Читать книгу Das wirkliche Leben beginnt jetzt - A.H. Almaas - Страница 8

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Sein und die Suche

Heute wenden wir uns einer Frage zu, die in Zusammenhang mit der Lehre Christi steht. Christus lehrte über die Beziehung von Liebe und Mitgefühl zum Frieden. Wir werden im Hinblick auf diese Lehre etwas Praktisches diskutieren: was ist das Liebevollste und Mitfühlendste, was man tun kann, um Frieden herzustellen, sowohl persönlich als auch universell? Wir können diese Lehre zusammenfassen, wenn wir sagen, daß das Liebevollste und Mitfühlendste, was man für Frieden tun kann, ist, absolut nichts zu tun. Wenn ich sage, nichts zu tun, dann meine ich nicht das, was man gewöhnlich für Nichtstun halten würde. Wir werden versuchen, eine viel grundlegendere Auffassung davon zu verstehen, was es heißt, nichts zu tun, und warum dies liebevoll und mitfühlend wäre und warum es zu Frieden führt.

Frieden ist die Abwesenheit von Leiden. Ein Grund für Leiden besteht darin, daß die meisten Menschen nicht Frieden suchen, sondern nach Lust streben. Frieden hat für die meisten Menschen nicht die erste Priorität, als Erstes kommt gewöhnlich die Lust. Deshalb streben die Leute nach Lust. Es ist nichts verkehrt daran, Lust zu wollen, und auch nicht an Lust an sich. Aber was zur Abwesenheit von Frieden führt, ist das Streben nach Lust, und zwar aus dem einfachen Grund, daß man beim Streben nach Lust davon ausgeht, daß Lust irgendwo anders ist, zu irgendeinem anderen Zeitpunkt zu finden ist, in einer anderen Situation, und nicht hier und jetzt. Das ist die Grundannahme des Strebens, nicht nur nach Lust, sondern nach irgendetwas, einschließlich nach Frieden. Wenn wir nach etwas streben, entfernen wir uns von Lust oder von Frieden oder von der Quelle von Lust und Frieden. Wenn ich also sage, man soll absolut nichts tun, dann meine ich damit, daß man nicht streben soll – nicht nach Lust streben oder Frieden oder Sicherheit oder Liebe oder überhaupt nach irgendetwas –, weil in der Aktivität des Strebens implizit ist, daß es etwas zu tun oder daß es irgendwohin zu gelangen gibt. Streben geht von der Annahme aus, daß es etwas zu finden gibt, daß irgendwohin zu gelangen ist, daß ein Ziel erreicht werden soll.

Es ist erstaunlich zu sehen, wie Massen von Menschen – fast alle – nach etwas suchen, daß da wäre, wenn sie nur aufhören würden zu suchen, und was nicht da sein kann, bevor sie mit Suchen aufhören. Menschen neigen dazu, zu glauben, daß sie erst finden müssen, was sie suchen, und daß sie dann aufhören. Die Wahrheit ist, daß es zu dem Finden nur kommen kann, wenn die Suche aufhört. Dies ist die Absurdität der meisten unserer Aktivitäten und Dinge, die wir tun – wir suchen etwas und gerade durch diesen Akt des Suchens entfernen wir uns von dem, was wir suchen. Diese Beobachtung gibt eine Perspektive wieder, die die meisten Menschen nicht teilen. Aus der konventionellen Perspektive klingt es absurd. Sogar Menschen, die dies aus ihrer eigenen Erfahrung wissen, bleiben nicht überzeugt genug, um ihr Verhalten im Hinblick auf das Suchen wirklich zu ändern. Sie glauben immer noch nicht, daß die Lust, der Friede und die Erfüllung jetzt genau hier sind.

All diese Qualitäten sind in eurem eigensten Sein: sie sind nicht etwas anderes oder irgendwo anders. Wer ihr eigentlich seid ist die Quelle, gerade eure Natur ist die Quelle der Lust, des Friedens und der Liebe – all dessen, wonach ihr normalerweise strebt. Gleich was ihr denkt, was ihr braucht, jede Sekunde eures Lebens, von Anfang bis Ende, nur ihr könnt diese Suche zur Erfüllung bringen. Wenn ihr Lust sucht, dann werdet ihr dazu neigen, nur Leiden hervorzurufen, früher oder später.

Dies bedeutet, daß alle anderen Dinge in unserem Leben – was man erreicht hat, Erfolg, Reichtümer, Berühmtheit, dieses oder jenes, was man bekommen hat – aus der Perspektive unserer wahren Natur bedeutungslos sind. Es ist alles notwendig; es ist notwendig, daß Menschen arbeiten, Geld verdienen und so weiter. Aber diese Dinge sind nur für das Überleben notwendig, sie bringen nicht Erfüllung oder Frieden, und oft verschaffen sie einem keine Freude. Es ist interessant, daß wir diese Wahrheit einfach dadurch erkennen können, daß wir die Welt unmittelbar um uns untersuchen, und im nächsten Augenblick verhalten wir uns dann so, als hätten wir nichts gesehen. Viele Menschen in der Welt haben genug Geld, genug Arbeit und genug Nahrungsmittel; sie haben Menschen, die sie wertschätzen und so weiter, aber wahrscheinlich sind neunundneunzig Prozent dieser Menschen unglücklich. Und doch sind wir immer noch nicht überzeugt. Wir glauben: „Ich werde zu dem einen Prozent gehören. Wenn ich bekomme, was ich will, dann bin ich glücklich.“

In Wirklichkeit sind die Menschen, die zu dem einen Prozent gehören, die Erfüllung finden, diejenigen, die sich nicht um jene Errungenschaften kümmern. Deshalb sind sie erfüllt. Es liegt nicht daran, daß sie erfolgreich sind oder daß sie etwas bekommen haben – Reichtum, gesellschaftliche Stellung, einen Liebhaber oder was auch immer. Glaubt nicht den Leuten, die im Fernsehen auftreten und ihre Erfolgsgeschichten erzählen und sagen, wie glücklich sie sind. Es ist nicht wahr. Man kann dies in ihrem Gesicht sehen. Sie haben eine Vorstellung im Kopf, daß sie glücklich sind: „Ich habe, was ich will, also muß ich glücklich sein, denn ich habe immer daran geglaubt, daß es so funktioniert.“ Manche Menschen lassen sich vielleicht davon täuschen, aber jeder, der wahre Erfüllung kennt, sieht, daß es nicht wahr ist. Wir sind vielleicht begeistert, wenn wir bekommen, was wir wollen, was uns eine Weile unsere Hoffnungen erhält. Wir glauben, daß andere Dinge folgen werden, die unser Glück vervollständigen, aber gewöhnlich finden wir heraus, daß das nicht wahr ist. Ich sage nicht, daß Erfolg, Reichtum oder gesellschaftliche Stellung an sich schlecht sind, ich sage, daß sie an sich leer sind. Alle Aktivitäten im Leben – alle Errungenschaften, alle Situationen und alle Beziehungen – sind leer, wenn man nicht da ist, wenn man nicht in ihnen präsent ist. Dies ist ein fundamentales Gesetz der menschlichen Natur.

Da wir aber diesem Gesetz nicht glauben, halten wir uns an das Suchen. Auch wenn ihr alle Erfüllung und Frieden erfahren habt, wenn ihr einmal ohne nach etwas zu streben ganz präsent wart, glaubt ihr doch weiter, daß Suchen und Bekommen, was ihr sucht, zu Erfüllung führen. Ihr müßt begreifen, wie hartnäckig dieser Glaube ist, sogar angesichts so vieler Erfahrungen, die ihn widerlegen. Wenn ihr eure Annahmen klar anschaut, wenn ihr leidet, dann könnt ihr sehen, wie ihr in diesem Augenblick, in dem ihr die Illusion des Suchens glaubt, der Überzeugung seid, daß Frieden nicht einfach hier und jetzt sein kann. Ihr erkennt, daß ihr wirklich glaubt, wenn ihr dieses oder jenes bekommt, dann werdet ihr glücklich sein. An einer sehr tiefen Stelle ist jede Persönlichkeit von dieser Sicht der Dinge absolut überzeugt.

Es kostet einen Menschen sehr viel Zeit, ein gewaltiges Maß an Arbeit und wiederkehrende, immer noch zunehmende Enttäuschungen, bis er oder sie anfängt zu überlegen: „Vielleicht liege ich falsch, vielleicht gibt es überhaupt nichts auf dieser Welt, das es für mich bringt.“ Ihr müßt so oft mit dem Kopf gegen die Wand rennen. Ihr müßt sehr viel leiden, bevor ihr eure fundamentalen Überzeugungen in Bezug auf die Realität in Frage stellt. Wenn ich mit Menschen arbeite, dann habe ich den Eindruck, daß meine Arbeit einfach aufdecken hilft, daß das, was sie glauben, nicht wirklich wahr ist. Alle leiden, weil sie entsprechend bestimmter Ansichten von der Wirklichkeit mit einer solchen Überzeugtheit handeln, daß sie für diese Ansichten bis zum bitteren Ende kämpfen. Auch wenn sie an der Gruppe teilnehmen und die Wahrheit erforschen oder selbst-verwirklicht werden möchten, ist ihr Motiv, ihr Suchen noch effektiver fortzusetzen.

In dem Maß, in dem wir aus der Perspektive leben, Erfüllung zu finden, oder zu versuchen, besser zu werden, leben wir in einer leeren Welt. Wenn wir aber einfach anhalten, alles Suchen einfach vergessen und das Streben aufgeben, dann wird die Welt schön und voll. Wenn ihr sucht, trennt ihr euer Bewußtsein, eure Seele, von eurem Sein, von eurer Quelle, sodaß eure ganze Wahrnehmung dann Wahrnehmung ohne Sein ist. Gleich was ihr erwerbt oder erreicht, ihr seid mit Armut geschlagen, weil ihr von einer verarmten Perspektive aus lebt. In dieser Situation könnt ihr nur eure verarmte Sehweise weiter perpetuieren. Dieses Suchen ist von Natur aus eine Bewegung weg von der Fülle der Wirklichkeit und der Quelle von Lust, Frieden oder was immer man so fieberhaft sucht. Wirklichkeit kann nicht durch Suchen erreicht werden; man sieht sie nicht, weil man nach etwas anderem sucht. Was immer man sucht, es kann immer verfeinerter erscheinen oder näher an der Wahrheit oder näher an Erfüllung, aber das spielt alles keine Rolle. Es ist die Aktivität des Suchens, die zählt; gleich was man sucht, diese Aktivität ist dieselbe. Ihr sucht vielleicht Anerkennung durch euren Vater oder einen Liebhaber oder Erfolg in eurer Arbeit oder Erleuchtung. Es ist alles Suchen, deshalb ist es alles dasselbe.

Bei allem Suchen, und in der Aktivität, die zu allem Suchen gehört, lebt man in der Annahme, daß man mangelhaft ist. Auf diese Weise verstärkt die Aktivität des Suchens das Gefühl der Armut. Meiner Beobachtung nach neigt ein Mensch, gleich wie oft er dies hört oder es sogar verwirklicht, dazu, sich weiter auf eine Art zu verhalten, die Mangel impliziert. Es ist eine tiefe Überzeugung: daß wir im Grunde mangelhaft sind, daß wir nichts Gutes oder Reales haben. Aus dieser eingefleischten Perspektive ist das Gute immer irgendwo anders; man kann es nur irgendwo anders oder irgendwann in der Zukunft oder auch nur in der Vergangenheit finden.

Suchen ist die Basis von Leiden. Die Frage kann aufkommen: wenn es nichts zu suchen gibt, und wenn Suchen falsch ist, wie könnt ihr dann diese Arbeit machen? Wozu ist Üben da? Bei unserer inneren Arbeit geht es, wie ihr wißt, darum, euch selbst zu verstehen, zum Bewußtsein eurer wahren Natur zu gelangen. Was bedeutet es, euch selbst zu verstehen? Worin besteht der Prozeß der inneren Erforschung (inquiry), wenn ich nicht versuche, in alle Winkel und Spalten zu schauen, und all die wunderbaren Dinge finde und versuche die schrecklichen Sachen loszuwerden? Um die Praxis der inneren Erforschung zu verstehen, müssen wir von der Perspektive von Nichtsuchen, von der Perspektive reinen Seins, von unserer eigenen inneren Natur und Quelle her darangehen.

Es sieht so aus, daß die normale Ego-Aktivität des Suchens, wenn jemand die innere Arbeit eine gewisse Zeit lang gemacht hat, die Praxis in der inneren Arbeit verunreinigt. Schüler neigen also dazu, die Übungen der inneren Arbeit aus dieser Perspektive anzugehen. Wenn ich sage, wir haben Essenz, dann sucht ihr eure Essenz. Wenn ich sage, ihr müßt mit euren Themen arbeiten, dann fangt ihr an, nach euren Themen zu graben. Jeder wird ein Jäger. Das ist die primäre Quelle eures Leidens. Wir haben über die Quellen dieser Perspektive des Suchens, der Unzufriedenheit und des Mangels gesprochen. Wir verstehen eine Menge von diesen Mustern. Heute aber wenden wir uns der Aktivität selbst zu.

Ihr setzt euer Leiden durch eben die Aktivität fort, von der ihr glaubt, daß sie euch von Leiden befreien wird. Viele Menschen gehen von der Annahme aus, daß es bei innerer Erforschung und Verstehen darum geht, Dinge herauszufinden, daß es darum geht, nach Themen in eurer Psyche oder Spannungen in eurem Körper oder Schwierigkeiten in eurem Leben zu suchen, damit ihr die Probleme lösen, die Spannungen loslassen und die Schwierigkeiten loswerden könnt. Ihr habt die Hoffnung, daß diese Aktivität dazu führt, daß ihr weniger leidet. Wenn ihr nicht versucht, Leiden loszuwerden, dann sucht ihr nach irgendeinem essentiellen oder angenehmen Zustand, damit ihr einen Aspekt eurer Essenz fassen und festhalten könnt. Aber das ist lächerlich, weil ihr die Essenz seid. Wie wollt ihr die Essenz einfangen, wenn ihr die Essenz seid? Wer soll eure Essenz einfangen? Wer soll sie bekommen?

Die Konsequenz dieser Aktivität des Versuchens, etwas zu bekommen, und zu versuchen, etwas loszuwerden, ist, daß ihr euch mit der Aktivität des Suchens identifiziert. Ihr tut dies, denn die Aktivität ist immer präsent, und ihr haltet sie für euch selbst. So projiziert ihr weiter das, wonach ihr sucht, nach außen. Wenn ihr die innere Arbeit macht, setzt ihr nur die Suche weiter fort, mit der ihr beschäftigt seid, wenn ihr Ziele und Begierden der Persönlichkeit verfolgt. Bisher habt ihr nach dem richtigen Menschen, dem richtigen Job und der richtigen Situation gesucht, jetzt sucht ihr in euch selbst. Jetzt setzt ihr die Suche nach wirklichem Selbstvertrauen an die Stelle der Suche nach Anerkennung. Statt nach Erfolg zu streben, strebt ihr nach Erleuchtung. Es sind nur andere Wörter für dieselbe Sache: es ist dieselbe Aktivität, gleich ob sie nach innen oder nach außen gerichtet ist.

Diese Such-Aktivität ist nicht liebevoll oder mitfühlend mit euch selbst oder jemand anders. Die Tatsache, daß ihr so eure Trennung von euch selbst perpetuiert und weiter eure fundamentalste Illusion ausagiert, bedeutet, daß diese Aktivität im Grunde schmerzhaft ist. Aus der Sicht der Persönlichkeit wäre es wahrscheinlich eine gute Sache für einen, das, wovon man glaubt, daß es einen glücklich machen wird, weiter zu verfolgen, aber wir sehen, daß diese Aktivität nur zu mehr Frustration und Leiden führen kann.

Was ist also innere Erforschung (inquiry), wenn nicht Suchen und Beseitigen? Wie können wir verstehen, wenn wir nicht nach Zuständen suchen und alte Verhaltensmuster eliminieren? Es ist sehr einfach. Verstehen an sich ist sehr einfach. Verstehen ist, wenn man nicht sucht. Man braucht nicht nach Verstehen zu suchen, Verstehen muß man nicht verfolgen. Man muß sich nicht anstrengen, um Einsichten zu haben. Eure Anstrengungen werden nicht mit Erkenntnissen belohnt. Erfahrungen von Verstehen, Erkenntnisse und Einsichten stellen sich ein, wenn ihr entspannt seid, wenn ihr einen Moment lang aufhört zu suchen. Betrachtet eure Erfahrung: wann erfahrt ihr einen Zustand von Ausdehnung oder habt eine Einsicht oder tiefes Verstehen? Dann, wenn ihr damit beschäftigt seid, etwas herauszufinden? Oder dann, wenn ihr dieses Bemühen einen Augenblick lang vergessen habt? Ihr seht vielleicht, daß eure tiefen Einsichten, die Erfahrungen wahren und tieferen Verstehens, sich einstellen, wenn ihr mit eurem Verstand nichts tut, wenn ihr einfach seid, einfach präsent seid. Natürlich seid ihr vielleicht mit irgendeiner Übung beschäftigt, einer Aktivität im Kopf, denkt nach, sucht nach diesem oder fragt euch jenes, wenn ihr eine Einsicht habt, und ihr denkt vielleicht, daß das zu der Einsicht geführt hat. Aber wenn ihr genau hinschaut, dann werdet ihr mitten im Suchen oder Bemühen ab und zu eine Pause erkennen – ihr werdet müde und gebt einen Moment lang auf. In diesem Moment entsteht Einsicht. Doch oft seht ihr diese Pause nicht, weil sie so kurz ist, deshalb glaubt ihr, daß es die Aktivität des Verstandes ist, die für die Einsicht verantwortlich war.

Wenn ich sage, daß ihr euch selbst verstehen müßt, dann meine ich nicht, daß ihr alle anfangen solltet, über euch nachzudenken und Jäger zu werden, die Themen und Einsichten verfolgen. Ich meine vielmehr, daß ihr mitfühlend und liebevoll mit euch selbst sein und euch selbst sein lassen müßt. Wenn ihr euch selbst sein laßt, dann werdet ihr plötzlich neugierig auf das was entsteht. Einfach zu leben und anzuhalten und euch selbst sein zu lassen, ermöglicht dieses spontane innere Erforschen (inquiry). Wenn ihr einfach nur seid, dann seid ihr nicht mit Denken, Grübeln, Versuchen Dingen auf den Grund zu kommen beschäftigt. Euer Geist ist klarer und leerer, und welche Wahrheit auch immer ihr über eure Situation verstehen müßt, sie ist bereits da. Eigentlich ist sie immer schon da gewesen; ihr seht sie nicht, weil ihr in eurem Verstand beschäftigt seid. Ihr seid nicht präsent genug, um sehen zu können. Wenn ihr präsent genug seid, wenn ihr einfach nur seid, dann werdet ihr natürlich und spontan sehen.

Wir sehen also, daß wahres Verstehen nicht eine Sache von Suchen ist. Suche nach Verstehen ist dasselbe wie versuchen, Reichtum, Liebe oder irgendetwas Äußeres zu suchen. Es ist nur ein anderer Schauplatz, ein anderer Ort. Die Haltung, daß ihr mangelhaft seid, daß ihr etwas bekommen müßt, um Frieden und Erfüllung zu haben, enthüllt, daß ihr euch selbst nicht seht. Ihr seht nicht, daß ihr von Natur aus gar nichts bekommen müßt. Eure Natur selbst ist reine Lust, reine Glückseligkeit (bliss) und reiner Friede. Nur die Aktivität des Suchens schneidet euch von diesem Frieden ab.

Wenn ihr in euch hineinschaut oder euer Leben betrachtet, dann stellt ihr fest, daß ihr so geschäftig seid. Ich meine nicht damit die Beschäftigung mit physischen Dingen, sondern mentale und emotionale Geschäftigkeit. Euer Geist (mind) hält niemals an, ruht niemals, außer vielleicht im tiefen Schlaf. Es ist immer etwas los; der Geist hält sich damit in Bewegung, ob dies das Richtige oder das Falsche ist, ob ich schlecht oder ob ich gut bin, oder er grübelt darüber nach, was geschehen wird, plant voraus, erzählt Geschichten über die Vergangenheit und so weiter. Ihr laßt euch nicht einfach ruhen. Ihr hört nicht auf, mit euch selbst zu argumentieren oder euch selbst zu unterhalten. Dann fragt ihr euch, warum ihr nicht glücklich seid. Das nährt einen neuen Schub mentaler Aktivität: „Vielleicht sollte ich eine Therapie machen, vielleicht sollte ich mir eine Gruppe suchen.“ Ihr verwickelt euch in eine neue äußere Aktivität, die vielversprechend aussieht. Wenn es nicht so funktioniert, wie ihr hofft, dann erscheinen euch die Aktivität, Gruppe oder die Person als falsch oder schlecht. Wenn die Dinge frustrierend sind, dann sagt ihr vielleicht: „Sie haben mich nicht geliebt oder gemocht.“ Dann sucht ihr woanders nach jemandem oder nach einer Gruppe, die euch richtig liebt. Immer sucht ihr mehr und mehr Aktivität und hört niemals auf und laßt euch niemals auf eure gegenwärtige Erfahrung ein, ohne sie zu bewerten. Das Einfachste ist, einfach zu entspannen und da zu sein, zu leben, ohne sich Vorstellungen davon zu machen, die Bewertungen, die hohen Ziele, das Suchen fallen zu lassen. Dies aber tun die meisten Menschen nicht.

Natürlich haben die meisten von uns Vorstellungen davon, wann wir in der Lage sein werden, zur Ruhe zu kommen. Viele von uns stellen sehr differenzierte und bestimmte Bedingungen, die für ihr Gefühl erfüllt sein müssen, bevor sie Frieden haben können. Auch wenn diese Bedingungen erfüllt sind, erlauben wir uns sowieso selten, zur Ruhe zu kommen; gewöhnlich stellen wir nur neue Bedingungen. Fast nie können die Bedingungen erfüllt werden. Aber diese Bedingungen sind im Grunde überflüssig. Da unsere wahre Natur (true nature) Frieden und Liebe und voller Lust ist, warum stellen wir dann Bedingungen dafür?

Wenn wir uns wirklich auf unsere Arbeit hier einlassen, wenn wir uns auf die Übung der inneren Erforschung einlassen, dann sehen wir, daß die Aktivität der Suche eigentlich die Quelle unseres Schmerzes und Leidens ist. Wenn wir das nicht einsehen, sondern weiter glauben, daß das Suchen uns zum Glück bringen wird, dann bekommen wir nur mehr Frustration. Auch wenn ihr etwas bekommt oder erreicht, wovon ihr geglaubt habt, daß es euch glücklich macht, fühlt ihr euch nicht befriedigt, seid nicht erfüllt, weil die Aktivität des Suchens an sich reines Leiden ist.

Verstehen ist eigentlich eine Art Meditation; es ist kein Suchen, kein Herausfinden, kein Versuch, Information außerhalb seiner selbst zu finden. Es ist eine spontane, eine mühelose Einsicht. Zum Einlassen auf den Prozeß des Verstehens gehört nicht, daß man irgendetwas tut. Wenn irgendetwas zu tun ist, dann geht es um Aufmerksamkeit – einfach dafür zu sorgen, daß ihr da seid. Wenn ihr in eurem Sein präsent seid, dann werden sich die Einsichten auf natürliche Weise einstellen und Verstehen wird auf natürliche Weise stattfinden.

Suchen nach Verstehen, versuchen, Probleme zu verstehen oder zu lösen, hinter Zuständen her sein und versuchen, sie zu fassen zu bekommen – alle diese Aktivitäten beruhen auf einem Mangel an Klarheit in Bezug auf das, was Verstehen ist. Wir denken oft, daß Verstehen Information in unseren Köpfen ist. Ihr habt vielleicht Information in eurem Verstand, aber das nenne ich nicht Verstehen. Wahres Verstehen hat mit Transformation zu tun. Wenn es keine Transformation im Moment des Verstehens gibt, dann ist das kein wirkliches Verstehen. Ohne Transformation ist Verstehen nur eine mentale Aktivität, ein Teil der Aktivität des Suchens.

Wahres Verstehen, das von allein entsteht, ist einfach eure eigene Essenz, die euren Geist berührt, oder die in Kontakt mit der Situation ist. Der eigentliche Kontakt von Sein (Being) mit irgendeiner Situation, oder mit irgendeinem Teil eures Geistes, ist Verstehen. Einsicht oder Verstehen ist nichts anderes als euer Sein, das eure Erfahrung aufißt und sie verdaut, einschließlich eurer inneren Erfahrung. Dies ist der Prozeß von Transformation an sich. Sein kommt mit einem Teil eurer Persönlichkeit in Kontakt, oder mit einer Erfahrung. In diesem Kontakt zwischen Sein (Being) und diesem Teil der Persönlichkeit oder der Erfahrung wird die Erfahrung oder der Teil der Persönlichkeit in Sein hineinabsorbiert. Diese Absorption ist nicht nur eine mentale Angelegenheit, sie ist eine wirkliche Erfahrung von Transformation, eine Metamorphose. Und diese Metamorphose, die an sich Verstehen ist, führt niemals zu Schwäche, Mangel oder Verarmen. Sie führt immer zu mehr Fähigkeit, größerer Stärke und größerer Reife. Was ist Reife, wenn nicht die vollständige Absorption und Verarbeitung eurer Erfahrung?

Fähigkeit und fähiges Funktionieren entstehen aus der Absorption eurer inneren und äußeren Erfahrungen, welche immer das auch sind. Absorption von Erfahrung führt zu wahrem Wachstum und wahrer Entwicklung. Dieses Wachstum, bei dem Sein mit Geist (mind) und Erfahrung in Kontakt kommt, ist eine alchemistische Reaktion oder eine Synthese, die sich zur Fähigkeit für das Funktionieren in dieser Welt entwickelt. Diese Synthese ist eigentlich das, was uns als Menschen wachsen läßt. Ihr braucht nicht danach zu suchen; es ist die ganze Zeit da. Das Einzige, was geschehen muß, damit ihr eure Erfahrung absorbiert, verdaut, verarbeitet und assimiliert, ist da zu sein – einfach bloß da zu sein. Wenn ihr sucht, versucht etwas herauszufinden, denkt, grübelt, hofft und begehrt, dann seid ihr von eurem Sein (being) abgeschnitten. Wenn ihr von eurem Sein abgeschnitten seid, dann gibt es zwischen Sein und Erfahrung keinen Kontakt und deshalb kein Verstehen. Wenn es kein Verstehen gibt, dann gibt es keine Metamorphose, und ohne diese gibt es kein Wachstum und keine Entwicklung im Funktionieren.

Seht ihr, was aus dieser Perspektive die innere Arbeit ist? Seht ihr, was Verstehen ist? Aus dieser Perspektive ist die Arbeit von innerer Erforschung und Verstehen, die wir tun, nichts anderes als das Verdauen unverdauter Nahrung in eurem Geist. Sie ist nichts anderes als das. Ihr habt im Laufe eures Lebens viele Erfahrungen gemacht, die ihr immer noch nicht verdaut habt, die in eurer Psyche als das Unbewußte zurückbleiben: Erinnerungen, Gedanken, Identifikationen, Gefühle, Handlungen, Muster und Ähnliches. Sie machen euch Ärger, weil ihr Verdauungsschwierigkeiten habt – mentale Verdauungsschwierigkeiten –, weil diese Reaktionen verdaut und absorbiert werden müssen. Euer Geist ist dazu da, leer zu sein, nicht voll von eurer Lebensgeschichte, euren Reaktionen und Identifikationen.

Unsere Arbeit der inneren Erforschung kann man als einen Prozeß der Verdauung von Erfahrung verstehen – vergangener und gegenwärtiger Erfahrung. Wenn ihr bei eurer Erfahrung ganz präsent seid, verdaut ihr sie und wachst. Was die Vergangenheit betrifft, kann man unsere innere Arbeit als Verstehen oder Verdauen eurer unbewußten Psyche, eures Ego oder eurer Persönlichkeit sehen. Wahres Verdauen führt nicht zu Mangel oder Schwäche, sondern zu Entwicklung, Wachstum und der Fähigkeit des Seins (Being) zu funktionieren. Ohne Erfahrung kann Sein nicht in der Welt sein. Dieses Verdauen und Absorbieren führt zu der Fähigkeit, in der Welt zu sein, und das heißt, ein menschliches Leben zu haben. Wenn wir aber versäumen, unsere Erfahrung zu verarbeiten – zum Beispiel indem wir sie ablehnen und so den Stoffwechselprozeß anhalten –, dann behalten wir unverdaute Erfahrung, die mit der Zeit zu Leiden wird. Wegen der unverdauten Nahrung in eurem Geist – das ist der Einfluß der Vergangenheit – ist eure Fähigkeit, unmittelbar mit eurer Erfahrung in der Gegenwart in Kontakt zu sein, ernsthaft reduziert, sodaß ihr nicht richtig essen könnt. In eurem System lagert Nahrung, die seit Jahren verfault. Zunächst müßt ihr in einem gewissen Maß verdauen, was in euch ist, damit ihr eine größere Fähigkeit dafür habt, eure gegenwärtige Erfahrung zu verarbeiten. Dies zeitigt für unsere innere Arbeit zwei Ergebnisse: eines ist das Entrümpeln der Vergangenheit, und das andere ist, daß je mehr ihr entrümpelt habt, um so mehr Fähigkeit in der Gegenwart besitzt. Dies erlaubt Ereignissen in der Gegenwart, euch zu transformieren. Wenn ihr wirklich präsent und in der Gegenwart seid, dann wird jeder Eindruck oder jede Erfahrung zu Metamorphose und Reife führen.

Gewöhnlich geschieht das aufgrund des Hindernisses, die unverarbeitete Vergangenheit erzeugt, nicht. Sie ist unverarbeitet, weil ihr sie nicht erfahren wollt. Was einen Menschen davon abhält, seine Erfahrung (innere oder äußere) zu verdauen, ist die mangelnde Bereitschaft oder die Unfähigkeit, in ihr oder mit ihr präsent zu sein. Wenn ich Metabolismus oder Verdauung sage, dann meine ich nicht irgendein Tun, ich meine, einfach da zu sein. Sein absorbiert und verarbeitet schon von Natur aus Erfahrung. Wenn es Erfahrung begegnet, dann absorbiert es sie. Es ist Bewußtheit, es ist Verstehen, es ist Aufmerksamkeit und es ist Intelligenz.

Wie ihr seht, suchen wir also nicht Zustände und versuchen auch nicht, etwas loszuwerden. Die innere Arbeit ist nicht mehr, als in eurer Erfahrung ohne Abwehr präsent zu sein. Wenn ihr in eurer Erfahrung ohne Abwehrmechanismen präsent seid, dann besteht Kontakt zwischen dieser Seiendheit (beingness) oder dieser Präsenz und was immer in innerer oder äußerer Erfahrung geschieht. Wenn dieser Kontakt entsteht, dann kommt ein Prozeß der Transformation in Gang, den wir Metabolismus oder Absorption nennen. Dieser Prozeß der Transformation bewirkt, daß ihr größer werdet und Raum gewinnt. So werdet ihr groß. So wie euer Körper durch das Essen von Nahrung wächst, so wächst eure Seele durch Essen von Erfahrung. Aus dieser Perspektive gibt es keine schlechte Erfahrung, da jede Erfahrung verarbeitet werden kann, wenn man in ihr präsent ist. Manche Erfahrungen sind schmerzhaft, manche sind angenehm, aber sie können alle zu Reife führen. Die einzigen Ausnahmen sind Erfahrungen, schmerzvoll oder lustvoll, die über eure Kapazität für Verarbeitung hinausgehen.

Wir sehen, daß es bei Verstehen nicht darum geht, daß ihr in eurem Denken (mind) zu Wörtern und Vorstellungen davon gelangt, wer ihr seid oder was Wirklichkeit ist. Echtes Verstehen führt zu größerer Reife, zu einer gestärkten Fähigkeit, in dieser Welt harmonisch zu leben. Verstehen ist also eine sehr praktische Sache; es ist der Prozeß selbst, durch den Wachstum auf allen Ebenen und in allen Dimensionen geschieht.

Wenn Menschen manchmal versuchen, diese innere Arbeit zu tun, und glauben, daß sie nicht wirkt, dann ist es oft so, daß sie nach etwas gesucht haben oder versucht haben, etwas loszuwerden, und das hat nicht funktioniert. Sie haben alles getan, außer daran gearbeitet, sich selbst und ihre Situation zu verstehen. Diese Aktivität des Suchens und des Versuchens, Dinge zu verändern, ist nichts anderes, als unverdaute Nahrung herumzuschieben; sie herumzuschieben fördert nicht die Verdauung, also kann dies nicht zu Transformation führen. Verstehen verlangt, daß man voll präsent, wirklich da, ist. Ihr seid einfach, eure Seiendheit (beingness) ist in intimem Kontakt mit allem, was auftaucht, ob es Gedanken, Wahrnehmungen, Gefühle sind oder Kontakt mit eurer Situation. Aus dieser Konjunktion von Lebenserfahrung und Sein entsteht der funktionale Aspekt von Sein, das reife menschliche Individuum, das wir die Persönliche Essenz (Personal Essence) nennen. Verstehen ist ein Prozeß, durch den der Mensch, oder Persönliche Essenz, sich entwickelt und reift. Natürlich könnten wir uns in alle möglichen Details dieses Prozesses des Verstehens vertiefen – was ihn anhält und so weiter. Aber von Anfang an müssen wir sehen, daß Verstehen nicht eine Sache von Suchen, von Hoffen, Begehren oder Streben nach etwas ist. Es geht darum, hier zu sein, jetzt, in eurer Erfahrung selbst, und in unmittelbaren Kontakt, ohne Abwehr, mit eurer Erfahrung zu kommen. Es ist ein natürlicher Prozeß der Entwicklung und Entfaltung, wenn ihr euch nicht dagegegen wehrt; dies soll sowieso mit einem Menschen geschehen. Das ist unser Potential und unsere Bestimmung.

Verstehen entsteht spontan, wenn ihr euch selbst sein laßt. Erfahrung als Nahrung bietet sich euch andauernd, ihr müßt nicht danach suchen. Es ist nicht möglich, ohne Erfahrung zu sein. Alles, was bleibt, ist das Verdauen. Ihr müßt einfach die Erfahrung verdauen, so wie ihr nach dem Essen nichts Besonderes zu tun braucht, damit der Verdauungsprozeß in Gang kommt. Euer Magen ist da, es ist ein natürlicher Vorgang. Ihr braucht auch nichts zu tun, um eure Erfahrung zu verdauen; laßt einfach die Verdauung des Verstehens auf natürliche Weise geschehen. Ihr braucht nicht darüber nachzudenken oder etwas herauszufinden oder ein Ziel, Verdauung genannt, anzustreben.

Aus dieser Perspektive ist die innere Arbeit nicht etwas vom Leben oder von der Welt Getrenntes. Verstehen ist auch nicht von der Welt getrennt. Es ist nicht etwas Zusätzliches, das wir tun, ein Extra, es ist nichts Besonderes oder etwas Hinzugefügtes. Es ist eigentlich etwas, das jeder tut, manche Menschen effizienter als andere. In der inneren Arbeit konzentrieren wir uns nur darauf. Wir isolieren den Prozeß der Verdauung, damit wir mit der Zeit effizienter werden. Wenn wir effizienter werden, dann besteht die Chance zu größerer Entwicklung und Reife. Jeder ist natürlicherweise damit beschäftigt, da es das Leben des Lebens selbst ist – die praktische, alltägliche, in jeder Sekunde stattfindende Verarbeitung und Absorption von Eindrücken und das Lernen und das Wachstum, die daraus hervorgehen. Man muß weder eine spezifische Erfahrung noch einen spezifischen Zustand erreichen. Verstehen verlangt nicht, daß ihr nach bestimmten Themen oder Mustern in euch jagen müßt, noch daß ihr sie loswerden müßt. Alle Erfahrung ist Nahrung, und wenn ihr wirklich präsent seid, dann verdaut ihr mehr von dieser Nahrung, und zwar schneller und vollständiger. An anderer Stelle werden wir den Prozeß der Verarbeitung detaillierter im Hinblick auf Absorption und Eliminieren besprechen, aber jetzt müssen wir zuerst seine Grundlagen verstehen. Ihr könnt über diesen Prozeß in dem Buch über Persönliche Essenz nachlesen (Siehe Almaas, The Pearl Beyond Price, 1988).

Die Entwicklung, die aus Verstehen herrührt, die Reife, die aus Assimilation von Erfahrung resultiert, führt zu dem, was wir das persönliche Seinsgefühl (personal sense of being) nennen: dem Teil von euch, von dem ihr das Gefühl habt, das seid ihr, und der in der Lage ist, in der Welt zu funktionieren und doch zugleich immer noch zu sein. Persönliche Essenz ist der Aspekt, bei dem ihr am deutlichsten spürt, daß ihr auf persönliche Weise da seid. Ihr fühlt: „Ich bin hier; ich bin ein substantielles Gefühl von Präsenz.“ Da ist Fülle, Seiendheit (beingness), Da-Sein (thereness). Im Grunde ist das, was ihr jedesmal, wenn ihr auf der Suche seid, mehr als alles andere tut, diese Fülle eures Seins wegzuschieben.

Je weniger ein Mensch auf der Suche ist, um so erfüllter ist er. Ein elender Mensch ist jemand, der intensiv sucht. Ich spreche von emotionalem Leiden, nicht von jemandem, dem ein Dach auf den Kopf gefallen ist oder etwas Ähnliches. Aber sogar wenn euch ein Dach auf den Kopf fällt, habt ihr eine bessere Chance der Heilung und Genesung, wenn ihr nicht mit der Aktivität des Suchens beschäftigt seid. Auch wenn ihr kein Geld habt, werdet ihr glücklich sein, wenn ihr euch selbst sein laßt. Auch wenn ihr Millionen besitzt, wenn ihr auf der Suche seid, wird es euch schlecht gehen. Natürlich, wenn ihr kein Geld habt und nichts zu essen, werdet ihr Hunger haben und der wird wehtun. Aber sogar dann habt ihr vielleicht eine andere Art Zufriedenheit, die jenseits dieses Schmerzes liegt.

Es ist nichts neu an dem, was ich sage. Man sagt das seit Tausenden von Jahren. Aber gewöhnlich geht es zum einen Ohr hinein und zum andern wieder hinaus, weil wir weiter an unsere Aktivität glauben. „Wenn ich nicht das und das tue, werde ich niemals glücklich sein.“ Wir sprechen nicht von Aktivität wie ein Auto fahren oder Essen kaufen; natürlich muß man diese Dinge tun. Ich spreche von innerer Aktivität und dem Ausdruck dieser inneren Aktivität in äußerer Aktivität. Ihr könnt äußerlich sehr intensiv engagiert sein, während ihr innerlich still seid, aber meistens ist äußere Aktivität ein äußerer Reflex der Aktivität des Geistes. Wir sind äußerlich geschäftig, weil unser Geist geschäftig ist. Wir sind in unserer Aktivität nicht präsent. Deshalb sagen viele Lehren, wir sollten langsamer werden, ein bißchen ruhiger werden und unser Leben einfacher gestalten. Ihr müßt langsamer werden, nur um den Prozeß zu sehen und zu verstehen. Und das, damit ihr den Unterschied merkt. Nicht weil äußere Aktivität schlecht ist, vielmehr daß ihr innen und außen zu geschäftig seid, um die Chance wahrzunehmen, sehen zu können, was wirklich hier ist. Wenn ihr wirklich seid, spielt es keine Rolle, wie schnell ihr im Außen seid. Aber wenn ihr nicht da seid, entfernt ihr euch, gleich welches Tempo ihr habt, immer noch weiter von euch selbst weg.

An der Welt, in der wir leben, an der Welt des Scheins und an allem, in ihr ist nichts verkehrt. In gewissem Sinn ist sie neutral, insofern als Dinge weder gut noch schlecht sind. Was sie zu einem Ort des Leidens macht, ist die Tatsache, daß wir nicht in ihr präsent sind; was sie zu einem Ort der Erfüllung macht, ist die Tatsache, daß wir in ihr präsent sind. Denn Erfüllung ist nichts anderes als die Fülle unserer Präsenz.

Die Welt ist wie eine Zaubershow. Ihr manifestiert, was immer ihr gerade empfindet. Wenn ihr leidet, dann manifestiert ihr Leiden, und wenn glücklich seid, dann manifestiert ihr dieses Glück und die Welt ist für euch ein Ort des Glücks. Wenn ihr Angst habt und haßt, dann werdet ihr dies manifestieren. Die Welt ist wie euer Traumleben; so einfach ist das. Euer Traumleben hängt sehr von eurer Psyche ab; es ist nicht Gott, der euer Traumleben bestimmt. Niemand anders zwingt euer Traumleben in die eine oder andere Richtung. Eure Träume sind ein Ausdruck dessen, wer ihr seid; es ist ein ganzes Universum in euren Träumen in Bewegung.

Wir sehen dasselbe in unserer kollektiven Welt – wir alle zusammen erzeugen alle möglichen Dinge, aber der Hauptteil dessen, was wir im Leben sehen und wie wir es sehen, hat mit Denken (mind) und damit zu tun, wofür wir uns halten. Ihr beklagt euch vielleicht jahrelang darüber, daß ihr keinen Freund oder keine Freundin habt. Ihr arbeitet vielleicht sehr intensiv daran, bis es an einem bestimmtem Punkt zu einer winzigen Verschiebung bei einem bestimmten Thema kommt, das sich entspannt, wenn ihr einen Teil von euch versteht. Dann scheint plötzlich ein Freund oder eine Freundin wie vom Himmel zu fallen, wie durch Zauberei. Es ist so, als hätte es einen Widerstand in euch gegeben, einen Teil, der keinen Freund oder keine Freundin haben wollte. Dasselbe Phänomen kann es bei allem geben – einem befriedigenden Job, genug Geld –, all den Dingen, nach denen die meisten Menschen streben. Ihr sucht vielleicht nach einer sinnvollen Arbeit, ihr arbeitet vielleicht an sehr vielen Konflikten, Selbstbildern und Problemen im Zusammenhang mit solch einem Job, aber nichts ändert sich; aber wenn ihr tief innen bereit seid, trifft es ein wie durch Zauberei. Von diesem Phänomen hat man mir Hunderte von Malen berichtet. Es kann das Unwahrscheinlichste auf der Welt sein, aber wenn ihr es mit ganzem Herzen wollt, dann manifestiert es sich wie durch Zauberei.

Eigentlich beeinflußt ihr eure Wirklichkeit vielleicht viel mehr, als ihr glaubt. Jemand möchte zum Beispiel mehr Klienten für seine Firma. Ich helfe vielleicht, was die Themen angeht, aber nichts ändert sich, bis plötzlich ohne ersichtlichen Grund Klienten aus dem Nichts auftauchen. Wie kommt das? Oft tritt so etwas ein, wenn jemand vollständig aufgegeben hat und mit allem aufhört, was er bis dahin dafür getan hat. Das Einzige, was man als Grund nennen könnte, ist nichts, nichts tun.

Wir trauen nicht der Macht und dem Reichtum unseres Seins. Wir gehen immer von der Perspektive von Mangel und Armut aus und sind davon überzeugt, daß wir so sind und von da aus an unser Leben herangehen sollten. Das ist für alle, die glauben, daß dies so ist, ganz in Ordnung, aber sie können sich auf Leiden einstellen. Wenn ihr mir nicht glaubt, können wir uns in 20 Jahren wieder sprechen.

Natürlich gibt es viele Kräfte, die uns zur Haltung des Suchens drängen. Wir haben eine Vielzahl von Begierden, sehr viel Menge Haß für uns selbst und andere und eine nicht enden wollende Ignoranz in Bezug darauf, wer wir sind und was Wirklichkeit ist. Ein Teil meines Ansatzes ist, daß wir all das erforschen müssen, damit die Kräfte und Energien, die die Suche motivieren, abnehmen und schließlich verschwinden. Aber von Anfang an müssen wir erkennen, daß Suchen Leiden ist und daß Suchen, von Natur aus, uns selbst allein läßt, daß die Aktivität des Suchens uns von unserer natürlichen Entfaltung abhält und unser Sein in weite Ferne rückt. Suchen ist Handeln von einer falschen Prämisse aus, während Verstehen ein natürlicher, gewöhnlicher Vorgang ist, der keine Anstrengung verlangt.

Schüler: Ich sehe, daß ich, besonders in letzter Zeit, viel Zeit damit verbringe, Wissen zu suchen. Ich lerne Dinge auswendig und versuche Dinge zu lernen; weil es einen Quiz darüber geben wird. Ich glaube, was ich fragen möchte, ist, wie ich damit auf eine Weise umgehen kann, die …

A. H. Almaas: Gut, ich sage dir, wie du es machen mußt. Ich lese alle möglichen psychologischen Bücher. Ich lese sie sehr genau. Aber ich lese sie, weil ich sie lesen möchte. Es geschieht spontan. Ich strenge mich nicht an. Ich bin wirklich interessiert. Gewöhnlich entsteht daraus eine Menge Verstehen, aber es ist eine spontane Aktivität, wenn ich ein Buch nehme und es lese. Aus dieser Perspektive kann man eine Menge absorbieren und das Wissen, das man sich so aneignet, kann sehr viel Verstehen in einem erzeugen. Man kann etwas über sich selbst oder über andere Menschen erkennen. Es hat mit Neugierde zu tun und es ist aufregend. Aus dem Grund lese ich das Buch sehr langsam, wenn ich es lese. Mein Ziel ist nicht, das Buch zu beenden. Mein Interesse ist, es zu lesen und den Inhalt zu verstehen. Da ist ein Vergnügen dabei, wie wenn jemand wirklich von einem Roman gepackt ist. Studieren kann auch so sein. Es sieht vielleicht nach Aktivität aus: Ich lese und suche und schaue durch die Anmerkungen und so weiter, aber in Wirklichkeit ist das keine Suche. Es ist eine spontan entstehende Aktivität, die sehr kreativ ist. Ich schaue mir also ein Buch an, und verstehe etwas nicht. Ich schaue im Wörterbuch nach und wirke dabei sehr angespannt. Jemand könnte den Eindruck haben, anscheinend suchte ich. Aber ich suche nicht. Ich genieße.

Schüler: Es scheint also davon abzuhängen, woher man kommt.

A. H. Almaas: Wenn etwas in dir von innen entsteht, das natürlich und spontan und tief ist, ist das nicht Suchen. Dein Sein kann in eine bestimmte Richtung fließen und aktiv sein, ohne daß es Ego-Aktivität ist. Ego-Aktivität ist vom Sein abgetrennt. Sein funktioniert nicht dementsprechend, was dein Geist sagt: „Du solltest dies nicht tun, du solltest jenes nicht tun. Dies ist gut oder jenes ist schlecht.“ Diese Haltung des Beurteilens, wie die Dinge sein sollten, führt nur zum Suchen. Auf der anderen Seite fließt deine Energie, dein eigenes Sein, manchmal in einem spontanen, mühelosen Strömen in einen bestimmten Kanal. In diesem Strömen gibt es kein Suchen.

Sehr viel Wissen und Verstehen kann aus so einer authentischen Aktivität entstehen und als wahres Verstehen integriert werden. Aus dem Grund können zwei Menschen ein Buch lesen und es auf verschiedenen Tiefenstufen verstehen. Der Unterschied besteht nicht darin, daß einer klüger ist, sondern daß er wirklich gepackt ist – der Impuls zum Verstehen kommt aus dem Herzen. Es ist nicht so, weil er mehr wissen oder erfolgreicher werden will. Das meiste, das ich gelesen habe, habe ich zu keinem erkennbaren Zweck gelesen. Ich wußte nicht, wohin es mich führen würde; ich war einfach interessiert. Auf diese Weise habe ich viel aus Büchern gelernt.

Ich bin sicher, daß jeder diese Erfahrung von Absorption gemacht hat. Man absorbiert etwas so ganz, weil man es genießt. Man liebt es. Manchmal ist Lesen eine schwere Aufgabe. Man muß sich hindurchkämpfen. „Wann bin ich fertig? Ich kann es nicht abwarten, zur letzten Seite zu kommen.“ Aber wenn ich ein Buch lese, zum Beispiel ein wissenschaftliches Buch, tue ich es nicht, um meine Kenntnisse zu erweitern. Ich erlange Wissen, das gehört dazu; aber es ist zugleich unterhaltend für mich. Ich lese Bücher über Objektbeziehungstheorie, wie manche Menschen Comics lesen. Ich genieße sie genauso. Manchmal ist etwas schwer zu verstehen, aber das ist in Ordnung. Es lohnt sich.

Ferner: ein anderer Faktor ist, warum man etwas liebt. Gewöhnlich ist es so: wenn euer Sein präsent ist, wenn ihr etwas tut, was ihr liebt, dann hat es nicht nur mit euch zu tun; es hat mit etwas Größerem zu tun. Was ich lese und studiere, hat gewöhnlich eine Beziehung zu meiner Arbeit. Mein Lesen ist nützlich für die Arbeit, die ich tue, und die Menschen, mit denen ich arbeite. Es ist nützlicher für sie als für mich. Aber diese Nützlichkeit übersetzt sich in meinen Genuß beim Lesen. So ist es in gewissem Sinn ein mitfühlender Akt. Aber die Tatsache, daß ich oft Dinge aus Mitgefühl und Anteilnahme für andere lerne, heißt nicht, daß ich mir Sorgen um andere mache und anderen helfen möchte. Das Handeln nimmt nicht diesen Verlauf. Es manifestiert sich in der Form, daß ich wirklich daran interessiert bin, und es mag. Es fühlt sich also an, als wäre es für mich. Es fühlt sich an, als wäre es ganz für mich allein, aber zugleich ist es nicht nur für mich. Und wenn das zutrifft, dann denke ich nicht darüber nach, ob es für andere oder für mich ist.

Wenn Sein präsent ist, hat es diese Wirkung– wenn ihr euch selbst Sein sein laßt, dann ist seine Natur selbst eine Quelle von Liebe (Love), eine Quelle von Mitgefühl (Compassion), eine Quelle von Intelligenz (Intelligence), Verstehen, Willen, Stärke und aller essentiellen Aspekte. Wenn wir in den Bereich von Suchen gehen, dann schneiden wir uns von diesen Dingen ab und wir empfinden Mangel. Wenn wir uns wirklich erlauben zu sein und wir lernen, unsere Erfahrungen zu verdauen, wie gesagt, was sich dann entwickelt, was auftaucht und reift, das ist die Persönliche Essenz. Die Persönliche Essenz ist das, was der Menschensohn (Son of Man) genannt wird. Ein anderer Ausdruck dafür ist der Sohn Gottes (Son of God). Weil wir dies sind, sind wir die Kinder des Seins. Wir sind die individuellen persönlichen Manifestationen des absoluten Seins. Wir sind Sein. Das steht fest, müssen nicht erst dahin gelangen. Es ist immer der wahre Zustand der Dinge; es kann nicht anders sein. Wenn wir nicht dieses Sein wären, hätten wir keine Bewußtheit (awareness).

Weihnachten ist nicht das Fest der Geburt und des Lebens eines Individuums; es ist das Fest der Geburt und des Lebens des menschlichen Individuums, des wahren essentiellen Menschen. Christus vertritt die gesamte Menschheit. Er war nicht nur ein besonderer Mensch. Seine Besonderheit besteht darin, daß er die wahre Bedeutung davon, ein menschliches Individuum zu sein, erkannte und verkörperte. Er ließ sich selbst offen sein. Er hatte den Mut, das zu tun, und war uns ein Modell. Wenn er sagt: „Ich bin der Sohn Gottes“, dann verstehe ich ihn so, daß jeder Mensch der Sohn Gottes ist, daß jeder Mensch wissen kann, daß er oder sie Kind Gottes ist. Wenn er von Gott als seinem Vater sprach, dann sprach er aus, was für uns alle Gültigkeit hat.

Wenn Gott unser Vater ist, warum gehen wir mit unserem Leben so um, als wären wir mangelhaft und arm? Nach etwas zu suchen ist für einen Menschen ein würdeloser Akt. Indem wir suchen, respektieren wir nicht, wer wir sind. Wenn wir die Kinder Gottes sind, dann sind wir an sich schon reich. Warum nach Dingen suchen, als ob wir nichts besäßen?

Wir müssen diese Haltung, arm zu sein, in Frage stellen, diese Haltung des Suchens und des Strebens nach etwas. Wir müssen es sehr objektiv anschauen. Wir müssen erkennen, wie es Leiden ist und wie es zu Leiden führt. Wir müssen auch erkennen, wie es die Quelle von Leiden ist und wie absolut unnötig und überflüssig es ist. Es geht nicht darum, das eine oder andere Problem zu lösen. Es geht darum, euch einfach sein zu lassen, euch selbst in Ruhe zu lassen und euch in euer eigenes Wesen niederzulassen.

Das wirkliche Leben beginnt jetzt

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