Читать книгу Das wirkliche Leben beginnt jetzt - A.H. Almaas - Страница 9
ОглавлениеMenschliche Reife
Um ein erfüllendes und lohnendes Leben zu leben, müssen wir wie Menschen leben. Unsere Probleme, unsere Konflikte, unser Leiden, unsere Enttäuschungen und unsere Mängel verdanken wir nicht den Ursachen, die wir ihnen gewöhnlich zuschreiben, sondern sie sind vor allem das Resultat der Tatsache, daß wir nicht so leben, wie wir leben sollen. Wenn ein Wesen nicht so lebt, wie es leben soll, dann wird sich die Abweichung von dem innewohnenden Potential dieses Wesens als Disharmonie, Konflikt, Problem oder vielleicht als physische oder mentale Funktionsstörung manifestieren.
Nur eine Lebensweise, die für uns natürlich und wahrhaft menschlich ist, wird uns von unnötigem Kampf und Hader befreien. Ein natürliches Leben ist nicht dadurch definiert, was irgendeine Autorität sagt; vielmehr ist es ein Leben, das in Einklang mit natürlichen Gesetzen des Funktionierens unserer Seiendheit (beingness), dessen, was wir wirklich sind, gelebt wird. Diese Tatsache wirklich ins Auge zu fassen, macht eine radikale Veränderung in der Weise nötig, wie wir uns selbst betrachten, und in der Weise, wie wir unser Leben führen. Da es in unserem Leben unnötigen Hader, Kampf und Schmerz gibt, müssen wir zuerst akzeptieren, daß das bedeutet, daß wir wirklich nicht wissen, was es heißt als Menschen zu leben. Wir müssen einsehen, daß wir wirklich nicht wissen, wie ein wirklich reifer Mensch lebt, oder was für Werte und Prinzipien das Leben eines solchen Menschen bestimmen.
Das erste, was wir dann konfrontieren müssen, ist der immer präsente, arrogante Glauben, daß wir zu wissen meinen, was ein Mensch ist, wie es ist, als Mensch zu leben, worum es im Leben eines Menschen geht und wie ein Mensch sich verhalten sollte. Nehmen wir einmal an, daß ein Mensch mit dem normalen Grad an Bewußtsein – bestehend aus emotionalen Reaktionen, Vorstellungen und Überzeugungen, die aus der Vergangenheit und von anderen Menschen stammen – noch kein Mensch ist. Er ist ein Abbild, eine Imitation, ein unfertiger Versuch, ein Mensch zu werden. Sein Potential ist nicht entwickelt. So ein Mensch wird von Einflüssen beherrscht, die nur Kinder beherrschen sollten.
Die Kräfte, die das Leben des gewöhnlichen Menschen beherrschen, sind nicht die, die das Leben von jemandem beherrschen sollten, der zum vollen Potential eines erwachsenen Menschen herangewachsen ist. Wenn wir weiter diesen Prinzipien, Werten und Einflüssen gemäß leben, bleiben wir auf einer kindlichen Entwicklungsstufe stehen. Ich sage nicht, daß das moralisch schlecht ist, sondern eher, daß es hinter dem Potential zurückbleibt, ein authentisch reifer Mensch zu sein. Wenn wir uns nicht erlauben, so zu wachsen, wie es uns bestimmt ist, dann führt das notwendigerweise zu Konflikt, Spannung, Leiden, Mißverständnis und Problemen in unserem Leben.
Um wirklich zu verstehen, was es heißt, ein reifer Mensch zu sein, müssen wir unsere Annahme in Frage zu stellen, daß wir wissen, was ein Mensch ist, wie ein Mensch sein Leben führen sollte, welche Prinzipien das Leben solch eines Menschen leiten sollten und was ein reifer Mensch tut. Wir sind mit den Prinzipien und Einflüssen vertraut, die den Geist eines gewöhnlichen Menschen beherrschen: Angst, Begehren, Gier, Unsicherheit, Konkurrenz, Eifersucht und alle möglichen elementaren Bedürfnisse. Diese Einflüsse sind die Spuren unserer Ahnen im Tierreich in uns, hinzu kommen Vorstellungen, Mißverständnisse und Vorurteile, die wir erworben haben. Diese Überzeugungen sind für eine bestimmte Stufe des menschlichen Lebens angemessen, aber nicht für alle Stufen. Sie passen zum Kind, aber ein Erwachsener sollte aus ihnen herausgewachsen sein. Ein echter, reifer Mensch ist ein Mensch, der nicht von solchen Einflüssen beherrscht ist.
Sicherheitsbedürfnisse wie das Bedürfnis nach Geld, Macht, Ansehen, Angenommensein und Bestätigung sind eigentlich Bedürfnisse eines Kindes. Diese Bedürfnisse drücken den Teil des Menschen aus, der unentwickelt und ungeschliffen bleibt. Sogar eine Vorstellung, die die meisten Menschen für selbstverständlich halten würden – die Vorstellung, daß ein Mensch glücklich sein sollte und Lust und nicht Schmerz und Leiden empfinden sollte –, ist kein Prinzip, das einen reifen Menschen beherrschen sollte. Dieses Prinzip beherrscht das ganze Tierreich, aber ein Mensch kann sich darüber erheben und mit höheren, verfeinerteren und befriedigenderen Werten leben.
Was wir, wie gesagt, also als Erstes tun müssen, ist, unseren Glauben außer Kraft setzen, daß wir nämlich wissen, was ein Mensch ist und worum es im Leben eines Menschen geht. Wir müssen uns eingestehen, daß wir nicht wissen, was es heißt, Mensch zu sein, oder erkennen, wenn wir doch etwas darüber wissen, daß wir nur sehr wenig wissen. Wir müssen anerkennen, daß es sehr viel mehr darüber zu wissen gibt, was es heißt, ein Mensch zu sein. Vielleicht habt ihr euch aus dieser Perspektive noch nicht in Frage gestellt. Vielleicht habt ihr die gewöhnlichen Ereignisse in eurem Leben dafür gehalten, worum es im Leben eines Menschen geht. Vielleicht seid ihr von der Richtigkeit der Prinzipien ausgegangen, die euer Leben und das Leben aller anderen, die ihr kennt, beherrschen.
Die Mehrheit der Menschheit lebt auf einer infantilen Stufe. Wir müssen diese Stufe notwendigerweise durchmachen, aber wir müssen nicht da stehenbleiben. Doch gehört es nicht zum allgemein akzeptierten gesellschaftlichen Wissensschatz zu verstehen, was ein wahrer Mensch ist oder was die Aufgabe eines Menschen ist. Weil die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit dieses Wissen nicht besitzt und auf einem unentwickelten Niveau funktioniert, bekommen wir keine Anleitung dafür, wie man erwachsen wird. Gesellschaft ist für die grundlegenden Sicherheitsbedürfnisse und sozialen Bedürfnisse von Menschen notwendig, aber der Mensch braucht mehr als das. Die Erfüllung des wahren menschlichen Potentials verlangt, daß viel tiefere, subtilere und feinere Bedürfnisse befriedigt werden.
Innere Arbeit wie unsere legt die animalischen und kindlichen Einflüsse und Bedürfnisse offen, die unser Leben beherrschen, und führt dazu, daß unsere verfeinerteren Aspekte Einfluß auf unser Leben ausüben. So sehr überzeugt sind wir von unserer niedrigen und mangelhaften Natur, daß wir in diesem Prozeß oft wirklich versuchen, die feineren Elemente dessen, wer wir sind, zu benutzen, um unsere elementaren Bedürfnisse zu befriedigen. Ein Beispiel für dieses Muster ist der Gebrauch essentieller oder spiritueller Erfahrung, um sich den Mitmenschen überlegen zu fühlen. Doch unsere Seiendheit (beingness) und ihre Fähigkeiten sind nicht dazu da, die Bedürfnisse der Persönlichkeit zu befriedigen, wie das Bedürfnis nach Bestätigung, Anerkennung, Liebe, Angenommensein, Sicherheit, Macht oder sogar Lust oder Freude. Die feineren Elemente der menschlichen Seele sind da, um eure Persönlichkeit zu transformieren, damit sie aus diesen kindlichen Mustern herauswächst. Kontakt mit essentiellen Eigenschaften soll eine Wirkung darauf haben, wer ihr seid, damit ihr reife Menschen werden und sein könnt, wozu ihr bestimmt seid. Diese feineren Elemente sind nicht dazu da, in uns verschlossen zu sein, um uns ein Gefühl zu vermitteln, daß wir etwas geschafft haben oder um uns auf andere Weise ein gutes Gefühl zu geben. Das Bedürfnis, sich gut zu fühlen, ist das Bedürfnis eines Kindes oder eines Teenagers. Ihr denkt vielleicht, wenn ihr glücklich seid und ganz viel Spaß habt, dann habt ihr es geschafft. Gut, ja, ihr habt es geschafft, als Teenager. Das ist immer noch weit davon entfernt, ein reifer Erwachsener zu sein.
Das Lernen, das wir hier praktizieren, und die Art Erfahrungen, die es in uns erzeugt, bilden eine bestimmte Art Nahrung, die uns hilft, erwachsen zu werden. Diese Erfahrungen verändern uns, und diese Veränderung wird sich als eine Transformation der Werte und Prinzipien manifestieren, die unser Leben beherrschen. Während diese Transformation sich auf unser ganzes übriges Leben auswirken wird, wird sie am deutlichsten in unseren Beziehungen sichtbar sein, da heißt, wie wir uns als Individuen zu anderen menschlichen Individuen verhalten.
Wenn ihr innere Erfahrungen davon habt, daß ihr Wert (Value) und Mitgefühl und Klarheit und Frieden seid, euch zu anderen Menschen aber immer noch wie ein wimmerndes Kleinkind verhaltet, dann hat eure Arbeit ihre Aufgabe noch nicht erfüllt. Diese Qualitäten sind nicht nur zu eurem Vergnügen da. So sieht ein Kind die Dinge. Ein reifer Mensch kann diese Erfahrungen gut gebrauchen und wirklich auf eine Weise leben, die diese realen menschlichen Qualitäten verkörpert.
Der Zweck der Tatsache, daß wir Erfahrungen der verfeinerten Elemente unserer Natur haben, ist nicht, daß wir sie wie Geld auf einem Sparkonto anhäufen, damit wir sie benutzen können, um uns ein Gefühl zu geben, daß wir etwas besitzen. Wenn ihr nach solchen kindischen Prinzipien handelt, dann hat sich etwas in euch noch nicht verändert. Es ist nicht das Ziel der inneren Arbeit, kindische Bedürfnisse zu befriedigen. Das Ziel der inneren Arbeit ist es, euch zum Wachsen und Reifen anzuleiten, damit ihr im Einklang mit eurer wahren Natur leben könnt.
Obwohl es bei der inneren Arbeit nicht darum geht, kindliche Bedürfnisse zu befriedigen, bedeutet das nicht, daß wir diese Bedürfnisse ablehnen oder abwerten müssen. Im Gegenteil: Sie müssen anerkannt und verstanden werden, damit ihr erkennen könnt, daß ihr nicht wirklich Kinder seid, und sie loslassen oder über sie hinausgehen könnt.
Aus dieser Perspektive sehen wir, daß die innere Arbeit, die wir hier tun, nicht einfach ist; sie ist nicht leicht. Sie soll auch nicht leicht sein. Sie beruht nicht auf den Werten und Prinzipien, die die meisten Menschen mitbringen, sondern auf völlig anderen Werten. Zu einem großen Teil der Arbeit hier gehört die Reibung zwischen diesen zwei Wertsystemen. Die Interaktion zwischen ihnen führt zu einem Schleifen, einem Schärfen, das die alten Überzeugungen und die kindlichen Muster freilegen soll, damit wir sie aufgeben können. Das bedeutet nicht, daß Menschen kein Recht darauf haben, ihr Leben dementsprechend zu leben, was wir kindliche Werte und Prinzipien nennen. Jeder hat das Recht, das zu tun. Aber ein Mensch, der sich dafür entscheidet, die innere Arbeit zu machen, ist ein Mensch, der schon fühlt, daß er erwachsen werden möchte. Er hat bereits eine Ahnung davon, daß kindliche Werte uns nicht voranbringen. Die Funktion der inneren Arbeit ist es, das Wachstum reifer Menschen zu unterstützen, nicht Babys zu füttern oder zu trösten.
Die innere Arbeit, die wir hier tun, ist die Art von Arbeit, die jeder Mensch machen muß, um wahrhaft erwachsen zu werden. Sie ist schwierig, sie erfordert viel Zeit, sie ist komplex und dazu gehört viel mehr, als ihr euch zu Beginn vorstellen könnt. Wenn ihr hierher kommt, dann kommt ihr mit vielen Vorstellungen und Überzeugungen davon, was diese Arbeit für euch leisten wird. Wenn ihr dabei bleibt, dann werdet ihr merken, daß die innere Arbeit nicht nur Erwartungen erfüllt, sondern tausend Dinge mehr. Ihr werdet auch feststellen, daß ihr, um aufrichtig an euch zu arbeiten, damit ihr zu einem reifen Menschen heranwachsen könnt, noch sehr viel mehr tun müßt, als ihr gedacht habt. Weil zu einem Menschen viel mehr gehört, als ihr ursprünglich geglaubt habt. Der Prozeß der Reifung verlangt ganz viel Arbeit, ganz viel Mühe, ein hohes Maß an Entschlossenheit und reichlich Geduld.
Nach ein paar Monaten oder Jahren der inneren Arbeit seid ihr vielleicht besser in der Lage, eure Emotionen zu fühlen und auszudrücken und mit eurem Körper mehr in Kontakt zu sein. Vielen Menschen genügt das. Aber das ist nur der erste, elementarste Schritt bei der inneren Arbeit. Dieser Schritt ist notwendig und wichtig, wir betrachten ihn jedoch nicht als das Ziel. Ein Mensch sollte letztlich nicht von seinen Emotionen oder körperlichen Empfindungen beherrscht werden. Wie gesagt, wenn eure Vorstellungen vom Gewinn der inneren Arbeit und weiterhin von euren emotionalen und physischen Begierden bestimmt werden, werdet ihr eine große Enttäuschung erleben. Um euch wirklich auf diese innere Arbeit einzulassen, müßt ihr bereit sein, eure Überzeugungen davon, worum es im Leben geht, aufgeben. Ihr müßt den Mut haben zu sagen: „Ich weiß nicht“. Und dann braucht ihr noch mehr Mut, um zu spüren, daß ihr wissen wollt.
Wenn wir also mit der inneren Arbeit beginnen, müssen wir an den emotionalen Teilen unserer Persönlichkeit arbeiten. Dann arbeiten wir, um unsere vorgefaßten Meinungen, Annahmen und Überzeugungen über Wirklichkeit und uns selbst freizulegen. Später machen wir vielleicht Erfahrungen von Essenz in ihren verschiedenen Stufen und Aspekten, und die innere Arbeit wird die Integration dieser unserer verfeinerten Elemente. Dann muß die ganze Persönlichkeit selbst im Einklang mit diesen unseren tieferen Elementen umgebildet und transformiert werden. Wir müssen verfeinertere Menschen, reifere Menschen, entwickeltere Menschen, echtere Menschen werden. Dann können wir vielleicht das Leben eines wahren erwachsenen Menschen leben.
Dieser Prozeß ist lang und komplex, und natürlich verläuft er bei jedem Menschen anders. Aber für jeden bedeutet er eine lange, harte Arbeit. Ihr müßt viel von eurer Psyche (mind) verstehen, von euren Emotionen, davon, welche Muster euren Charakter ausmachen, und was euch veranlaßt, euch so zu verhalten, wie ihr euch verhaltet. Dies braucht Zeit und Geduld. Der Prozeß bringt sehr viel Schmerz und Schwierigkeit mit sich, obwohl er auch erheiternd, freudvoll und aufregend ist. Viel Ausdauer ist nötig, um eure essentiellen Aspekte wahrzunehmen und sie dann zu verwirklichen und zu integrieren. Nichts davon ist leicht, und niemand wird es euch abnehmen. Der Lehrer kann euch nur anleiten, indem er auf Dinge hinweist; ihr müßt die Arbeit selbst tun, und es ist sehr viel schwierige Arbeit. Und in der Gesellschaft, in der wir leben, gibt es für diese Art Prozeß keine Unterstützung. Unsere soziale Umgebung erkennt solch eine Entwicklung nicht an, versteht sie nicht und unterstützt sie nicht. Ihr wurdet von dieser Gesellschaft konditioniert, also sind die Hindernisse, von denen ihr euch befreien müßt, zahlreich und mächtig, und sie durchdringen euer Denken und eure Persönlichkeit.
Die Arten von Verstehen, die Arten von Wahrnehmungen, die Arten von Erfahrung und die Arten von Einsichten, die ihr durchleben müßt, sind zahlreich und finden auf vielen Ebenen und in vielen Dimensionen statt. Ihr bewegt euch von einer Stufe zur anderen, hin und her, und dazu braucht man Geduld und Mitgefühl mit sich selbst. Dazu braucht man die großzügige, realistische und reife Haltung zum Leben, daß ihr, wenn ihr etwas wollt, dafür arbeiten müßt. Niemand kann es euch abnehmen und für euch tun und niemand kann es euch geben, weil ihr es seid.
Wir sollten uns für glücklich halten, wenn wir jemanden finden, der etwas davon versteht, wie man an diesen Prozeß herangeht, und der an der Entwicklung eures menschlichen Potentials wirklich interessiert ist. So ein Mensch ist in menschlicher Gesellschaft selten, man sollte ihm äußerste Wertschätzung und Dankbarkeit entgegenbringen. Jede Arbeit, die euch bei diesem Prozeß hilft, sollte hoch geachtet und gewürdigt werden, denn dies bedeutet, euer eigenes Potential und das der Menschheit im Allgemeinen zu respektieren und wertzuschätzen. So eine Arbeit sollte über alles andere gestellt werden, weil sie letztlich über allem steht. Sie sollte zuallererst über die eigenen kindischen Werte, Prinzipien und Einflüsse gestellt werden. Das ist es, was man braucht. Dies ist kein moralischer Standpunkt, sondern ein praktischer. Die innere Arbeit muß auf diese Weise gemacht werden, sonst geht es nicht.
Diese Art Respekt, Wertschätzung und Anerkennung muß sich nicht nur gegenüber der inneren Arbeit oder nur mir als Lehrer gegenüber manifestieren, sondern sie muß sich auch im Kontakt miteinander manifestieren. Wenn wir lernen, echte Menschen zu sein, dann sollten wir uns auch gegenseitig reif verhalten und uns nicht als Rivalen, Feinde oder Quellen von Befriedigung behandeln, was die übliche Art und Weise ist, wie Menschen miteinander umgehen. Wenn wir lernen wollen, menschlich zu sein, müssen wir an dieser Stelle beginnen.
Ich meine, daß es nicht reicht, einfach zu verstehen, was in euch geschieht; euer Verstehen muß sich in euren Handlungen und in euren Interaktionen mit anderen manifestieren. Das ist der Ort, wo die Arbeit der Integration stattfinden kann, und wo die Wirkung der verfeinerteren Elemente eurer Natur eure Persönlichkeit transformieren wird. Ohne diese Integration wird die innere Arbeit nicht vollständig sein und kann sogar alle möglichen Arten von Abnormitäten und Entstellungen hervorrufen. Wir müssen darauf achten, wie wir uns verhalten und wie wir interagieren, und zwar aus der Perspektive der höheren Elemente in uns.
Ihr könnt nicht echte Menschen sein, wenn euer äußeres Leben nicht eurem inneren Leben entspricht. Wenn ein Widerspruch zwischen eurer inneren Erfahrung und eurem Verhalten gegenüber anderen besteht, dann ist das eine schwere Entstellung. Wenn ihr etwas Bestimmtes wißt, aber euch anderem Wissen entsprechend verhaltet, wenn ihr bestimmte Teile der Wirklichkeit wertschätzt, aber wenn es um das wirkliche Leben geht, diese Werte aus dem Fenster werft, dann findet da eine sehr seltsame Art von Spaltung statt. Dies führt zu Frustration für euch und zu Ärger für eure Umgebung. Bei dieser inneren Arbeit geht es nicht darum, euch selbst zu verwirklichen, euch ganz toll zu fühlen und euch um alle anderen nicht zu kümmern. Es gehört zum Wesen eines reifen Menschen, auch die anderen als reale Menschen zu achten.
Wenn ihr wirklich erfahren wollt, was es heißt, ein echter Mensch zu sein, dann müßt ihr euch die nötige Mühe machen, wie einer zu leben, ganz gleich wie schwer das ist. Wie gesagt, zu einem großen Teil der Arbeit hier gehört die Reibung zwischen den Prinzipien, Vorstellungen und Überzeugungen, mit denen ihr gekommen seid, und den Prinzipien der inneren Arbeit. Durch diesen Prozeß werdet ihr bisher unbekannte Teile von euch selbst verstehen und verwirklichen. Das wird zu Veränderungen in eurem Verhalten führen, auf die ihr bewußt und beständig hinarbeiten müßt.
Ihr solltet euch echt menschlich verhalten, nicht nur mir oder eurem Lehrer gegenüber, sondern gegenüber allen Menschen in eurem Leben. Sonst perpetuiert ihr den infantilen Teil in euch; ihr handelt dann weiter wie ein Tier. Ihr solltet euch also bei jedem hier und bei allen Menschen in eurem Leben bewußt Mühe geben, im Einklang mit diesen feineren Elementen zu leben, die ihr versteht und verwirklicht, statt den alten Mustern nachzugeben. Idealerweise übt ihr wechselseitigen Respekt und wechselseitige Wertschätzung, wechselseitige Freundlichkeit und wechselseitiges Verstehen. Ein anderer Mensch ist ein Ausdruck des Sublimsten, was es gibt, genauso wie ihr ein Ausdruck dessen seid. Wenn ihr nicht einem jeden Menschen mit Hochachtung, Wertschätzung und Anerkennung begegnet, dann respektiert ihr dieses sublime Element in euch selbst nicht und erkennt es nicht an.
Wir sind nicht voneinander getrennt. Unser Gefühl von Getrenntsein ist oberflächlich und existiert nur in der physischen Dimension. In unserem menschlichen Element sind wir nicht getrennt; wir sind eng verbunden. Jeder andere Mensch ist genauso kostbar wie wir und verdient ebensoviel Respekt, Liebe und Rücksicht. Dieses Verständnis muß sich in unserem Benehmen jeden Augenblick manifestieren. Dies ist der Teil der inneren Arbeit, der euch transformieren wird.
Zuerst geht es um die essentielle Verwirklichung. Der nächste Schritt, der schwerer ist, besteht darin, zu lernen, wie ihr diese Verwirklichung in eurem Leben umsetzt. Ihr müßt euch der Frage stellen, wie ihr diese Verwirklichung leben werdet. Wie werdet ihr sie euer Leben beeinflussen lassen, sodaß euer Leben ein wahrhaft reifes menschliches Leben wird? Es verlangt große Anstrengung, euch eurer selbst und dieser feineren Elemente zu erinnern, über die ihr lernt, damit ihre Perspektive eine Wirkung auf euer Leben und eure Beziehungen mit anderen und mit eurer Umwelt hat. Die Prinzipien und die Werte, nach denen ihr lebt, müssen sich von Besitzstreben, Konkurrenz, Eifersucht und Ablehnung zu einer Haltung von Freundlichkeit, Großzügigkeit, Respekt und Dankbarkeit verändern. Wenn ihr wirklich reife Menschen sein wollt, dann werdet ihr euch diesen Werten entsprechend verhalten, auch wenn andere das vielleicht nicht tun. Ihr gesteht euch selbst nicht die Ausrede zu, weil ein anderer Mensch sich wie ein Lump verhalten hat, verhaltet ihr euch auch nicht anständig. Tut ihr dies, verratet ihr euer menschliches Element. Ihr seid respektlos gegenüber dem, der ihr seid und was ihr werden könnt.
Wenn ihr daran interessiert seid, wahrhaft reife Menschen zu werden, dann müßt ihr euch den höchsten Werten entsprechend verhalten, die ihr kennt, und zwar immer. Wenn man ein reifer Mensch sein will, gehört die Anstrengung dazu, sich so zu benehmen. Wenn ihr daran glaubt, daß die Integration eurer Verwirklichung einfach von selbst geschehen oder daß sie leicht sein sollte, dann versteht ihr nicht, worum es im Leben geht und ihr verhaltet euch wie Kleinkinder. Um ein freundlicher, großzügiger, respektvoller, liebevoller und klarer Mensch zu werden, müßt ihr daran arbeiten. Es geschieht nicht einfach so. Gott wird es nicht für euch tun. Ihr müßt selbst euch dafür anstrengen, Minute für Minute, sonst werdet ihr euch nicht transformieren.
Natürlich sagt niemand, ihr müßt das tun; niemand muß die innere Arbeit machen. Es ist eure Entscheidung. Wenn ihr sie tun wollt, dann ist dies dazu nötig. Ihr könnt sagen: „Es ist zu schwer. Ich ärgere mich darüber und ich mag das nicht.“ Es ist also schwer. Wenn ihr als Mensch reif werden wollt, dann müßt ihr euren Ärger, eure Verletztheit und eure Frustration einsehen und sie ertragen und trotz dieser Gefühle wie ein reifer Mensch leben. Wenn ihr sagt: „Es ist zu schwer, deshalb werde ich mich verstecken oder weglaufen und das Ganze vergessen,“ dann verhaltet ihr euch wie ein kleines Kind, das nach seiner Mama ruft, wenn es schwierig wird. Wenn ihr erwachsen werden wollt, dann müßt ihr euch erwachsen verhalten.
Die verfeinerten Werte von Liebe, Mitgefühl und Wahrheit werden nicht Teil von euch werden und sich in eurem Leben manifestieren, wenn ihr nur auf eurem Hintern sitzt und meditiert oder versucht, euch selbst zu verstehen. Wenn ihr glaubt, daß es reicht, wenn ihr bloß in der Gruppe sitzt oder eine Stunde Atemarbeit macht und diese feineren Elemente von euch erfahrt, dann arbeitet ihr mit der falschen Perspektive. Ihr müßt daran arbeiten, euer Leben im Einklang mit diesen Werten zu leben, bis dies zu eurer zweiten Natur wird. Um das zu tun, müßt ihr euch selbst respektieren. Sonst verwöhnt ihr euch wie ein Kind, setzt euer wahres Potential herab und verratet so den tiefsten Teil von euch selbst. Unser Problem besteht darin, daß wir weiter verraten, wer wir sind, wenn wir auf eine Weise leben, die nicht zu unserer wirklichen Natur paßt.
Wenn ihr euer wahres Selbst seid, dann strebt ihr nicht nach Angenehmem, dann vermeidet ihr Schmerz oder Unangenehmes nicht, dann versucht ihr nicht, Bestätigung zu bekommen, und auch nicht, jemanden dazu zu bringen, euch zu bewundern. Ihr seid nicht darauf aus, jemand anders zu kritisieren oder jemandem eine Niederlage beizubringen, und ihr seid nicht auf Ansehen oder Macht aus. Ihr lebt natürlich und spontan als echte Menschen, die für andere Menschen Respekt und Rücksicht empfinden. Ihr versucht nicht, jemanden zu lieben; ihr liebt einfach, ohne auch nur darüber nachzudenken. Wenn ihr reife Menschen seid, dann ist es eure zweite Natur, daß ihr liebt, daß ihr gebt, daß ihr respektvoll und rücksichtsvoll seid und daß ihr euch auf eine verfeinerte und reife menschliche Art verhaltet und entsprechend handelt.
Um diese Werte und Manifestationen zur zweiten Natur zu machen, müßt ihr euch bewußt anstrengen. Ihr müßt sie zu eurer Arbeit machen. Das bedeutet nicht, daß ihr todernst, verbissen und humorlos sein müßt. Darum geht es nicht. Es geht darum, aufrichtig zu handeln und sich bewußt darum zu bemühen, eurer selbst und anderer bewußt zu sein, damit ihr euch und andere mit Respekt behandelt. Das bedeutet auch nicht, daß ihr alles Angenehme aufgeben müßt; es bedeutet, nicht nach Angenehmem zu streben. Es bedeutet nicht, Schmerz hervorzurufen; es bedeutet, Schmerz nicht zu vermeiden.
Leben soll mit der Integrität, mit der Würde und mit der Selbstachtung eines Menschen gelebt werden, der weiß, daß es nicht darum geht, ob sich etwas gut oder schlecht anfühlt. Der Punkt ist, eure Selbstachtung nicht zu verlieren, eure wahre Wirklichkeit, die höchsten und reinsten Elemente in euch nicht aufzugeben. Ganz gleich wie wunderbar etwas ist und wie schmerzhaft etwas ist, euer Selbstrespekt ist stark genug, euer Gefühl von Integrität aufrechtzuerhalten. Diese Integrität bedeutet nicht, daß es nach eurem Willen geht oder daß ihr gewinnt oder Erfolg habt oder so etwas. Es bedeutet, aufrichtig in Bezug darauf zu sein, wer ihr seid, und auf eine Weise zu handeln, die eure essentiellen menschlichen Werte widerspiegelt.
Selbstrespekt, Selbstbeachtung und Selbstliebe haben bedeutet alles zu tun und zu lernen, um diese Integrität und diesen Selbstrespekt aufrechtzuerhalten. Es heißt, wenn ihr etwas lernen müßt, dann macht ihr euch an die Arbeit und lernt es; und wenn etwas gesagt werden muß, dann geht ihr es an und sagt es. Selbstrespekt und Integrität zu haben bedeutet, sich nicht darüber zu beschweren, wie etwas ist. Es bedeutet, anderen gegenüber mit Respekt und Rücksicht zu handeln, unabhängig davon, was ihr fühlt. Selbstrespekt haben bedeutet, daß ihr, sogar wenn es ans Sterben geht, weiter rücksichtsvoll und respektvoll zu euch selbst und anderen Menschen seid, weil viel wichtiger ist, wer ihr seid, als ob ihr sterben werdet. Es ist viel wichtiger als die Möglichkeit, daß ihr eure Firma oder euren Freund oder eure Freundin verliert. Menschliche Würde ist viel kostbarer als alle diese Dinge.
Das ist der Grund, weshalb wir manchmal den Nichtausdruck von automatischen Emotionen üben. Wenn ihr das tut, dann seid ihr nicht nur aufmerksam auf euch selbst, indem ihr euch ständig spürt, sondern ihr seid auch aufmerksam, damit ihr nicht irgendeine automatische Emotion ausdrückt, die ihr empfindet. Haltet sie bei euch selbst, fühlt sie, versteht sie und benutzt sie als Nahrung für eure Präsenz und euer Verstehen. Ihr seid vielleicht nicht dauernd dazu in der Lage. Wichtig ist, daß ihr euch selbst nicht beschuldigt, wenn ihr es nicht perfekt könnt; der Punkt ist, soviel bewußte Anstrengung und Entschlossenheit wie möglich einzusetzen.
Das bedeutet, wenn ihr aus irgendeinem unbewußten Grund wütend seid, dann schreit ihr nicht einfach jemanden an, ihr behaltet es bei euch selbst, für euer Verstehen. Wenn ihr verletzt seid, weil jemand euch ablehnt, dann behaltet ihr das bei euch. Ihr sagt nicht zu dem anderen: „Du lehnst mich ab und ich finde dich abscheulich.“ Ihr laßt zu, daß ihr euch abgelehnt fühlt, ihr arbeitet daran, es allein oder mit eurem Lehrer zu verstehen, wenn ihr mit einem Lehrer arbeitet. Ihr benutzt die Energie, den Brennstoff, die Hitze, die aus dieser inneren Arbeit entsteht, in der Absicht, sie bei euch zu behalten, für eure Präsenz, für euer Verstehen, für die Transformation eurer Persönlichkeit.
Alle möglichen Emotionen können automatisch sein – zum Beispiel Hoffnungslosigkeit oder Verzweiflung. Auf diese Gefühle hin nicht zu handeln bedeutet, auch wenn ihr vielleicht morgens aufwacht und das Gefühl habt, daß euer Leben sinnlos und hoffnungslos ist, daß ihr aufsteht und trotzdem zut Arbeit geht. Nicht auf automatische Emotionen hin zu agieren bedeutet, wenn ein Freund vorbeikommt und ihr euch einsam und bedürftig fühlt und eine Umarmung wollt, daß ihr dann nicht auf diesen Wunsch hin handelt – ihr fühlt einfach nur, weil ihr wißt, daß dieser Wunsch ein automatisches und elementares Bedürfnis befriedigen soll.
Es kann vielleicht eine Weile dauern, bis ihr versteht, was das Nichtausdrücken von automatischen Emotionen mit sich bringt, und das ist in Ordnung. Wenn man den automatischen Emotionen nicht freien Lauf läßt, erreicht man, daß man dauernd bewußt ist. Wir sprechen nicht über Unterdrücken der Emotionen, wir sprechen darüber, sie nicht auszudrücken. Sie auszudrücken bedeutet, sie zu entladen, und das hält euch davon ab, wirklich zu verstehen und tiefer zu gehen. Emotionen auszudrücken hält den Prozeß der Transformation an, weil ein wahrhaft reifer Mensch nicht auf diese Emotionen hin handelt. Diese Übung ist äußerst wichtig; wenn wir sie machen, lernen wir eine Menge. Es ist vielleicht schwer zu verstehen, was das mit sich bringt, aber ihr müßt ohnehin ausdauernd sein. Wenn ihr zu dem heranwachsen wollt, der ihr in Wahrheit seid, dann müßt ihr diese Dinge lernen. Schonung hilft euch nicht weiter. Schonung nährt einfach die elementaren Bedürfnisse und Werte und perpetuiert sie.
Um diese Übung zu machen, müssen wir alles an Bewußtheit und an Willen aufbieten, was wir entwickelt haben. Wir müssen unsere Transformation bewußt in unsere eigenen Hände nehmen. Ein Mensch, der wahren Selbstrespekt hat, verkündet nicht seine Erleuchtung, noch möchte er gesehen werden. Je echter ihr seid, um so unsichtbarer seid ihr, weil ihr eure Verwirklichung für euch behaltet. Wünsche, sie zu zeigen oder zur Schau zu stellen oder andere zu beeindrucken, sind Wünsche nach Befriedigung, elementarer oder kindischer Bedürfnisse. Der wahre Mensch handelt nicht auf diese Bedürfnisse hin und hat sie mit der Zeit nicht mehr. Ein reifer, erwachsener Mensch geht einfach seinen Geschäften nach und versucht nicht, irgendjemandem zu gefallen.
Bei dieser Übung geht es nicht darum, die Emotionen anzuhalten. Es geht eher darum, damit aufzuhören, auf sie hin (oder von ihnen aus) zu handeln, weil wir erkennen, daß sie aus dem Teil von uns kommen, der elementar, primitiv und kindisch ist. Das ist genauso, wie wenn man ein Kind aufzieht. Euer Kind darf nicht alles tun, was es möchte, weil es euer Haus auf den Kopf stellt und sich wahrscheinlich selbst wehtut. Dasselbe gilt für euch selbst. Ihr laßt den kindischen Teil von euch nicht alles tun, was er möchte, weil er euer Leben auf den Kopf stellen und euch schaden würde. So einfach ist das. Ihr müßt ihn disziplinieren. Dieser kindische Teil von euch wird lernen müssen, daß seine Verhaltensweisen nicht erwachsen sind, daß es für sie keine Verwendung gibt und daß sie nur destruktiv sind. Wenn ein Baby wütend ist, dann wirft es vielleicht seine Flasche auf den Boden, macht sie kaputt oder wirft mit Sachen und fühlt sich gut dadurch. Es versteht nicht, warum man will, daß es aufhört, und es wird noch wütender, wenn man versucht, es dazu zu bringen, aufzuhören. Dasselbe gilt für euch: ihr sagt vielleicht, daß es sich gut anfühlt, wenn ihr euren Ärger ausdrückt, und das kann auch wahr sein, aber es ist auch destruktiv euch selbst und der Menschheit im Allgemeinen gegenüber. Wut auszudrücken ist eine automatische Reaktion. Wie ein Baby müßt ihr, um erwachsen zu werden, lernen, dies zu unterlassen. Es spielt keine Rolle, ob sich das Ausdrücken gut oder schlecht anfühlt – darum geht es nicht. Es geht um Integrität, Selbstrespekt, Reife, Menschlichkeit und Wahrheit.