als irgendein hundsgewöhnlicher, in das 20. Jahrhundert datierbarer Mensch.

Er gestattete es seinen Gedanken, bei bestimmten Aspekten der Mari-Archive und den Wanderbewegungen der benjaminitischen Sippen um 1750 v. Chr. genussvoll zu verweilen.

Es wäre schwer zu sagen, was genau ihn in ein klares, eindringliches Bewusstsein der Gegenwart und seiner anwesenden Artgenossen zerrte. Anfangs war es bloß ein Unbehagen, ein Gefühl von Anspannung. Es schien – doch er hätte es nicht beschwören können – ihn über die Nase zu erreichen. Nichts, was er mit Bestimmtheit hätte diagnostizieren können – doch es war da, unbestreitbar, und versetzte ihn irgendwie in die Zeit des letzten Krieges zurück. Konkret musste er an eine bestimmte Nacht denken, als er und zwei andere aus einem Flugzeug mit Fallschirmen abgesetzt worden waren und dann in den kalten frühen Morgenstunden den Augenblick abgewartet hatten, ihren Auftrag zu erledigen. Stunden, in denen die Moral auf dem Tiefpunkt war, in denen einem sämtliche Risiken des Unternehmens klar vor Augen traten, eine Zeit der beklemmenden Befürchtung, man könnte der Aufgabe nicht gewachsen sein, der feigen Schwäche des Fleisches. Da hatte der gleiche saure, fast nicht wahrnehmbare Duft in der Luft gehangen.

Der Geruch der Angst

Zunächst registrierte er das alles nur unbewusst. Die Hälfte seiner Psyche bemühte sich weiterhin hartnäckig darum, sich auf Vorchristliches zu konzentrieren. Aber der Sog der Gegenwart erwies sich letztlich als zu stark.

Jemand in diesem kleinen Raum stand gerade Todesängste aus …

Er blickte sich um. Ein Araber in einer zerfetzten Kakijacke, dessen Finger mechanisch mit den Bernsteinperlen seiner Gebetskette spielten. Ein leicht korpulenter Engländer mit einem grauen Schnurrbart – Typ Handlungsreisender –, der Zahlen in ein Notizbüchlein eintrug und sich vertieft und wichtig gab. Ein magerer, müde aussehender, sehr dunkelhäutiger Mann, der in geruhsamer Haltung zurückgelehnt saß und eine friedvoll teilnahmslose Miene zeigte. Ein Mann, der wie ein einheimischer Büroangestellter aussah. Ein älterer Perser in fließenden schneeweißen Gewändern. Keiner von ihnen wirkte auch nur besorgt.

Das Klicken der Bernsteinperlen nahm jetzt einen bestimmten Rhythmus an. Irgendwie kam er ihm vertraut vor. Richard schreckte plötzlich zusammen. Er hatte schon fast geschlafen. Kurz – lang – lang – kurz – das waren Morsezeichen – eindeutig eine Morsenachricht. Er war mit M vertraut, während des Krieges hatte er unter anderem bei der Fernmeldetruppe gedient. Er konnte ihn mühelos nach Gehör »lesen«. EULE. F-L-O-R-E-A-T-E-T-O-N-A. Was zum Henker …? Ja, das war’s! Das Motto des Eton Colleges, Floreat Etona, immer und immer wieder von vorn. Geklopft (oder besser gesagt, geklickt) von einem zerlumpten Araber. He, Moment mal: »Eule. Eton. Eule.«?

Das war sein Spitzname in Eton gewesen – wegen der ungewöhnlich großen und klobigen Brille, die er dort in der Anfangszeit getragen hatte.

Er sah den ihm gegenübersitzenden Araber an und achtete dabei auf jedes Detail seiner Kleidung – die gestreifte dschellaba, die alte Kakiuniformjacke, den zerlöcherten handgestrickten roten Schal mit zahllosen gefallenen Maschen. Eine Gestalt, wie man sie am Hafen zu Hunderten sah. Die ausdrucksleeren Augen zeigten keinerlei Reaktion auf seinen Blick. Aber die Perlen klickten weiter.

Fakir hier. Hilfe. Probleme.

Fakir? Fakir? Aber natürlich! Fakir Carmichael! Ein Junge, der in irgendeiner exotischen Ecke der Welt – Turkestan, Afghanistan? – geboren worden oder aufgewachsen war.

Richard holte seine Pfeife heraus. Er zog einmal prüfend daran, spähte in den Pfeifenkopf und klopfte ihn dann an einem bereitgestellten Aschenbecher ausgiebig aus: Nachricht empfangen.

Danach passierte alles sehr schnell. Später brachte Richard die Ereignisse nur mit Mühe in eine korrekte zeitliche Abfolge.

Der Araber in der zerrissenen Militärjacke stand auf und wandte sich zur Tür. Als er an Richard vorbeikam, stolperte er und hielt sich, um nicht hinzufallen, an Richard fest. Dann richtete er sich wieder auf, entschuldigte sich und ging weiter.

Es war so überraschend und passierte so schnell, dass es Richard eher wie eine Filmszene vorkam als wie ein reales Ereignis. Der korpulente Handlungsreisende ließ sein Notizbuch fallen und griff in seine Jackentasche. Wegen seiner Körperfülle und des etwas eng sitzenden Jacketts brauchte er ein, zwei Sekunden, um die Hand samt Inhalt wieder herauszubekommen, und in diesen ein, zwei Sekunden handelte Richard. Als der Mann den Revolver hob, schlug Richard ihn ihm aus der Hand. Dabei löste sich ein Schuss, und eine Kugel bohrte sich in den Fußboden.

Der Araber hatte inzwischen den Raum verlassen und sich zum Amtszimmer des Konsuls gewandt, aber plötzlich hielt er inne, machte kehrt und rannte schnell in die andere Richtung, zur Tür, durch die er das Konsulat betreten hatte, und hinaus auf die belebte Straße.

Der Kawass eilte herbei, während Richard den korpulenten Mann am Arm festhielt. Die übrigen Anwesenden reagierten unterschiedlich: Der irakische Büroangestellte war aufgesprungen und trippelte aufgeregt auf der Stelle, der dunkelhäutige Magere hatte die Augen aufgerissen, und der ältere Perser schließlich starrte ungerührt ins Leere.

Richard rief:

»Was zum Teufel bilden Sie sich ein, so mit einem Revolver herumzufuchteln?«

Es entstand eine ganz kurze Pause, und dann sagte der korpulente Mann mit einer weinerlichen Cockney-Stimme:

»Tut mir leid, Mann. War keine Absicht. Nur ein Versehen.«

»Unsinn! Sie wollten diesen Araber erschießen, der gerade hinausgerannt ist!«

»Nein, nein, Mann, nicht erschießen. Nur ein bisschen erschrecken. Hab ihn plötzlich wiedererkannt, war ein Kerl, der mich mit irgendwelchen ›Antiken‹ hereingelegt hat. War nur’n kleiner Spaß.«

Richard Baker war von Natur aus ein Mensch, der jegliche öffentliche Aufmerksamkeit verabscheute. Instinktiv war er geneigt, die Erklärung zu akzeptieren. Was hatte er schließlich für Beweise in der Hand? Und würde es der alte Fakir Carmichael ihm überhaupt danken, wenn er ein großes Tamtam um die Sache machte? Wenn er in irgendeiner streng geheimen Nacht-und-Nebel-Mission unterwegs war, dann doch vermutlich nicht.

Richard ließ den Arm des Mannes los. Wie ihm auffiel, schwitzte der Bursche.

Der Kawass quasselte unterdessen ohne Punkt und Komma. Es sei sehr unrecht, sagte er, Schusswaffen in das britische Konsulat zu schmuggeln. Es sei verboten. Der Herr Konsul würde sehr ungehalten sein.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte der dicke Mensch. »Kleines Missgeschick – mehr nicht.« Er drückte dem Konsulatswächter etwas Geld in die Hand, das dieser sofort mit Empörung zurückwies.

»Ich sollte besser verschwinden«, sagte der Korpulente. »Ich verzichte darauf, den Konsul zu sprechen.« Dann hielt er Richard unvermittelt eine Visitenkarte hin. »Das hier bin ich, und sollte es irgendein Nachspiel geben, bin ich im Airport Hotel zu finden, aber es war wirklich nur ein Unfall. Nur ein kleiner Jux, wenn Sie wissen, was ich meine.«

Unzufrieden sah Richard ihm nach, wie er – mit etwas zu betont forschem Schritt – den Raum verließ und sich zum Straßenausgang wandte.

Er hoffte, richtig gehandelt zu haben, aber es war schwierig zu entscheiden, was richtig war, wenn man so sehr im Dunkeln tappte wie momentan er.

»Mr Clayton, er ist jetzt zu sprechen«, sagte der Kawass.

Richard folgte dem Mann den Korridor entlang. Die runde Scheibe von Sonnenlicht an dessen Ende wurde nach und nach größer. Das Amtszimmer des Konsuls lag rechter Hand am äußersten Ende des Ganges.

Mr Clayton saß an seinem Schreibtisch. Er war ein ruhiger grauhaariger Mann mit einem nachdenklichen Gesicht.

»Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern?«, sagte Richard. »Wir sind uns vor zwei Jahren in Teheran begegnet.«

»Natürlich. Sie waren mit Dr. Pauncefoot Jones zusammen, nicht wahr? Stoßen Sie dieses Jahr wieder zu ihm?«

»Ja. Ich bin auf dem Weg zur Grabung, aber ich habe noch ein paar Tage frei, und ich dachte, ich könnte einen Abstecher nach Kuwait machen. Ich nehme an, es gibt da keine Schwierigkeiten?«

»Nicht die geringsten. Morgen früh geht eine Maschine. Ein Flug von nur anderthalb Stunden. Ich schicke Archie Gaunt ein Kabel – er ist der dortige Resident. Er wird Sie bei sich unterbringen. Und für diese Nacht können wir Sie hier bei uns einquartieren.«

Richard erhob schwache Einwände.

»Wirklich – ich möchte Ihnen und Mrs Clayton keine Umstände machen. Ich kann mir im Hotel ein Zimmer nehmen.«

»Das Airport Hotel ist überfüllt. Es wäre uns ein Vergnügen, Sie bei uns zu haben. Ich weiß, dass meine Frau Sie gern wiedersehen würde. An Gästen haben wir momentan nur – lassen Sie mich nachdenken – Crosbie von der Erdölfirma und so einen Jungspund, den Dr. Rathbone hergeschickt hat, damit er ein paar Bücherkisten durch den Zoll bringt. Kommen Sie gleich mit herauf und sagen Sie Rosa Hallo.«

Er stand auf und eskortierte Richard durch die Tür in den sonnenhellen Garten. Eine Außentreppe führte hinauf in den Wohnbereich des Konsulats.

Oben angelangt, drückte Gerald Clayton die Fliegentür auf und ließ seinen Gast in einen halbdunklen lang gestreckten Flur eintreten, der mit reizvollen Teppichen ausgelegt und sparsam, mit erlesenen Einzelstücken entlang der zwei Wände möbliert war. Es war eine Wohltat, nach der Grelle draußen in das kühle Halbdunkel zu treten.

Clayton rief: »Rosa, Rosa!«, und Mrs Clayton, die Richard als eine lebensfrohe Person mit reichlich viel Energie in Erinnerung hatte, erschien aus einem hinteren Zimmer.

»Du erinnerst dich am Richard Baker, Liebes? Er besuchte uns in Teheran zusammen mit Dr. Pauncefoot Jones.«

»Aber natürlich«, sagte Mrs Clayton und schüttelte Richard die Hand. »Wir sind zusammen durch die Basare gezogen, und Sie haben sich ein paar schöne Teppiche gekauft.«

Wenn sie nicht gerade selbst Dinge kaufte, bestand Mrs Claytons Hauptvergnügen darin, ihre Freunde und Bekannten auf der Suche nach Schnäppchen durch die Suks zu treiben. Sie kannte von fast allem den Wert und war eine Meisterin des Feilschens.

»Einer der besten Käufe, die ich je getätigt habe«, sagte Richard. »Und ausschließlich Ihrer Vermittlung zu verdanken!«

»Baker will morgen nach Kuwait fliegen«, sagte Gerald Clayton. »Ich habe ihm gesagt, dass er bei uns übernachten kann.«

»Aber wenn es Umstände macht …«, begann Richard.

»I woher denn«, sagte Mrs Clayton. »Das beste Gästezimmer kann ich Ihnen nicht bieten, weil Captain Crosbie es bekommen hat, aber wir werden es Ihnen schon gemütlich machen. Sie möchten nicht zufällig eine hübsche kuwaitische Truhe kaufen? Denn gerade im Augenblick gibt es im Suk ein paar wunderschöne Stücke. Gerald erlaubt mir nicht, noch eine für hier zu kaufen, obwohl sie sehr praktisch wäre, um Extradecken zu verstauen.«

»Du hast doch schon drei, Liebes«, sagte Clayton milde. »Und wenn Sie mich jetzt entschuldigen, Baker … Ich muss ins Büro zurück. Im Wartezimmer scheint es ein bisschen Ärger gegeben zu haben. Jemand soll einen Revolver abgefeuert haben.«

»Einer der hiesigen Scheichs, könnte ich mir vorstellen«, sagte Mrs Clayton. »Sie sind schrecklich reizbar und ganz vernarrt in Schusswaffen.«

»Im Gegenteil«, sagte Richard. »Es war ein Engländer. Offenbar hatte er die Absicht, auf einen Araber zu schießen.« Schonend fügte er hinzu: »Ich habe ihm die Waffe aus der Hand geschlagen.«

»Dann haben Sie also das Ganze mitbekommen!«, sagte Clayton. »Das war mir nicht klar gewesen.« Er zog eine Visitenkarte aus seiner Tasche. »Robert Hall scheint er zu heißen, Achilles-Werke, Enfield. Ich weiß nicht, in welcher Angelegenheit er mich sprechen wollte. Er war nicht zufällig betrunken?«

»Er behauptete, es sei ›ein Jux‹ gewesen«, sagte Richard trocken, »und der Schuss habe sich nur aus Versehen gelöst.«

Clayton hob die Augenbrauen.

»Handlungsreisende laufen normalerweise nicht mit geladenen Feuerwaffen in der Tasche herum«, sagte er.

Clayton, fand Richard, war kein Dummkopf.

»Vielleicht hätte ich ihn nicht laufen lassen dürfen.«

»In solchen Situationen weiß man nie so recht, was man tun soll. Der Mann, auf den er geschossen hat, wurde nicht verletzt?«

»Nein.«

»Dann war es wahrscheinlich besser, es dabei bewenden zu lassen.«

»Ich frage mich, was wohl dahintersteckte.«

»Ja, ja … das frage ich mich auch.«

Clayton wirkte nicht ganz bei der Sache.

»Jetzt muss ich aber wirklich los«, sagte er und eilte davon.

Mrs Clayton führte Richard in den Salon, ein großes Innenzimmer mit grünen Polstermöbeln und Behängen, und bot ihm wahlweise Kaffee oder Bier an. Er entschied sich für Bier, und es erwies sich als herrlich eiskalt.

Sie fragte ihn, warum er nach Kuwait wolle, und er erklärte es ihr.

Sie fragte ihn, warum er noch nicht geheiratet habe, und Richard sagte, er sei wohl nicht der Typ zum Heiraten, was Mrs Clayton prompt mit einem »Unfug!« quittierte. Archäologen, sagte sie, gäben prächtige Ehemänner ab – und nahmen dieses Jahr denn irgendwelche jungen Frauen an der Grabung teil? Eine oder zwei, sagte Richard, und dann natürlich Mrs Pauncefoot Jones.

Mrs Clayton fragte hoffnungsvoll, ob es denn nette Mädchen seien, die ins Feld kamen, und Richard entgegnete, er wisse es nicht, weil er sie noch nicht getroffen habe. Sie seien auf jeden Fall noch sehr unerfahren, sagte er.

Hier lachte Mrs Clayton, aus welchem Grund auch immer.

Dann kam ein kleiner, untersetzter Mann mit einer etwas brüsken Art herein und wurde ihm als Captain Crosbie vorgestellt. Mr Baker, sagte Mrs Clayton, sei Archäologe und grabe mehrere Tausend Jahre alte, wahnsinnig interessante Dinge aus. Captain Crosbie erwiderte, es sei ihm völlig unbegreiflich, wie Archäologen so genau angeben könnten, wie alt diese Sachen seien. »Hab immer gedacht, dass sie wahrscheinlich, ha ha, allesamt lügen, dass sich die Balken biegen«, meinte Captain Crosbie. Richard warf ihm einen ziemlich überdrüssigen Blick zu. Aber im Ernst, sagte Captain Crosbie, woher wusste ein Archäologe, wie alt ein bestimmtes Ding war? Richard erwiderte, dass es ziemlich lange dauern würde, ihm das zu erklären, und wie aufs Stichwort entführte ihn Mrs Clayton, um ihm sein Zimmer zu zeigen.

»Er ist ein reizender Mensch«, sagte Mrs Clayton, »aber nicht ganz unsere Kreise. Keinen Schimmer von Kultur!«

Richard fand sein Zimmer außerordentlich behaglich, und seine Bewunderung für Mrs Clayton als Gastgeberin wurde noch größer.

Er spürte etwas in seiner Jacketttasche und zog ein zusammengefaltetes schmutziges Blatt Papier heraus. Er sah es überrascht an, weil er genau wusste, dass es am Morgen noch nicht da gewesen war.

Da fiel ihm ein, dass sich der Araber, als er gestolpert war, auf ihn gestützt hatte. Ein Mann mit geschickten Fingern hätte ihm diesen Zettel ohne weiteres zustecken können, ohne dass er etwas bemerkte.

Er faltete das Blatt auseinander. Es war schmutzig und schien schon viele Male entfaltet und wieder gefaltet worden zu sein.

In sechs Zeilen ziemlich krakeliger Handschrift empfahl ein Major John Wilberforce einen gewissen Ahmed Mohammed als einen fleißigen und anstelligen Arbeiter, fähig, einen Laster zu fahren und kleinere Reparaturen zu erledigen, und von Grund auf ehrlich – es war, mit anderen Worten, das übliche chit oder Empfehlungsschreiben, das man im Orient scheidenden Bediensteten zu geben pflegte. Es war laut Datum achtzehn Monate zuvor ausgestellt worden, was wieder nichts Ungewöhnliches war, da solche chits von ihren Besitzern wie Schätze gehütet zu werden pflegten.

Stirnrunzelnd ging Richard die Ereignisse des Vormittags auf seine präzise methodische Weise noch einmal in Gedanken durch.

Fakir Carmichael, dessen war er sich inzwischen vollkommen sicher, hatte um sein Leben gefürchtet. Er war ein Gejagter, und er war ins Konsulat geflüchtet. Warum? Um sich in Sicherheit zu bringen? Aber stattdessen war er in noch akutere, unmittelbare Gefahr geraten. Der Feind – oder ein verlängerter Arm des Feindes – hatte ihn dort erwartet. Dieser angebliche Handlungsreisende musste sehr strikte Befehle gehabt haben, dass er das Risiko auf sich genommen hatte, Carmichael im Konsulat, in Gegenwart von Zeugen, zu erschießen. Die Sache musste also sehr dringend gewesen sein. Und Carmichael hatte seinen alten Schulkameraden um Hilfe ersucht und hatte es geschafft, ihm dieses scheinbar belanglose Dokument zuzustecken. Folglich musste es sehr wichtig sein, und wenn die Feinde Carmichael zu fassen bekamen und feststellten, dass dieses Dokument nicht mehr in seinem Besitz war, würden sie zweifellos zwei und zwei zusammenzählen und sofort nach jedem Ausschau halten, dem Carmichael es anvertraut haben konnte.

Wie sollte Richard Baker also damit verfahren?

Er konnte es Clayton übergeben, als dem Repräsentanten Seiner Britannischen Majestät.

Oder er konnte es selbst so lange behalten, bis Carmichael es wieder zurückfordern würde.

Nach kurzer Überlegung entschied er sich für Letzteres.

Zuallererst traf er aber gewisse Sicherheitsvorkehrungen.

Nachdem er von einem alten Brief eine halbe leere Seite abgerissen hatte, setzte er sich hin und verfasste ein Empfehlungsschreiben für einen Lkw-Fahrer, das inhaltlich weitgehend dem Original entsprach, aber einen davon abweichenden Wortlaut verwendete – wenn der Originaltext eine kodierte Botschaft enthielt, war diese nunmehr verfälscht, obwohl es natürlich auch sein konnte, dass die eigentliche Botschaft mit einer unsichtbaren Tinte geschrieben war.

Dann beschmutzte er seine Kopie mit Staub von seinen Schuhen, rieb sie zwischen seinen Händen, faltete sie wieder und wieder zusammen, bis sie glaubwürdig alt und verschmutzt aussah.

Dann zerknüllte er das Blatt und steckte es ein. Das Original starrte er eine Zeitlang an, während er verschiedene Optionen erwog und verwarf.

Schließlich faltete er, während ein leises Lächeln seine Lippen umspielte, das Blatt einmal, zweimal und noch einmal zusammen, bis er ein schmales längliches Gebilde in den Händen hielt. Nachdem er eine Stange Plastilin (auf Reisen hatte er immer welches dabei) aus seinem Gepäck hervorgeholt hatte, wickelte er sein »Päckchen« erst in ein Stück Öltuch, das er aus seinem Waschbeutel herausgeschnitten hatte, und ummantelte es anschließend mit Plastilin. Dies erledigt, rollte und klopfte er das Plastilin, bis es wieder eine glatte Oberfläche hatte. Diese prägte er zuletzt mit einem Rollsiegel, das er bei sich hatte.

Das Ergebnis begutachtete er mit grimmiger Zufriedenheit.

Es zeigte ein schön graviertes Bildnis des babylonischen Sonnengottes Schamasch, der das Schwert der Gerechtigkeit schwang.

»Wollen wir hoffen, dass das ein gutes Omen ist«, sagte er zu sich.

Als er an dem Abend die Tasche des Jacketts überprüfte, das er am Vormittag getragen hatte, war das zerknüllte Blatt Papier verschwunden.

Sie kamen nach Bagdad

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